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Aufregende Tage (Deutscher Kleinbuch-Verlag)

Date post: 08-Jan-2017
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Rote Schlange Band 27

Aufregende Tage Von G. J. Hipkiss

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ROTE Schlange DIE DEUTSCHE AUSGABE – erscheint monatlich bei Verlag und Auslieferung Friedr. Petersen, Ham-burg 1, Schopenstehl 15, Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1951 für Deutschland und die Schweiz by Verlag und Auslieferung Friedr. Peter-sen, Hamburg 1, Schopenstehl 15. – Satz und Druck: Friedr. Petersen, Husum, Großstraße 9.

Dieses Heft enthält einen völlig in sich abgeschlossenen Roman, der – bis auf ge-legentliche Gleichheit der handelnden Personen – zu den bisher erschienenen Hef-ten in keinem Fortsetzungszusammenhang steht. – Die Serie darf nicht in Leihbü-chereien verliehen, in Lesezirkeln nicht geführt und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden.

Verkauf dieses Buches in Österreich verboten!

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Erstes Kapitel

UMSTELLT Man hörte ein leises Knacken in der Dunkelheit … ein Ge-räusch, als wenn ein leichtes Gewicht den Boden berührt … vorsichtige Schritte …

Ein Lichtschein durchbohrte die Finsternis und blieb auf ei-nem der zu beiden Seiten des mächtigen Lagerraumes sich tür-menden Ballen haften. Die Person, die die Taschenlampe hielt, näherte sich. Die Hand strich über den Ballen, zog sich zurück und strich dann von einem Ballen zum anderen, als wolle sie sich vergewissern, ob der Inhalt der Ballen immer der gleiche war.

Jetzt schweifte der Lichtstrahl nach allen Richtungen. Am Ende des Lagerraumes befand sich ein Lastenaufzug und neben ihm eine nach oben führende Treppe. Die Person, die die Lam-pe in der Hand trug, näherte sich ihr und prüfte die Zollsiegel der letzten Bündel. Dann ging sie weiter und begann, die Stufen empor zu steigen.

Als sie zum ersten Absatz kam, blieb sie plötzlich unbeweg-

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lich stehen. In der Stille der Nacht hatte sie plötzlich das Ge-räusch eines Motors vernommen, das immer deutlicher zu hö-ren war und näher kam. Das Licht der Lampe fiel zu Boden und erlosch gleich darauf. Jener kurze Augenblick aber genügte, wenigstens das Ge-schlecht, wenn auch nicht die Persönlichkeit derjenigen zu entziffern, die die Lampe hielt, deren Schein ei-nen Augenblick über den Rand eines Rockes glitt: eines roten Rockes!

Die Unbekannte blieb einen Augenblick unbeweglich, scheinbar unschlüssig stehen und horchte weiter. Das Fahrzeug befand sich schon so nahe, daß man das unverkennbare Ge-räusch des Motors mit Sicherheit klassifizieren konnte: es han-delte sich zweifellos um einen Lastwagen, der bald darauf an der Tür des Lagerhauses anhielt, in welchem sich die Frau be-fand. Aber der Motor lief weiter.

Die Frau wartete nicht mehr. Wenn sie einen Augenblick daran gedacht haben mochte, unten zu bleiben, so mußte sie diesen Gedanken jetzt verworfen haben. Deshalb und auch von dem Wunsch getrieben festzustellen, was sich in den oberen Lagerräumen befinden mochte, stieg sie jetzt weiter in völliger Dunkelheit die Treppe empor.

Sie hörte, wie unten die Tür geöffnet wurde. Schritte mehre-rer Personen waren zu hören, eine Taschenlampe flammte auf und eine Stimme befahl:

„Verdunkelt die Fenster!“ Einige Augenblicke später – der Befehl mochte schon ausge-

führt worden sein – drehte jemand am Schalter und der Lager-raum war in helles Licht getaucht.

Die Unbekannte hatte schon den ersten Absatz hinter sich und war der Sicht der unten Befindlichen entschwunden. Sie streckte aber ein paar Sekunden den Kopf vor, um einen schnel-len Blick auf die Ankömmlinge zu werfen.

Es waren fünf Männer, vier von ihnen trugen Schlosseranzü-

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ge. Der Fünfte, der sie zu befehligen schien, sprach jetzt zu lei-se, als daß die Unbekannte seine Worte verstehen konnte. Aber auf Grund der Schnelligkeit, mit der sich die anderen an die Arbeit machten, um Ballen auf den Lastwagen zu laden, begriff sie, daß er entsprechende Befehle gegeben hatte.

