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Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

Date post: 27-Nov-2015
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Straßenzeitung für Berlin & Brandenburg 1,50 EUR davon 90 CT für den_die Verkäufer_in No. 26, Dezember 2013 NOTÜBERNACHTUNG »Der politische Wille fehlt« (Seite 3) ROLANDO VILLAZÓN »Ich möchte das großartige Projekt strassenfeger bekannter machen! « (Seite 16) DER PARITÄTISCHE »Bilanz und Ausblick« (Seite 19) SCHÖNE AUSSICHTEN
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Page 1: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

Straßenzeitung für Berlin & Brandenburg

1,50 EURdavon 90 CT für

den_die Verkäufer_in

No. 26, Dezember 2013

NOTÜBERNACHTUNG»Der politische Wille fehlt« (Seite 3)

ROLANDO VILLAZÓN»Ich möchte das großartige Projekt strassenfeger bekannter machen! « (Seite 16)

DER PARITÄTISCHE»Bilanz und Ausblick«(Seite 19)

SCHÖNE AUSSICHTEN

Page 2: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 20132 | INHALT

strassen|feger Die soziale Straßenzeitung strassenfeger wird vom Verein mob – obdach-lose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des strassenfeger ist: Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe!

Der strassenfeger wird produziert von einem Team ehrenamtlicher Autoren, die aus allen sozialen Schichten kommen. Der Verkauf des stras-senfeger bietet obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen die Möglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit. Sie können selbst entschei-den, wo und wann sie den strassenfeger anbieten. Die Verkäufer erhalten einen Verkäuferausweis, der auf Verlangen vorzuzeigen ist.

Der Verein mob e.V. fi nanziert durch den Verkauf des strassenfeger soziale Projekte wie die Notübernachtung und den sozialen Treff punkt »Kaff ee Bankrott « in der Prenzlauer Allee 87. Der Verein erhält keine staatliche Unterstützung.

Liebe Leser_innen,das Jahr 2013 neigt sich dem Ende zu, 26 Ausgaben des strassen-feger konnten Ihnen auch in diesem Jahr unsere fl eißigen Verkäu-ferinnen und Verkäufer auf den Straßen von Berlin und Branden-burg anbieten. Dass wir das wieder so gut hinbekommen haben, erfüllt alle Beteiligten mit großem Stolz. Angefangen von den ehrenamtlichen Autoren, über die Layouter, die Drucker, die Vertriebsmitarbeiter bis hin zu den Verkäufern haben alle viel Herzblut und Energie darauf verwandt, alle zwei Wochen auf’s Neue ein lesenswertes, soziales Straßenmagazin zu produzieren und zu verkaufen. Wir arbeiten daran, immer besser zu werden, auch, wenn wir wenig Geld zur Verfügung haben und auf ehren-amtliches Engagement angewiesen sind. Ein Dank auch an Sie, liebe Leser_innen, die dem Verein mob e. V. und dem strassenfe-ger geholfen haben, kontinuierlich Hilfe zur Selbsthilfe anbieten zu können. Bitte unterstützen Sie uns auch 2014 weiter, indem Sie den strassenfeger kaufen und auch lesen.

Diese Ausgabe trägt den Titel »Schöne Aussichten«. Einerseits, weil wir uns wieder mit der schwierigen Suche nach Räumen für unsere Notunterkunft beschäftigen müssen. Bis heute haben wir auf unsere Anfragen zu Immobilien nicht ein einziges Angebot er-halten (S. 3). Und – wir schauen nach vorn, ganz klassisch von den schönsten Aussichtsplätzen der Stadt (S. 7), im übertragenen Sinne bei einem Wahrsager in die Zukunft. Wir beschäftigen uns mit der Debatte um Armutszuwanderung, die durch die Arbeit-nehmerfreizügigkeit für die EU-Mitgliedsländer Rumänien und Bulgarien vom 1. Januar 2014 an Schärfe zugenommen hat (S. 8).

In der Rubrik »art strassenfeger« berichten wir über etwas ganz Besonderes: Der berühmte Tenor Rolando Villazón hat sich vor ein paar Wochen bei uns gemeldet und uns darüber informiert, dass er unsere Arbeit gern unterstützen würde. Wir haben uns natürlich riesig gefreut und schnell abgesprochen, welche Möglichkeiten es gibt. Der Künstler berichtet im Interview ab Seite 16 darüber.

Im Brennpunkt stellen wir Ihnen den Armutsbericht 2013 des Paritätischen Gesamtverbandes vor (S. 19). Und wir sprechen mit dem Geschäftsführer des »Paritätischen Berlin« über die Bilanz und den Ausblick 2014 (S. 20). Außerdem im Heft: eine Bilanz von Hertha BSC in der Hinrunde der 1. Fußball Bundesliga (S. 26).

Ich wünsche Ihnen, liebe Leser_innen, wieder viel Spaß beim Lesen!Andreas Düllick

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SCHÖNE AUSSICHTENDer politische Wille fehlt

Entwurf für integrierte Armuts- und Sozial-Be-richt-Erstatt ung

Mit anderen Augen in die Zukunft blicken

Famose Aussichtspunkte in Stadt und Natur

Ansturm der Armen

Meine Wünsche und Hoff nungen für 2014

Andreas Zick über Obdachlosigkeit und Klischees

Prinzip Hoff nung

In der Not lernt der Teufel fl iegen

Theater von »Unter Druck« als Lebenshilfe

Studentenbude in Gött inger Johanniskirche

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TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n fe g e rRolando Villazón »Popularität kann sehr hilfreich dabei sein, den Menschen etwas zu geben«

B re n n p u n k tParitätischer Armutsbericht 2013

Oswald Menninger, Geschäft sführer des Paritätischen Berlin, im Interview

K u l t u r t i p p sskurril, famos und preiswert!

k a f fe e | b a n k ro t tDer Januar wird bunt

A k t u e l l»One Warm Winter – Das Leben ist kein U-Bahnhof« startet

S p o r t»Ha Ho He – Hertha BSC«

Torhüter-Legende Bernd Trautmann

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AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e rRecht auf Beistand & GEZ-Befreiung

K o l u m n eAus meiner Schnupft abakdose

Vo r l e t z t e S e i t eLeserbriefe, Vorschau, Impressum

Page 3: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 2013 SCHÖNE AUSSICHTEN | 3

Der politische Wille fehltKeine Angebote vom Land bzw. Bezirk für die Notübernachtung von mob e.V.B E R I C H T & F O T O : A n d r e a s D ü l l i c k © V G - B i l d K u n s t

Es ist bitter, aber wahr: Stand 18. Dezem-ber 2013 gibt es nicht ein einziges An-gebot von Seiten des Landes Berlin bzw. des Bezirks Pankow für eine Immobilie

für die Notübernachtung bzw. für finanzielle Un-terstützung für den Umzug des Vereins nach einer mit Gentrifizierung begründeten Kündigung der Vereinsräume in der Prenzlauer Allee 87 in Prenz-lauer Berg. Im Klartext heißt das: Der gemeinnüt-zige Verein »mob – Obdachlose machen mobil« muss seine Notübernachtung für sieben Frauen und zehn Männer am 31.01.2014 schließen. Und – er muss all die finanziellen Kosten, die durch die o.g. Kündigung entstehen – Baukosten neues Ob-jekt für einige Hilfeprojekte, Kosten des Umzugs, Kosten Beräumung des alten Objekts u.v.a.m. – selbst stemmen. Leider versagt die Politik auf Landes- und Bezirksebene auf ganzer Linie. Ganz anders kann man dieses unsägliche Hinhalten, Taktieren, Verweigern und das Hin- und- Her-schieben von Verantwortung nicht mehr nennen. Seit nunmehr einem Jahr versuchen wir, Unter-stützung bei den verantwortlichen Politikern des Landes Berlin, des Bezirk Pankows bis hin zu Lie-genschaftsfonds und der Berliner Immobilien Ma-nagement GmbH (BIM) einzufordern.

Eine Absage von der Berliner Immobilienmanagement GmbH

In dieser Woche erreichte uns ein sehr ent-täuschender Brief von der Berliner Immobili-enmanagement GmbH, die wir schriftlich um Unterstützung gebeten hatten. Im Schreiben vom 13.12.2013 heißt es: »Leider müssen wir Ihnen nach umfassender Prüfung Ihrer Anfrage mitteilen, dass wir Ihnen derzeit keine geeig-neten, separat vermietbaren Räumlichkeiten gemäß Ihren Anforderungen anbieten können. Die BIM verwaltete im Auftrag des Landes Ber-lin die betriebsnotwendigen Dienstgebäude der Berliner Hauptverwaltung ebenso wie Finanz-ämter, Gerichtsgebäude, und berufsbildende Schulen sowie die Immobilien der Berliner Po-lizei und Feuerwehr. Auch Kulturgebäude und Justizvollzugsanstalten gehören zum Portfolio. Die darin kleinteilig vorhandenen leer stehen-den Mietflächen reichen nicht aus, um Ihnen ein Angebot zu unterbreiten. Wir wünschen Ih-nen dennoch viel Erfolg bei der weiteren Suche nach einer geeigneten Unterkunft…« Na vielen Dank, liebe BIM!

Was wird aus der Storkower Str. 139c?

Aber das ist noch nicht alles. Wir haben natürlich recherchiert, was mit einigen der leer stehenden Gebäude im Bezirk ist. Insbesondere interessier-ten wir uns für das ehemalige Stadtplanungsamt in der Storkower Straße 139c. Das Gebäude steht seit gut sechs Jahren leer, wird bewacht und beheizt. Und – es steht direkt neben unserem neuen Vereinssitz in der Storkower Straße 139d. Die Immobilie befindet sich im Besitz des Lie-genschaftsfonds. Von dort gibt es Hinweise, dass man dieses Gebäude benötige und wieder nutz-bar machen werde. Wir haben daraufhin natür-lich unserer Interesse angemeldet, dort vielleicht mit unserer Notübernachtung mit einziehen zu können. Auf die Antwort aus den Senatsbehör-den sind wir sehr gespannt.

Langsam nehmen sich die Berliner Medien des Problems an

Zeitungen berichten über die drohende Schließung der No-tübernachtung und die Kündigung unserer Vereinsräume, Radiosender informieren und nun auch das Fernsehen: Am dritten Adventssonntag war Reporter Ulli Zelle von der »rbb-Abenschau« und »rbb-Aktuell« zu Gast bei mob e.V. und dessen Notübernachtung. Das hat uns sehr gefreut, schließ-lich gehören die sozialen Problempunkte dieser Stadt sehr wohl ins öffentlich-rechtlich finanzierte Fernsehen. Unser Vorschlag an die verantwortlichen Politiker dieser Stadt und den »rbb«: Treffen wir uns mit dem Sozialsenator, der Sozi-alstadträtin, mit Liegenschaftsfonds und BIM in der Prenz-lauer Allee zu einem Runden Tisch, der von rbb-Spezial aus-gestrahlt wird. Versuchen wir dabei, die Probleme sachlich zu erörtern und Lösungen für die Menschen, die unsere Hilfe benötigen, zu finden.

Unser Protest wird laut und stark sein!

Sollten alle unsere ernsthaften Bemühungen auf dieser Ebene erfolglos bleiben, werden wir ein Aktionsbündnis »Rettet die Notübernachtung von mob e.V.« gründen und protestieren. Viele engagierte Bürger dieser Stadt haben uns ihre Unter-stützung schon zugesagt. Was in der Beziehung geht, zeigen gerade die Proteste um das Flüchtlingscamp in Kreuzberg.

Am Wald 2 – ist das demnächst die neue Adresse der Notübernachtung von mob e.V.? (Foto: Andreas Düllick ©VG Bild-Kunst)

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strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 20134 | SCHÖNE AUSSICHTEN

Entwurf für integrierte Armuts- und Sozial- berichterstattung Landesarmutskonferenz vermisst Handlungs- empfehlungen für Politik und VerwaltungB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

Die Landesarmutskonferenz Berlin hatte am 4. Dezember zum Pressegespräch über eine in-tegrierte Armuts- und Sozialberichterstattung mit der Sprecherin der Landesarmutskonfe-renz Prof. Ingrid Stahmer, Peter Hermanns

vom Internationalen Bund und Prof. Susanne Gerull von der Alice Salomon Hochschule geladen. Als Vertreter der sozialen Straßenzeitung strassenfeger nahm ich diesen wich-tigen Termin selbstverständlich sehr gern war. Und – stellen Sie sich das mal vor – ich war der einzige Journalist, der daran teilgenommen hat! Ein absolutes Armutszeugnis der hauptstädtischen Presse – angefangen von den führenden Tageszeitungen in der deutschen Hauptstadt bis hin zu den Radio- und Fernsehsendern! Da stellt sich schon ganz deut-lich die Frage: Sind die sogenannten Berliner Leitmedien an sozialen Themen und einer integrierten Sozial- und Armuts-berichtserstattung nicht interessiert?!

I m A d v e n t b e r i c h t e t d i e P re s s e g e r n ü b e r A r m u t

Im Advent sind die Menschen milder und sozialer gestimmt, ge-ben dem so genannten »Penner« eher einen Euro als im übrigen Jahr. In dieser Zeit werden auch immer wieder gern die zu Herz gehenden Geschichten über die berührenden Schicksale armer Menschen ausgestrahlt und angehört bzw. angesehen, gedruckt und gelesen. Ein Schelm, der dahinter Kalkül vermutet, an gute Zuschauer- Hörer und Leserquoten und verkaufte Auflagen denkt. Davon unterscheiden sich die Berliner Straßenzeitun-

gen motz und strassenfeger ganz wohltuend. Seit fast 20 Jahren füllen diese sozialen Magazine ihre Ausgaben mit Berichten, Interviews und Reporta-gen über Armut und Obdachlosigkeit. Aber auch strukturelle Ursachen von Ausgrenzung und Ar-mut werden beleuchtet und diskutiert.

We r a r m i s t , d a s i s t n i c h t n u r e i n e D e f i n i t i o n s f r a g e !

Nach der Definition der Organisation für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnitteinkommens zur Verfügung hat. Dies sagt etwas aus, wie viel persönliche Ressourcen zur Verfügung stehen. Dass das nicht alles ist, weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich habe jahrelang mittellos und ohne festen Wohn-sitz gelebt und mich nicht ausgegrenzt gefühlt. Meine Grundbedürfnisse konnte ich dank der niedrigschwelligen Einrichtungen befriedigen; ich konnte aber auch Theater spielen und mich im Verein von, mit und für Wohnungslose »Unter Druck-Kultur von der Straße« e.V. einbringen. Deshalb halte ich für die Definition von Armut das Lebenslagenmodell für mindestens genau so wichtig wie die Definition der OECD.

E n t w u r f f ü r e i n e i n t e g r i e r t e A r m u t s - u n d S o z i a l b e r i c h t e r s t a t t u n g

Die Landesarmutskonferenz hat zur Kenntnis genommen, dass die Senatsverwaltungen fleißig Daten auswertet und Berichte schreibt. Sie ver-misst aber Handlungsempfehlungen für Politik und Verwaltung. Deshalb wurde die Bericht-erstattung in Berlin unter die Lupe genommen und daraus ein qualitativ anderer Armutsbericht entwickelt. Für die Bekämpfung von Armut ist einmal wichtig, die Verteilung der Ressourcen zu kennen. Hier sagt die Definition der OECD eini-ges aus. Genauso wichtig ist aber, die Lebenslagen der einzelnen betroffenen Menschen zu kennen. 01 02

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01 Ingrid Stahmer, Sprecherin der Landesarmutskon-ferenz Berlin, stellt den Entwurf vor (Quelle: Landesarmutskonferenz)

02 Nicht kuschlig, aber warm - es gibt viel zu wenig Notübernachtungsplätze in Berlin (Foto: Jutta H.)

03 Soziale Brennpunkte gibt es viele – aber berichtet darüber wird selten! (Foto: Jutta H.)

04 Kein Dach über dem Kopf (Foto: Jutta H.)

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 2013 SCHÖNE AUSSICHTEN | 5

Hier existieren eigentlich jede Menge Zahlen, die aber für sich genommen wenig aussagen. Die Landesarmutskonferenz fordert deshalb, diese Daten zu verknüpfen und die Ergebnisse offen zu diskutieren. Neben den Indikatoren für Ein-kommensarmut sollen die Armutsindikatoren für die Lebenslagenbereiche Arbeit, Gesundheit, Wohnen, Bildung, Partizipation und Konsum dargestellt und diskutiert werden.

Die Fachgruppe »Armutsbegriff« der Lan-desarmutskonferenz hat in einem umfangreichen Anhang zum Entwurf einer integrierten Armuts- und Sozialberichterstattung aufgelistet, welche statistischen Daten bereits erhoben wurden und welche in unterschiedliche Berichte einfließen. Es sind aussagekräftige Daten da, die sind aber nicht ausreichend verknüpft. Das größte Hin-dernis für einen solchen Bericht sind lebende Personen. In einer Zeit, in der Medienpräsenz so wichtig ist, scheint ressortübergreifendes Han-deln anscheinend unmöglich. Als politisch inte-ressierter Mensch erfahre ich immer wieder von Animositäten der Senatoren untereinander. Als Beispiel sei die Auseinandersetzung zwischen dem Senator für Finanzen, Dr. Ulrich Nußbaum, und dem Senator für Stadtentwicklung, Michael Müller, um den Berliner Liegenschaftsfonds ge-nannt. Die Forderung von Ingrid Stahmer, die Senatsverwaltungen sollten über ihr Ressort hinaus denken, scheint angesichts solcher Ani-mositäten kaum umsetzbar zu sein. Es sei denn, der Regierende Bürgermeister, Klaus Wowereit, setzt sich ernsthaft dafür ein.

G r a v i e re n d e L ü c ke i n d e r S t a t i s t i k : Wo h n u n g s l o s e

Trotz der umfangreichen Datenerhebung und der vielfältigen Berichterstattung weist die Statistik eine Lücke auf: Die Wohnungslosen. Das Dia-konische Werk Berlin Brandenburg Schlesische Oberlausitz fordert den Berliner Senat seit Jah-ren vergeblich auf, eine Wohnungslosenstatistik

zu erstellen. Bis 2004 hatten die Bezirksämter dem Berliner Senat die Zahl der ordnungsrecht-lich untergebrachten Wohnungslosen gemeldet. Damals blieben die Menschen, die auf der Straße lebten oder bei einem Kumpel unterkommen sind, im Dunkeln, aber es war ein Anhaltswert. Mit der Einführung der so genannten Jobcenter entfiel auch das. Einziger Anhaltspunkt ist der Andrang in Nachtcafés und Notübernachtungen. Dass unter diesen Umständen die einige Male angekündigte überfällige Überarbeitung des überholten Obdachlosenleitplans weiter auf sich warten lässt, ist Folge dieser Unterlassung. Die Freie und Hansestadt Hamburg hat 2002 und 2009 die Obdachlosen zählen lassen. Trotz der großen Zeitlücke immer noch Vorbild für Berlin!

A b g e o rd n e t e n h a u s g e g e n Wo h n u n g s l o s e n s t a t i s t i k !

Übrigens hat das Abgeordnetenhaus am 7. November erst einen Antrag von Bündnis90/Die Grünen abgelehnt, eine Wohnungslosen-statistik für das Land Berlin einzuführen. Da-durch sollte gewährleistet werden, dass die Wohnungslosenhilfe endlich bedarfsgrecht ausgestattet werden kann. Wieder eine vertane Chance der Berliner Politik. Berichtet hat na-türlich kein Medium dieser Stadt über dieses Versagen in Sachen Sozialpolitik!

