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Ausbildung zum Katechisten für die Evangelisation 2017-2020 12 - Weisheit im AT.pdf · B. Die...

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1 Ausbildung zum Katechisten für die Evangelisation 2017-2020 Hochaltingen Radioakademie 12. Vortrag: KW 15 (11.04.2018) Sr. Dr. Theresia Mende OP Weisheit in Israel (Weisheitsbücher) Reflexion über Glaube und Atheismus in einer säkularisierten Welt
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Ausbildung zum Katechisten für die Evangelisation

2017-2020

Hochaltingen

Radioakademie

12. Vortrag: KW 15 (11.04.2018) Sr. Dr. Theresia Mende OP

Weisheit in Israel (Weisheitsbücher)

Reflexion über Glaube und Atheismus in einer säkularisierten Welt

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Weisheit in Israel (Weisheitsbücher)

Reflexion über Glaube und Atheismus in einer säkularisierten Welt

Einführung

Nach Jer 18,18 gibt es im alttestamentlichen Gottesvolk drei Gruppen von

autorisierten Lehrern des Glaubens: die Priester mit ihrer Weisung, die

Propheten mit ihrem Gotteswort und die Weisen mit ihrem Rat. Schon von

früher Zeit an spielten die Weisheitslehrer in Israel eine bedeutende Rolle. Dies

schlug sich in einem reichen weisheitlichen Schrifttum nieder, das im Kanon

der katholischen Bibel die Bücher Ijob, Sprichwörter, Kohelet, Jesus Sirach und

Weisheit umfasst. Auch in andere Bücher der Bibel ist weisheitliches Denken

eingeflossen, wie z.B. in manche Psalmen und in Teile der Bücher Tobit und

Baruch.

Solche Weisheitsliteratur stellt kein Spezifikum Israels dar. Sie war eine

beliebte und blühende Literaturgattung im ganzen Alten Orient.

A. Die Geschichte der alttestamentlichen Weisheit

In Israel kann die Weisheit eine lange Geschichte aufweisen. An ihrem Anfang

stand die Sippenweisheit der Nomadenzeit, die sich z.B. im Dekalog – den

Zehn Geboten – und in frühen Teilen des Buches Amos niederschlug. In der

frühen Königszeit entstanden dann eigene Weisheitsschulen am Königshof, die

Kontakte zur internationalen Schulweisheit pflegten und von ihnen manche

Gedanken und Einflüsse übernahmen. Die spätere Weisheit, insbesondere in

der nachexilischen Zeit, wandte sich dann unter dem Druck veränderter

historischer Umstände stärker religiösen Themen zu. So wandelte sich die

Weisheit Israels von der praktischen Lebensweisheit mehr und mehr zur

„theologischen Weisheit“.

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Zunächst jedoch kreiste das weisheitliche Denken um die recht profan

anmutende Frage: Wie kann das menschliche Leben am besten gelingen?

Dabei ging es weder um philosophische Seinserkenntnis noch um theologische

Lehre, sondern allein um praktische Lebensweisheit. Die Beantwortung der

Frage geschah aus der vielfältigen menschlichen Erfahrung und deren Reflexion

und drückte sich in verschiedenen literarischen Gattungen aus, wie z.B. in

Gleichnisworten, Parallelismen, Bildern und Vergleichen, in der Aufdeckung von

Analogien und Ordnungen der Welt, in Mahnworten, Lehrreden, Reflexionen

sowie in Fabeln, Parabeln und Allegorien. Inhaltlich lässt sich die Beantwortung

der Frage nach dem Gelingen des menschlichen Lebens auf den gemeinsamen

Nenner bringen: Lebe in Übereinstimmung mit der vorgegebenen Weltordnung,

die den gesamten Kosmos sowie den Menschen in ihm umfasst. Dabei war für

Israel klar: diese Weltordnung wurzelt in Gottes Wollen und Wirken, da er der

Schöpfer ist.

Für den heutigen Betrachter der alttestamentlichen Weisheit erscheinen viele

Texte „profan“. Sie sind es aber nicht, wenn man bedenkt, dass nach

alttestamentlicher Auffassung die gesamte Schöpfung von der Weltordnung

Gottes, des Schöpfers, durchwirkt ist und sich somit die Existenz des Menschen

stets vor den Augen des Schöpfers vollzieht. Hinzu kommt, dass Israel auch in

den älteren Weisheitstexten Jahwe selbst öfters direkt nennt, wie z.B. in Spr

12,22: „Lügnerische Lippen sind dem Herrn ein Greuel, doch wer zuverlässig

ist in seinem Tun, der gefällt ihm“ (vgl. auch Spr 10,22; 11,1; 14,27; 15,9 und

25; 16,3 und 9; 17,15; 19,17; 21,30; 22,2 u.ö.).

Menschliche Erfahrung und göttliche Offenbarung sind für die Weisheitslehrer

Israels keine grundsätzlich getrennten Sphären. Dennoch bildet sich in

nachexilischer Zeit mehr und mehr die Erkenntnis heraus, dass Gott der

eigentliche Weisheitslehrer ist, der durch seine „Knechte“ und Propheten

seinem Volk Weisheit übermittelt. So sagt Mose zu Israel in Dtn 4,5-6:

„Hiermit lehre ich euch, wie es mir der Herr, mein Gott, aufgetragen hat,

Gesetze und Rechtsvorschriften … Ihr sollt auf sie achten und sollt sie halten.

Denn darin besteht eure Weisheit und eure Bildung“ (4,5-6).

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Unter dem Einfluss der nachexilischen Verknüpfung von menschlicher

Erfahrung und göttlicher Offenbarung sind z.B. die Kapitel 1-9 im Buch der

Sprüche entstanden. Sie enthalten im Wesentlichen eine weisheitliche

Reflexion der im Buch Deuteronomium und in den Propheten überlieferten

Offenbarungsinhalte. Der Weisheitslehrer, dargestellt wie ein Vater, der seinen

Sohn belehrt, hält hier seinen Lesern das Beglückende einer Weisheit vor

Augen, die umfangen ist von der Weisheit Jahwes, des Schöpfers. So schreibt

er in Spr 3,13-19:

„13 Wohl dem Mann, der Weisheit gefunden, dem Mann, der Einsicht

gewonnen hat.

14 Denn sie zu erwerben ist besser als Silber, sie zu gewinnen ist besser als

Gold.

15 Sie übertrifft die Perlen an Wert, keine kostbaren Steine kommen ihr gleich.

16 Langes Leben birgt sie in ihrer Rechten, in ihrer Linken Reichtum und Ehre;

17 ihre Wege sind Wege der Freude, all ihre Pfade führen zum Glück.

18 Wer nach ihr greift, dem ist sie ein Lebensbaum, wer sie fest hält, ist

glücklich zu preisen.

19 Der Herr hat die Erde mit Weisheit gegründet und mit Einsicht den Himmel

befestigt.“

Diese Weisheit ist nicht mehr das Ergebnis menschlichen Mühens, sondern ein

göttliches Angebot. Sie wird nicht erworben, sondern gefunden; sie ist besser

als Silber und Gold; sie übertrifft jede Perle an Wert; kein Edelstein kommt ihr

gleich; sie schenkt Reichtum, Ehre, Freude und Glück und ist dem, der sie

besitzt, ein Garant für das Leben („Lebensbaum“).

Darum ist es nicht verwunderlich, dass in einem weiteren Schritt der

Weisheitslehrer selbst zurücktritt, um diese göttliche Weisheit selbst als

personifizierte Größe in den Vordergrund treten zu lassen – so in Spr 1,20ff;

8,1ff und 9,1ff.

So tritt sie zunächst in Spr 1,20ff wie ein Prophet auf, der zu Buße und Umkehr

mahnt; erhebt aber zugleich auch den Anspruch, mehr zu sein als ein Prophet,

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wenn sie z.B. in 1,23 wie Gott verspricht, ihren Geist auszugießen und ihre

Worte kundzutun. In Spr 8,1-12 erscheint sie als eine werbende, Segen

verheißende Ratgeberin und in Spr 9,1ff als eine Gastgeberin, die zu einem

reich vorbereiteten Mahl einlädt.

In Spr 8,22 enthüllt sie schließlich ihr letztes Geheimnis. Sie stellt sich vor als

die, der Gott vor aller Schöpfung Leben gab (8,22-26), die schon zugegen war,

als er die einzelnen Schöpfungswerke ins Dasein rief (8,27-30) und die zu

besitzen oder nicht zu besitzen Leben oder Tod bedeutet: „Wer mich findet,

findet das Leben und erlangt das Gefallen des Herrn. Doch wer mich verfehlt,

der schadet sich selbst; alle, die mich hassen, lieben den Tod“ (Spr 8,35-36).