Als die ersten Männer mit Ballen beladen der Tür zugingen, hörte man einen zweiten Lastwagen halten und vier weitere Männer traten ein, die gleichfalls sofort Ballen auf ihre Schul-tern luden.

Die Unbekannte zog den Kopf zurück. Lautlos stieg sie zum ersten Stock hinauf, dessen Lagerraum gleichfalls voller Waren war. Sie bewegte sich mit größter Vorsicht, da sie bei ihrer An-kunft niemanden gesehen hatte und sich wunderte, daß ein so riesiges Warenlager keinen Wächter haben sollte. Vielleicht befand sich der Wächter in einem der oberen Stockwerke, und sie konnte von einem Augenblick zum anderen auf ihn stoßen.

Es gab im ganzen vier Stockwerke und keins von ihnen war ohne Waren. Die Unbekannte hielt sich in keinem von ihnen längere Zeit auf. Sie beschränkte sich darauf, schnell die Etiket-te und Zollsiegel an verschiedenen Bündeln zu prüfen und be-nutzte ihre Taschenlampe so wenig wie möglich.

Sie hatte sich gerade im dritten Stock über eine Kiste ge-beugt, um ein Etikett zu entziffern, als sie hinter sich ein Ge-räusch zu hören glaubte. Sie löschte das Licht, warf sich zur Seite und wartete mit gespannten Nerven. Sie hielt die Lampe jetzt in der linken Hand. Die Rechte umklammerte die Pistole. Einige Augenblicke lang bewegte sie sich nicht. Das Geräusch wiederholte sich nicht. Sie hörte nur gedämpft die Geräusche vom Erdgeschoß heraufdringen und nahm an, sich getäuscht zu haben. Oder war vielleicht eine Ratte im Dunkeln über den Bo-den gelaufen?

Sie zündete die Lampe wieder an, um sich zu orientieren und kehrte zur Treppe zurück, nachdem sie dieses Stockwerk in

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Augenschein genommen hatte. Jetzt stieg sie zum obersten Stock empor. Unten war jedes Geräusch verstummt außer dem der laufenden Motoren.

Das Schweigen schien ihr verhängnisvoll, aber sie hatte kei-ne Zeit Nachforschungen anzustellen und auch keine Neigung dazu. Hinunterzugehen wäre jetzt sehr gefährlich gewesen. Trotzdem sie sich anstrengte, irgendein Geräusch zu verneh-men, drang nicht das geringste an ihre Ohren.

Vielleicht, sagte sie sich, haben die Leute ihre Arbeit beendet und das Lager verlassen, um wegzufahren. Einer aber mußte sich zum mindesten noch hier befinden, denn durch die Öff-nung des Aufzuges gewahrte sie einen Lichtschein.

Sie war fast oben, als sie ein Knacken und dann ein Summen vernahm, welches ihr anzeigte, daß der Lastenaufzug in Bewe-gung gesetzt worden war. Man wollte gewiß etwas herabholen, aber aus welchem Stockwerk?

Sie ließ alle Vorsicht beiseite, denn sie wußte genau, daß der Aufzug jedes Geräusch, das sie machte, ersticken würde, wenn es nicht allzu laut war. Der Aufzug war in diesem Augenblick schon so hoch gekommen, daß kein Zweifel darüber bestand, daß er nach dem vierten Stock wollte. Die Gefahr entdeckt zu werden, war größer geworden. Sie mußte jetzt mit den Män-nern, die heraufkamen, hinter den Warenstapeln Verstecken spielen. Sie wäre gern wieder zum dritten Stock hinuntergestie-gen, sah aber ein, daß die Gefahr dann noch größer war. Der Aufzug bestand aus einer einfachen Plattform. Er hatte kein Dach und keine Seiten, und die Leute, die auf ihm standen, würden sie auf der Treppe sehen, wenn er an ihr vorbeikam. Es war besser, wenn sie dort blieb, wo sie sich befand.

Sie floh in eine Art kleines Büro. Es war nicht anzunehmen, daß die Männer hier hereinkamen. Sollte es aber so aussehen, dann konnte sie sich durch eine andere Tür in den Lagerraum zurückziehen und hinter einem Warenstapel verbergen.

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Angespannt lauschend wartete sie. Der Aufzug langte jetzt an und hielt. Augenblicklich begann er aber wieder hinabzugleiten.