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Page 6: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 20136 | SCHÖNE AUSSICHTEN

Mit anderen Augen in die Zukunft blickenAuf den Spuren der Wahrheit mit Tarot-KartenB E R I C H T : A n d r e a s P e t e r s

Selten bin ich am Ende eines Jahres mit dem Ver-gangenen so versöhnt, dass ich dem Zukünftigen offen gegenüber stehe. Dazu bin ich meist viel zu beschäftigt, gerade in der Vorweihnachtszeit. Dieses Jahr ist es anders. Anlass dazu gab mir ein

längeres Telefongespräch mit einem Freund aus Kinderta-gen. Sein Jahr war voller Schicksalsschläge und er ist im-mer noch dabei, sein Leben neu zu sortieren. Zum Glück hat er seinen Humor behalten: »… kann ja nun nicht mehr schlimmer kommen«. Doch kann man das wirklich wissen. Ich selbst wüsste es für mein neues Jahr nur zu gerne. Die Gelegenheit auf dem Jahrmarkt einen Wahrsager aufzusu-chen, ergab sich vor diesem Hintergrund denn auch nicht ganz so zufällig.

Bei meinem Weihnachtsmarktbesuch am Opernpalais fiel mir diese kleine Bude des Wahrsagers jedenfalls sofort auf. Auf mich wirkte sie freundlich und bei miesem nasskaltem Wet-ter hatte ich keine Scheu, der einladenden Geste des Wahrsa-gers zu folgen und es mir im Warmen bequem zu machen. Ich saß somit schneller als gedacht ihm gegenüber, umgeben von Plüsch, Kerzen, Bildern und esoterischen Büchern. Mit erns-tem Blick und einem echtem Rauschebart, der so recht in diese Weihnachtszeit passt, stellte sich mein Gegenüber mir mit dem Künstlernamen »Ashlati El Fantadu« vor. Seine weiteren An-merkungen zur Person ließen glaubhaft den Schluss zu, dass er mit seiner Kunst schon viel herumgekommen ist und die Schu-lung seiner Sinne dabei im Zentrum stand. Schließlich fragte er mich nach meinem Sternzeichen und Alter und schon ging es zur Sache. Tarot-Karten oder Hand? Ich entschied mich für die Karten. Und so geschah es. In geübter Manier legte Fantadu diese vor mir aus und forderte mich auf die ersten vier Karten zu ziehen und in seine Hand zu legen. Ich merkte

schnell, dass es hier um ein Ritual geht, dass Fantadu ernst nahm und bei mir zusätzlich die Spannung erhöhte.

Beim Aufdecken der Karten benötigte Fantadu nicht lange, um mir zu erläutern, was er sieht. Zum Beispiel: »Hinter Dir liegt Wut und Enttäuschung, es steht an erwachsen zu werden, um weiter zu kommen, traue deinem Glück, das vor Dir liegt und vergiss nicht deine Nächsten dabei mitzuneh-men...« So richtig viel konnte ich mit dem, was er sagte nicht anfangen und mit zunehmender Anzahl an Karten verlor ich den Überblick. Die Karten lagen nun teilweise überei-nander und auf dem Kopf. Doch Fantadu versicherte, dass alles seine Bedeutung hat, die es zu verstehen und zu deuten gelte. Gleichzeitig betonte er, dass er vor allem diese Tarot-Karten nutze, um eine positive Auslegung zu ermöglichen. Andere Karten würde er nicht anwenden, da die Gefahr be-stehe beim Lesenden eher das Destruktive zu befördern, zum Beispiel mit einer Aussage wie: »Du wirst nächstes Jahr von einer schweren Erkrankung heimgesucht …«. Hinweise in den Karten auf solche Ereignisse würde er eher mit dem Hinweis »Verantwortung für sich und seinen Körper über-nehmen« weitergeben.

Mir erschien die Sitzung zunehmend als eine allgemein gül-tige wohlwollende und warmherzige Aufforderung, sein eigenes Leben ernst zu nehmen und dabei seine Wünsche und Bedürfnisse nicht außer Acht zu lassen. Und da ich von Anfang an nicht darauf aus war, die richtigen Zahlen für die nächste Lotto-Auslosung zu erhalten, haben mich Wider-sprüche in seiner Deutung nicht sonderlich gestört. Wenn zum Beispiel an der einen Stelle vom erwachsen werden die Rede war und an anderer Stelle die Aufforderung, das eigene Kind nicht außer Acht zu lassen. Wahrsagen offenbarte sich mir dann eher als eine Anwendung von praktischer Psycho-logie und Menschenkenntnis.

Schließlich ist es naheliegend Großstadt geplagten Menschen zu empfehlen, dass sie mehr auf ihre Gesundheit achten, die Arbeit besser planen, damit Zeit für das Glück bleibt, oder Erwartungen und Enttäuschungen als das zu nehmen, was sie sind. Das vergleichsweise geringe Salär eines Wahrsagers sind diese Hinweise allemal wert.

Mein Unbehagen vor dem neuen Jahr war jedenfalls beim Verlassen der Sitzung weg und als dann in diesem Moment noch der Weihnachtsmann in seinem Schlitten vor meinen Augen durch die Lüfte fuhr, wusste ich, dass jetzt etwas anderes ansteht, als sich Sorgen um das nächste Jahr zu machen. Zum Beispiel zuhause Geschichten erzählen von Weihnachtsmännern und Wahrsagern.Hier erfährt man viel über seine Zukunft! (Fotos: AndiP)

Page 7: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 2013 SCHÖNE AUSSICHTEN | 7

Müggelberg, Dom, Fernseh-turm und TeufelsbergFamose Aussichtspunkte in Stadt und NaturE M P F E H L U N G : J e a n n e t t e G i e r s c h n e r

An nahezu jeder Stelle in Berlin ist man umgeben von hohen Gebäuden. Weithin sichtbar sind der Fern-sehturm, altehrwürdige Kirchtürme und Domkup-peln. Wer von hoch oben Ausschau halten möchte,

hat in Berlin viele Möglichkeiten. Es gibt Bauwerke und natür-liche Erhebungen, die einen vielfältigen Ausblick auf Stadt-teile und Grünflächen bieten. Berlin gilt als grüne Stadt und besitzt neben ausgedehnten Waldgebieten über 5 500 Hektar Grün- und Parkanlagen.

Vo m G ro ß e n M ü g g e l b e rg z u m H u m b o l d t h a i n

Die höchsten natürlichen Aussichtspunkte findet man auf dem Großen Müggelberg (115,4 m über Normal-Null) in Kö-penick, dem aus Trümmerschutt aufgeschütteten Teufelsberg (114,7 m ü. NN) in Charlottenburg und den Ahrensfelder Bergen (112,4 m ü. NN) in Marzahn. Von dort aus kann man einen weiten Blick über Berlin werfen und sich beim Picknick und Drachensteigen vom Stadtstress erholen. Im Stadtzent-rum findet man im Viktoriapark in Kreuzberg, im Volkspark Friedrichshain und im Weddinger Humboldthain Erholung und weite Sicht. Das Nationaldenkmal auf der höchsten Er-hebung des Viktoriaparks wird nachts beleuchtet und bildet mit dem darunterliegenden Wasserfall ein beeindruckendes Bild. Berlins ältester Park liegt in Friedrichshain und lädt zum bußgeldfreien Grillen mit Aussicht ein. Auf dem Großen Bunkerberg ist das Grillen erlaubt und zwischen den Bäumen lugen rundherum Berlins Dächer hervor. Im Humboldthain befinden sich zwei Flaktürme aus dem Zweiten Weltkrieg, die einen Blick auf Berlins Norden erlauben.

B e r l i n e r D o m , Fe r n s e h t u r m u n d R e i h s t a g s k u p p e l

Sucht man hingegen den Weitblick inmitten des Großstadt-Getummels, hat man die Qual der Wahl. Es gibt über die ganze Stadt verteilt Aussichtspunkte, die dem Besucher bei gutem Wetter Berlin zu Füßen legen. Hat man nicht das nö-tige Kleingeld für Dom, Fernsehturm und Co., deren Eintritts-preise zwischen 2 und 12,50 Euro liegen, findet man zahlrei-che kostenfreie Angebote für schöne Aussichten.Zu empfehlen ist der Reichstag, von dessen Kuppel man nach einer Anmeldung und kurzer Wartezeit einen Rundum-Blick genießt, der mit dem Blick vom Fernsehturm vergleichbar ist. Die Besucher, die zum Ausblick einen städtebaulichen Ein-blick erhalten möchten, leihen sich einen der mehrsprachigen Audioguides kostenfrei aus. Deren Programm orientiert sich am spiralförmigen Aufstieg in der im Jahr 1999 aufgesetzten Glaskuppel. Die Plattform außerhalb der Kuppel bietet einen umfangreichen Blick auf Berlin und zahlreiche Postkartenmo-

tive. Die Reichstagskuppel ist immer gut besucht, man sollte also keine Angst vor großen Menschenmassen haben.

Fa m o s e A u s b l i c ke a u c h v o m T U - H o c h h a u s , N e u kö l l n - A rc a d e n o d e r Te u fe l s b e rg

Ist man gern unter Berliner Studenten und verspürt neben dem Drang nach Weitsicht auch ein kleines Hungergefühl, fährt man am Ernst-Reuter-Platz in den 20. Stock des TU-Hoch-hauses. Dort gibt es den ganzen Tag über Kaffee, kleine Snacks und warmes Mittagessen inklusive Berlinblick. In jeder Ein-kaufspassage mit Parkhausdach genießt man dagegen einen unkonventionellen Blick auf verschiedene Stadtteile von Ber-lin, abhängig vom Standort der Passage. Ganz offiziell als Aus-sichtspunkt bietet der fünfte Stock in den Neukölln-Arcaden schöne Aussichten, zu der man mit Drinks aus der seit kurzem eröffneten Bar entspannen kann. Wer gern in historischen Ge-filden Ausblicke nehmen möchte, klettert sonntagnachmittags die Stufen der Zionskirche hoch. Als kostenfreie Alternative zum Französischen und Berliner Dom blickt man über Berlins Mitte. Den freien Blick über den Westen Berlins und Potsdam bietet der Aussichtsturm im Grunewald, einem der größten Waldgebiete, in dem auch der Teufelsberg, zahlreiche Seen und die ehemalige CIA-Abhörzentrale zu finden sind.

»Berlin ist arm, aber sexy« – dieser Ausspruch von unse-rem Bürgermeister findet nicht bei allen Berlinern Anklang. Wie schön und erholsam Berlin sein kann, muss jeder selbst herausfinden. Ein volles Portemonnaie ist dafür nicht nötig, nur gute Laune, reichlich Ausdauer und ordentlich Marsch-verpflegung. Und nicht zu vergessen ein Fotoapparat für die besonderen Aussichten!

Wunderbar! Ein Blick aus der Reichstagskuppel über Berlin (Foto: Jeannette Gierschner)

Page 8: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

01 Kosten für die Kommunen: Sprachunterricht für Kinder sogenannter Armutszuwanderer (Quelle: Renovabis)

02 Schlafplätze rumä-nischer Zuwanderer in einem Abbruch-haus in Berlin (Foto:

Antje Görner) 01

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 20138 | SCHÖNE AUSSICHTEN

Ansturm der ArmenZum Jahreswechsel erhalten Bulgaren und Rumänen freien Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Müssen wir um unsere Sozialsysteme bangen?B E R I C H T : J u t t a H .

in heruntergekommenen Immobilien und zahl-ten dort häufig viel Geld für einen Matratzen-platz. Die Menschen hätten in der Regel keine Krankenversicherung, gleichzeitig sei ihr Ge-sundheitszustand schlecht. In den Schulen gäbe es Schwierigkeiten, auch aufgrund fehlender Sprachkenntnisse der Kinder und Jugendlichen. Fälle von Kriminalität, Bettelei und Prostitution führten zu Problemen in den Nachbarschaften. »Der Deutsche Städtetag fordert deshalb Bund, Länder und die Europäische Union auf, das Pro-blem der Zuwanderung aus Südosteuropa stär-ker wahrzunehmen und Strategien zu seiner Lö-sung zu entwickeln«, heißt es in dem Schreiben.

Die Forderung der Kommunen nach finan-zieller Unterstützung durch die Bundesregierung wies der damals noch amtierende Innenminister Hans-Peter Friedrich zurück. Stattdessen warnte Friedrich in mehreren Interviews vor einer Zu-wanderung von Migranten in die deutschen So-zialsysteme. Ende März richtete er mit seinen Amtskollegen aus Österreich, den Niederlanden und Großbritannien einen Brief an die EU-Kom-mission. Viele Zuwanderer beantragten Sozial-leistungen, »oftmals ohne darauf wirklich ein Recht zu haben«, heißt es darin. Sozialbetrüger aus anderen EU-Ländern sollten ausgewiesen und mit einer Wiedereinreisesperre belegt wer-den können, fordern die Verfasser des Briefes. »Alle notwendigen Maßnahmen müssen ergrif-fen werden, um den Folgen dieser Einwanderung zu begegnen und ihre Ursachen zu bekämpfen.«

D i e Fre i z ü g i g ke i t v o n Pe r s o n e n a k z e p t i e re n

Anfang Dezember erhob Friedrich im Rahmen der Inneministerkonferenz in Brüssel erneut die Forderung nach Wiedereinreisesperren. Dem »Missbrauch des Freizügigkeitsrechts« müsse Vorschub geleistet werden, so Friedrich. An sei-ner Seite wusste er dabei Großbritanniens Pre-mierminister David Cameron. »Die Freizügigkeit innerhalb der EU muss weniger frei sein«, hatte Cameron in einem Zeitungsbeitrag geschrieben und angekündigt, bettelnde oder obdachlose EU-Bürger künftig schneller abschieben und ihnen den Zugang zu Sozialleistungen erschweren zu wollen.

Die EU-Kommission hatte bereits Anfang des Jahres zurückhaltend auf den Brief der vier Innenminister reagiert und Belege für Sozialtou-rismus gefordert. Ende November sagte Justiz-

Die Zahl der aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland einreisenden Menschen ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen. Abzüglich der Personen, die im selben Jahr wie-der ausgereist sind, betrug die Zahl der 2012

nach Deutschland zugewanderten Bulgaren und Rumänen 71 000. Im Jahr 2008 lag die Zahl noch bei 17 582.

Rumänien und Bulgarien sind seit 2007 Mitglieder der Europäischen Union; Bürger beider Länder dürfen seit-dem visumsfrei in andere EU-Mitgliedstaaten einreisen. In Deutschland ist der Arbeitsmarkt für Hochschulabsolventen, Auszubildende und Saisonkräfte aus Rumänien und Bulga-rien bereits geöffnet. Zum Jahreswechsel fallen nun auch für alle anderen Arbeitnehmer der beiden Länder die noch beste-henden Beschränkungen weg, denn nach sieben Jahren Über-gangsfrist ist Deutschland verpflichtet, seinen Arbeitsmarkt für diese beiden Länder nun zu öffnen.

Ein Teil der bereits zugewanderten Rumänen und Bul-garen erregte im zu Ende gehenden Jahr unter dem Schlag-wort »Armutszuwanderer« eine größere öffentliche Aufmerk-samkeit. Bei den so Bezeichneten handelt es sich oftmals um Roma, die Armut und Diskriminierung in ihrem Heimatland veranlasst haben, ihr Glück woanders zu suchen. Da sie in der Regel niedrig oder gar nicht beruflich qualifiziert sind, haben sie kaum Chancen, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

P ro b l e m e , d i e v o n d e n K o m m u n e n n i c h t z u b e w ä l t i g e n s e i e n

Mehrere, von hohen Zuwanderungsraten aus den beiden südosteuropäischen Ländern betroffene deutsche Kommu-nen machten sich im Februar dieses Jahres in einem Positi-onspapier des Deutschen Städtetages Luft. Die Städte seien »vor Herausforderungen und Problemlagen gestellt, die mit kommunalen Handlungsmöglichkeiten nicht bewältigt wer-den« könnten. Über die Zugewanderten hieß es, viele lebten

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strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 2013 SCHÖNE AUSSICHTEN | 9

kommissarin Viviane Reding in einem Beitrag der Zeitung Die Welt: »Wer die Freizügigkeit von Dienstleistungen, Waren und Kapital in unserem Binnenmarkt nutzt, muss auch die Freizügigkeit von Personen akzeptieren.« In Reaktion auf Ca-merons Äußerungen legte sie den Briten sogar nahe, über einen Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt nachzudenken.

Mehrere deutsche Studien widersprechen der Darstellung vom Missbrauch von Sozialleis-tungen. So eine von der EU-Kommission in Auf-trag gegebene Studie des Centre for European Policy Studies, die im September veröffentlicht wurde. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Sozialleistungen keine Magnetwirkung auf EU-Migranten ausüben. EU-Sozialkommissar Lázló Andor sagte bei der Präsentation der Studie, dass »der sogenannte Sozialtourismus weder weit verbreitet noch systematisch erkennbar« sei. Aus Brüsseler Sicht müssten deshalb keine Ge-setze geändert werden. Schon jetzt erlaube die EU-Freizügigkeitsrichtlinie den Mitgliedstaaten, im Fall von Sozialleistungsmissbrauch »alle not-wendigen Maßnahmen« gegen EU-Ausländer zu ergreifen, inklusive Ausweisung, so Andor.

Das in Nürnberg ansässige Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) kommt in einem aktuellen Kurzbericht mit dem Titel »Arbeitsmigration oder Armutsmig-ration?« zu dem Schluss, »dass es sich bei der Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien überwiegend um Arbeitsmigration handelt.« Den vorhandenen Daten zufolge liege die Ar-beitslosenquote von Bulgaren und Rumänen in Deutschland mit 9,6 Prozent über der der Gesamtbevölkerung (7,4 Prozent), aber deut-lich unter der ausländischer Erwerbspersonen (16,4 Prozent). Beim Bezug von Leistungen nach dem SGB II sehe es ähnlich aus: Mit 9,3

Prozent liege der Anteil der Leistungsempfän-ger unter Bulgaren und Rumänen über dem der gesamten deutschen, aber unter dem der aus-ländischen Bevölkerung.

N i c h t s c h l e c h t e r i n t e g r i e r t a l s a n d e re A u s l ä n d e r

Im Jahr 2010 verfügten laut des IAB-Kurzberichts 25 Prozent der Neuzuwanderer aus Bulgarien und Rumänen über einen Hochschulabschluss, dafür hatten 35 Prozent keine abgeschlossene Berufsausbildung. Die Autoren des Berichts se-hen »Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien nicht schlechter in den Arbeitsmarkt integriert als andere Ausländergruppen«. Insgesamt ergä-ben sich durch die Zuwanderung aus den beiden Ländern »gesamtwirtschaftliche Gewinne« für die Bundesrepublik.

Dieses Gesamtbild dürfe aber nicht darü-ber hinwegtäuschen, dass bulgarische und ru-mänische Zuwanderer für einige Kommunen eine erhebliche finanzielle Belastung darstellten. Gerade wirtschaftlich eher schwach dastehende Städte wie Dortmund, Duisburg und Berlin hät-ten es mit hohen Zuwanderungsraten zu tun. Ne-ben der Gewährung der SGB II- Leistungen für die Zuwanderer müssten die Kommunen unter anderem Ausgaben für die Unterbringung von Obdachlosen, für die Krankenversorgung und die Integration von Schulkindern leisten. Für das Jahr 2014 rechnen die Autoren mit einer Zuwan-derung von 100 000 bis 180 000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien.