Eine solche fast gottähnliche Darstellung der Weisheit lässt die vieldiskutierte

Frage hochkommen, ob es sich bei ihr nur um eine rein poetische

Personifizierung handelt oder ob der Verfasser an mehr denkt. Es gibt gute

Gründe, hier schon an mehr zu denken, an einen verborgenen Hinweis auf die

spätere Logoslehre, d.h. auf die Lehre von Jesus Christus als dem

menschgewordenen Wort Gottes. Denn wie schon im ersten Vortrag über die

göttliche Offenbarung ausgeführt, ist in jedem inspirierten Text der Heiligen

Schrift, der uns selbstverständlich immer gefiltert durch das zeitbedingte

Fassungsvermögen und die begrenzte Sprache eines menschlichen Autors

entgegenkommt, zugleich Größeres verborgen, ein „Mehrwert“ enthalten, der

sich erst nach und nach im Lauf der Geschichte enthüllt.

In der Tat lässt ein anderer Weisheitslehrer, Jesus Sirach, geraume Zeit später

– im 2. Jh. v. Chr. – im Anschluss an Spr 8,22ff. genau in diesem Sinne den

„Mehrwert“ des Textes ein Stück weit ans Licht treten. Er spricht in Kapitel 24

von einer Weisheit, die aus dem „Munde des Höchsten“ hervorging und auf

Gottes Befehl hin Wohnung in Israel nahm. Natürlich meint Jesus Sirach mit

jener personifizierten Weisheit aus dem Munde Gottes das Wort Gottes selbst,

seine Offenbarung an Israel.

Doch wenn es zum Wesen der Offenbarung gehört, dass ein Wort Gottes nie

ganz ausgelotet ist, dann dürfen wir Christen im Licht des Neuen Testamentes

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noch einen weiteren Mehrwert in jenen Weisheitstexten erkennen: Die

Weisheit, die aus dem Munde des Höchsten hervorgeht und wie eine Person

auf die Menschen zukommt, um unter ihnen Wohnung zu nehmen, enthüllt sich

uns als Jesus Christus selbst, der Sohn Gottes, der Mensch gewordenen ist und

von dem es im Johannesevangelium heißt: „Im Anfang war das Wort und das

Wort war bei Gott und das Wort war Gott. … Und das Wort ist Fleisch geworden

und hat unter uns gewohnt“ (Joh 1,1.14).

Wenden wir uns nun wieder der alttestamentlichen Weisheit zu. Von ihrem

Wesen her ist sie optimistisch. Weil Jahwe die Welt erschaffen hat und sie im

Rahmen der ihr eingestifteten Ordnung in Gang hält, ist die Welt grundsätzlich

gut. Zu dieser göttlichen Schöpfungsordnung gehört es, dass die Tat eines

Menschen ihre entsprechende Folge hat: Handelt ein Mensch gerecht und

fromm, darf er Segen in seinem Leben erwarten, handelt er ungerecht und

frevlerisch, wird Unheil über ihn kommen.

Dieser Tun-Ergehen-Zusammenhang stellt eine Gesetzmäßigkeit dar, die schon

in gewisser Weise von den Propheten verkündet worden war. Doch während

die Propheten den Tun-Ergehen-Zusammenhang auf das ganze Volk bezogen

und mit ihm konkrete geschichtliche Ereignisse deuteten, machte die Weisheit

daraus eine immergültige Gesetzmäßigkeit für das Leben eines jeden einzelnen

Menschen, so dass man nun auch den Umkehrschluss daraus zog: Lebt ein

Mensch in Glück und Wohlstand, dann ist er in Gerechter und Frommer, den

Gott segnet, erleidet er Unglück, Krankheit und frühen Tod, dann ist er ein

Sünder und Frevler, den Gott bestraft.

Es konnte nicht ausbleiben, dass diese weisheitliche Vergeltungslehre bald in

große Schwierigkeiten führte, ja zum regelrechten Gottesproblem wurde.

Schon der Prophet Jeremia richtete aus eigener schmerzlicher Erfahrung die

Frage an Gott: „Warum haben die Frevler Glück in ihrem Leben?“ (Jer 12,1),

während er selbst nur Verfolgung, Spott und Leid ertragen musste.

Im Bereich der Weisheitsliteratur war es sodann das Buch Ijob, das sich

ausschließlich dieser Problematik des Vergeltungsdenkens widmete und in

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immer neuen Ansätzen um die Beantwortung der Frage rang: Warum leidet der

Gerechte und siecht in Krankheit und Not dahin, während der Frevler in Glück

und Wohlstand sein Leben in vollen Zügen geniest, wenn doch Gott gerecht ist,

wie der Glaube bisher sagte, und die Frommen segnet, die Gottlosen aber

bestraft? Die Antworten, die die Weisheitslehrer im Buch Ijob auf diese Frage

fanden und die Art und Weise, wie sie das verbreitete Vergeltungsdenken unter

jeweils verändernden Zeitumständen nach und nach überwanden, wird ein

eigenes Thema im nächsten Vortrag sein.

B. Die Auslegung von Weish 1,16-2,24: Der Gläubige in einer

säkularisierten Welt

Wir wollen nun nach dem kurzen Überblick über die alttestamentliche

Weisheitsliteratur allgemein uns mit der Auslegung eines konkreten Textes

befassen, um zu erkennen, wie aktuell die Themen der alttestamentlichen

Weisheit auch für uns heute noch sind. Wir betrachten Weish 1,16-2,24.

I. Das Buch der Weisheit – Entstehung, historischer Kontext, Intention

Zunächst ein kurzer Blick auf die Entstehung, den historischen Kontext und die

Intention des Weisheitsbuches. Es stellt die jüngste Schrift des Alten

Testamentes dar, entstanden in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts vor

Christus in der ägyptischen Hauptstadt Alexandria und ist in griechischer

Sprache abgefasst. Die katholische wie auch die orthodoxe Kirche haben das

Buch der Weisheit in ihren biblischen Kanon aufgenommen, die Reformatoren

hingegen als eine apokryphe Schrift aus ihrem Kanon ausgeschlossen.

Um das Buch der Weisheit in seiner Intention richtig zu verstehen, müssen wir

uns seinen Entstehungsort genauer ansehen. Die im westlichen Nildelta von

Alexander dem Großen 332 v. Chr. gegründete Großstadt Alexandria zählte in

ihrer Blütezeit über eine Million Einwohner – eine gigantische Größe für die

damalige Zeit. Dementsprechend bot sie ein multikulturelles und

multiethnisches Gepräge. Es lebten dort Griechen, Makedonier, Ägypter, Syrer,

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Römer und Juden. So kann man Alexandria, in dem die verschiedensten

Kulturen und Religionen auf einander trafen, als einen blühenden Mittelpunkt

von Kunst, Literatur, Philosophie, Wissenschaft und Wirtschaft in der

hellenistischen Welt bezeichnen.

Die Juden kamen im 3. Jh. v. Chr. vor allem als Militärkolonisten der

Ptolemäer1 nach Alexandria. Ihnen folgten nach und nach auch Zivilisten aus

Judäa, vor allem Kaufleute und Handwerker, die sich anlocken ließen von den

günstigen wirtschaftlichen Bedingungen der Großstadt am Nil. Sie bewohnten

zwei von fünf Stadtvierteln mit zahlreichen Synagogen und Lehrhäusern. So

konnte es nicht ausbleiben, dass diese bemerkenswert starke jüdische

Bevölkerungsgruppe in Alexandria mehr und mehr gesellschaftlich-politische

Bedeutung erlangte und dementsprechend auch die offizielle Sprache des

Landes, nämlich Griechisch, erlernte. Damit aber bekamen die Juden Zugang

zu allen Kulturgütern des Hellenismus, insbesondere zur griechischen Literatur

und Philosophie. Nach einigen Generationen schwand sogar unter ihnen die

hebräische Muttersprache mehr und mehr, so dass man ab 250 v. Chr. die

religiösen Schriften des Judentums, das Alte Testament, ins Griechische

übersetzen musste. So entstand die Septuaginta.

Zunächst faszinierte die hellenistische Kultur die Juden, und viele sogen sie in

vollen Zügen in sich auf. Denn an ihr teilzuhaben bedeutete, Eingang in die

gehobenen Kreise der Gesellschaft zu erlangen, bedeutete modern,

fortschrittlich und angesehen zu sein, bedeutete Aufstieg und Macht.