Was war geschehen? Was bedeutete das? Es war nicht mög-lich, daß jemand Zeit gehabt hatte, abzusteigen und natürlich noch weniger, etwas aufzuladen. Ohne zu wissen warum, be-gann die Unbekannte ein unheimliches Gefühl zu beschleichen. Der Aufzug war zu irgendeinem Zweck heraufgekommen. Aber zu welchem? … Sicher zu keinem guten.

Die Ungewißheit gestattete ihr nicht, dort zu bleiben, wo sie sich befand. Es war notwendig, hervorzukommen und Nachfor-schungen anzustellen. Wenn jemand gekommen wäre, hätte sie irgendeinen Laut gehört. Es gab deshalb nur zwei Möglichkei-ten: Entweder hatte keiner Zeit gehabt, abzusteigen, oder aber es war jemand heraufgekommen, der jetzt lautlos das Stock-werk durchsuchte, was so viel bedeutete, daß man die Gegen-wart eines Eindringlings vermutete.

Wie es auch immer sein mochte, sie mußte aus ihren Zwei-feln herauskommen.

Mit der Taschenlampe in der einen Hand, um sie beim ge-ringsten Geräusch aufflammen zu lassen, und mit der Pistole in der anderen wandte sie sich dem nahen Treppenabsatz zu. Nichts regte sich. Alles war ganz still, so daß sie beschloß, ein Risiko einzugehen. Sie entzündete einen Augenblick die Lampe und ließ den Strahl durch den Raum schweifen. Nichts.

Sie verlöschte sie wieder und ging zur Öffnung des Lasten-aufzuges. Dieser kam gerade unten an. Er hielt dort nicht ein-mal eine Minute und setzte sich wieder in Bewegung.

Jedesmal mehr beunruhigt, gelangte die Unbekannte an die Treppe. Sie mißtraute allem, was sie sich nicht erklären konnte. Es war möglich, daß es sich um eine Havarie handelte, daß ir-gend etwas beschädigt war, so daß der Aufzug solange auf und ab ging, bis man den elektrischen Strom abschaltete. Sie glaub-te aber nicht recht an eine solche Havarie.

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Sie verzichtete darauf, den vierten Stock zu untersuchen und wollte im ersten Stock warten, bis die Männer fortgingen, um sich dann wieder auf die Straße zu begeben.

Sie begann den Abstieg und war kaum einige Stufen hinun-tergegangen, als ihr das Geheimnis klar wurde. Der Rückweg war ihr abgeschnitten. Vier Leute kamen die Treppe herauf und befanden sich bereits im dritten Stockwerk. Den Aufzug hatte man nur in Betrieb gesetzt, um jedes Geräusch zu übertönen, das die vier Männer machen konnten. Sie sollte nicht ahnen, daß sie heraufkamen!

Sie erinnerte sich an das Geräusch, das sie im dritten Stock vernommen und einer Ratte zugeschrieben hatte. Zweifellos hatte sich dort der Wächter befunden. Er hatte sie gesehen und fürchtete, daß sie ihm in der Dunkelheit entkommen würde. Deshalb hatte er die anderen benachrichtigt, damit sie gemein-sam vorgehen konnten.

Durch die Treppenöffnung gewahrte sie, daß sich der Aufzug wieder näherte. Diesmal befanden sich vier Männer oben. Wenn sie nicht sofort zurückging, ehe diese vier den obersten Stock erreichten, dann würde sie auf der Treppe zwischen dem dritten und vierten Stock eingekeilt sein. Es war jetzt unnütz, sich um das Geräusch zu sorgen, das sie machen könnte. Man wußte zweifellos von ihrer Gegenwart, und die Leute mußten ganz sicher sein, daß sie ihnen nicht entkommen konnte.

Schnell sprang sie die Stufen hinauf in den Lagerraum und eilte auf ein Fenster zu. Sie hatte eine Idee, die einzige viel-leicht, die sie aus der gefährlichen Lage befreien konnte. Das Lagerhaus, in dem sie sich befand, erhob sich an einer der Mo-len des Binnenhafens. Das Gebäude war auf einer Landzunge errichtet. Auf der Nordseite grenzte es an die Straße, auf der Ostseite an den Fluß und auf der Südseite gleichfalls ans Was-ser. Sie war sicher, daß es auf den beiden letzteren Seiten Kräne gab, um die Waren aus den Schiffen hinaufzuwinden. Ihr Plan

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war, eins der Kabel zu ergreifen und sich aufs Wasser hinabzu-lassen.