B e d ro h u n g f ü r Wo h l s t a n d u n d S o z i a l s y s t e m e

Hinter den zum Teil populistischen Äußerun-gen des damaligen Innenministers Friedrich

vermutet Klaus Jürgen Bade »eine Urangst vor der Masseneinwanderung«. Der Migrationsfor-scher aus Osnabrück schreibt in einem Gast-artikel für die Zeitung Die Zeit, man vergesse dabei häufig, dass sich Emmigration aufgrund wirtschaftlicher Not »massenhaft« auch in der deutschen Geschichte fände. »Viele der Mil-lionen von Deutschen, die im überseeischen Massenexodus des 19.Jahrhunderts ihr Heil in der Neuen Welt suchten, würden heute in der Schublade ›Wirtschaftsflüchtlinge‹ landen«, so Bade. Zudem vergesse man häufig, dass die nach Deutschland zuwandernden Menschen in ihren Heimatländern vor der Alternative Ver-elendung oder Flucht gestanden hätten und letztlich Opfer seien. Für bestimmte Kreise im Aufnahmeland verwandelten sich diese Men-schen dann zu einer Bedrohung des eigenen Wohlstandes und der Sozialsysteme.

Klaus Jürgen Bade mahnt für die Zukunft verstärkte Integrations- und Bildungsinvestitio-nen in den deutschen Städten und Gemeinden an, die aus einem nationalen Sozialfonds fi-nanziert werden könnten. Nötig sei zudem auf EU-Ebene »eine migrationsorientierte Entwick-lungspolitik«, um die Situation der Menschen in den Herkunftsländern zu verbessern.

Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesre-gierung ist von diesen Vorschlägen nichts zu fin-den. Unter der Überschrift »Armutswanderung innerhalb der EU« heißt es dort, nationales und Europarecht müssten so geändert werden, »dass Anreize für Migration in die Sicherungssysteme verringert werden«. »Die Ermöglichung von be-fristeten Wiedereinreisesperren« sei notwendig. Zudem sollten Leistungsausschlüsse für Arbeit-suchende »präzisiert« werden. Mitte Dezember hat die neue Bundesregierung ihre Arbeit aufge-nommen. Man darf gespannt sein.

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»Käptn Kotti« wünscht sich mehr Respekt (Foto: Jutta H.)

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 201310 | SCHÖNE AUSSICHTEN

Gute Aussichten?Meine Wünsche und Hoffnungen für 2014N O T I E R T : C a D a , v e r k a u f t d e n s t r a s s e n f e g e r

Wieder einmal geht ein Jahr dem Ende zu, es kommt der Jahres-wechsel und man fragt sich wo die Zeit geblieben ist. War nicht

gerade gestern erst Neujahr und nun ist es schon wieder soweit sich Gedanken zu machen, was man sich für das neue Jahr vornimmt. Wenn ich so auf das letzte Jahr zurück blicke muss ich sa-gen, es verlief absolut nicht so wie ich es mir er-hofft und gewünscht hatte.Meine Kolleg_innen und ich haben in diesem Jahr so manchen guten Freund verloren und zu Grabe getragen. Sicher verliert man Kolleg_in-nen aus den Reihen der Mitarbeiter der sozialen Straßenzeitung strassenfeger hin und wieder. Aber wenn es einen langjährigen Kollegen trifft, dann schmerzt das schon sehr. Dazu kommt, dass es bei mir in diesem Jahr mit dem Verkauf der Ausgaben auch nicht so lief, wie erhofft. Viele Menschen geben lieber kleinere Geldspenden, als wirklich eine Ausgabe des strassenfeger zu kaufen. Vielleicht denken die meisten Kunden, dass eine kleine Geldspende reicht. Mir persön-lich geht es nicht darum nur Geld zu bekommen, ich gehöre zu der Gruppe von Verkäufern, die lieber ihre Ausgaben an die Frau oder den Mann bringen. Aber in diesem Jahr nahm die Zahl der kleinen Geldspenden zwar zu, aber die Anzahl der verkauften Ausgaben leider ab.

»S u c h ‘ D i r d o c h e i n e v e r n ü n f t i g e A r b e i t ! «

Hinzu kommt, dass man sich als Verkäufer einer sozialen Straßenzeitung oft meist unüberlegte Kommentare anhören muss. Ich könnte fast ein Buch darüber schreiben, mit welchen Kommen-taren und Sprüchen mir gegenüber begründet wurde, warum man das Straßenmagazin nicht kaufe. Dabei würde es doch auch ausreichen, nur zu sagen: »Nein danke, ich möchte nicht kaufen.« Stattdessen musste ich mir z. B. sehr oft Sätze wie diesen anhören: »Such‘ Dir doch eine vernünf-tige Arbeit!« Als wenn der Verkauf einer sozia-len Straßenzeitung ein Hobby oder Zeitvertreib wäre. Das mag in den wärmeren Jahreszeiten ja vielleicht so aussehen, aber im Winter ist es dies bei weitem nicht. Mal im Klartext: Ich denke, dass keiner meiner Verkäuferkollegen dies würde, wenn sie oder er eine bessere Möglichkeit hätten! Und – wenn es überhaupt so etwas wie Schön-Wetter-Verkäufer_innen geben sollte, so bin ich zumindest der Meinung, dass diese jetzt in ihrer Winterpause wären.

I c h r a t e z u m S e l b s t v e r s u c h !

An dieser Stelle mal ein kleiner Tipp von mir: All diejenigen Menschen, die unsere harte Arbeit, denn nichts anderes ist der Verkauf des stras-senfeger, so gering schätzen, sollten mal einen

Selbstversuch unternehmen und versuchen das Magazin verkaufen. Ich bin gespannt, ob sie sich danach immer noch so unqualifiziert äußern wür-den. Zum Thema ›Arbeitssuche‹ sei hier noch er-gänzt: Wenn es denn so leicht wäre, eine Arbeit zu finden, dann frage ich mich ernsthaft, warum die Arbeitslosenzahlen Deutschland immer noch so hoch sind. Ich bin übrigens behindert und die Suche nach Arbeit auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt (den es ja so gar nicht gibt!) war in den vergangenen zehn Jahren für mich sehr frustrierend. Erfolg gleich null.

P ro f i t g i e r v e r s u s M i e t e r m i t B e h i n d e r u n g

Dazu kam in diesem Jahr noch, dass ich auf Betreiben der Hausverwaltung meine Woh-nung verlieren sollte. Der Hintergrund hierfür ist, dass bei einer Neuvermietung eine dreifach höhere Miete angesetzt und verlangt werden kann. Da Hausbesitzer natürlich meist profito-rientierte Wirtschaftsunternehmen sind, ist es verständlich, dass sie immer höhere Mietein-nahmen anstreben. Aber dafür einen Mieter mit körperlichen Einschränkungen, der seit 1995 im Haus wohnt aus dem Mietverhältnis drängen zu

wollen mit der Behauptung, er wäre ein Messi, ist doch… Dafür fehlen mir glatt die Worte. Pech für die Hausverwaltung bzw. Glück für mich: So ohne weiteres ging das dann doch nicht. Ich weiß aber schon jetzt, dass es für mich Ende Fe-bruar nächsten Jahres mit einem Gerichtstermin weitergeht. Wie dieser ausgehen wird, weiß ich natürlich nicht. Ich hoffe und wünsche mir zu-mindest in diesem Punkt, dass es für mich positiv ausgehen wird.

D a n k a n d i e v i e l e n U n t e r s t ü t z e r

Auch wäre ich mir sehr wünschen, dass unsere Arbeit als Verkäufer_innen der sozialen Stra-ßenzeitung strassenfeger auch als Arbeit ange-sehen und entsprechend gewürdigt wird. Unser Arbeitsplatz ist die Straße, egal ob im Frühjahr, Sommer, Herbst oder Winter. Und dieser Ar-beitsplatz und diese Aufgabe sind hart genug. Ich möchte mich aber an dieser Stelle auch ganz herzlich bei all den engagierten und hilfsbereiten Menschen bedanken, die mich und meine Kol-leg_innen durch den Kauf des strassenfeger ein wenig unterstützt haben! In diesem Sinne wün-sche ich allen Leser_innen ein friedvolles Weih-nachten und ein guten Rutsch ins Jahr 2014.

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01 Cover des »Superpenner« (© Scholz & Friends)

02 Andreas Zick (Foto: © Bastian Wirzioch)

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Obdachlose, Klischees und VorurteileDer Sozialforscher Andreas Zick im strassenfeger-InterviewI N T E R V I E W : B o r i s N o w a c k

Im Januar wird der strassenfeger mit Unterstützung der Werbeagentur Scholz & Friends den Comic „Der Su-perpenner“ als Beilage herausbringen. Er soll zum Kauf der Zeitung animieren, zum Schmunzeln anregen, und gleichzeitig die Vorurteile aufgreifen, denen Obdach-

lose ausgesetzt sind. Frech, frisch, provokativ. Andreas Zick ist Professor für Sozialisation am Institut für interdisziplinäre Gewalt- und Konfliktforschung (IKG) der Universität Biele-feld. Er beschäftigt sich mit den Einstellungen der Deutschen und ihren Vorurteilen gegenüber Obdachlosen. Boris Nowack sprach mit mit ihm genau darüber und den »Superpenner«.

strassenfeger: Herr Zick, Sie sind einer der ersten, die den Comic ‚Der Superpenner‘ schon vor der Veröffentlichung begutachten durften. Ihre Einschätzung bitte!

Andreas Zick: Mutig! Denn es geht ja um zwei Zielgrup-pen. Zum einen die Wohnungslosen selbst, die Leute, die den strassenfeger verkaufen. Und dann das Publikum, die Leser. Das ist quer gedacht.

Es werden viele Klischees von Obdachlosen aufgegriffen. Ist das nicht kontraproduktiv?

Es gibt in der Forschung den Rebound-Effekt. Je stärker man Bier und Superpenner assoziiert, umso mehr bestärkt das die Vorurteile. Dagegen kommt man eigentlich nicht an. Denn wer seine Vorurteile aufrechterhalten will, hält diese auch auf-recht. Man muss sich eben darauf einlassen und es humorvoll nehmen. Es führt auf jeden Fall zur Diskussion und das ist gut. Ich sehe darin nichts Diskriminierendes.

In Ihrem Artikel für die Sonderausgabe des strassenfeger im Juli 2013 schrieben Sie, dass viele den Obdachlosen ihre Menschlichkeit absprechen. Und hier haben wir einen Ob-dachlosen mit übermenschlichen Kräften.

Die abgesprochene Menschlichkeit wird zur Über-menschlichkeit. Wenn man sich dagegen andere Comics und Aufklärungsmaterial anschaut, von der Bundeszent-rale für politische Bildung etwa, die machen das immer so moralin. Das ist hier nicht der Fall. Das Moralische fehlt. Es ist mühevoll gezeichnet, und wenn sich eine Kunstform so bemüht, dann ist das gut. Man kann schmunzeln über den Superpenner.

Auch andere bekommen ihr Fett weg: der BND als das Böse, die unhöflichen Berliner Busfahrer, die Ökomuttis...

Eben, alle werden überzogen dargestellt. Das macht mich neugierig. Ich habe ihn von vorne bis hinten gelesen, was ich bei Comics nicht so oft mache.

Was sind die üblichen Anfeindungen gegenüber Obdach-losen?

In unseren Studien erfahren wir oft, Penner, Wohnungs- und Obdachlose seien unnütz und taugten nichts, brauchen Hilfe und stellen auch noch Ansprüche. Wer Menschen da-nach beurteilt, was sie leisten, ist besonders anfällig für Vorur-teile. Das bricht beim Superpenner, weil der enorm viel leistet.

Wie könnte man das Verständnis für Obdachlo-sigkeit verbessern?

Wir versuchen, Obdachlose und Nichtob-dachlose zusammenzubringen. Die gute alte Kontakthypothese ist ungeheuer wichtig. Nicht nur Information über die Lage, sondern echter Kontakt. Obdachlosigkeit wird primär als selbst verursacht wahrgenommen: leistungsschwach, Alkohol etc. Das erklärt aber nur einen Teil, nicht jedoch den biografischen. Es muss möglich sein, dass man Schüler und Studenten einmal im Jahr in Kontakt mit Wohnungslosen bringt und mit denen über ihre Lage redet. Nur wenn man authentische Geschichten hört und Fragen stellt, bauen sich Vorurteile ab.

Sie schreiben, dass die Akzeptanz in den Schich-ten unterschiedlich verteilt ist.

In den letzten Jahren konnten wir beobach-ten, dass die Einkommensstarken ihre Solidarität zurückziehen, während unter den armen Men-schen eine ungebrochene Solidarität herrscht.

Nimmt die Solidarität um die Weihnachtszeit zu?

Die Solidarität ändert sich nur punktuell. Die Deutschen spenden viel ins Ausland, je wei-ter weg die Not ist, umso mehr wird gespendet. Für die hiesigen Wohnungslosen ist die Weih-nachtszeit die härteste Zeit. Dabei geht es nicht nur um ökonomische Spenden. Viele erfahren wieder, dass es da die glücklichen, normalen Menschen gibt, das wollen sie auch, haben es aber verloren. Das versteht die Mehrheit nicht.

Haben Sie Wünsche an die neue Regierung?Ich hoffe, dass das Thema Solidarität, das

die SPD ja bei ihrer Gründung motiviert hat, wieder aufgegriffen wird. Wir brauchen einen stärkeren Fokus auf Sozial- statt Sicherheitspoli-tik. In der letzten Regierung gab es ja abenteuer-liche Vorstellungen, was man alles mit Arbeits-losen machen kann. Da es jetzt eine bürgerliche und sozialdemokratische Bewegung gibt, hoffe ich wieder auf eine Lobby für die, die am meisten gefährdet sind, diskriminiert zu werden.

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Wildkatze in einem Freigehege im Nationalpark Bayerischer Wald (Quelle: Wikipedia/Aconcagua)

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 201312 | SCHÖNE AUSSICHTEN

Prinzip HoffnungLebenstrieb und Naturgesetz der BewegungB E T R A C H T U N G : B e r n h a r d t

»Prinzip Hoffnung« lautet der Titel des Hauptwer-kes des deutschen Philosophen Ernst Bloch (1885-1977). Während man von dem Buch selbst kaum noch spricht, außer in marxistischen Kreisen, ist der Titel zu einem geflügelten Wort geworden. Im Fol-

genden behandelt der Verfasser das geflügelte Wort und die dahinter stehende Frage, worauf es beruht, dass die Menschen auch in schwierigsten Lagen immer wieder neue Hoffnung schöpfen auf ein Gelingen, auf ein Weiterleben; aber die dem zugrunde liegenden Ursachen weitgehend unbeachtet lassen. Man denkt nicht darüber nach. Man nimmt die Hoffnung ein-fach als gegeben hin, ohne sie zu hinterfragen.

Auszugehen ist von dem Naturgesetz der Bewegung. »Panta rhei«, heißt es bei dem griechischen Philosophen Heraklit (535-475 v. Chr.); alles fließt, alles bewegt sich, alles ist ein ständiges Werden und Vergehen. So dreht sich die Erde einmal um die eigene Achse wie ein Kreisel. Der Wechsel von Tag und Nacht sind die Folge. Außerdem dreht sie sich um die Sonne und braucht dafür ein Jahr. Da die Rotationsachse der Erde zur Bahnebene der Sonne um 23,5° geneigt ist, entstehen die vier Jahreszeiten. Wenn ein Mensch in einem fahrenden Zug läuft, kommen zwei weitere Bewegungen hinzu: seine eigene des Laufens und die des fahrenden Zuges. Die Magnetfelder der Erde, die uns vor den schädlichen Strahlen aus dem Kos-mos schützen, bewegen sich ebenso wie die Atmosphäre mit ihren meteorologischen Schwankungen (Temperatur, Feuch-tigkeit, Druck der Luft) oder wie die Strahlung von anderen Himmelskörpern. Auch Letztere bewegen sich. Gleiches gilt für die Erdstrahlung. Das wird von den meisten Menschen als

selbstverständlich hingenommen und gar nicht mehr beachtet, obwohl es unzweifelhaft das Le-ben auf dieser Erde beeinflusst. Angesichts die-ser Vielzahl von Änderungen ist es falsch, von Stabilität unserer Verhältnisse oder von Besitz-standswahrung zu sprechen, auch wenn diese Begriffe dem menschlichen Bedürfnis nach Si-cherheit entgegenzukommen scheinen und »So-zialbeglücker« dies den Menschen vorgaukeln. »Nur der Wandel hat Beständigkeit« heißt eine sophistische (spitz-findige) Volksweisheit.

In dieses Szenario von ständigen Bewegungen ist nun der Mensch hineingestellt. Die Natur, man kann auch sagen: der Schöpfer, hat ihn ausge-stattet mit einem Lebenstrieb, den man unterteilt in einen Selbsterhaltungs-, einen Verteidigungs- und einen Fortpflanzungstrieb gemäß dem alt-testamentarischen Auftrag »Seid fruchtbar und mehret euch«. Dies kann man auch bei Tieren beobachten. Eine Maus wird, selbst wenn sie wegen Verletzung geschwächt und ohne Chance ist im Kampf gegen eine übersättigte alte Haus-katze, bis zum Letzten um ihr Leben kämpfen. Ein Freund von mir hat einmal beobachtet, wie in einer solchen Situation die Maus sich auf die Hinterbeine stellte und die Katze beißen wollte. Er nahm die Katze aus diesem ungleichen Kampf und ermöglichte der verletzten Maus die Flucht. »Prinzip Hoffnung« auch bei Tieren.

Von Geburt bis zum irdischen Tod soll der Mensch auf dieser Erde in einem Gefüge von vorgegebenen Naturgesetzen und Regeln der Moral leben und reifen, selbstbestimmt, also frei, wirken und sich zurechtfinden, auch ange-sichts großer Naturkatastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen, Wirbelstürme usw. Ganz im Gegenteil, wie der deutsche Philosoph Fried-rich Nietzsche (1844 – 1900) richtig erkannt hat: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker«. Das Leben auf der Erde ist nicht eine Abfolge von reibungslos verlaufenden Vorgängen, son-dern es beinhaltet auch Herausforderungen, die bis zur Verzweiflung führen können. Da sich aber alles und immer und überall bewegt, hofft der Mensch, dass sich seine Lage auch wieder zum Besseren wenden werde. So lange sein Kör-per noch gesund und kräftig ist, um gemäß sei-nem Lebenstrieb weiter zu wirken und notfalls um sein Leben zu kämpfen, so lange trägt ihn das Prinzip Hoffnung über die Krisen hinweg. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 2013 SCHÖNE AUSSICHTEN | 13

In der Not lernt der Teufel fliegenScheitern als ChanceT E X T : M i s c h a N .

Ich verschwieg die Suppenküche, in der mein Mantel am Notnagel hing. Auf dem harten Boden der Realität kann man immer noch betend knien. Und wenn ich nur einen winzigen Trost des Schicksalhaften schlürfte, vergaß ich den energischen Fingerzeig. Den, der allzu laut auf mich

verwies. Sei deines Glückes Schmied!

Und ich hatte Pläne geschmiedet, in der zermürbenden Pfl icht zum Erfolg mir den Schonplatz des Zufalls versagt. In Bemü-hungen ging ich auf, ein und unter; bewies in jeder Bewegung Format. Ich bot mich im Schlussverkauf und als Spätlese an, überwinterte am Rande des Marktes auf den Plätzen zweiter Klasse.

Ich war, was ich nicht wusste – eine gescheiterte Existenz. In der Suppenküche, die ich verschwieg, wagte ich nur zögerlich, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Ich traute mei-nen Augen kaum, diesem selbstanalytischen Blick, der mich von oben herab widerwillig einbezog.

Der Suppenkasper scheitert in der Verweigerung. Und was hätte alles aus ihm werden können, pfl egte meine Lehrerin zu sagen. Ich antwortete ihr löffelweise. In Gedanken. Elend ist ein dehnbarer Begriff und der Schmerz darin nur subjektiv, wie das Gefühl des Scheiterns. Ich köchelte im eigenen Saft.