Doch zugleich barg diese Annäherung an die griechische Kultur auch eine

große Gefahr in sich. Denn die zahlreichen philosophischen Lehren, die auf die

Juden einstürmten, waren nicht nur auf einem anderen religiösen, meist

polytheistischen Hintergrund entstanden, sondern vertraten nicht selten auch

1 Die Ptolemäer – eine makedonisch-griechische Dynastie, die nach dem Tod Alexanders des Großen in Ägypten die Herrschaft übernahm und dort regierte bis zur Eroberung durch die Römer 30 v. Chr.

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einen krassen Atheismus. So schreibt z. B. der Komödiendichter Alexis im 4./3.

Jh. v. Chr.2:

„Wir wollen uns freuen, solange es möglich ist, das Leben zu nähren. […]

Das Geschick wird dich erkalten lassen zur festgesetzten Zeit.

Du wirst nur das haben, was du isst und trinkst.

Alles, was übrig bleibt, ist Staub – (ob) Perikles3, Kodros4 (oder) Kimon5“.

Wie sollte man also mit dem Einbruch einer solchen rein diesseitigen,

säkularen, ja teilweise sogar atheistisch-nihilistischen Kultur in die jüdische

Denk- und Lebenswelt fertig werden? Sollte man sich ihrer Faszination

verschließen und sich isolieren? Oder konnte man es wagen, sich auf sie

einzulassen? Ja musste man sich nicht auf sie einlassen, wenn man irgendwie

in dieser fremden Welt überleben und nicht den Anschluss verlieren wollte?

Wenn man mitreden und mitgestalten wollte? Doch das Sicheinlassen auf die

Moderne barg auch die Gefahr einer völligen Assimilation in sich. Was also ist

zu tun?

Mit diesen schwerwiegenden Fragen hatten sich die Verantwortlichen für den

jüdischen Glauben, die schriftgelehrten Weisen, in Alexandria

auseinanderzusetzen. Das Buch der Weisheit stellt in diesem Kontext ein

Versuch dar, der jüdischen Glaubensverkündigung zwar einerseits eine

zeitgemäße, dem Hellenismus gegenüber offene Form zu geben, ohne jedoch

andererseits die Überlieferungen des eigenen Glaubens an den einen Gott

Jahwe zu verwässern oder gar aufzugeben. So wird dieses jüngste Buch des

Alten Testaments, obgleich es in der modernen Sprache des Hellenismus, d. h.

in Griechisch, abgefasst ist, zu einer eindringlichen Warnung an all diejenigen,

die in Gefahr standen, ihren Glauben an Jahwe aufzugeben und sich dem

säkularen Denken ihrer Zeit anzupassen oder die dies gar schon getan hatten.

Ihnen will das Buch zeigen, was bei ihrer Entscheidung gegen den Gott der

Offenbarung auf dem Spiel steht.

2 Überliefert bei Athenaios von Naukratis, 2.-3. Jh. n. Chr. Zitiert nach: Armin Schmitt, Skepsis, Bedrängnis und Hoffnung in Weish 1,16-2,24, Bibel und Kirche 52 (1997) 166-

173.168. 3 Perikles war ein Politiker und Feldherr Athens im 5. Jh. v. Chr., Nachfolger Kimons. 4 Kodros war der letzte legendäre König von Attika. 5 Kimon war ein berühmter Politiker und Feldherr Athens im 6./5. Jh. v. Chr.

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Die Verse Weish 1,16-2,24, die wir nun des Näheren betrachten wollen, sind

im Stil einer Rede von Menschen verfasst, die sich selbst ausdrücklich als

Gottlose, als Atheisten, bezeichnen. Sie geben in geradezu frivolen

Redewendungen ihre atheistische Lebensauffassung kund, um ihr dann in

spöttischem, ja verächtlichem Ton den gottesfürchtigen Lebenswandel des

Gerechten bzw. Gläubigen gegenüberzustellen. Diese Rede der Gottlosen wird

gerahmt von einer Stellungnahme des Autors des Weisheitsbuches, in der der

Weg der Gottlosen als ein schmählicher Irrtum beurteilt wird, der Weg der

Gläubigen hingegen als erfolgreich und zukunftsweisend.

II. Die Auslegung von Weish 1,16-2,24

Weish 1,16

„Die Gottlosen riefen ihn (den Tod) mit Taten und Worten herbei,

sie sehnten sich nach ihm wie nach einem Freund.

Sie schlossen einen Bund mit ihm,

denn sie sind würdig, ein Anteil von jenem zu sein.“

Der Text beginnt mit der Schilderung einer eigenartigen Todessehnsucht der

Gottlosen? Was soll diese Todessehnsucht? Sind die Gottlosen allesamt

depressive, selbstmordgefährdete, psychisch labile Menschen? Durchaus nicht,

das werden die Verse 2,6-12 noch erkennen lassen. Vielmehr entlarvt der

Verfasser mit diesen Worten die Daseinshaltung der Gottlosen als eine

Lebenseinstellung, die unweigerlich in den Tod führt, auch wenn die

Betroffenen selbst dies so nicht wahrnehmen.

So meint der Satz: „Sie riefen den Tod mit ihren Taten und Worten herbei“ so

viel wie: sie betreiben ihre eigene Selbstzerstörung. Oder der Satz: „Sie

sehnen sich nach ihm wie nach einem Freund“ meint: sie geben sich

leidenschaftlich ihrem verkehrten Tun hin, ohne zu merken, dass es sie in die

Sackgasse führt. Oder der Satz: „Sie schlossen mit ihm einen Bund“ bedeutet:

sie haben sich Ihrem verkehrten Treiben und damit dem Tod unwiderruflich

übereignet. Sie wollen keine Umkehr, kein Zurück mehr.

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Was der Verfasser mit dieser Beurteilung der Lebenseinstellung der Gottlosen

meint, begreifen wir schnell, wenn wir uns einmal einen der Sucht verfallenen

Menschen vor Augen halten: Er betreibt im Letzten seine eigene

Selbstzerstörung und dies oftmals mit einer leidenschaftlichen Anhänglichkeit

und Bindung an den Gegenstand seiner Sucht, wie z. B. die Droge.

Dass dabei der Verfasser die Begriffe „Freundschaft“ und „Bund“ verwendet,

die sonst im Alten Testament die unwiderrufliche Bindung Gottes an sein Volk,

eine Bindung in Liebe, umschreiben, ist beabsichtigt: Auf diese Weise tritt die

Perversion der Haltung der Gottlosen umso deutlicher zutage: Denn während

dem Gläubigen als Freund und Bundespartner des ewigen Gottes die Würde

der Unvergänglichkeit verheißen ist (2,23), besteht die „Würde“ des Gottlosen,

der quasi mit den vergänglichen Gütern dieser Welt einen Bund geschlossen

hat, darin, an deren Vergänglichkeit und damit am Tod seinen Anteil zu haben.

Nach dieser Stellungnahme des Verfassers aus der Sicht des Glaubens

kommen die Gottlosen selbst zu Wort:

Weish 2,1-5

„2,1 Sie (die Gottlosen) sprachen zueinander in verkehrten Gedanken:

Kurz und traurig ist unser Leben,

für das Ende des Menschen gibt es keine Arznei,

und es ist kein Retter aus dem Hades bekannt.

2 Denn durch Zufall / grob sind wir gebildet

und hernach werden wir sein, als wären wir nie gewesen.

Denn (nur) Rauch ist der Atem in unserer Nase,

und der Gedanke (bloß) ein Funke des Herzschlages.

3 Wenn er verlöscht, vergeht zu Asche der Leib,

und der Geist verweht wie dünne Luft.

4 Und unser Name wird vergessen werden mit der Zeit,

und niemand wird sich unserer Werke erinnern.

Und unser Leben geht vorüber wie die Spur einer Wolke,

und es wird zerstreut wie Nebel,

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der von den Strahlen der Sonne durchbrochen

und von ihrer Wärme niedergedrückt wird.

5 Denn unser Leben ist nur der Vorübergang eines Schattens,

und es gibt keine Rückkehr an unserem Ende,

denn das ist versiegelt und keiner kann es wenden6“.

Wer hätte gedacht, dass eine solche Rede in den Heiligen Schriften der Bibel zu

finden ist? Diese Verse offenbaren die erschütternde Lebenseinstellung eines

Menschen, der den Glauben an Gott und ein Leben nach dem Tod verloren hat:

ein uralter Text und doch ganz modern. Selbst Berthold Brecht, ein Dichter des

20. Jh. (1898-1956), kann diesen Text nicht mehr toppen, wenn er in einem

seiner Gedichte schreibt:

„Lasst euch nicht verführen!

Es gibt keine Wiederkehr.

Der Tag steht in den Türen;

Ihr könnt schon Nachtwind spüren:

Es kommt kein Morgen mehr. …

Ihr sterbt mit allen Tieren

Und es kommt nichts nachher.“7

Ein Mensch, der nicht an Gott glaubt, kann sein Leben – streng genommen –

nur materialistisch sehen: Es ist dann wie alle anderen Phänomene der Welt

eine rein diesseitige Größe, die nach den Gesetzmäßigkeiten der Materie

funktioniert: von kurzer Dauer – wird es am Ende von Zerfall und Tod

verschlungen. Rückblickend entwertet der Tod das Leben vollständig: durch

Zufall entstanden, ist es nur kurz und traurig, dann verlöscht es, verweht,

vergeht wie Rauch, Schatten, Nebel – und hernach wird der Mensch sein, als

wäre er nie gewesen.

Bei dieser Schilderung des Lebens geben sich die Gottlosen in Weish 2,1-5

einerseits erschreckend illusionslos-realistisch, andererseits liegt ein Hauch von

Schwermut über ihrer Betonung von Flüchtigkeit und unwiderruflicher

6 Die Einheitsübersetzung: „ … und keiner kommt zurück.“ 7 In: Berthold Brecht, Gesammelte Werke, Frankfurt 1967.

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Vergänglichkeit des Lebens, als ahnten sie, was sie mit der Preisgabe ihres

Glaubens an Gott, den Schöpfer und Herrn des Lebens, verloren haben. Dieses

insgeheime „Wissen“ um den Verlust wird dadurch deutlich, dass die Gottlosen

die Aussichtslosigkeit ihres Lebens exakt als Kontrastprogramm zu den

Verheißungen Jahwes beschreiben:

1. Sie sagen in V. 1b: „Für das Ende des Menschen gibt es keine Arznei.“

Dieser Vers erinnert an Ex 15,26, wo Gott seinem Volk Israel nach der Rettung

aus der Gewalt der Ägypter am Schilfmeer versichert: „Ich, Jahwe, bin dein

Arzt!“ Doch der Gottlose verneint diese Zusicherung Gottes in Weish 2,1b

schlichtweg.

2. In V. 1c spricht der Gottlose: „Es ist kein Retter aus dem Hades bekannt.“

Auch diese Aussage steht in krassem Widerspruch zu der in jener Zeit im

Judentum schon längst gewachsenen Hoffnung auf die Auferstehung der Toten.

Sie wird schon im 3. Jh. v. Chr. im Ijobbuch klar artikuliert: „Ich weiß, dass

mein Erlöser lebt und dass er sich als letzter über dem Staub erhebt. Und

wenn meine Haut (Leben) dahin ist – sie haben diese so zerfetzt – und ohne

mein Fleisch werde ich Gott schauen8“ (Ijob 19,25f.). Und schließlich wird die

Auferstehungshoffnung im 2. Jh. v. Chr. in den Makkabäerbüchern voll

entfaltet. Dort halten die zu Tode gemarterten Brüder und ihre Mutter dem

Tyrannen Antiochus IV. entgegen: „Gott hat uns die Hoffnung gegeben, dass

er uns wieder auferweckt. Darauf warten wir gern, wenn wir jetzt von

Menschenhand sterben“ (2 Makk 7,14). Doch der Gottlose in Weish 2,1c

behauptet schlichtweg das Gegenteil.

3. In V. 2a sprechen die Gottlosen: „Durch Zufall sind wir gebildet.“

Diese Auffassung von der Entstehung des Menschen widerspricht diametral der

alttestamentlichen Tradition, nach der Gott den Menschen nach einem klaren

Willensentschluss erschaffen hat – und dies nicht als ein zufälliges Etwas,

sondern als sein Ebenbild und als Herrscher über die ganze Schöpfung: „Lasset

uns den Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen

8 Übersetzung: Theresia Mende, Durch Leiden zur Vollendung. Die Elihureden im Buch Ijob (Ijob 32-37), Trierer Theologische Studien Bd. 49, Trier 1990, 251.

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über die Fische des Meeres …“ (Gen 1,26; vgl. 1,28). Der Gottlose in Weish 2a

hingegen leugnet offen jene Tradition.

4. In V. 2c spricht der Gottlose: „Nur Rauch – hebräisch „ruach“ – ist der Atem

in unserer Nase.“

Diese Aussage klingt wie ein Hohn auf den zweiten Schöpfungsbericht, wo Gott

nach Gen 2,7 dem Menschen selbst seinen Lebensatem einhaucht und ihn

damit nicht nur über alle übrigen Geschöpfe erhebt, sondern auch zu seinem

geliebten Gegenüber macht.

5. In V. 4ab sagen die Gottlosen: „Unser Name wird vergessen werden mit der

Zeit und niemand wird sich unserer Werke erinnern.“

Mit dieser Aussage widersprechen die Gottlosen einer breiten biblischen

Tradition, wie sie insbesondere im Buch Jesaja überliefert ist. Dort überbringt

z. B. ein mit Namen unbekannter Prophet in nachexilischer Zeit, den die

Forschung Deuterojesaja nennt, seinem verzweifelten Volk das tröstliche

Gotteswort: „Ich habe dich geschaffen, du bist mein Knecht, Israel; ich

vergesse dich nicht“ (Jes 44,21b). Oder in Jes 49,13-16 tröstet derselbe

Prophet Israel, das klagt: „Jahwe hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen“

(V.14), mit dem wunderbaren Gotteswort: „Kann denn eine Frau ihr Kindlein

vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn

vergessen würde, ich vergesse dich nicht. Sieh her, ich habe dich

eingezeichnet in meine Hände!“ (V. 15-16).

6. In V. 3a sagt der Gottlose: „Wenn er (der Lebensatem) verlöscht, vergeht

zu Asche der Leib.“.

Dieser Satz erinnert zwar an das Gerichtsurteil Gottes über den gefallenen

Menschen in Gen 3,19: „Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren!“

Doch übergeht der Gottlose das Wissen der jüdischen Glaubenstradition um die

Verheißung, dass Gott einst das Gerichtsurteil wieder aufheben und den

Menschen aus dem Staub, d. h. dem Todesschicksal, befreien wird: „Deine

Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf; wer im Staub liegt, wird

wieder erwachen und jubeln. … Die Erde gibt die Toten heraus“, verkündet ein

nachexilischer Prophet in Jes 26,19.

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Dieses radikale Kontrastprogramm der Gottlosen zum Glauben ihrer Väter ist

erschütternd. Doch nicht genug, dass sie sich damit selbst jede Zukunft

verweigern, sie haben auch, was die logische Folge eines jeden Atheismus ist,

das Empfinden für die Würde des Menschen verloren: Durch Zufall ist der

Mensch geworden – wörtlich im griechischen Text: „durch grobe Einwirkung

der Natur“ –, d. h. der Mensch ist nicht mehr als ein willkürlich zustande

gekommener Zellhaufen (V. 2). Er kommt und geht, ohne Spuren zu

hinterlassen, ein Häufchen Asche bleibt zurück und das war‘s9 – eine zynische

Missachtung jedes menschlichen Arbeitens und Mühens um bleibende Werte!

Wenn wir an dieser Stelle innehalten und bedenken, dass Sprache und Inhalt

dieser Texte ja nicht neu sind, sondern weit verbreitete philosophische Lehren

jener Zeit aufgreifen; und wenn wir des weiteren bedenken, dass ähnliche

Gedanken durch alle Jahrhunderte hindurch bis in unsere Gegenwart hinein

geäußert wurden und werden, dann verstehen wir, wie stark die Juden in

Alexandria mitten in einem säkularen Kulturraum in Gefahr standen, ihren

Glauben als nicht mehr zeitgemäß zugunsten philosophischer Modeströmungen

über Bord zu werfen. Dementsprechend reden die Gottlosen weiter in Weish

2,6-11:

Weish 2,6-11

„2,6 Wohlan denn! Lasst uns die Güter genießen

und die Schöpfung auskosten wie in der Jugend!

7 Wir wollen uns füllen mit erlesenem Wein und Salböl,

und keine Frühlingsblume soll uns entgehen!