Ein Habenichts besitzt vielleicht noch eines – Potential. Es offenbart sich nicht im Handumdrehen. Aber eine Zeit lang musste ich auch diese Haltung üben. Sie war keineswegs be-quem, wie man landläufi g meint. Nur der Teufel kann in der Not Fliegen fressen.

Ich nagte nicht am Hungertuch, weil es die Suppenküche gab, die ich verschwieg. Magerhans allerdings, wie ich meinen Selbstwert heimlich taufte, verlor stetig an Gewicht. Angst verzehrt, die eigene und die in der Ablehnung anderer, denen man als schlechtes Beispiel dient, im Ausdruck des Versagens.

Erfolg bestätigt. Scheitern leider auch. Der Gang in die Sup-penküche war mir Niederlage, die Suppe selbst schon wieder Erfolg. Ich hatte sie verdient, so dachte ich – durchaus zy-nisch. In diesem doppelsinnigen Gedanken verließ ich aber bereits das ohnmächtige Selbstmitleid und wagte eine schüch-terne Standortbestimmung.

Einerlei was meine Ziele waren. Ich hatte sie nicht erreicht. Ich hatte etwas gewollt und jedes Wollen schließt die Möglich-keit des Scheiterns ein. Aber kein Ziel mehr zu haben wäre letztlich auch ein zum Scheitern verurteiltes.

Und wenn ich mich nun künftig mühte, erfolglos zu sein? Aus der Not eine Tugend zu machen? Bestand die hohe Lebenskunst möglicherweise im gekonnten Scheitern? Und war ich nicht im-mer kläglich gescheitert, ja angestrengt, und nie grandios?

Fiebrig durchstöberte ich die Ruinen meines Daseins nach Ant-worten. Ich betrachtete alles, was ich nicht gekonnt hatte, wozu ich nicht in der Lage gewesen und was mir zuverlässig miss-lungen war. Das mag wie eine mittelalterliche Medizinpraktik erscheinen, als man Wunden noch mit Glüheisen ausbrannte.

Aber meine Augenmerk war nur ein anderer. Im vergilbten Fotoalbum schienen sie mir plötzlich groß – die Armleuchter, Blindgänger, Nieten, Nulpen, Pfeifen, Waschlappen – Fälle von seltener Hoffnungslosigkeit. Ich hatte diese namensge-benden Urteile nie gefällt oder nur gelegentlich, in Leichtfer-tigkeit.

Man versteht das Leben rückblickend. Vielleicht. Und darin auch das Versagen. Es muss nicht immer das eigene gewesene sein. Im Scheitern verbirgt sich die enttäuschte Erwartung und die Frage, was man noch zu erwarten hat. In erster Linie von sich selbst.

Ermutigung kann ein reißfester Rockzipfel sein, wenn man darin nicht an die Hand oder auf den Arm genommen wird. Aber sie gehört zu jenen Gaben, die man nicht erzwingen kann. Sie ist, wie manche Suppe, ein Geschenk und eine Aufforderung, den Zweifeln auch im Stolpergang zu wider-stehen.

Die Suppenküche verschwieg ich nicht mehr, nachdem ich be-gonnen hatte, mein eigenes Süppchen zu kochen. Und kürz-lich las ich den Satz: »Wer die Wahrheit hat, für den ist Erfolg und Misserfolg dasselbe.«

Ich denke über ihn nach, auch wenn ich bisher – ich gebe das offen zu – im versuchten Verständnis großer Philoso-phen meistens gescheitert bin.

Prinzip HoffnungLebenstrieb und Naturgesetz der BewegungB E T R A C H T U N G : B e r n h a r d t

Page 14: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

Jan Markowsky macht Theater bei »Unter Druck« auch für Detlef! (Foto: Andreas Düllick ©VG Bild-Kunst)

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 201314 | SCHÖNE AUSSICHTEN

Theater von »Unter Druck« als LebenshilfeWie ich mich per Theatergruppe wieder in die Gesellschaft integriereB E R I C H T : D e t l e f F l i s t e r

Die Theatergruppe von »Unter Druck« gibt es nun-mehr seit mehr als 20 Jahren. In sich ständig än-dernder Besetzung werden eigene Theaterstücke erstellt und vorgeführt. Es ist eine Gruppe, die

gerade die Außenseiter der Gesellschaft durch das Thea-terspielen integrieren und sinnvoll beschäftigen will. Schon beim Aufwärmen kann man die Begeisterung und Euphorie der Gruppe spüren. Der Beobachter erkennt sofort, dass die Teilnehmer_innen Freude haben an dem, was sie tun, und die Sache ernst nehmen. Das sieht man vor allem auch daran, dass alle Akteure bis auf wenige Ausnahmen immer anwe-send sind. Wenn jemand einmal nicht kann, wird in der Regel rechtzeitig abgesagt.

K re a t i v i t ä t b e i m S p i e l e n

Bei »Unter Druck« wird kein Stück vom Blatt abgespielt. In jeder Szene werden Vorgaben gemacht, die die Schauspieler per Improvisation umsetzen müssen und die dem gesamten Stück eine logische Abfolge geben. Wie die Schauspieler nun diese Vorgabe umsetzen, ist letztlich ihnen selbst überlassen. Sie müssen lediglich dort enden, wo die Logistik des Stückes es vorgibt. Das heißt, dass sie sich selbst ihre Rolle bauen, den Charakter und seine Vorgehensweise selbst festlegen. Dabei ist es wichtig, dass jede Rolle ihren Raum auf der Bühne be-kommen sollte und man auf die anderen Schauspieler einge-hen muss, mit ihnen spielen muss. Hier wird die Fähigkeit zum sozialen Umgang miteinander verlangt. Man muss sich in die Gruppe integrieren und bei der Improvisation nicht nur sein Ding zu machen, wenn man ein spielbares Ergebnis haben will, das den Zuschauern auch gefällt. Auch im wirklichen Leben wird diese Fähigkeit letztlich benötigt, die man mit dieser Art Theaterspielen mit ein bisschen Willen durchaus üben und er-lernen kann.

A n t i z i p i e re n v o n G e f ü h l e n u n d S i t u a t i o n e n l e r n e n

Beim Spiel ist es wichtig sich in die entstandenen Situationen und anderen Rollen hineinzufühlen. Zuerst muss man sich in die Situation hineindenken. Was passiert hier? Warum passiert es? Wie würde der von mir aufgebaute Charakter in dieser Situation handeln, und was würde er sagen? Wie wür-den die anderen Charaktere reagieren, und was würden sie sagen oder tun? Kann durch ein derartiges Spiel die Zielvor-gabe der Szene eingehalten werden oder zerstört sie die Szene oder gar die Logistik des gesamten Stückes? Das Antizipieren von Situationen und das Hirneinfühlen in andere Menschen sind wichtige Eigenschaften, die das soziale Miteinander von

Menschen erst ermöglichen. Ein Mensch, der die Situation, in der er sich befindet nicht erfassen kann, wird im Alltag Schwierigkeiten bekom-men. Oft entstehen auch durch mangelndes Einfühlungsvermögen gegenüber anderen Men-schen schwierige Situationen, die häufig zu Streit führen. In unserer Theatergruppe kann man das Antizipieren von Gefühlen und Situationen üben und erlernen, was im Alltag sehr hilfreich sein kann. Das nehme ich von jeder Probe bei »Unter Druck« mit für mich.

E r fo l g i s t h i l f re i c h f ü r m e i n S e l b s t b e w u s s t s e i n

Wenn man ein Stück fertig bekommt, dann ist es für jeden Teilnehmer der Gruppe ein nicht zu un-terschätzendes Erfolgserlebnis, das die Gruppe an sich stärkt, aber auch den einzelnen Schau-spieler. Ich habe gelernt, dass man vieles nur in der Gruppe und nicht allein erreichen kann. Ein-zelgänger werden zu Gruppenmenschen, wenn sie das begreifen. Die Gruppe wird wichtig und gibt einem durch die gemeinsam erarbeiteten Erfolgserlebnisse Rückhalt und Stärke. Kommt es schließlich zur Aufführung des Stückes, kann sich dieser Erfolg noch einmal verstärken, wenn das Publikum das Stück annimmt und es gefällt. Der Applaus stärkt das Selbstbewusstsein und das Gefühl etwas zu können, doch noch zu et-was nützlich zu sein, entsteht und trägt auch im Alltag. Genau das ist es, was auch mich weiter-bringt. Ein positiver Effekt ist noch, dass man das Sprechen vor fremden Leuten übt. Wenn dies auf der Bühne immer wieder gelingt wird es irgendwann auch im wirklichen Leben gelingen. Auch das ist ein nützlicher Effekt, der einem im Leben durchaus weiter helfen kann.

M e i n Fa z i t

Man sieht: Theater zu spielen verlangt eine Menge Fähigkeiten, auch von mir. Wenn einem im Leben geforderte Fähigkeiten fehlen, kann man diese durchaus beim Theater spielend erlernen. Das kann also zur Integration in die Gesellschaft bei-tragen, indem es bestimmte Fähigkeit fördert und ermöglicht diese einzuüben. Theater kann also der Weg ins Leben sein. Für mich persönlich ist das so.

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St. Johannis (Quelle: Wikipedia/Longbow4u)

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 2013 SCHÖNE AUSSICHTEN | 15

Unverbaubare AussichtMeine Studentenbude im Nordturm der Göttinger JohanniskircheB E R I C H T : M a n f r e d W o l f f

Wenn man eine Wohnung sucht, hat man ja immer einen Wunschzettel dabei, auf dem gelistet ist, welche Kriterien für die Wohnung erfüllt

sein sollen. Ganz oben steht: sie muss bezahlbar sein. Sie soll natürlich ein Minimum an Komfort besitzen. Der Vermieter darf nicht böse sein, und die Nachbarn und Mitmieter sollen freundlich sein. Die Wohnung darf nicht abgelegen sein, sie soll vielmehr zentral in der Stadt sein und gute Verkehrsanbindungen haben. Last but not least erwartet man eine schöne Aussicht, viel Himmel und ein beschaulicher Blick über die Landschaft.

Eine Behausung, die alle diese Anforderun-gen erfüllt, ist schwer zu finden. Erst recht, wenn es sich dabei um eine Studentenbude handeln soll. Das ist heutzutage sehr schwer, und vor 50 Jahren war es auch nicht leicht. Da gehört schon eine große Portion Glück dazu, und man muss auch bereit sein, an der einen oder anderen Stelle Zugeständnisse zu machen. Als ich damals in Göttingen nach einer Unterkunft suchte, half mir eine Kneipenbekanntschaft. Der Hausmeister des Stadthauses hörte sich meine Wünsche an, versprach mir, behilflich zu sein, und nach ein paar Tagen hatte er etwas für mich: „Willst du auf den Kirchturm ziehen? Da wird ein Platz frei.“

E i n e Wo h n u n g i m K i rc h t u r m

Mitten in der Stadt, gleich hinter dem Rat-haus, steht in Göttingen die Johanniskirche, geschmückt mit zwei Türmen. Der Südturm ist 56 Meter hoch, der Nordturm misst 62 Me-ter. Dieser Nordturm war damals Eigentum der Stadt Göttingen, denn darauf befand sich die Türmerwohnung. Der von der Stadt besoldete Türmer hatte Ausschau zu halten, ob sich feind-liche Soldaten der Stadt näherten, und bei Nacht musste er Alarm geben, wenn es in der Stadt brannte. 1921 verstarb der letzte Türmer, und seither wohnten dort oben Studenten. Das war die höchste Studentenwohnung in Deutschland.

Ich wusste, dass diese Wohnung sehr be-gehrt war. Also beschloss ich einzuziehen. Aller-dings musste ich einige Abstriche von meinem Wunschzettel der idealen Wohnung vornehmen. Die Vorteile waren jedoch unübertrefflich. Vor-weg galt eines besonders wichtig – die Wohnung

war mietfrei. Die einzige Leistung, die von den Bewohnern erwartet wurde, war, dass man am Samstag zwei Stunden lang den Turm offen halten musste, damit Touristen ihn besteigen und die schöne Aussicht genießen konnten. Es gab zwei Zim-mer übereinander, das untere mit einem kleinen Gästezim-mer, das obere etwas größer, mit einer vorgelagerten Küche. Die Räume waren einfach möbliert, jeder Bewohner hatte eine nützliche Ergänzung des Mobiliars zurückgelassen. Die Lage war zentral, alle Institute der Universität waren in zehn Minuten zu Fuß erreichbar. Vor der Tür hielten fast alle Bus-linien, nebenan war eine Karstadt-Filiale. Die Aussicht war unübertroffen. Mehr als zwanzig Kilometer konnte man die Umgebung Göttingens sehen, ganz viel Himmel – man war ja auch schon fast darin.

Die hervorragende Aussicht nutzte bereits Carl Friedrich Gauss, Professor in Göttingen seit 1807, für seine geodäti-schen Untersuchungen. Deshalb war früher auf dem Zehn-D-Mark-Schein, der Gauss gewidmet war, auch die Johannis-kirche abgebildet, und ich konnte immer leicht zeigen, wo ich wohnte, wenn ein Schein zur Hand war.

E s g e h t a u c h o h n e K o m fo r t

Beim Komfort musste ich allerdings einige Kompromisse ein-gehen. Die Wohnung war nur über 238 Stufen zu erreichen, aber das ist für einen trainierten jungen Mann ja kein Prob-lem. Es gab auch keine Wasserleitung. Jeder Tropfen des kost-baren Nass musste in Eimern im Innern des Turms mit einer Winde nach oben bis zur Stufe 190 geschafft werden. Geheizt wurde mit Briketts, die außen mit einer Winde emporgehievt wurden. Wenn wir Kohlen kriegten, sperrte die Polizei die Straße für den Fall, dass mal ein Sack abstürzen sollte. Ab-wässer wurden aus einer kleinen Nische in einem gotischen Fensterbogen auf das Kirchendach geleitet.

Ich habe zwei Jahre da oben gewohnt und die wunderbare Aussicht genossen, von allen um meine außergewöhnliche Wohnung beneidet. Auch das philosophische Oberseminar hat dort in einem Semester getagt, weil alle mal nicht nur ein Oberseminar, sondern das oberste Seminar besuchen wollten. Ich bin dann schweren Herzens ausgezogen, aber ich wollte auch anderen Studenten diese einmalige Erfahrung gönnen.

Als 2001 der Turm saniert wurde, mussten die letzten Studenten ausziehen. Die Wohnung wurde nicht neu vermie-tet, weil die Bauordnung die fehlenden Rettungswege bean-standete. An so etwas haben wir damals nie gedacht. Wie rich-tig diese Entscheidung war, zeigte sich im Jahr 2005, als der Turm nach einer Brandstiftung ausbrannte. Die Türmerwoh-nung gibt es nicht mehr. Aber wenn ich die Augen schließe, genieße ich immer noch die unverbaubare Aussicht…

Page 16: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

Rolando Villazón, einer der berühmtesten Tenöre der Welt (Foto: © Nachtigal Artists)

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 201316 | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n fe g e r

Rolando Villazón »Popularität kann sehr hilfreich dabei sein, den Menschen etwas zu geben« E X K L U S I V I N T E R V I E W : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

strassenfeger: Señor Villazón, seit Ende der 1990er Jahre sind Sie einer der gefragtesten und beliebtesten Tenöre weltweit. Sie singen, tanzen und schauspielern, darüber hinaus füh-ren Sie selbst Regie, treten in abendfüllenden Filmen, Dokumentationen und in Talkshows auf, moderieren eigene Fernsehsendungen, för-dern junge Talente, nehmen CDs auf. Sie sind stets auf Reisen und in Bewegung. Damit nicht genug, denn Sie betätigen sich auch als Zeich-ner, und Sie haben vor kurzem Ihren ersten Ro-man »Malabares« in Spanien veröffentlicht, der 2014 auf Deutsch erscheinen wird. Wann fin-den Sie für das alles Zeit? Haben Sie überhaupt noch Zeit zum Schlafen, geschweige denn für ein Privatleben?

Rolando Villazón: Ich habe das große Glück, dass alles, was ich tue, mir wirklich viel Spaß macht. Dadurch, dass meine Aktivitäten so unterschiedlich sind, ist mein Leben auch sehr abwechslungsreich. Meine Freizeit, und das ist besonders die Zeit, die ich mit meiner Familie verbringe, hat aber natürlich einen großen Stel-lenwert und bringt mir ebenso viel Freude und auch den nötigen Ausgleich. Ich denke, es gibt immer mehr Zeit, als wir denken, um die Dinge zu tun, die wir lieben. Wir müssen uns diese Zeit aber auch bewusst nehmen.

Wer oder was gibt Ihnen die Kraft, ein so akti-ves Leben zu führen? Was tun Sie, um immer so frisch, jugendlich, natürlich und zufrieden zu wirken? Wo tanken Sie Ihre schier unerschöpf-liche Energie?

Ich schöpfe sehr viel Kraft aus meinen Be-gegnungen mit den vielen unterschiedlichen Menschen, die ich treffe, und letztlich auch aus meinen Aktivitäten, die ich sehr liebe. Ich gehe mein Leben meistens mit positiver Energie an, auch wenn ich natürlich Momente der Reflek-tion und Traurigkeit sehr wichtig finde. Wir sind schließlich nicht nur hier, um glücklich zu sein, sondern um das Beste aus dem zu machen, was uns gegeben wurde.

Sie sind in Mexico geboren, doch ein Teil Ih-rer Familie stammt aus Österreich. Deutsch ist auch eine der Fremdsprachen, die Ihnen geläu-fig sind. Haben Sie es zuhause gelernt?

Nein, bei mir zuhause wurde kein Deutsch ge-sprochen. Meine Omi allerdings hatte es sich zur Aufgabe gemacht, dass wir Kinder etwas von unse-rem deutschsprachigen Erbe mitnehmen, und hat uns auf der deutschen Schule in Mexico City ange-meldet. Auf die bin ich ein paar Jahre gegangen und habe Deutsch gelernt – und lerne es heute immer noch. Es ist eine ganz schön komplizierte Sprache!

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› www.rolandovillazon.com

Page 17: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

Zeichnung von Rolando Villazón (Quelle: Rolando Villazón)

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 2013 TAUFRISCH & ANGESAGT | 17 a r t s t r a s s e n fe g e r

Wollten Sie schon als Kind Opernsänger wer-den? Wer hat Ihr Gesang- und Schauspieltalent entdeckt? Wie ist eine solche rasante Karriere überhaupt möglich und zu erklären?

Ich hatte wahrscheinlich schon als kleines Kind eine künstlerische Ader – entdeckt wurde ich aber buchstäblich, als mich der Leiter einer Kunst- und Theaterakademie für Kinder singen hörte. Da stand ich zuhause unter der Dusche. Er war der Ansicht, dass man mich fördern sollte, und so begann ich singen, spielen und tanzen zu lernen. Noch ohne konkrete Ambitionen aller-dings, die kamen erst später, nachdem ich einige andere Berufe ausprobiert hatte – Clown, Lehrer und auch Ordensbruder! Schließlich entschied ich mich dann für den Gesang und begann ein Studium am Konservatorium in Mexico City. Von dort kam ich in ein Förderprogramm für junge Sänger am Opernhaus in Pittsburgh, nahm an Wettbewerben teil und machte dann so lang-sam Karriere. Es ging gar nicht so wahnsinnig schnell am Anfang, sondern entsprach dem ty-pischen Karrierebeginn für einen jungen Sänger. Als ich dann ein paar erfolgreiche Debüts hinter mir hatte, ging es aber relativ schnell, dass ich bekannt wurde.

Welche Rolle spielt Literatur in Ihrem Leben.