8 Wir wollen uns bekränzen mit Rosen, ehe sie verwelken!

9 Keine Wiese sei von unserer Ausgelassenheit verschont!

Überall wollen wir Zeichen der Fröhlichkeit zurücklassen,

denn dies ist unser Anteil und dies unser Erbe.

10 Wir wollen den armen Gerechten unterdrücken,

nicht die Witwe schonen,

9 Mit diesen Worten auf den Lippen starb der Begründer des atheistischen Existentialismus in Frankreich, Jean-Paul Sartre.

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noch Ehrfurcht zeigen vor dem grauen Haar des Alten!

11 Vielmehr sei unsere Stärke das Gesetz der Gerechtigkeit,

denn das Schwache erweist sich als nutzlos.“

Ist das Leben tatsächlich so, wie es die Gottlosen in V. 1-5 beschreiben, dann

gibt es nur eine logische Schlussfolgerung: Freu dich des Lebens, so lange du

es noch hast! „Pflücke die Rose, ehe sie verblüht“. Verblüffend ist die

Ähnlichkeit des trivialen Volksliedes von Martin Usteri aus dem 18. Jh. mit

unserem Text aus dem Weisheitsbuch 50 v. Chr.10 Aber dies verwundert nicht:

Ist der Atheismus kein speziell neuzeitliches und auch kein antikes, sondern

ein Menschheitsphänomen, das in allen Generationen vorkommt, dann auch

die daraus resultierende materialistisch-hedonistische Lebenseinstellung:

„Lasst uns das Leben genießen und alles herausholen, was es hergibt!“ Diese

Lebenseinstellung ist es, die die Gottlosen in den Versen 6-11 breit entfalten.

An erster Stelle steht die Aufforderung zum Lebensgenuss, zum Auskosten von

allem, was das Leben an Möglichkeiten bietet. Es ist klar, wenn das Leben so

ausgehöhlt ist, wie in V. 1-5 beschrieben: allein von Zufall und Tod bestimmt,

dann klammert sich der Mensch umso mehr an die Dinge dieser Welt und sucht

hier nach Befriedigung und Sicherheit – und er tut dies mit einer

größtmöglichen Verbissenheit, da er ja nicht weiß, wie lange seine

Lebensspanne noch dauert: „wie in der Jugend“, d. h. mit Leidenschaft und

bedenkenloser Gier, verfolgt er das Ziel eines hemmungslosen

Lebensgenusses: „Wir wollen uns füllen mit erlesenem Wein!“ (V. 7a).

Ergänzt wird diese Aussage mit dem Hinweis auf ein sexuelles Sichausleben

des Gottlosen: Denn die Begriffe „Blume“, „Rose“ und „Wiese“ sind in der

10

Schon im 7. Jh. v. Chr. wird die hedonistisch-materialistische Lebenseinstellung in kaum zu

überbietender Schärfe artikuliert, so z. B. in der Grabinschrift des assyrischen Königs Assurbanipal – griechisch: Sardanapal –, der von 669 bis 631/627 v. Chr. lebte: „Wohl wissend, dass du (nur) sterblich bist, gehe deinen Wünschen nach, freue dich an den fröhlichen Gelagen. Wenn du einmal tot bist, gibt es keinen Vorteil mehr. Denn auch ich bin Staub, obwohl ich als König über das große Ninive geherrscht habe. Ich habe nur das, was ich gegessen, was ich selbstbewusst ausgeführt und was ich mit

Leidenschaft an Vergnügungen ausgekostet habe. Der Reichtum und das Glück sind nun gänzlich zerbrochen.“ (Überliefert von Athenaios von Naukratis (2.-3. Jh. n. Chr.); zitiert in: Armin Schmitt, Skepsis, 168f.)

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damaligen Zeit geläufige Umschreibungen für das Weibliche: „Keine

Frühlingsblume – d. h. keine Frau – soll uns entgehen“ und „keine Wiese – d.

h. keine Frau – sei von unserer Ausgelassenheit – d. h. unserer sexuellen Gier

– verschont“ (V. 7-9). „Wir wollen uns mit Rosen – d. h. mit Frauen –

bekränzen, ehe sie verwelken!“ (V. 8).

Begründet wird dieser hemmungslose Lebensgenuss mit dem Hinweis, dass der

Mensch ein Recht darauf habe, dass er „Anteil und Erbe“ des Menschen sei.

„Anteil und Erbe“ sind ursprünglich Begriffe aus der Erwählungstheologie

Israels: Gott schenkt seinem Volk z. B. das Land Kanaan als Erbe; jeder

Israelit hat Anteil an diesem gottgeschenkten Land und seinen Erträgen.

„Anteil und Erbe“ sind also Gaben, über die der Mensch keine

Verfügungsgewalt besitzt. Die Gottlosen, die die Güter der Erde als ihr „Anteil

und Erbe“ betrachten und hemmungslos an sich reißen, stellen damit die

„Gottesordnung“, d.h. die ethischen Maßstäbe dieser Welt auf den Kopf und

machen sich selbst zu Gott. Damit aber werden sie unweigerlich zu

Unmenschen gegenüber ihren Mitmenschen.

Die Folge einer solch materialistischen Lebenseinstellung ist eine rücksichtslose

Selbstbehauptung, in der allein das Recht des Stärkeren gilt. Ehrfurcht und

Achtung vor der Würde des anderen spielen keine Rolle mehr. Schamlos

werden Unterdrückung, Missachtung und Ausbeutung zur

Selbstverständlichkeit erhoben, die „man“ tut, die „jeder“ tut. Das Recht des

Stärkeren ist das beherrschende Gesetz in der Gesellschaft. Allem Schwachen,

Unproduktiven hingegen wird das Recht zu leben abgesprochen.

Erinnert dies nicht bis in die Sprache hinein an eine sehr dunkle Phase unserer

deutschen Geschichte? Und heute? Handelt unsere Gesellschaft anders, wenn

sie unzähligen wehrlosen Menschen schon im Mutterleib das Recht auf Leben

verweigert?

Wo Gott aus dem Leben verdrängt wird, wo demzufolge der Mensch sich selbst

mit seinen hemmungslosen Wünschen zum Gesetz macht, dort entsteht

unwillkürlich ein Gegenprogramm zur ethischen Weltordnung Gottes. Das aber

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hat zur Folge, dass derjenige, der sich diesem atheistischen Gegenprogramm

widersetzt, der am Glauben an Gott festhält und nach der ethischen

Weltordnung Gottes zu leben versucht, automatisch zum Feind wird. Und

dieser Feind wird bestenfalls belächelt, im Normalfall aber angegriffen und

bekämpft. Darauf weisen nun die folgenden Verse 12-16 hin:

Weish 2,12-16

„2,12 Wir wollen dem Gerechten auflauern, denn er ist uns unbequem.

Er hält uns unsere Werke vor

und tadelt uns wegen unserer Gesetzesübertretungen

und klagt uns wegen unserer Übertretungen der Zucht an.

13 Er rühmt sich, Gotteserkenntnis zu haben,

und nennt sich selbst Kind / Knecht Gottes.

14 Er hat unsere Gedanken aufgedeckt,

sein Anblick ist uns unerträglich,

15 weil sein Leben sich von den anderen unterscheidet

und seine Wege so fremdartig sind.

16 Für Heuchler hält er uns

und hält sich von unseren Wegen fern wie von Unrat.

Er preist das Ende des Gerechten

und rühmt sich damit, Gott zum Vater zu haben.“

Die Verse beschreiben, wie die Gottlosen sich mehr und mehr gegen den

Gerechten zusammenrotten und sich hineinsteigern in das Feindbild, das sie

sich von ihm gemacht haben. Er ist ihnen lästig, denn er ist ihnen ein

lebendiger Vorwurf. Ja, er ist ihr schlechtes Gewissen, solange er in ihrer Mitte

lebt. Denn er ist ein Mensch, der seine geschöpfliche Begrenzung anerkennt –

was sie nicht tun –, der infolgedessen akzeptiert, dass nicht er, sondern Gott

Gott ist – während sie sich selbst zu Gott machen – und der dementsprechend

nach den Geboten Gottes lebt – während sie sich selber Gesetz sind und ihr

Ethos der hemmungslose Lebensgenuss darstellt (V. 12).

Das heißt aber: Der Gerechte oder Gläubige wird dem Gottlosen gefährlich.