Es ist bekannt, dass Sie sehr viel lesen. Literatur spielt eine enorm wichtige Rolle

in meinem Leben, denn durch Literatur habe ich einen Zugang zur Seele der Menschen ent-deckt. Als Kind und Jugendlicher erschienen mir die Charaktere, über die ich las, vielschichtiger und reicher als die Gesichter der Menschen, die ich auf der Straße sah. Wahrscheinlich, weil sie durch die großen Meister der Literatur erklärt wurden. Literatur hat mir auch geholfen, meine Augen nach innen zu wenden und mich selbst zu entdecken.

Was bedeutet Popularität für Sie? Führen Sie darüber Buch? Sammeln Sie Zeitungsaus-schnitte mit den überwiegend enthusiastischen und den wenigen moderateren Texten über Sie?

Nein, ich führe kein Buch und habe auch kein persönliches Museum. Manchmal gibt es sehr besondere Momente, und dann behalte ich vielleicht ein Bild oder einen Artikel, der diesen Moment einfängt. Popularität ist groß-artig, wenn man sie richtig einordnet – sie gibt dir künstlerische Macht und Freiheit, und vor allem die Möglichkeit, Verbindungen mit ande-ren Menschen einzugehen. Ich sehe es als eine meiner wichtigsten Aufgaben, Beziehungen zu Menschen zu schaffen, den Menschen etwas zu

geben. Popularität kann dabei sehr hilfreich sein.

Es gibt Leute, die Sie wegen Ihres Faibles für Komik und Clownerie mit dem britischen Komi-ker Mr. Bean vergleichen. Ich denke aber, dass Ihnen Charlie Chaplin näher liegt. Ist es so?

Natürlich denke ich, dass Chaplin der größte Clown ist, den es je gegeben hat. Aber ich bewundere auch Rowan Atkinson als Mr. Bean sehr – es ist also so oder so ein großes Kompliment.

Wie man lesen kann, sind Sie seit 25 Jahren glücklich verheiratet, haben zwei Söhne und einen Mops. Haben Sie genügend Zeit für Ihre Familie?

Ja, ich habe glücklicherweise viel Zeit für meine Familie, da ich meine Planung danach aus-richte und immer genug freie Zeit einbaue. Wir sind einfach gerne zusammen – essen gemein-sam, spielen, gehen spazieren oder schauen ei-nen Film. Am wichtigsten ist aber, dass wir mitei-nander sprechen, und das tun wir gerne und viel.

Welche Opernkomponisten lieben Sie am meis-ten? Was sind Ihre bevorzugten Opernhelden und Opernsänger? Gibt es einen Sänger, den Sie als Ihr Vorbild betrachten? Warum?

Page 18: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

Rolando Villazón (Foto: © Monika Hoefler) Rolando Villazón alias Clown Rollo (Foto: © ROTE NASEN International)

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 201318 | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n fe g e r

Ich liebe alle Komponisten, auch die, die ich gar nicht selber singe – zum Beispiel Brahms oder Wagner. In letzter Zeit habe ich allerdings eine besonders große Liebe zu Wolf-gang Amadeus Mozart entwickelt. Ich habe seine Briefe ver-schlungen und liebe jeden Ton, den er komponiert hat. So nah habe ich mich, glaube ich, noch nie einem Komponisten gefühlt. Er ist einfach wundervoll. Es gibt viele Kollegen, in der Vergangenheit und in der Gegenwart, die ich bewundere. Ein einziges Vorbild habe ich aber nicht.

Gibt es eine Rolle, die Sie nie spielen würden? Den Pinkerton in Madama Butterfly. Er ist einfach zu

unsympathisch.

Sie haben alles: ein glückliches Familienleben, Millionen von begeisterten Fans weltweit, Ruhm, Geld, Freude an Ih-rem Beruf, Sie lachen gern und zaubern den anderen ein Lächeln ins Gesicht. Sind Sie wunschlos glücklich?

Ja, ich bin sehr glücklich – und habe viel Glück gehabt. Ich hatte die Chance, eine Ausbildung zu erhalten, die meine Talente entwickelt hat. Ich habe immer wieder wichtige Men-schen getroffen, die an mich geglaubt und mich gefördert haben. Dies ist ein großes Glück, und es ist keine Selbstver-ständlichkeit. Ich weiß das und sehe es als meine Verantwor-tung, zufrieden zu sein mit dem, was ich habe und mich so wenig wie möglich zu beschweren. Es ist auch meine Verant-wortung, etwas abzugeben – durch Engagement, aber auch durch etwas Poesie oder auch ein Lachen, das man schenkt. Ich weiß, dass viele Menschen nicht so viel Glück im Leben haben wie ich, und Glück spielt eine so große Rolle.

Joseph Beuys meinte, alle Menschen sind Künstler. Sie sa-gen, dass alle Menschen Sänger sind. Echt?

Ja, das stimmt. Vielleicht sind nicht alle professionelle Sänger, aber sie sind Sänger. Genauso wie sie Clowns oder Philosophen sind, und ich glaube, dass wir alle drei Identitä-ten in uns suchen müssen.

Sie verbringen sehr viel Zeit auf Reisen, vor allem in Flug-zeugen. Können Sie überhaupt still sitzen? Wofür nutzen Sie diese langen Reisen? Für Lesen, Schreiben, auf neue Ideen zu kommen?

Ich nutze die Zeit um zu lesen, zu schreiben, aber vor allem, um zu schlafen.

Sie sind auch als ein Mensch bekannt, der seine Bekanntheit und Zeit dafür einsetzt, um anderen Menschen zu helfen, de-nen es nicht so gut geht. Sie sind unter anderem Botschafter der Roten Nasen, gehen als Clown Rollo zu kranken Kin-dern in Krankenhäuser und bringen sie zum Lachen. Warum tun Sie das?

Der wichtigste Grund ist, dass ich einen Schweinwerfer auf diese großartige Organisation richten will, die so eine wichtige Arbeit macht. Es ist so wichtig, den Alltag in den Krankenhäusern etwas aufzuhellen und den Patienten ein Lächeln zu schenken. Diese Clowns tun das fast jeden Tag und machen so einen riesigen Unterschied im Leben der Pa-tienten. Ich bin nur ein paarmal im Jahr dabei, was natürlich zu wenig ist. Aber durch meinen Namen kann ich dieser Or-ganisation zu einer größeren Bekanntheit verhelfen, und das ist auch sehr wichtig.

Sie wollen jetzt offensichtlich Ihr ehrenamtliches Engage-ment auch auf andere Gruppen ausweiten und helfen, auf de-ren Probleme aufmerksam zu machen. Sie haben dem stras-senfeger ein Interview angeboten, ferner eine extra für uns von Ihnen gefertigte und signierte Zeichnung, die bei einer Auktion versteigert werden und den obdachlosen oder woh-nungslosen Menschen zugutekommen soll. Was hat Sie dazu bewogen? Sind Sie während Ihrer zahlreichen Aufenthalte in Berlin mit unseren Verkäufern und Verkäuferinnen in Berüh-rung gekommen? Lesen Sie den strassenfeger?

Ja, ich habe schon Verkäuferinnen und Verkäufer getrof-fen und mit ihnen schöne Gespräche gehabt. Es berührt mich immer sehr, einen Menschen zu sehen, der auf der Straße lebt. Wir sind so gewöhnt an ihren Anblick, dass wir das individuelle Schicksal, die Schwere der persönlichen Situation oft gar nicht mehr wahrnehmen. Das möchte ich verändern. Viele Men-schen wissen vielleicht gar nicht, dass es den strassenfeger gibt, und ich möchte dieses großartige Projekt bekannter machen. Das Leben auf der Straße ist sehr hart und niemand, der nicht auf der Straße leben möchte, sollte dazu gezwungen sein.

Können Sie sich vorstellen, bei Ihrem nächsten Berlinbe-such den strassenfeger in der U-Bahn zu verkaufen und dabei ein bekanntes Lied oder eine Arie zu singen?

Unbedingt, ja. Ich habe, ehrlich gesagt, noch nie daran gedacht, aber es ist eine tolle Idee, die ich unbedingt umset-zen will, wenn ich das nächste Mal in Berlin bin.

Page 19: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

Aus dem Entwurf wurde der Armutsbericht 2013 (Quelle: DPW)

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 2013 TAUFRISCH & ANGESAGT | 19 B re n n p u n k t

Karikatur: OL

Armut auf RekordhochParitätischer Wohlfahrtsverband und Nationale Armutskonferenz warnen vor sozialer Verödung ganzer Regionen Z U S A M M E N F A S S U N G : A n d r e a s D ü l l i c k

Die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland wächst weiter. Ganze Regionen sind von sozialer Verödung bedroht. Das ist das Fazit des Armuts-

berichts 2013, den der Paritätische Wohlfahrts-verband am 19. Dezember vorgestellt hat.

Pa r i t ä t i s c h e r fo rd e r t : A r m u t b e k ä m p fe n – s o z i a l e I n f r a s t r u k t u r e r h a l t e n !

Mit 15,2 Prozent habe die Armut in Deutschland ein neues Rekordhoch erreicht, die soziale und regionale Zerrissenheit habe dabei dramatisch zugenommen. Gemeinsam mit der Nationalen Armutskonferenz fordert der der Paritätische Wohlfahrtsverband die gezielte finanzielle För-derung notleidender Kommunen sowie ein Pa-ket von Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und zum Erhalt der sozialen Infrastruktur vor Ort. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes konstatierte: »Sämtliche positiven Trends aus den letzten Jah-ren sind zum Stillstand gekommen oder haben sich gedreht. Die Kluft zwischen bundesdeut-schen Wohlstandsregionen auf der einen und Armutsregionen auf der anderen Seite wächst stetig und deutlich.«

A r m u t n i m m t b e s o rg n i s e r re g e n d z u

Seit 2006 habe die Armut in Deutschland be-sorgniserregend von 14 auf nunmehr 15,2 Pro-zent zugenommen. Der Abstand zwischen dem Bundesland mit der geringsten Armutsquote (Baden-Württemberg: 11,1 Prozent) und dem Letztplatzierten (Bremen: 23,1 Prozent) habe sich vergrößert und betrage mittlerweile zwölf Prozentpunkte. Auch das Ausmaß der regiona-len Zerrissenheit innerhalb der Bundesländer habe eine neue Qualität erreicht. Insbesondere für die »armutspolitische Problemregion Num-mer Eins«, das Ruhrgebiet, gebe es keine Ent-warnung. »Ganze Regionen befinden sich in Abwärtsspiralen aus wachsender Armut und wegbrechender Wirtschaftskraft. Hier brauchen wir eine gezielte finanzielle Förderung und sozi-ale Programme, um der Verödung entgegenzu-wirken«, so Schneider.

Zw i s c h e n Wo h l s t a n d u n d Ve r a r m u n g – D e u t s c h l a n d v o r d e r Ze r re i ß p ro b e

Das Ausmaß der sozialen und regionalen Zer-rissenheit in Deutschland habe eine neue Qua-lität erreicht: Deutschland sei noch nie so tief gespalten gewesen wie heute. Neu dabei sei die Dynamik: Die sozialen und regionalen Flieh-kräfte würden zunehmen. Arm und Reich trie-ben auseinander. Konkret bedeutete dies: Ganze

Regionen geraten in Abwärtsspiralen aus zuneh-mender Armut und wegbrechender Wirtschafts-kraft. Gerade in denjenigen Regionen, in denen die Menschen in ihrer Armut am dringendsten auf öffentliche soziale Einrichtungen angewie-sen seien, würde diese dem Rotstift zum Opfer fallen. Jugendzentren und Seniorenclubs würden geschlossen, Öffnungszeiten von Schwimmbä-dern oder Bibliotheken eingeschränkt; vielerorts würden sie auch ganz geschlossen. Es sei ein Teufelskreis, der die Armutsproblematik vor Ort immer weiter verschärft. »Wir steuern geradezu auf die soziale Verödung ganzer Regionen zu«, so Schneider.

S e c h s - P u n k t e - K a t a l o g d e r N a t i o n a l e n A r m u t s ko n fe re n z

Die Nationale Armutskonferenz (nak) bewertet die Befunde als alarmierend. Der Sprecher der nak, Joachim Speicher, betonte: »Der Bericht zeigt, dass wir in Deutschland weiter von einer chancengerechten Gesellschaft entfernt sind, als je zuvor.« In einem Sechs-Punkte-Katalog fordert die Nationale Armutskonferenz zur Armutsbe-kämpfung unter anderem eine bedarfsgerechte Erhöhung der Regelsätze, Beschäftigungsange-bote für Langzeitarbeitslose sowie eine Stärkung des sozialen Wohnungsbaus.

Gemeinsam kritisierten Schneider und Speicher den Verzicht der neuen Bundesregie-rung auf solidarische Steuerhöhungen für große Vermögen und Einkommen, um entsprechende Maßnahmen zu finanzieren.

Page 20: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 201320 | TAUFRISCH & ANGESAGT B re n n p u n k t

»Menschenrecht auf Wohnraum« & »Wohlfahrts-Mix«Oswald Menninger, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin, im Interview I N T E R V I E W & F O T O : A n d r e a s D ü l l i c k © V G B i l d - K u n s t

Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin e. V. betreibt Lobbyar-beit für die Schwachen und Kranken der Ge-sellschaft. Unter dem Dach des Verbandes sind Vereine, Organisationen, Einrichtungen und

Initiativen versammelt, die ein vielfältiges Spektrum sozia-ler Arbeit repräsentieren. Oswald Menninger ist Geschäfts-führer des Berliner Verbandes. Seine Mitglieder werden in fachlichen, rechtlichen und organisatorischen Fragen beraten und erhalten Hilfe bei der Finanzierung von Projekten. Er or-ganisiert für haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter Aus- und Fortbildungskurse, Lehrgänge und Seminare. strassenfeger-Chefredakteur Andreas Düllick sprach mit ihm über Sozia-les, Armut und Obdachlosigkeit sowie die Bilanz des Paritäti-schen für 2013 und die Vorhaben für 2014.

strassenfeger: Wie fällt Ihre Bilanz für das vergangene Ge-schäftsjahr aus?

Oswald Menninger: Wir haben einen einmalig hohen Überschuss in diesem Jahr erzielt. Wir hatten weniger Kosten und haben höhere Mitgliedsbeiträge erzielt. Deshalb haben wir beschlossen, diesen Überschuss zur Hälfte wieder als För-derung an unsere Mitglieder für Investitionsvorhaben auszu-schütten. Von diesen sechshunderttausend Euro ist das Meiste in diesem Jahr schon wieder ausgegeben. Der Rest wird dann im Januar an die Mitglieder für Förderung ausgeschüttet.

Neben diesem guten Wirtschaften sind wir generell auf vielen Feldern weitergekommen, z. B. dem Kita-Ausbau. Es gibt in Berlin immer mehr Kinder, das ist sehr erfreulich. Na-türlich brauchen wir für diese Kinder Betreuungsplätze. Wir konnten im letzten Jahr sehr viele neue Kitaplätze einrich-ten, natürlich auch mit Unterstützung und durch Förderpro-gramme des Landes Berlin. Viele dieser neuen Plätze sind von Mitgliedsorganisationen des Paritätischen geschaffen worden. Dies ist eine sehr erfreuliche Entwicklung, weil unsere Kita-träger in der Lage sind, durch ihre Flexibilität als freie Träger die nötigen Plätze auch in sehr kurzen Zeiträumen anzubieten.

Eine wichtige Forderung des Paritätischen lautet: »Men-schenrecht auf Wohnraum« muss für alle gelten. Die Kon-flikte in der Wohnungslosenhilfe spitzen sich extrem zu. Bestes Beispiel dafür ist die Kündigung der Vereinsräume von mob e.V.!

Das sehen wir sehr kritisch. Die Liegenschaftspolitik des Landes ist aus unserer Sicht vollkommen falsch. Das Land

ist ein sehr großer Besitzer von Grundstücken und Immobilienvermögen. Die bisherige Po-litik des Senats, den Landesbesitz nur noch zu Höchstpreisen auf den Markt zu bringen und zu verkaufen, verdrängt natürlich alle anderen Nut-zungsansprüche an die Stadt. Das ist nicht im Sinne einer sozialen Stadt, weil gemeinnützige Träger, die auf diesen Grundstücken gemeinnüt-zige Leistungen vorhalten wollen, nicht mehr mithalten können. Da könnte ich sehr viele Bei-spiele von Mitgliedsorganisationen des Verban-des nennen, die projektierte Einrichtungen und Maßnahmen nicht umsetzen können, weil sie die geforderten Kaufpreise für die Immobilien nicht bezahlen können.

Was fordert der Paritätische vom Senat?Wir wollen eine andere Liegenschaftspoli-

tik. Wir fordern, dass ein Teil der Grundstücke, die das Land abgeben kann, zu sozialverträgli-chen Preisen gemeinnützigen Organisationen angeboten werden. Wir bzw. unsere Mitglieder können Kaufpreise entrichten. Vor allem, wenn dort professionelle Einrichtungen entwickelt und aufgebaut werden sollen. In den Entgelten für diese Leistungen sind Anteile für Investitio-nen vorgesehen. Das gilt für Pflege- und Behin-derteneinrichtungen, Kitas und anderen Einrich-tungstypen. Für diese Einrichtungen brauchen wir Grundstücke, bzw. Gebäude. Wir haben in diesem Jahr ein Sonderheft »Wohn(t)räume« herausgegeben. Darin informieren wir sehr de-tailliert, wie notwendig Grundstücke und Im-mobilien für gemeinnützige Träger sind. Es geht nicht darum, dass sich gemeinnützige Träger mit Immobilien vollsaugen. Aber wir brauchen ein-fach Räume, Gebäude, Grundstücke, um soziale Leistungen vor Ort anbieten zu können. Dafür ist Immobilienbesitz unverzichtbar – aber als Mittel zum Zweck!

Immer öfter werden Leistungsempfänger zu einem Wohnungswechsel in einen nicht vorhandenen Wohnungsmarkt gezwungen. Der Paritätische fordert die Aussetzung von

Page 21: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

Oswald Menninger, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 2013 TAUFRISCH & ANGESAGT | 21 B re n n p u n k t

Zwangsumzügen sowie die Überarbeitung der Wohnaufwendungenverordnung.

Richtig, es macht keinen Sinn, wegen ge-ringer Überschreitungen der Mietgrenzen, Men-schen zu zwingen, ihre Wohnungen zu verlassen. Der ganze Aufwand, der damit zusammenhängt, kommt langfristig dem Land viel teurer zu ste-hen. Besonders, wenn die Menschen in der Ob-dachlosigkeit landen. Dann müssen sie ja auch unterstützt und versorgt werden. Das kostet langfristig viel mehr Geld, als in einzelnen Fällen Mietkostenüberschreitungen zu akzeptieren.

Nach dem Skandal um die Treberhilfe hat der Senat Maßnahmen ergriffen, um Missbrauch von Landesmitteln zu verhindern. Der Paritäti-sche wehrt sich nun gegen Gängelei des Senats.

Unsere Einrichtungen sind abhängig vom Wettbewerb, weil der Bundesgesetzgeber in den sozialen Leistungsgesetzen ab Mitte der 90er Jahre einen wettbewerblichen Rahmen vorge-geben hat. Das Ziel war, dass gemeinnützige Einrichtungen als Wirtschaftsunternehmen im Wettbewerb Dienstleistungen anbieten, damit die Kosten gedämpft werden. In einem Wett-bewerbssystem müssen die Unternehmen ihre wirtschaftlichen Belange selbst steuern können, weil sie z. B. wirtschaftliche Risiken durch Aus-lastungsschwankungen beherrschen müssen. Wir haben das Gefühl, das Land Berlin möchte natürlich einerseits Wettbewerb, andererseits aber gemeinnützige Unternehmen, die wie Zu-wendungsempfänger jeden Cent abrechnen sol-len. Das passt nicht zusammen und kann nicht funktionieren. Deswegen wehren wir uns. Wir wehren uns nicht gegen Kontrollen, ob die Leis-tungen erbracht und die Qualitätsstandards ein-gehalten werden. Diese Kontrollen braucht es schon im Interesse der Menschen, die gepflegt und betreut werden.

Der Paritätische steht auch für ehrenamtliches Engagement…

Ja, wir vertreten schon lange einen »Wohl-fahrts-Mix«. Das heißt, dass die Grundversor-

gung der Menschen in den verschiedenen Ver-sorgungsfeldern natürlich über professionelle Einrichtungen, über Fachkräfte geleistet werden muss. Bei vielen Problemen in dieser Stadt könnte mit ehrenamtlicher Begleitung vieles besser für die Berliner gemacht werden. Ein typisches Bei-spiel ist die Situation in der ambulanten Pflege. Selbst, wenn dort sehr gute Pflege geleistet wird, wovon wir ausgehen, gibt es immer das Problem, dass die Menschen vereinsamen. Es fehlen sehr häufig Kontakte und Ansprache. Hier kann man sehr gut die Lebensqualität von Pflegebedürfti-gen mit ehrenamtlicher und nachbarschaftlicher Unterstützung verbessern. Dafür braucht es Netzwerke, die in den Sozialraum hineinwirken und einfach eine bessere Betreuung ermöglichen. Eine Gesellschaft, in der alle sozialen Probleme nur noch rein professionell bewältigt werden, wäre am Ende eine arme Gesellschaft. Wenn sich niemand freiwillig um die Probleme seiner Mit-menschen, seines sozialen Umfeldes kümmert, verliert eine Gesellschaft ihre soziale Bindung.

Sie haben eine Ehrenamtsstudie beauftragt. Was ist das wichtigste Ergebnis?

Ein wesentliches Ergebnis der Studie ist, dass wir jetzt genau wissen, wie viele Berliner sich ehrenamtlich unter unserem Dach engagieren. Es sind ca. 30 000 Ehrenamtliche - eine enorme Zahl für die Stadt. Daneben haben wir noch achtzigtausend Berliner, die mitgliedschaftlich in den Organisationen des Paritätischen organi-siert sind. Das heißt, sie zahlen Mitgliedsbeiträge und ermöglichen dadurch soziale Leistungen oder unterstützen Einrichtungen, ihre Leistun-gen zu erbringen. Das sind enorme Potenziale. Wir ermuntern unsere Mitgliedsorganisationen weiterhin, vielfältige Angebote für freiwilliges Engagement zu machen. Alle, die sich engagie-ren wollen, sollen immer genau das finden, was für sie passt, wo sie ihre Interessen verwirklichen und auch einen Sinn erkennen können. Gerade ältere Menschen, das wissen wir aus vielen ande-ren Studien, tut das sehr gut. Sie bleiben länger fit, werden selbst viel seltener krank, weil sie das

Gefühl haben, gebraucht zu werden, etwas Nütz-liches für die Gemeinschaft zu tun.

Ein Ergebnis der Studie hat uns selbst er-staunt. Wir haben 2005 eine ähnliche Studie durchgeführt. Damals wurde festgestellt, dass sich knapp zwei Drittel aller Ehrenamtlichen dauerhaft und mehr als ein Drittel projektorien-tiert, also zeitlich befristet engagieren. Nach der neuen Studie hat sich das verändert. Es sind fast 80 Prozent langfristig engagiert, also über drei Viertel. Und weniger als ein Viertel engagiert sich kurzfristig. Das ist eine Entwicklung, die die Fachleute ganz anders prognostiziert haben. Das ist auch eine tolle Entwicklung, mit die wir sehr zufrieden sind.

Mit welchen Zielen und Strategien geht der Pa-ritätische in das Jahr 2014?

Auf der Tagesordnung steht schwerpunkt-mäßig die Liegenschaftspolitik. Hier muss es Veränderungen geben, dafür werden wir uns einsetzten. Auf landeseigenen Grundstücken muss preiswerter und zusätzlicher Wohnraum entstehen. In erster Linie sind dabei die städti-schen Wohnungsbaugesellschaften gefordert. Hier werden wir öffentlichen Druck machen.

Ansonsten werden wir als weiteres Ziel die Sicherung der sozialen Angebote in der Stadt verfolgen. Darüber hinaus werden wir uns viel intensiver in allen sozialen Dienstleistungsfel-dern mit dem Thema ›Wirkung‹ auseinanderset-zen. Es wird uns von Teilen der Politik vorge-worfen, der Staat würde viel Geld für Leistung ausgeben, die am Ende keine Verbesserung der sozialen Situation der Menschen bewirken. Das ist falsch, wenn man die Realität genau beob-achtet. Aber wir haben uns in der Vergangenheit auch selbst nicht intensiv genug die Frage ge-stellt: ›Wie wirkt denn unsere Arbeit?‹. Wir sind lange von der Vorstellung ausgegangen, dass die Mitarbeiter in unseren Einrichtungen gut quali-fiziert sind. Diese gute Qualifikation sichert aber nicht immer automatisch ein gutes Ergebnis in der Betreuung. Wer die Realität genau kennt, der weiß, dass zu guter Qualifizierung auch leis-tungsfähige Organisationsstrukturen gehören. Der organisatorische Rahmen eines Unterneh-mens und eine nötige Selbstreflexion ist ebenfalls mit verantwortlich, dass am Ende qualifizierte Mitarbeiter auch qualifizierte Arbeit leisten. Da-mit werden wir uns in den nächsten Jahren sehr intensiv auseinander setzen müssen.

Was sind die Wünsche des Privatmanns Oswald Menninger für das kommende Jahr?

Ich wünsche mir, dass ich etwas weniger Stress habe und gesund bleibe. Und dazu kommt natürlich der Wunsch, die beruflichen Heraus-forderungen weiterhin in den Griff zu bekom-men. Bei der Interessensvielfalt im Paritätischen ist das keine einfache Angelegenheit. Bisher ist es aber immer gelungen, alle Interessen unter einen Hut zu bekommen.

Page 22: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

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strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 201322 | TAUFRISCH & ANGESAGT K u l t u r t i p p s

skurril, famos und preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : L a u r a

2 LESEBÜHNE

»Wahn & Vision«Vision und Wahn ist die Lesebühne von und mit Thomas Manegold, Marion Alexa Müller, Robert Rescue und Gästen. Dargeboten werden Werke aus eigener Produktion, Lesen, Singen und auch jede andere Art der Performance sind willkommen. Die Themen: »Nacktbadestrandpromenade« »Heiliger Stuhl«, Stiller Brüter«, »Begleitservice«, »Vögelfut-ter« oder »Schwedische Gardinen«. »Vision & Wahn« kann bissig, sarkastisch melancholisch, schräg, krank, zynisch sein und politisch unkorrekt. Es hat immer auch satirische, kabarettistische und lustige Momente.

Am 8. Januar, um 20 Uhr – Eintritt frei – Spende erwünscht!Akteure melden sich per E-Mail-Adresse [email protected] an.

Periplaneta LiteraturcaféBornholmer Str. 81a10439 Berlin

Info & Bild: www.periplaneta.com

4 THEATER

»Jugend ohne Gott«Als der Gymnasiast N. in einer Arbeit den Satz »Alle Neger sind hinterlistig, feig und faul« schreibt, stellt ihn sein Lehrer vor der Klasse zur Rede. N. wird dafür am nächsten Tag zum Direktor zitiert. Laut Anweisung muss die Jugend moralisch zum Krieg erzogen werden. In einem vormilitärischen Ausbildungslager eskalieren die Konflikte: Ein Schüler wird ermordet, ein Mitschüler gerät unter Tatver-dacht. Der Lehrer, der viel zu lange über seinen Anteil am Tathergang schwieg, gesteht in der Gerichtsverhandlung nach langem Ringen schließlich die Wahrheit.

Am 28. Dezember, am 4. & 8. Januar, um 20 UhrEintritt: 30 Euro/ ermäßigt: 23 EuroTickethotline: 030 - 28441-225

Junges Deutsches TheaterSchumannstr. 13a10117 Berlin

Info & Bild: www.deutschestheater.de

1 GALA

»Radio Hochsee«Seit nun gut 15 gemeinsamen Jahren Radio Hochsee widmen sich der Schriftsteller Falko Hennig und der Musiker Doc Schoko, unterstützt von einer bunten Schar Gastexperten, stets den wirklich wichtigen kulturellen und wissenschaftli-chen Themen unserer Zeit. Im vergangenem Jahr ging es z. B. um Nasenkröten, Hirschkäfer, Jean Paul und das Bier, nackte Nazis, Zauberpilze, das Jodeln, Parallel- Universen und Zeitreisen bei den Simpsons. Jetzt gönnen sie sich und ihrem Publikum erstmals eine literarische und musikalische Gala zum Jahreswechsel, einen höchst subjektiven Zusammen-schnitt der Höhe- und Tiefpunkte des Jahres 2013. Neben Leckerbissen aus dem Hochsee-Jahr präsentieren die Gastgeber in eigenen Kurzfilmen und Fotoreportagen tiefe Ein- und Ausblicke in große und kleine Welten sowie ihre persönlichen Highlights aus Film, Musik und Literatur. Ein Muss und deshalb eine Empfehlung des strassenfeger!

Am 28. und 29. Dezember, um 20 UhrEintritt: zehn Euro/ ermäßigt: acht Euro

Z-Bar Bergstr. 210115 Berlin

Info & Bild: www.falko-hennig.de

3 PARTY

»Swag«Wer Charts-Gejaule oder Electro-Gedöns hören will, der muss diesmal draußen bleiben. Der »Lindenpark« in Potsdam wird am 11. Januar abgerissen – und zwar mit Hip Hop, Black & Dance. Mit tollem Sound dabei ist »DJ Boogie Dan«. Er legt u.a. bei Breakdance-Meisterschaften und Rappern auf, arbeitet weltweit in den größten Clubs und ist gerade erst von seiner USA-Tour zurückgekehrt. »DJ Meo« ist der Spezialist für atembe-raubende Partys; er legt u.a. im »Fritz« auf regelmäßig als Resident im »Adagio«. Er trifft immer den Geschmack der Crowd und sorgt für die besten Partys am Wochen-ende. Der Rapper »Scar« ist eine feste Größe im HipHop-Business und darf auch im »Lindenpark« mit seinem Live-Auftritt nicht fehlen.

Am 11. Januar, um 22 UhrEintritt: VVK fünf Euro/ AK: sieben Euro

Jugendkultur- und Familienzentrum LindenparkStahnsdorfer Straße 76-7814482 Potsdam

Info & Bild: www.lindenpark.de

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VORSCHLAGENSie haben da einen Tipp? Dann

senden Sie ihn uns an:[email protected]

Je skurriler, famoser und preiswerter, desto besser!

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 2013 TAUFRISCH & ANGESAGT | 23 K u l t u r t i p p s

7 MUSIK

»Muttis Kinder«»Muttis Kinder« sind eine tolle Brut. Mit Vergnü-gen und Bewunderung hängt man ihnen an den Lippen der drei Stimmbandakrobaten. Flankiert von Rock und Jazz, vereinigen sich Improvisation und Perfektion, treffen auf Pop und Klassik und dann direkt ins Schwarze. Claudia Graue, Marcus Melzwig und Christopher Nell, das sind die viereiigen Drillinge, die von Mutter Talent reichlich beschenkt wurden. Ihre Show ist voller akustischer Überraschungsangriffe und gespickt mit einer großen Portion Humor.

Vom 28 bis zum 31. Dezember, Eintritt: 32 EuroWann: Zu unterschiedlichen Zeiten (siehe Webseite)Tickethotline: 030 – 8831582

Bar jeder VernunftSchaperstr. 24 10719 Berlin

Info & Bild: www.bar-jeder-vernunft.de

8 FÜHRUNG

»Kiezspaziergänge«Rolf Gänsrich ist ein waschechter Berliner. Er führt Neugierige durch Berlin, vorwiegend durch den Prenzlauer Berg. Sein »Kiezspazier-gang« führt über die Kastanienallee, die Oderberger Straße, vorbei am Mauerpark und von dort auf und abseits der Bernauer Straße und der Mauergedenkstätte entlang bis zum Nordbahnhof. Grundsätzlich finden die Führungen immer samstags statt. Bei Interesse empfiehlt sich, besonders bei schlechtem Wetter, dennoch eine Nachfrage per Telefon oder E-Mail.

Samstags, um 11 Uhr – Eintritt frei! – eine großzügige Spende hilft!

Kontakt: 030 - 28836362 oder E-Mail: [email protected]

Treffpunkt:»Meldestelle«Pappelallee/ Schönhauser AlleeAm U-Bhf. Eberswalder Straße

Info & Bild: www.rolfgaensrich.wordpress.com

5 AUSSTELLUNG

»A Taste of Munch«»A Taste of Munch« heißt eine Freilichtausstel-lung auf dem Potsdamer Platz anlässlich des 150. Geburtstages des norwegischen Künstlers Edvard Munch. 1892 wurde Munchs Ausstel-lung im »Verein der Berliner Künstler« nach wenigen Tagen geschlossen. Viele fanden seine Gemälde damals zu provokant, denn er hat menschliche Gefühle beschrieben wie keiner zuvor. Der Skandal um die Berliner Exposition weckte ein umso größeres öffentliches Interesse – ein erster Schritt auf dem Weg zum internatio-nalen Erfolg. Jetzt ist diese Ausstellung in Teilen noch einmal zu sehen. Ein Muss für Munch- Fans.

Noch bis zum 26. Dezember – Eintritt frei!

Potsdamer Platz10785 Berlin Info: www.berlin.de

Bildnachweis: © Munch-museet / Munch-Ellingsen

6 FOTOGRAFIE

»Willy Brandt – eine Hommage in Bildern«Die Fotografen Max Scheler, Robert Lebeck, Thomas Hoepker und Volker Hinz haben Willy Brandts Karriere im Auftrag des »stern« über Jahre hinweg mit der Kamera begleitet. Sie fotografierten Brandt nicht nur auf der politi-schen Bühne, sondern konnten auch einen Blick hinter die Kulissen des offiziellen politischen Geschehens werfen. So rückt neben dem schillernden Politiker und Staatsmann auch immer der vermeintliche Privatmensch Willy Brandt ins Bild. Passt gut zur neuen Großen Koalition – ob Willy die gut finden würde?

Noch bis zum 1. Februar – Eintritt frei!Ausweis bitte mitbringen!

Von Dienstag bis Freitag von 9 Uhr bis 17.30 UhrAm Samstag & Sonntag von 10 Uhr bis 18 Uhr

Willy-Brandt-HausWilhelmstraße 14010963 Berlin

Info & Bild: www.willy-brandt-haus.de

Page 24: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

01 The Wake Woods (Foto: © G Facciolo)

02 Christian Haase (Foto © Monique Wüstenhagen)

03 Bukowski Waits For Ever

(Foto © Oliver Betke)

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strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 201324 | TAUFRISCH & ANGESAGT k a f fe e b a n k ro t t

kaffeebankrott 2014Unser TV-Format startet demnächst richtig durchB E R I C H T : G u i d o F a h r e n d h o l z

Die Erfahrung aus der ersten Aufzeich-nung von kaffeebankrott im neuen Studio von Black Box Music (BBM) und die anschließenden Auswertung

unserer Crew, gemeinsam mit den erfahrenen Jungs und Mädels von BBM, macht ein Umden-ken bei den Produktionsabläufe notwendig. Nur wenn wir den Rhythmus der Aufzeichnungster-mine harmonischer gestalten, ist ein konzentrier-tes und professionelles arbeiten zu gewährleis-ten. Geplant war das so sicherlich nicht, aber ein verdammt guter Rat der Profis ist es in jedem Fall. Somit haben wir in Absprache mit allen Be-teiligten bei BBM, ALEX, Advice Media, dem strassenfeger und nicht zuletzt den Musikern, folgende Entscheidung getroffen.

W i c h t i g e Te r m i n ä n d e r u n g e n

Die Aufzeichnungstermine von kaffeebankrott am 13.12.2013 mit »The Wake Woods« und am 08.01.2014 mit »Dvora Davis« entfallen! Dies ausgleichend produzieren wir im Januar drei neue Ausgaben von kaffeebankrott an drei aufeinan-derfolgenden Tagen mit den folgenden musikali-schen Gästen und Gesprächspartnern.

Am 22. Januar 2014 präsentieren wir die Barrevue »Bukowski Waits for ever«. Das erfolg-reiche Song/Lyrik Projekt begeistert im gesamten deutschsprachigen Raum seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten Publikum und Kritik gleichermaßen. Das Ensemble um Matthias Behrsing und Jens Sa-leh startet mit seinem neuen Programm »Bukow-ski Waits for Ever« ins Jahr 2014. Diesmal mit im Boot, Jana Kozewa und Franz de Bÿl. Talkthema ist der Armutsbericht 2013 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Dazu spreche ich mit des-sen Geschäftsführer Dr. Ulrich Schneider und mit dem Musiker und Künstler Markus Siebert, der in einem ungewöhnlichen Projekt Armut und Sozialität mit seiner Musik verband.

Am 23. Januar 2014 betritt ein guter alter Bekannter die Studiobühne. Christian Haase stellt mit seiner Band, das neue und sechste Al-bum mit dem Titel »Alles was gut ist« vor. Chris-tian ist aber auch ein begnadeter Storyteller und es gibt mit Sicherheit wieder die eine oder andere Anekdote von der Tour zu erzählen. Im Talk löst Daniel Weißhoff vom »Apnea-College Berlin« ein Versprechen ein. Vor einiger Zeit behauptete er in einem Interview, mir nach nur einem Tag Training beizubringen, mindestens drei Minuten unter Wasser bleiben zu können, ohne zusätzli-che Atemhilfen. Wenn das geklappt hat, mode-riere ich auch diese Sendung live.

Am 24. Januar 2014 holen wir den Termin mit »The Wake Woods« vom Dezember nach. Wer die Jungs bereits bei deren Record-Release-Party in der Berliner Kulturbrauerei und der anschließenden Tour erlebte, weiß mit ihnen

brennt auch im Januar die Luft. Dass Haustierhaltung inzwi-schen viel zu häufig mit der Vorliebe für Exoten kombiniert wird, bekommt Marko Hafenberg tagtäglich zu spüren. Er leitet die einzige Reptilienauffangstation in Berlin und Bran-denburg, warnt vor den Gefahren für die Tiere, für die Halter und vor der Bedrohung von Neozoon in unserer Natur.

D a s S t u d i o b e f i n d e t s i c h b e i :B l a c k B o x M u s i c Ve r a n s t a l t u n g s t e c h n i k G m b HH e r t z s t r a ß e 7 1 , D - 1 3 1 5 8 B e r l i nw w w. b l a c k - b o x - m u s i c . d e

Parkplätze sind in ausreichendem Maß auf dem Gelände vorhanden, Bushaltestellen und der S-Bahnhof Wilhelmsruh sind in wenigen Minuten zu Fuß erreichbar. Die Studio-Tore öffnen sich für das geneigte Publikum gegen 19 Uhr und die Shows beginnen dann gegen 19.30 Uhr. Der Eintritt ist wie immer frei und das Mitbringen von vor allem Kaltgetränken ist ausdrücklich erwünscht!