Denn da er sich auf eine höhere Instanz als sich selbst beruft, besitzt er einen

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anderen Maßstab, der Profitgier, Macht und ungeordnete Suche nach

Lebensgenuss, alles Unrecht und alle Gewalttat – also all das, was die

Gottlosen so selbstverständlich tun – entlarvt und fundamental in Frage stellt.

Der Gläubige besitzt, würden wir heute sagen, von Gott her die Gabe der

Unterscheidung der Geister, womit er das üble Treiben der Gottlosen und

dessen Folgen durchschaut und verurteilt: „Er hat unsere Gedanken

aufgedeckt“, stellen die Gottlosen entsprechend fest in V. 14a.

Damit aber kann der Gläubige, was seine Person betrifft, nur Hass und

Verfolgung ernten: „sein Anblick ist uns unerträglich“ (V. 14b), bringt er doch

das ideologische Fundament der Gottlosen gewaltig ins Wanken. So spitzt sich

in den folgenden Versen 17-20 die Verschwörung der Gottlosen gegen den

Gerechten dramatisch zu.

Weish 2,17-20

„2,17 Wir wollen sehen, ob seine Worte wahr sind,

und prüfen, was bei seinem Ende geschieht.

18 Denn wenn der Gerechte Sohn Gottes ist, wird er ihm helfen

und ihn aus der Hand seiner Feinde befreien.

19 Mit Gewalt und Folter wollen wir ihn versuchen,

um seine Milde kennenzulernen

und seine Langmut auf die Probe zu stellen.

20 Zu schimpflichem Tod wollen wir ihn verurteilen!

Denn nach seinen Worten wird es ja für ihn eine Heimsuchung geben (d.h.

wird Gott ihm helfen).

Zunächst planen die Gottlosen, den Gerechten auf die Probe zu stellen (V. 17).

Mit Gewalt und Folter wollen sie ihn in die Enge treiben (V. 19a) und schließlich

zum Tod verurteilen (V. 20a), um zu sehen, ob er standhaft bleibt und Gott die

Treue hält. Sarkastisch geben die Gottlosen dabei zu erkennen, dass ihr

Todesstoß nicht eigentlich dem Menschen gilt, sondern Gott, als dessen

lebendiger Zeuge und Anwalt der Fromme unter ihnen lebt.

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Die Verse 17-18 erinnern stark bis in die Formulierung hinein an die Passion

Jesu nach Mt 27,43. Dort verhöhnen die Pharisäer, Schriftgelehrten und

Ältesten Jesus am Kreuz mit den Worten: „Er hat auf Gott vertraut, der soll ihn

jetzt retten, wenn er an ihm Gefallen hat; hat er doch gesagt: ich bin Gottes

Sohn“. Allerdings glauben die Spötter Jesu unter dem Kreuz doch wenigstens

noch an Gott, wenn auch an ein selbstgezimmertes Zerrbild von Gott; die

Gottlosen in Weish 2,17-18 hingegen halten Gott für eine bloße Einbildung.

Das aber entlarvt ihre Rede als reinsten Sarkasmus: „Wenn der Gerechte

Gottes Sohn ist, wird er ihm helfen und ihn aus unserer Hand befreien!“ (V.

18; vgl. V. 20).

Die Verse Weish 2,17-20 machen damit deutlich, dass es niemals eine

friedliche Koexistenz zwischen gottlosen und gläubigen Menschen geben wird,

auch heute nicht. Die hehre Rede von religiöser Neutralität oder Toleranz, wie

wir sie in der Neuzeit kennen, ist Illusion. Solange der Mensch als Ebenbild

Gottes und auf Gott hin geschaffen ist, gibt es in der Gottesfrage keine

Neutralität von Seiten des Menschen. Darin liegt die tiefere Bedeutung der

Aussage Jesu: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“. Vor dem Angesicht

Gottes muss der Mensch sich entscheiden – für oder gegen ihn. Wenn er sich

gegen ihn entscheidet, kann er niemals wirklich neutral oder tolerant sein. Er

muss dann alles, was ihn an Gott erinnert, aus seinem Lebenshorizont

ausmerzen – auch den gläubigen Menschen –, weil dies alles eine ständige

Erinnerung an seine falsche Entscheidung wäre.

Ist das nun das Los eines Gläubigen in einer säkularisierten Welt?

Verdächtigung, Verhöhnung, Verachtung, Verfolgung, Ausstoßung, Tötung?

Kann ein Mensch das denn ertragen? Ist es dann nicht besser, „halt“

nachzugeben und still und unauffällig mitzumarschieren? Man muss ja nicht

laut mitschreien, man kann ja im Herzen seinen Glauben und seine Ideale

bewahren – oder? Sich gegen die alles beherrschende Zeitströmung

aufzulehnen – das hat doch keinen Sinn, daran wird man zerbrechen – oder?

Ja, so könnte der um den Glauben bemühte Mensch zuweilen denken – und

viele verlässt in der Tat auch der Mut, zu ihren Idealen, ihrem Glauben, ihrem

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Gott zu stehen, ist doch der Druck der allgemeinen Meinung, des säkularen

Denkens, das alle Lebensbereiche beherrscht, einfach übermächtig. Der

Verfasser des Weisheitsbuches, der selbst in der säkularisierten Weltstadt

Alexandria lebt, weiß um diese Verfassung des Gläubigen, um seine

Mutlosigkeit, seine Ängste und Leiden. Er weiß um die Gefahr, in der er steht.

Deshalb ermutigt er ihn mit den folgenden Versen 21-24. In diesen Versen

nimmt er einerseits klar Stellung zu dem Verhalten der Gottlosen, andererseits

weitet er den Blick des Frommen auf die wunderbaren Verheißungen Gottes

hin, die ihn wieder aufrichten und ihm Kraft zum Durchhalten geben können.

Weish 2,21-24

„2,21 Das also waren ihre Gedanken, doch sie täuschen sich!

Denn ihre Bosheit hatte sie geblendet.

22 Sie verstanden von Gottes Geheimnissen nichts.

Auch hofften sie nicht auf Lohn für Frömmigkeit.

Und so konnten sie auch nicht die Auszeichnung für untadelige Seelen

beurteilen.

23 Denn Gott hat den Menschen für die Unvergänglichkeit geschaffen

und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht.

24 Aber durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt;

und ihn erfahren die, die zum Anteil von jenem gehören.“

Mit V. 21 greift der Verfasser auf V. 1 zurück und bezeichnet die dort

eröffneten „verkehrten Gedanken“ der Gottlosen ohne Umschweife als blanke

Täuschung, als fundamentalen Irrtum, wie ihn nur eine totale Verblendung

hervorbringen kann. Dabei macht der Autor deutlich, dass die Verblendung der

Gottlosen nicht ein irgendwie schicksalhaftes Nichtwissen ist, sondern die Folge

einer bewussten Entscheidung gegen Gott: ihre Bosheit hatte sie geblendet (V.

21).

In V. 22 stellt der Autor fest, dass Menschen, die sich selbst verabsolutieren

und den Glauben an Gott über Bord werfen, nicht mehr in der Lage sind, „die

Geheimnisse Gottes“ zu verstehen. Das heißt, dass solche Menschen nicht

mehr begreifen können, dass es hinter den sichtbaren Abläufen dieser Welt

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einen göttlichen Heilsplan für Schöpfung und Geschichte und d. h. auch für

jeden einzelnen Menschen gibt, auch wenn dieser nicht immer gleich und

offensichtlich zutage tritt. Sie haben ihre Weltsicht verkürzt auf das Machbare,

das Nützliche, den Fortschritt, auf all das hin, was sie sich selbst ohne

Rücksicht auf die Erlaubtheit der Mittel erarbeiten, erkämpfen und

zusammenraffen können. Folglich können sie auch nicht mehr realisieren, dass

es noch eine Hoffnung gibt auf Lohn für die Treue im Glauben an Gott. Sie

erwarten über das irdische Leben hinaus nichts, weil sie nicht wissen, von wem

sie etwas erwarten sollen. Die Hoffnung des gläubigen Menschen auf Rettung

und Rechtfertigung bei Gott ist ihnen fremd, weil ihnen der Schlüssel fehlt, der

diese Hoffnung aufschließen könnte, nämlich die Offenheit auf Gott hin.

Nach dieser Beurteilung der Gottlosen und ihrer Verblendung geht der Autor in

V. 23 dazu über, den gläubig Gebliebenen den Grund für ihre Hoffnung und

den Lohn für ihre Treue vor Augen zu führen. Es ist die Bestimmung des

Menschen zur Unsterblichkeit.

Mit dem Glauben an die Unsterblichkeit des Menschen widerspricht der Autor

ausdrücklich der Auffassung der Gottlosen zu Anfang des Kapitels, dass der

Tod die alles beherrschende Macht in der Schöpfung sei. Der Mensch, so sagt

er vielmehr, ist kein Zufallsprodukt der Natur, sondern ein von Gott

ausdrücklich gewolltes, liebevoll geformtes und mit göttlichem Atem begabtes

Geschöpf, ein Ebenbild seines Schöpfers, das dazu bestimmt ist, an dessen

Lebensfülle Anteil zu haben. Denn wie könnte Gott, der Ewige und Lebendige,

der Herr über alles Leben und die Lebensfülle selbst ist, sein Ebenbild, den

Menschen, für immer im Tod versinken lassen? „Gott ist doch nicht ein Gott

von Toten, sondern ein Gott von Lebenden“, hält Jesus den Juden entgegen,

die die Auferstehung leugnen (Mt 22,32).

Doch diese ewige Bestimmung des Menschen ist verdunkelt durch die Sünde:

„Durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt“ (V. 24a). Was ist mit

dieser Aussage gemeint?

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Zunächst einmal: Mit dem Tod ist hier natürlich nicht das biologische Sterben

des Menschen gemeint. Wir wissen ja, dass sich die Zellen des menschlichen

Körpers alle zwei Jahre erneuern und das etwa vierzig mal. Dann ist die

Lebenskraft der Zellen erschöpft und der Mensch muss biologisch gesehen

sterben. Vielmehr bezieht sich der Autor mit dieser Aussage auf die Erzählung

vom Sündenfall in Gen 3: Der Mensch ist der Verführung Satans auf den Leim

gegangen, der ihm vorgaukelte, er könne werden wie Gott, wenn er die Gebote

Gottes missachte. Er löste sich von Gott, seinem Schöpfer und Herrn über das

Leben, und hat sich damit selbst und in freier Entscheidung von der Quelle des

Lebens getrennt. Gemeint ist also ein inneres Wegsterben von Gott, ein

Herausfallen aus der Gemeinschaft mit Gott, das im leiblichen Tod die Gestalt

der Endgültigkeit annimmt.

Aber was bedeutet es, dass dieser Tod, dieses innere Wegsterben von Gott,

durch den „Neid des Teufels“ in die Welt gekommen ist? Der Verfasser macht

hier eine ganz entscheidende Aussage über das Wesen Satans. Von Satan oder

dem Teufel wird ja heute – auch in der Theologie – kaum noch gesprochen.

Man fürchtet sich, in den Verdacht einer mittelalterlich-abergläubischen

Frömmigkeit zu geraten. Stattdessen ist man eher der Meinung, dass alles

Böse, was auf der Welt geschieht, aus einer inneren Regung des menschlichen

Herzens aufsteigt, dass es den Teufel als Person oder besser Unperson

außerhalb des Menschen überhaupt nicht gibt. Symptomatisch hierfür ist das

Buch des Tübinger Alttestamentlers Herbert Haag mit dem Titel „Abschied vom

Teufel“11.

Doch dagegen sprechen eindeutig die Botschaft unseres biblischen Textes und

übrigens auch viele Aussagen Jesu im Neuen Testament. Wenn deshalb der

Verfasser in Weish 2,24 sagt, dass der Neid des Teufels den Tod in die Welt

gebracht habe, dann geht er ebenso wie der Autor von Gen 3 ganz klar von

einer real existierenden, eigenständigen Macht des Bösen aus. Ihre Auflehnung

gegen Gott ist dem Menschen und seiner Entscheidung vorgelagert.

11 Das Buch des 2001 verstorbenen Alttestamentlers wurde 1969 erstmals veröffentlicht und erfuhr mehrere Auflagen.

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Die jüdische Tradition sagt von dieser Macht, dass sie, die ebenso wie der

Mensch lediglich ein Geschöpf Gottes und kein göttliches Gegenprinzip ist, sich

erstens nicht mit der ihr zukommenden Stellung als Geschöpf unter Gott

abfinden konnte und zweitens von Neid auf den Menschen zerfressen wurde.

Denn der Mensch war zum Einen ausgezeichnet durch eine besondere Nähe zu

Gott: „Gott blies dem Menschen den Lebensatem ein“, heißt es in Gen 2,7, und

zum Anderen hatte Gott den Menschen mit einem expliziten Herrscherauftrag

über die Schöpfung ausgestattet: „herrsche über die Vögel des Himmels, die

Fische im Meer“ usw. (Gen 1,28). Aus Neid auf diese Würde des Menschen

habe jene Macht, so die jüdische Tradition, gegen ihren Schöpfer rebelliert und

sich schließlich von ihm losgesagt. Wir nennen sie von da an Satan –

Widersacher – oder Teufel.

Der Neid erfüllt den Teufel mit einem tiefen Hass auf den Menschen und so

trachtet er danach, sich einzelne Menschen und Völker dienstbar zu machen,

um sie mit in die Rebellion gegen Gott hineinzuziehen und sie so als Bild

Gottes zu zerstören. Doch so wie die Macht des Bösen vor Gott grundsätzlich

gebrochen und der Sphäre des Todes übereignet ist, so werden in dieses

Geschick alle jene mit hineingerissen, die der Verführung des Teufels erliegen

und sich mit ihm zusammen gegen Gott stellen (V. 24).

III. Geistlicher Ertrag: Der Gläubige in einer säkularisierten Welt

Am Ende der Auslegung von Weish 1,16-2,24 wollen wir uns die Frage stellen:

Kann dieser Text uns Heutigen nach über 2000 Jahren noch etwas sagen? Gibt

es einen geistlichen Ertrag für uns? Ich denke sehr wohl. Die Ähnlichkeit

zwischen der zeitgeschichtlichen Situation damals und heute hat sich ja schon

mehrmals abgezeichnet.

Zunächst ist zu beachten, dass sich das Buch der Weisheit nicht theoretisch an

irgendwelche Gottlosen oder Frommen richtet; es ist keine akademische

Auseinandersetzung mit dem Thema Atheismus und Glaube. Vielmehr hat der

Verfasser, ein schriftgelehrter Weiser in der jüdischen Diaspora in Alexandria,

konkret das eigene Volk im Blick. Unter dem Ansturm des säkularen

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Hellenismus, einer faszinierenden und Erfolg versprechenden Kultur kurz vor

der Zeitenwende, war die Diasporagemeinde tief verunsichert worden und

stand in Gefahr, den eigenen Glauben an Jahwe aufzugeben. Diesen Menschen

will der Verfasser als Verantwortlicher für die Glaubensüberlieferungen seines

Volkes einerseits warnend, andererseits ermutigend zu Hilfe kommen.

In einer ganz ähnlichen Zeit leben auch wir heute. Unter dem Ansturm des

modernen Säkularismus, dem Diktat der Naturwissenschaften und dem Sog

des technischen Fortschritts fühlen sich viele Gläubige ebenfalls verunsichert

und stehen in der Gefahr, sich unmerklich dem Denken und den Forderungen

unserer Zeit anzupassen. Weite Teile unserer Bevölkerung, vor allem der

jungen Menschen, sind schon weit weg von Glaube und Kirche.

Ein weiterer Punkt, in dem der Text aus dem Buch der Weisheit unsere heutige

Zeit fast eins zu eins abbildet, ist die materialistische Denkweise, die in Weish

2 nahezu bis zum Exzess ausgezogen wird. Im hellenistisch-römischen Reich

um die Zeitenwende hatte sich aufgrund der rasanten Entwicklung von Technik

und Wissenschaft ein Fortschrittsglaube entwickelt, der den althergebrachten

Glauben der Väter als unmodern erscheinen ließ.

Nicht viel anders ist dies heute, wo sich mehr und mehr in allen Schichten der

Gesellschaft die Grundüberzeugung durchsetzt, dass alles machbar ist – sogar

der Mensch – und dass allein das zählt, was vom Menschen hergestellt und

bewiesen werden kann. Religion erscheint demgegenüber als rückständig und

überflüssig, bestenfalls für ein paar Feierstunden tauglich wie Hochzeit oder

Erstkommunion, aber nicht mehr als wirklich das Leben tragend. Gefragt ist

dementsprechend weniger der Gott der Bibel oder das Gebet als Ausdruck

eines lebendigen Verhältnisses zu ihm als vielmehr Techniken und Anleitungen

zum Glücklichsein. Denken wir an die unüberschaubaren Angebote der

Esoterik, deren Charme oder besser Verführungskraft darin liegt, dass sie

einen schnellen und schmerzlosen Erfolg versprechen und mir die Machbarkeit

meines eigenen Lebens, meines Glücks und scheinbar auch meiner Zukunft

vorgaukeln.