We rd e K a m e r a f r a u o d e r – m a n n i m Te a m v o n k a f fe e b a n k ro t t

Du hast schon einmal hinter einer solchen Kamera gestan-den, studierst es eventuell auch gerade, suchst praktische Er-fahrung im Ablauf einer solchen Produktion oder bist bereits Profi mit einer kleinen Sozialmacke? Du hast Lust auf Stu-dioproduktionen und bist auch ausgefallenen Außenterminen nicht abgeneigt? Dann komm ins Studio, schau Dir eine der Produktionen mal genauer an und sei eventuell schon bei ei-ner der kommenden Produktionen mit dabei.

H a t j e m a n d B o c k a u f C a t e r i n g ?

Studioluft ist echt furchtbar trocken, dazu meist auch noch heißer als vermutet, eine Herausforderung für den Flüssig-keitshaushalt aller Beteiligten wie Crew, Musiker, Talkgäste und Publikum. Deshalb wollen wir schon lange einen Stand starten, an dem es bezahlbare Getränke gibt. Hast Du Lust, trockene Kehlen wieder einzuweichen, nebenbei auch den strassenfeger an die Frau und/oder den Mann zu bringen und dabei auch noch ein tolles Konzert zu erleben, dann geht auch an Dich die Einladung, einfach eine E-Mail zu schreiben an [email protected] oder [email protected].

I N FO

kaffeebankrott im Studio von »Black Box Music«Hertzstraße 71, 13158 Berlin-Pankow

TV-Aufzeichungen22. Januar 2014, Bukowski Waits For Ever

23. Januar 2014, Christian Haase & Band

24. Januar 2014, The Wake Woods

Einlass: 19.00 Uhr – Beginn: 19.30 Uhr

EINTRITT FREI!

kaffeebankrott bei facebook › https://www.facebook.com/

kaffeebankrott?fref=ts

Page 25: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 2013 TAUFRISCH & ANGESAGT | 25 O n e Wa r m W i n t e r

I N FO

› www.friendswbenefits.de

› www.onewarmwinter.org

› www.strassenfeger.org

› www.dojofuckingyeah.de

Kaltstart in die neue Saison»One Warm Winter – Das Leben ist kein U-Bahnhof«

Bereits im vierten Jahr starte am 12. De-zember die Obdachlosenkampagne »One Warm Winter«, erstmals unter dem Dach der neugegründeten Stiftung

»Friends with Benefi ts« und gemeinsam mit der Werbeagentur DOJO. Erneut sammeln dabei prominente Gesichter Spenden für winterfeste Kleidung und machen auf die wichtige Thematik Obdachlosigkeit aufmerksam. Dabei sollen ins-besondere junge Menschen für diese Problema-tik sensibilisiert werden. Unterstützung erhält die Aktion in diesem Jahr von Palina Rojinski, Elyas M‘Barek, Marteria, Olli Schulz, Visa Vie, MC Fitti und Flo Mega, die auf Plakaten, Anzei-gen und bei diversen Veranstaltungen im Rah-men der Kampagne zu sehen sind.

Neben den prominenten Unterstützern wer-den auf den Plakaten erstmals auch obdachlose Menschen zu sehen sein. Eine besondere, visu-elle Umsetzung in diesem Jahr ist die »Solida-ritätskette«, die eine theoretisch grenzenlose Plakatierung der Motive nebeneinander erlaubt. In Berlin fi ndet die Aktion gemeinsam mit der Straßenzeitung strassenfeger statt.

S p e n d e v i a R e i ß v e r s c h l u s s : N e u e & i n n o v a t i v e M ö g l i c h ke i t e n

Wie in den vergangenen Jahren können sich Inte-ressierte auf www.onewarmwinter.org nicht nur über das Problem Obdachlosigkeit informieren, sondern wie gewohnt eine Spende leisten. Eine Besonderheit ist die Bestimmung des Spenden-

betrags über einen Reißverschluss, mit dem spie-lerisch ein bestimmter Wert festgelegt wird, um somit symbolisch die Jacke eines Obdachlosen zu schließen. Auch in diesem Jahr können sich Spender auf der Webseite verewigen.Der Link dazu: www.onewarmwinter.org

G u t e s f ü r d i e O h re n : B e s t O f -S a m p l e r m i t » F O U R M U S I C «

Im Rahmen der »One Warm Winter«-Kampagne veröffentlicht »Friends with Benefi ts« gemein-sam mit dem Musik-Label »FOUR MUSIC« ei-nen eindrucksvollen Sampler. Die Zusammen-stellung unter dem Titel »Das Leben ist kein U-Bahnhof« umfasst elf Songs von diversen In-terpreten wie Chakuza und Jupiter Jones, bis hin zu bekannten Unterstützern wie Marteria und MC Fitti.

Der Sampler ist ab dem 13. Dezember und ausschließlich digital zum Preis von 9,99 Euro, u.a. bei iTunes and Amazon erhältlich. Zuguns-ten der Kampagne verzichten alle Künstler auf ihre Einnahmen, so dass der Erlös vollständig »One Warm Winter« zu Gute kommt. Link zum Verkauf auf iTunes: http://bit.ly/owwitunes

Link zum Verkauf auf Amazon: http://bit.ly/owwamazon

D e n K l e i d e r s c h r a n k a u f f r i s c h e n : S h i r t s , Sw e a t e r u n d H o o d i e s f ü r d e n g u t e n Zw e c k

Neben T-Shirts und Pullovern mit dem »One

Warm Winter«-Plakatmotiv werden in diesem Jahr erstmals Hoodies zum Verkauf angeboten. Es handelt sich bei allen Artikeln um eigens produzierte Bio-Baumwoll-Produkte. Alle Klei-dungsstücke wurden für die diesjährige Kampa-gne rundum neu designt.Link zum Verkauf: http://www.onewarmwinter.org/merchandise

Fe i e r n u n d d a b e i G u t e s t u n : S p e n d e n - Pa r t y s i n B e r l i n u n d M ü n c h e n

Am 8. Februar im »Bi Nuu« (Berlin) kann wieder für den guten Zweck gefeiert werden. Besucher können sich auf eine hochkarätige Auswahl an Live-Musikern und DJs freuen und gleichzeitig direkt vor Ort mitgebrachte Kleidung spenden.

Die Kampagne wird in in diesem Jahr von EPIC Companies, Mit Vergnügen und Votum media unterstützt.

I N FO

kaff eebankrott im Studio von »Black Box Music«Hertzstraße 71, 13158 Berlin-Pankow

TV-Aufzeichungen22. Januar 2014, Bukowski Waits For Ever

23. Januar 2014, Christian Haase & Band

24. Januar 2014, The Wake Woods

Einlass: 19.00 Uhr – Beginn: 19.30 Uhr

EINTRITT FREI!

kaffeebankrott bei facebook › https://www.facebook.com/

kaffeebankrott?fref=ts

Promis und Obdachlosen zeigen ihr Gesicht für die Kampagne »One Warm Winter« (Quelle: www.onewarmwinter.de)

Page 26: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 201326 | TAUFRISCH & ANGESAGT S p o r t

01 Trainer Jos Luhukay gibt Anweisungen für Stürmer Änis Ben-Hatira

02 Teamgeist führt zum Erfolg

03 Herthas Stürmerstar Adrian Ramos beim Kopfball

04 Mit vereinten Kräften wird bei Hertha BSC verteidigt

Ha Ho He – Hertha BSCDer Blick der Fußballer von Hertha BSC geht nach obenB E R I C H T : A n d r e a s D ü l l i c k & C h r i s t o p h M e w s | F O T O S : A n d r e a s D ü l l i c k © V G B i l d - K u n s t

Wer hätte das zu Beginn der Saison gedacht: Hertha BSC, Aufsteiger in die 1. Fußball-Bundesliga steht kurz vor Abschluss der Hinrunde

mit 25 Punkten auf einem hervorragenden 7. Ta-bellenplatz mit Luft nach oben und gehörigem Abstand nach unten (Stand 18.12. vor dem Spiel gegen Dortmund!). Das war das erklärte Ziel von Cheftrainer Jos Luhukai für die erste Halbserie. Dabei gab es durchaus gute Chancen, noch ein paar mehr Pünktchen zu ergattern. Schlechte Chancenverwertung, ein wenig Pech und einige umstrittene Schiedsrichterentscheidungen ver-hinderten, dass die »Alte Dame« nicht mit sie-ben, acht Punkten mehr auf dem Konto auf ei-nem Champions-League-Platz steht. Erinnert sei hier an die knappen und unnötigen Niederlagen gegen den FC Bayern München (Auswärtsspiel 2:3), den VfB Stuttgart (Heimspiel 0:1 Heim-spiel), Schalke 04 (Heimspiel 0:2) und Bayer Le-verkusen (Heimspiel 0:1) bzw. die vermeidbaren Unentschieden gegen den 1. FC Nürnberg (Aus-wärtsspiel 2:2), gegen Freiburg (Auswärtsspiel 2:2), gegen Hannover 96 (Auswärtsspiel 2:2) und Augsburg (Heimspiel 0:0). In vielen dieser Spiele war Hertha die bessere Mannschaft und domi-nierte das Spiel. Leider besagt die »Team Rang-liste Chancenverwertung« der Süddeutschen Zeitung, dass die Hertha nur auf Platz 14 aller Erstligateams liegt! Aber selbst die großen Bay-ern sind hier nicht viel besser. Platz 7 zur Halbzeit der Saison 2013/2014 ist aller Ehren wert!

J o s L u h u k a y i s t e i n e c h t e r G l ü c k s fa l l f ü r B e r l i n

Den größten Anteil daran hatte unbestritten der Trainer der Herthaner. Jos Luhukay ist ein echter Glücksfall für Berlin. Selbst scharfe Kritiker der Vereinsführung um Präsident Werner Gegenbauer und Manager Michael Preetz müssen zugeben, dass die beiden bei der Verpflichtung des smarten Holländers ein mehr als glückliches Händchen bewiesen haben. Luhukay ist nicht nur ein akribischer Arbeiter, der Tag und Nacht Fußball lebt, er ist auch ein echter Taktikfuchs. Immer hatte

er einen genauen Matchplan, wie der jewei-lige Gegner am besten zu bespielen sei. Wie schon angemerkt, bekamen auch die »Über«-Bayern aus München das zu spüren. Außer-dem hat der Trainer seine Jungs extrem fit gemacht. Davon sprechen die zurückgeleg-ten Laufstrecken seiner Spieler eine beredte Sprache. Man muss, glaube ich, kein Prophet sein, um wissen, dass der Verein und die Spie-ler, aber vor allem die Fans sich wünschen, dass uns dieser Trainer noch sehr lange erhal-ten bleibt. »Berlins Trainer des Jahres« selbst dazu: »Ich bin nicht für ein, zwei Jahre hier. Es geht darum, Hertha wieder zu etablieren.« Stimmt Jos. Ganz Berlin setzt auf Dich!

D i e N u l l m u s s s t e h e n

Herthas Abwehr war in der Hinrunde der Garant dafür, dass die Mannschaft nicht gegen den Abstieg kämpft, sondern um die Plätze für das internationale Geschäft mit-mischen kann. Insbesondere die Innenver-teidigung mit Kapitän Fabian Lustenberger und Sebastian Langkamp hat dem Spiel der Berliner die nötige Stabilität verliehen. Beide gehören zu den besten Innenverteidigern der Liga mit rund 64 Prozent gewonnener Zwei-kämpfe. Gemeinsam mit einem zumeist sehr sicher agierenden Torwart Thomas Kraft ha-ben sie ihren Mitspielern die nötige Sicherheit verliehen. Auch auf den Außenpositionen ist Berlin ziemlich gut besetzt. Peter Pekarik und Johannes van den Berg sind gesetzt, fallen diese beiden aus, hat der Trainer nahezu gleichwerti-gen Ersatz mit Marcel Ndjeng, Fabian Holland, Christoph Janker oder Oldie Levan Kobiashvili und Co. Gerade das ist wahrscheinlich auch die neue Stärke der Mannschaft.

D i e N e u e i n k ä u fe s c h l a g e n e i n

Brillierten in der vergangenen Saison im Team von Luhukay noch Kluge und Niemeyer im Mit-telfeld, so sind es jetzt Hajime Hosogai (Japan), Per Skjelbred, Tolga Cigerci, die gesetzt sind. Kein Wunder, zeichnen sich alle drei doch her-

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Page 27: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 2013 TAUFRISCH & ANGESAGT | 27 S p o r t

vorragende fußballerische Fähigkeiten, Spiel-witz und Kampfgeist aus. Besonders Herthas Japaner ist der Balleroberer des Teams. Was die-ser wieselflinke Spieler auf dem Platz in der ers-ten Halbserie geleistet hat, ist großartig. Hinzu kommt, dass der Trainer »Haji«, wie er ihn liebe-voll nennt, eigentlich auf fast jede Position ver-schieben kann. Ich bin sicher, selbst im Angriff würde er eine gute Figur machen. Bei Skjelbred und Cigerci gibt es durchaus noch Luft nach oben, besonders, was den finalen Paß angeht. Hier fehlt es oft noch an Genauigkeit und Timing für das perfekte Zuspiel auf die Stürmer im Straf-raum. Genau das bemängelt auch Trainer Luhu-kay immer wieder. Schließlich weiß er, dass das der Schlüssel für den Torerfolg ist. Deshalb lässt er seine Jungs diese Spielsituationen im Training auch immer wieder üben.

A d r i a n R a m o s h a t d e n To r i n s t i n k t – B e n - H a t i r a s i e h t s i c h a l s » C h a n c e n t o d «

Er ist ein echter »Killer«! Manchmal. Leider noch nicht oft genug. Gemessen an den vergebe-nen hundertprozentigen Chancen hat Adrian Ra-mos noch viel Luft nach oben. Andererseits: Was wäre die Hertha ohne ihren Torschützen vom Dienst, ihren Mann für die ganz wichtigen Tore. Mit zehn Treffern aus 16 Spielen steht Ramos derzeit auf Platz 2 der Torschützenliste, gerade mal ein Tor hinter dem Dortmunder Starstürmer Robert Lewandowski und gleichauf mit Bayern-Stürmer Mario Mandzukic. Gar nicht auszuden-ken, wo die Hertha stehen könnte, wenn er... Besonders schön anzusehen sind die Kopfbälle des großen, schlanken Stürmers aus Kolumbien. Leider wachsen mit seiner Trefferquote auch die Begehrlichkeiten der anderen Bundesligak-lubs. Angesichts stets klammer Kassen in Ber-lin, stellt sich die Frage: Könnte Manager Preetz einer Zehn-Millionen-Euro-Offerte für Ramos widerstehen? Übrigens liegt die Hertha in dieser Saison mit gerade einmal 25 Toren nur auf Platz zehn der Erstligavereine. Da geht noch was, vor allem bei Änis Ben-Hatira, Sammy Allagui und Sandro Wagner. Ben-Hatira schrieb dazu auf sei-

ner Facebookseite: »Ich bin zurzeit einfach ein Chancentod!« Da stößt den Fans ziemlich sauer auf, dass ihr Liebling Pierre-Michel Lasogga nach Hamburg ausgeliehen wurde und dort schon neun Mal für die Hanseaten getroffen hat! Doch Manager Preetz hat schon mehrfach betont, dass man ihn zurückholen will. Ein Lasogga in Top-form wäre für Berlin ein echter Gewinn.

E i n h u n g r i g e r R o n n y t u t d e r H e r t h a g u t

Wenn er in Form ist, dann ist Herthas Brasili-aner Ronny eine »Waffe«. Insbesondere seine Freistöße sind gefürchtet und haben der Mann-schaft gerade in schwierigen Phasen des Spiels schon oft geholfen. Ein Ronny in Bestform macht den Unterschied. Nur leider ist der Brasilianer oft nicht hungrig genug. Selbst geneigte Beob-achter müssen immer wieder feststellen, dass er nicht austrainiert ist, dass er oft viel zu langsam im Kopf ist. Man fragt sich dann, woran das liegt. Ob er den Druck braucht, die Kritik, die Verset-zung auf die Reservebank. Aber: Sowohl Ronny selbst, als auch der Verein müssen alles, aber auch alles dafür tun, dass dieser wichtige Spieler topfit ist. Die Voraussetzungen hat der Verein dafür, und Ronny selbst sollte es als Frage der Ehre nehmen und sich diesbezüglich an seinem Bruder Raffael orientieren!

D i e j u n g e n W i l d e n B ro o k s u n d N i c o S c h u l z

Berlin war in der Aufstiegssaison das Team in der Bundesliga mit den meisten jungen Eigenge-wächsen. John Anthony Brooks ist so eins und der Rohdiamant im Team. In der Aufstiegssaison kam er in die erste Elf und eroberte sich schnell einen Stammplatz. Er war so gut, dass selbst Jürgen Klinsmann, Trainer des US-Teams nicht umhinkam, ihn zum Nationalspieler zu machen. Brooks ist groß, schnell, hat ein gutes taktisches Verständnis. Auch im Spielaufbau klappt’s schon ganz gut. Leider warfen ihn Verletzungen zu-rück. Dann patzte er auch noch mehrfach gegen Werder Bremen, sodass der Trainer ihn noch vor

der Halbzeit auswechseln musste. »John ist zum wiederholten Mal mit zu wenig Spannung in das Spiel gegangen. Wir sind in der Bundesliga, da ist es knallhart. John muss erwachsen werden«, kritisierte Luhukay den Jungen ungewöhnlich scharf. Dabei muss man Brooks zugute halten, dass der 20-jährige gerade einmal sechs Erstliga-spiele absolviert hat. Auf einem sehr guten Weg ist auch Nico Schulz. Dieser Junge ist ein echter Augenschmaus! Wie er die Außenbahn hoch- und runterflitzt, das ist schon famos. Durch seine Flankenläufe wird Hertha extrem gefährlich, und die Stürmer können sich meist auf perfekte Zuspiele freuen. An Nico Schulz wird der Trai-ner ganz sicher noch sehr viel Freude haben.

E i n e e x t re m s t a r ke E r s a t z b a n k

Luhukay hat für die Rückrunde durchaus noch ein paar Asse im Ärmel. Alexander Baumjo-hann, der Spielmacher, kann und wird das Spiel der Hertha auf ein noch höheres Niveau heben, wenn er seine schwere Verletzung auskuriert und gut austrainiert wieder in die Stammelf rückt. Aber auch Ex-Kapitän Peter Niemeyer ist stets bereit, wenn der Trainer ruft. Ohne zu murren sitzt er auf der Bank, das ist nicht so häufig im oft sehr egozentrischen Profizirkus. Sein Trainer attestiert ihm: »Peter führt jeden Zweikampf mit Herz. Er besticht durch gesunde Härte, absoluten Siegeswillen und extremen Einsatz.« Das sieht Niemeyer auch so: »Ich kann eine Mannschaft mitrei-ßen mit der Art, wie ich spiele.« Schlechtere Karten haben zurzeit Mittelfeldregisseur Peer Kluge und Abwehrmann Maik Franz. Das liegt aber vor allem an der hohen Qualität der Neu-einkäufe auf ihren Positionen. Aber die Saison ist lang, und vor einer Verletzung ist niemand gefeit. Dann müssen beide genauso zur Stelle sein wie Niemeyer.

Also: Auf geht’s Hertha! Jetzt erst mal ab in die wohlverdiente Winterpause, ein wenig im Weihnachtsurlaub relaxen und die Wehwehchen auskurieren und dann in den Trainingslagern wieder richtig durchstarten. Und dann wird an-gegriffen – und zwar nach oben!

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Page 28: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 201328 | TAUFRISCH & ANGESAGT S p o r t

Torhüter-Legende Bernd TrautmannEin überzeugter Verfechter der deutsch-englischen VersöhnungR E Z E N S I O N : C h r i s t o p h M e w s

London, 5. Mai 1956, Wembleystadion. Es ist die 75. Minute im Finale des FA-Cups zwischen Manchester City und Birmingham City, als sich der deutsche

Torhüter der »Citizens«, Bernd Trautmann, bei einer waghalsigen Parade schwer am Hals ver-letzt. Obwohl Trautmann starke Schmerzen hat, spielt er, der Bewusstlosigkeit nahe, weiter und sichert seiner Mannschaft mit tollen Paraden den Pokalsieg (3:1). Drei Tage später kommt die Diagnose: Bernd Trautmann hatte sich im Spiel einen Genickbruch (zweiter Halswirbel) zugezo-gen. 15 Spielminuten mit einer derart schweren Verletzung? Klingt unglaublich, ist aber wahr.

Mit dieser im wahrsten Sinne halsbrecherischen Geschichte wurde Bernhard Carl Trautmann, wie er mit bürgerlichen Namen hieß, zum Idol der englischen Fußballfans. Von 1949 bis 1964 absolvierte der ehemalige Frontsoldat und Kriegsgefangene 545 Spiele für Manchester City. Dank seiner großartigen Paraden, legen-där weiten Abwürfe und einem hervorragenden Stellungsspiel, entwickelte sich Trautmann zu einem, wenn nicht dem besten Keeper auf der Insel. Mit seiner bescheidenen Art trug er jedoch vor allem zur Aussöhnung zwischen Deutsch-land und England bei. Eine aktuell im Verlag Die Werkstatt erschienene Biografie von der BBC-Journalistin Catrine Clay beleuchtet jetzt die un-gewöhnliche Karriere des legendären Torhüters, der im vergangenen Juli im Alter von 89 Jahren gestorben ist.

Wer allerdings hier eine typische Fußball-Bio-grafie mit vielen Fakten und Daten zum sport-lichen Werdegang Trautmanns erwartet, dürfte ein wenig enttäuscht sein. Die 320 Seiten lange Arbeit ist vielmehr - und darin liegt auch die große Stärke der äußerst lesenswerten Arbeit – ein Geschichtsbuch, das gekonnt die politische und soziale Entwicklung im nationalsozialis-tischen Deutschland und Nachkriegs-England mit der Biografie Trautmanns verknüpft und so - neben der Herausarbeitung der charakterlichen und ideologischen Wandlung des Hauptprotago-nisten - die Lebenswirklichkeit jener Jahre ein-drucksvoll veranschaulicht.

Eingebettet in einem Vorwort von DFB-Präsi-dent Wolfgang Niersbach und Epilog von ARD und SWR-Autor Michael Dittrich beginnt Cat-rine Clay ihre Geschichte mit dem jungen Bernd »Berni« Trautmann, der 1923 in Bremen geboren wird, den Sport liebt und früh der Hitlerjugend beitritt. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, mel-det sich der von der nationalsozialistischen Ideo-logie verblendete 17-jährige Trautmann freiwil-lig zum Kriegseinsatz an die Ostfront, überlebt als Fallschirmjäger den Russland-Feldzug und kämpft später in der Ardennen-Offensive. Nach fünf dunklen Jahren des Tötens, Grauens und Verdrängens gerät er, schließlich kurz vor Ende des Krieges in britische Gefangenschaft. Erst dort, so sagte Trautmann später, begann seine eigentliche – sprich demokratische - Erziehung. Die wiederum der Anfang seiner großen Fußball-Karriere war.

Als bei einem Fußballspiel im Gefangenenlager »Camp 50« kein Torwart mehr zur Verfügung steht, stellt sich Trautmann ins Tor und macht schnell durch sehr gute Leistungen von sich re-den. Über den Amateurverein St. Helens Town kommt er 1949 zu den Profis von Manchester City. Dort hat er anfangs allerdings keinen so leichten Stand. Die Entrüstung in der Bevölke-rung Manchesters, vor allem in der jüdischen Ge-meinde, über die Verpflichtung eines Deutschen ist groß. Es kommt zu Protesten gegen den Trans-fer von »Traut the Kraut«. Erst als der Rabbiner von Manchester, Alexander Altmann, in einem offenen Brief Partei für Trautmann ergreift, beru-higt sich die Lage. Bernd Trautmann, in England »Bert« genannt, nutzt seine Chance und wird mit seinen sportlichen Leistungen, seiner Fairness und Bescheidenheit zu einem vorbildlichen Bot-schafter Nachkriegsdeutschlands. 1956 wählen ihn die Fans als ersten ausländischen Spieler zu Englands Fußballer des Jahres.

Die in England erlebte Offenheit und Toleranz beschrieb Bern Trautmann 60 Jahre später so: »Sie haben mich respektiert und mir das Gefühl zurückgegeben, ein menschliches We-sen zu sein, und dafür werde ich ihnen immer dankbar sein.«

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Catrine Clay: Trautmanns Weg. Vom Hitlerjungen zur englischen Fußball-Legende

Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2013

320 Seiten, 24,90 Euro.

Cover (Quelle: Verlag Die Werkstatt)

Page 29: Ausgabe 26, 2014 des strassenfeger - Schöne Aussichten

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 2013 AUS DER REDAKTION | 29 R a t g e b e r

ALLGEMEINE RECHTSBERATUNG

Rechtsanwältin Simone KrauskopfJeden Montag von 11.00 – 15.00 Uhr

im Kaffee Bankrott bei mob e.V.Prenzlauer Allee 87, 10405 Berlin

Bei Bedürftigkeit wird von der Rechtsanwältin ein Beratungsschein beantragt. Bitte die entsprechenden Nachweise mitbringen. (z.B. ALG II-Bescheid)

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Mehr zu ALG II und SozialhilfeDer neue Leitfaden ALG II/Sozialhilfe von A–Z (Stand Juli 2013)

› erhältlich für 11 EUR im Büro des mob e.V., Prenzlauer Allee 87, oder zu bestellen bei: DVS, Schumanstr. 51, 60325 Frankfurt am Main,

› Fax 069 - 740 169

› www.tacheles-sozialhilfe.de › www.erwerbslosenforum.de

VERSCHIEDENE INFOS Teil 2ÄNDERUNGEN IM BILDUNGS- & TEILHABEPAKET SEIT 1.8.2013Der Eigenanteil für Schulwegkosten nach § 28 Abs. 4 SGB II wird auf fünf Euro monatlich begrenzt.R A T G E B E R : J e t t e S t o c k f i s c h

Zusätzlich zu den monatlich zehn Euro Teilhabekosten nach § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II können »in begründe-ten Ausnahmefällen« weitere Kosten

übernommen werden. Die sollen laut Bundesre-gierung nur bewilligt werden, wenn das Mitma-chen an einem Angebot daran scheitert, »dass die benötigte Ausrüstung fehlt« (z. B. Musik-instrumente, Schutzbekleidung für besondere Sportarten). Dieselbe Bundesregierung schränkt jedoch gleich ein, weil »eine Mehrzahl der hier-für in Frage kommenden Bedarfe« vom Kinder-regelsatz umfasst sind. Da dieses Gesetz neu ist, müssen Betroffene wieder einmal bei Ableh-nung von Anträgen mit Widerspruch und Klage bei Gericht jede solche Ausrüstung erkämpfen. Um nur ein paar mögliche Beispiele zu nennen; Turnschuhe mit Spikes, besondere Bekleidung für Karate, Judo, Ballett usw., wenn es nicht vom Veranstalter finanziert wird.

Tragen Betroffene beim Jobcenter bean-tragte Kosten für Ausflüge, Lernförderung u.ä. erst einmal selbst, weil das Jobcenter prüft und prüft und prüft, ist das Jobcenter zur ÜBER-NAHME berücksichtigungsfähiger Kosten VER-PFLICHTET! Dies gilt auch, wenn es Betroffe-nen nicht möglich war, RECHTZEITIG einen Antrag zu stellen (§ 30 SGB II).

Der Teilhabeantrag wirkt nach § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB II im laufenden Leistungsbezug auf den Beginn des Bewilligungsabschnitts zurück. In einer der nächsten Ausgaben werden die Vor-schriften des Senats von Berlin für das Bildungs- und Teilhabepakets vorgestellt.

R E C H T A U F B E I S TA N D

§ 13 Abs. 4 SGB X »Ein Beteiligter kann zu Verhandlungen und Besprechungen mit einem Beistand erscheinen. Das vom Beistand Vorge-tragene gilt als von dem Beteiligten vorgebracht, soweit dieser nicht unverzüglich widerspricht.« Dass Beistände immer wieder rechtswidrig von Sachbearbeitern abgelehnt werden, war schon mehrmals Thema dieses Ratgebers. Oft beglei-ten sich von Hartz IV Betroffene gegenseitig. Dann kann es vorkommen, dass Jobcenter für beide Betroffene Termine parallel legt. Einige

Jobcenter sollen sogar spezielle Programme ent-wickeln, um so Beistände zu verhindern. Dies ist rechtswidrig.

Die Linke hat zum Thema eine offizielle An-frage an die Bundesregierung gestellt. Die bestä-tigt in der Antwort, dass Beistände grundsätzlich erlaubt sind. Ebenfalls dürfen laut dieser Ant-wort mehrere Personen als Beistände auftreten. Dies ist eine Info aus den Newslettern von Ha-rald Thome. Die Stellungnahme der Bundesre-gierung ist zu finden unter: http://www.harald-thome.

de/media/files/Recht_auf_Beistand-12.11.2013pdf.Wer beim Jobcenter Probleme mit Beistän-

den hat oder befürchtet, sollte sich die Stel-lungnahme der Bundesregierung ausdrucken und vorlegen. Klappt selbst das nicht, sollte man sich bei Vorgesetzten beschweren, bis zum Amtsleiter.

G E Z- B E F R E I U N G

Neu heißt das Antrag auf Befreiung beim »Bei-tragsservice« von ARD/ZDF/Deutschland-radio. Anders, als immer wieder behauptet, können auch Menschen, die keine Leistungen wie Alg II, Sozialhilfe, Grundsicherung u.ä. be-ziehen, von den Gebühren befreit bzw. teilbe-freit werden. Wer Einkommen in Höhe von o.g. Leistungen hat, kann befreit werden. Wer nur wenige Euro mehr hat, kann entsprechend im Verhältnis des Betrages befreit werden. Beispiel: wer fünf Euro mehr hat als ALG II, dem werden 12,98 Euro erlassen.

A R M U T

Innerhalb der letzten zehn Jahre ist die Lebens-erwartung der Armen um zwei Jahre im Westen und um vier Jahre im Osten Deutschlands gesun-ken. Das betrifft immerhin zurzeit rund 20 Pro-zent der Bevölkerung! Als »Ausgleich« müssen die Armen länger arbeiten, während die, die eine längere Lebenserwartung haben, es sich durch hohe Renten- bzw. Pensionsansprüche und Ver-mögen leisten können, früh in Rente zu gehen.

Für die Richtigkeit der Angaben kann keine Ga-rantie übernommen werden.

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Im Wahlkampf und auch in den Zeiten der Koalitionsver-handlungen war oft von Menschen die Rede, die nicht so recht greifbar waren: immer wieder ging es um die kleinen Leute und ihre rosige Zukunft. Ich habe mich gefragt, wer das wohl ist. Sind das Mitbürger, die kleiner

sind als der Durchschnitt? Als ich zur Schule ging, war ich immer einer von den Großen mit dem Gardemaß 1,80 Meter. Wenn ich heute irgendwo bei jungen Leuten stehe, muss ich oft zu denen aufblicken. Gehöre ich jetzt auch zu den Klei-nen? Das konnte aber nicht gemeint sein, denn um solche Fragen kümmert sich doch die Politik nicht.

Schließlich wurde ich bei meinen Nachforschungen fündig. Es gibt sie wirklich, die kleinen Leute. Ganze Bücher han-deln von ihnen und ihren Taten und Leiden. Am bekanntes-ten sind die Heinzelmännchen. Die schuften in der Nacht-schicht, erledigen alles, wozu die großen Leute keine Lust haben, bekommen keinen Lohn oder gerade so viel, dass sie nicht verhungern. Dieses Geschäftsmodell, der Sage nach früher nur in Köln angewandt, hat sich inzwischen im gan-zen Land durchgesetzt.

Schneewittchen hatte als Flüchtling Zuflucht bei den sieben Zwergen gefunden. Die teilten mit ihr ihr schmales Einkom-men als Bergleute und sorgten für die Sicherheit. Kleine Leute sind also immer Arbeiter, lerne ich, und sie sind solidarisch mit den Verfolgten und Benachteiligten. Auch der berühmte Zwerg Nase muss erst für eine Hexe und dann für einen Fürs-ten in der Küche schuften. Eine moderne Version dieser Ge-schichten wäre vielleicht »Angie und die sieben Zwerge« mit Berlusconi, Sarkozy, Rösler, Ackermann, Elstner und wie sie sonst noch heißen, aber die arbeiten ja alle nicht wirklich …

Siegmar Gabriel, der ja besonders oft von den kleinen Leuten spricht und ihnen Gutes tun will, denkt vielleicht viel mo-derner und hat keine Märchenbücher im Sinn. Ich habe den Verdacht, dass er sich in seinen Reden in Wirklichkeit an die

Hobbits wendet. Das sind auch kleine Leute. Das wäre doch toll, wenn er von den Hobbits zum König von Mittelerde ge-wählt wird und den bösen Drachen GroKo-Deal tötet.

Die Zukunft Deutschlands, derer sich die Politiker nun an-nehmen wollen, wird nicht nur für die kleinen Leute Überra-schungen bereithalten. Man spürt auch den allgemeinen Sinn für Humor in ihrem Koalitionsvertrag. Wer in Zukunft eine strafbare Handlung begeht, soll nicht in jedem Fall einfahren. Der Führerscheinentzug, befristet bis lebenslänglich, soll als Kriminalstrafe eingeführt werden. Das wirkt natürlich nur bei Leuten, die auch ein Auto haben. Die Politiker haben an-scheinend alle nicht den hübschen Werbefilm »Signorita, isch abe gar kein Auto« gesehen. Es zeugt schon von viel schwar-zem Humor, dass Straftäter nicht in Moabit oder Tegel sitzen, dafür aber nachmittags um fünf in der überfüllten Ringbahn stehen sollen. Eine solche Strafe wird es jedoch nicht lange geben. Spätestens beim Europäischen Gerichtshof wird sie als menschenunwürdig erkannt und kassiert. Ich frage mich al-lerdings auch, ob ich mit sieben Jahren Monatskarte des VBB was gut habe, falls ich mal vor dem Kadi stehen sollte …

Weil Eisstockschießen in Berlin so ein populärer Massensport ist, haben Senator Müllers Verkehrslenker auch keinen Au-genblick gezögert, die Friedrichstraße für den Aufbau einer künstlichen Eisbahn zu sperren, damit möglichst viele Sport-begeisterte wetterunabhängig diesem Hobby frönen oder we-nigstens dabei zusehen können. Man tut schon was für die Berliner und ihre touristischen Gäste. Ein weiteres Projekt wird noch vertraulich behandelt, ehe es zum absoluten Sport-knüller wird. Weil Wassersport in der kalten Jahreszeit auf Havel und Spree zu ungemütlich ist, erwägt man, den Tiergar-tentunnel zu fluten, um dort für zwei Monate eine Flutlicht-Paddelanlage zu betreiben, natürlich mit schwimmenden Dö-ner- und Glühweinbuden. Mittwochs und samstags soll eine große Wellenmaschine zum Einsatz kommen, damit auch die Surfer ihre Freude haben.

strassenfeger | Nr. 26 | Dezember 201330 | AUS DER REDAKTION K o l u m n e

Karikatur: Andreas Prüstel

Aus meiner SchnupftabakdoseK O L U M N E : K p t n G r a u b ä r

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K A R I K AT U R E N Andreas Prüstel, OL

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W W W. ST R A S S E N F EG E R .O RG

Namentlich genannte Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Es war nicht möglich, bei al-len Bildern die Urheber festzustellen. Betroff ene melden sich bitt e bei uns. Für unverlangt eingesandte Fotos, Manuskripte oder Illustrationen übernehmen wir keine Haft ung.Der strassenfeger ist off en für weitere Partner. Interessierte Projekte melden sich bitt e bei den Herausgebern.

Vo r l e t z t e S e i t e

s t r a s s e n fe g e r N r. 1

»Zeit«erscheint am 13. Januar 2014

KINDER WIE DIE ZEIT VERGEHT!

QUALITÄT VON ZEIT & MÜSSIGGANG

COMIC »DER SUPERPENNER«

Unserer Viola geht es gutZu Fuß über Oranienburg und Neubrandenburg nach RostockB E R I C H T : A n d r e a s D ü l l i c k

Neulich bekam ich einen überraschenden Anruf: »Hallo, hier ist Viola, Du weißt schon!« Ich war ziemlich perplex. Aber es war wunderbar, Violas Stimme wieder zu hören! »Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, mir geht es ganz gut, hier in Rostock. Ich habe mit’m ›Sachsen-Peter‹ zusammen eine Wohnung mit offener Küche und ein eigenes kleines Zimmer. Ich gucke jetzt immer viel Fernsehen hier. Das ist ein Männerwohnheim, weil, zu den Frauen wollte ich nicht. Eine Betreuung habe ich auch.« So ist sie, unsere Viola. Zusammen mit »Sachsen-Peter« sei sie Hals über Kopf aus Berlin abgehauen, weil sie es einfach nicht ertragen konnte, was man ihr angetan hat. Erst die Hunde weggenommen und dann ihre »Open-Air-Wohnung« am Innsbru-cker Platz geräumt. Sie seien zu Fuß von Oranienburg nach Neubrandenburg gelaufen und von da weiter nach Rostock. Sie berichtete mir, dass sie den »Stroh-halm« verkauft, das ist die Rostocker Straßenzeitung. Dann fragte sie mich, ob ich ihr vielleicht ein Eintrittsbändsel für Frank Zanders Weihnachtsfeier für

Obdachlose organisieren könne. Und dann bat sie mich noch um ein paar Fotos, die wir von ihr und den Hunden und ihrem »Freiluftatelier« gemacht hatten. Ich habe versprochen, ihr ein paar schöne Fotos zu schicken. Ich habe Viola dann noch gefragt, ob sie wieder einen Hund habe. Traurig antwortete sie mir: »Ich bin darüber noch nicht weg, dass sie mir die Hunde weggenommen haben. Ich möchte sie unbedingt wiederhaben.«

Viola ist jetzt in Rostock

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Ein Dach über dem Kopf

Die Aktion »Ein Dach über dem Kopf« wurde vom Verein mob – obdachlose machen mobil e.V. gestartet, um Menschen, die in tiefer Not und ohne eigene Bleibe sind, wirksam helfen zu können. Damit wir diese Menschen dauerhaft unterstützen können, benötigen wir Ihre Hilfe.

EINMALIG Ja, ich möchte für eine Woche einem Menschen

Ein Dach über dem Kopf ermöglichen und zahle 14 EUR

Ja, ich möchte für zwei Wochen einem Menschen Ein Dach über dem Kopf ermöglichen und zahle 28 EUR

Ja, ich möchte für einen Monat einem Menschen Ein Dach über dem Kopf ermöglichen und zahle 60 EUR

PARTNERSCHAFT Ja, ich möchte einem Menschen dauerhaft

Ein Dach über dem Kopf ermöglichen und zahle monatlich 60 EUR

Ja, ich möchte die Aktion Ein Dach über dem Kopf regelmäßig unterstützen und zahle monatlich EUR (mindestens 3 EUR)

Bitt e schicken Sie mir eine Spendenbestätigung zu.

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Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft BLZ 100 205 00 | Konto 328 38 - 01Kennwort: »Ein Dach über dem Kopf«

Foto: r.Werner Franke

Der Sänger Toni Krahl („City“) unterstützt die Spendenkampagne »Ein Dach über dem Kopf«!


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