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Doch das Buch der Weisheit zeichnet nicht nur ein düsteres Bild von den

Verhältnissen seiner Zeit, es zeigt auch, dass man sich angesichts solcher

Entwicklungen nicht entmutigen lassen muss. Es zeigt, dass es eine durchaus

ernsthafte und kompetente Auseinandersetzung mit dem säkularen Denken

der Zeit und ihrer materialistischen Lebensweise gibt, ja dass eine solche sogar

notwendig ist, weil die im Glauben Verunsicherten Stütze brauchen und die

vom Glauben sich Entfernenden eine ernsthafte Warnung.

So wagt es der Verfasser, der die Überlieferungen seines Glaubens ja bestens

kennt, zunächst, eine unerschrockene Analyse seiner Zeit zu geben. Ohne

Beschönigung weist er darauf hin, dass ein Lebensentwurf ohne Gott eine

große Täuschung darstellt, die sich am Ende auflöst wie Nebel, ja dass ein

Leben ohne Gott eine Sackgasse ist, gesäumt von Unmoral und Gewalttat. Es

ist das seelsorgerliche Verantwortungsbewusstsein dieser Weisen, das sie zu so

klaren und furchtlosen Worten greifen lässt – gegen die modernen Strömungen

ihrer Zeit. Sie ertragen es nicht, dass der Glaube ihres Volkes in einen

Säkularismus abdriftet, der alles Geistliche tötet und schließlich die Gläubigen

selbst in die Sackgasse eines praktischen Atheismus treibt.

Gibt es nicht auch in unserer Zeit Menschen, die ähnlich unerschrocken ihre

Zeit in Blick nehmen, weil sie sich für den Glauben vieler verunsicherter

Menschen in der Kirche verantwortlich fühlen? Ich denke hier insbesondere an

unseren emeritierten Papst Benedikt XVI. Er hat wie kein anderer Theologe der

Gegenwart sich nicht nur intensiv und leidenschaftlich, sondern auch

kompetent in vielen Büchern, Interviews und Predigten mit dem Denken

unserer Zeit auseinandergesetzt; und er hat den Säkularismus und

Materialismus wie kein anderer durchschaut und vor den ethischen Folgen

eines Lebens ohne Gott gewarnt: Wenn Gott wegfällt, sagt er, könne alles

andere noch so gescheit sein, dann verliere der Mensch unweigerlich seine

Würde und seine Menschlichkeit, und damit brächen die wesentlichen

Koordinaten des Lebens zusammen.

Doch hat Papst Benedikt auch – ebenfalls wie die Weisen Israels – sich bei aller

kritischen Zeitanalyse nicht einfach reaktionär vor der Moderne verschlossen

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und in die Welt des Glaubens zurückgezogen. Vielmehr spricht er in seinem

Interviewband „Das Licht der Welt“ von dem „Aufeinanderstoßen zweier

geistiger Welten, der Welt des Glaubens und der Welt des Säkularismus“,

angesichts dessen sich die Frage stelle: „Wo kann und muss sich der Glaube

die Formen und Gestalten der Moderne aneignen – und wo muss er Widerstand

leisten?“12 Dieses große Ringen durchdringe heute die ganze Welt. Und er zeigt

auf, was nötig ist, um den Kampf zu bestehen: „Wir müssen vor allen Dingen

versuchen, dass die Menschen Gott nicht aus den Augen verlieren. Dass sie

den Schatz erkennen, den sie haben. Und dass sie dann selber, aus der Kraft

des eigenen Glaubens heraus, in die Auseinandersetzung mit dem

Säkularismus treten und die Scheidung der Geister zu vollziehen vermögen.

Dieser gewaltige Prozess ist der eigentliche große Auftrag dieser Stunde“13.

„Gott nicht aus den Augen verlieren“ – das ist auch das große Programm des

alttestamentlichen Weisen im Buch der Weisheit. Gott wieder in das Denken

und Leben der Menschen zurückzubringen, „die Priorität Gottes neu ans Licht

zu bringen“ und zu zeigen, „dass es Gott gibt, dass Gott uns angeht und dass

er uns antwortet“14, ist überhaupt das Programm gegen jeden Säkularismus

und Materialismus aller Zeiten.

Doch dies verlangt echte Umkehr. Und wie geschieht Umkehr? Papst Benedikt

empfiehlt, wieder nach dem Wort Gottes zu fragen, es zu studieren, um es als

Realität in das eigene Leben hineinleuchten zu lassen15 – ganz im Sinne des

alttestamentlichen Weisen, der betont, dass der Gerechte ein Mensch ist, der

nach Gotteserkenntnis strebt (V. 13), die er in den Heiligen Schriften findet,

der sein Leben nach Gottes Geboten, der Tora, ausrichtet (V. 12.15), die

ebenfalls im Alten Testament überliefert ist, und der Gott seinen Vater nennt

(V. 16).

12 Benedikt XVI., Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit. Ein

Gespräch mit Peter Seewald, Freiburg 2010, 77. 13 Benedikt XVI., Licht der Welt, 77; vgl. 86. 14 Benedikt XVI., Licht der Welt, 86. 15 Benedikt XVI., Licht der Welt, 83.

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Tun wir das heute auch in der Kirche? Die Bibel studieren, um der

Zeitströmung des Säkularismus angemessen, d. h. von innen heraus,

begegnen zu können? Wir bräuchten in der Kirche wieder einen biblischen

Frühling.

Verbunden mit jenem Gegenprogramm zum Säkularismus und Materialismus,

nämlich der Umkehr zur Priorität Gottes in meinem Leben, was sich realisiert

im Studium seines Wortes, begegnet im alttestamentlichen Weisheitsbuch noch

ein weiterer Gedanke, der die modernen Zeitströmungen von innen her zu

überwinden vermag: der Glaube an die „Unvergänglichkeit“ des Menschen, an

sein ewiges Fortbestehen in der Gemeinschaft mit Gott jenseits der

Todesgrenze, so in V. 23.

Es ist zunächst einmal symptomatisch für jedes säkulare und materialistische

Denken, dass darin der Glaube an eine ewige Zukunft des Menschen bei Gott

keinen Platz hat. Wo allein Wissenschaft und Fortschritt, Ansehen und Macht

zählen, bleibt der Blick gefangen in jenem „Saeculum“, d. h. in jener

sichtbaren und greifbaren Welt, in der ich lebe. Der Gedanke an ein

Überschreiten dieser Welt im Tod muss auf diesem Hintergrund als reine

Torheit erscheinen.

Das aber hat zur Folge, dass der Tod selbst zu einer Größe wird, mit der man

nichts mehr anfangen kann, die man lieber peinlich verschweigt und so weit

wie möglich aus dem Leben verdrängt. Erleben wir nicht in unserer Zeit eine

solche Verdrängung des Todes in großem Stil? Was sagt uns das über die

Lebendigkeit des christlichen Glaubens an die Unsterblichkeit des Menschen

und seine ewige Würde in unserer Gesellschaft?

Dabei wissen wir Christen heute noch besser als der alttestamentliche Autor,

dass Gott uns Menschen im Tod niemals alleine lassen, uns niemals fallen

lassen wird, ist er doch in Jesus Christus nicht nur in unser Menschsein,

sondern auch in unseren menschlichen Tod hinabgestiegen. Dort unten, im

Abgrund unserer letzten Nacht, erwartet er uns, um uns an der Hand zu

nehmen und herauszuführen in das Licht seiner Auferstehung.

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Eine solch starke Hoffnung, einen solch frohmachenden Glauben haben wir zu

verkünden! Er stellt in sich schon die Überwindung des Säkularismus jeder

Zeitepoche dar, eine Überwindung von innen her, vor der der Säkularismus

von selbst wie eine verdorrte Frucht vom Baum der Moderne fällt.

Verkünden wir also diesen unseren Glauben an den Gott, der uns nicht im Tode

lässt, der uns gerade im Tod als der Lebendige begegnet, der uns hineinhebt in

sein Reich ewiger Liebe, mit allem Selbstbewusstsein, das uns als erlösten

Christen zukommt. Geben wir den Menschen unserer Zeit auf diese Weise ihre

unsterbliche Würde wieder und bannen wir so die Traurigkeit und Lethargie

unserer Zeit.


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