Sie kam gerade an eins der Fenster, als der Aufzug hielt. Sie schaute hinaus. Es befand sich kein Kran hier! Der nächste stand zwei Fenster weiter drüben. Sie wich zwischen die Wa-renstapel zurück und nahm davon Abstand. Die Männer befan-den sich schon im Raum. Eine Stimme rief:

„Zündet das Licht an!“ Die Lage der Frau war so verzweifelt, daß sie nicht einmal

Zeit zum Nachdenken hatte. Sie näherte sich wieder dem Fen-ster und schaute hinunter. Von hier aus ins Wasser zu springen, bedeutete Selbstmord. Der Kanal war zu eng. Sie setzte sich der Gefahr aus, entweder an dem Gebäude zu zerschellen, in dem sie sich befand, oder auf eins der Schiffe aufzuschlagen, die am jenseitigen Ufer lagen, was ein und dasselbe war. Es gab nicht genug Raum, um den Sprung richtig zu berechnen.

Sie hob den Blick, und neue Hoffnung beseelte sie. Über dem Fenster gewahrte sie ein paar Isolatoren und einige Tele-phon-Kabel. Diese Kabel kreuzten den Wasserarm diagonal nach einem anderen Gebäude hin, das auf dem gegenüberlie-genden Ufer näher am Wasser stand als das, in dem sie sich befand. Würden die Kabel stark genug sein, um ihr Gewicht zu tragen?

Ohne weiter zu überlegen, griff sie mit der Hand nach einem der Kabel. Es schien fest zu sein. Sie steckte die Taschenlampe und die Pistole ein, griff mit beiden Händen zu und schwang sich hinaus. Die Kabel gaben nicht nach. Langsam bewegte sie eine Hand über die andere und begann die gefährliche Überque-rung nach dem anderen Gebäude.

In diesem Augenblick flammte das Licht in dem Stockwerk auf, das sie eben verlassen hatte.

Ein Ausruf zeigte ihr, daß sie entdeckt worden war. „Dort ist sie!“ schrie ein Mann. „Es ist die Rote Schlange!“

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Der Lichtschein einer starken Lampe traf sie voll ins Gesicht und blendete sie, so daß sie den Kopf wenden mußte.

„Nein!“ schrie eine andere Stimme. „Das nicht! Wir wollen keinen Alarm schlagen! Es ist gar nicht notwendig! Wir haben ein besseres Mittel!“

Wenn die Rote Schlange ihre Feinde auch nicht sah, so hörte sie sie wenigstens und begriff den Ausruf zum Teil. Der Mann, der zuerst sprach, hatte auf sie schießen wollen, aber ein ande-rer hinderte ihn daran, weil er nicht wollte, daß man die Schüs-se hörte und die Polizei herbeieilte. Was aber war das bessere Mittel von dem er sprach?

Er dauerte nicht lange, da wußte sie es. Sie hörte plötzlich einen kräftigen Schlag und ein Splittern. Sofort begann das Ka-bel, an dem sie hing, nachzugeben. Sie hatten die Isolatoren zerschlagen.

Die Frau in Rot begriff, daß ihr nur wenige Sekunden zu ei-nem Entschluß blieben. Das Kabel würde von einem Moment zum anderen ganz nachgeben. Wie ein Pendel würde sie an ihm schwingen und am gegenüberliegenden Gebäude zerschellen.

Was sie anfangs nicht tun wollte, mußte sie jetzt unterneh-men, und vielleicht mit noch größerer Gefahr.

Sie verlor ihr kaltes Blut trotzdem nicht. Wenn auch ihr Hirn blitzschnell arbeitete, so doch mit äußerster Ruhe und Überle-gung. Wenn das Kabel genau im rechten Winkel zu dem ande-ren Gebäude gespannt gewesen wäre, würde eine Rettung so gut wie unmöglich sein, und sie hätte den Schwung nicht recht-zeitig aufhalten können. Die Tatsache aber, daß das Kabel dia-gonal gespannt war, half ihr. Sie würde so den Bruchteil einer Sekunde länger über dem Wasser schweben. Wenn sie den Un-terschied zu nutzen und gut zu kalkulieren verstand, dann konn-te sie sich vielleicht von einem sicheren Tode retten.

Alle diese Überlegungen hatte sie viel schneller angestellt, als wir es hier beschreiben konnten. Wie sie vorhergesehen hat-

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te, begann sich das Kabel jetzt ganz zu lösen, und sie begann in dem Bogen zu schwingen, der sie an das gegenüberliegende Gebäude schlagen würde.

Der Schwung hatte kaum begonnen, als die Rote Schlange die Hände öffnete. Ihr Körper sauste diagonal durch die Luft. Die Röcke blähten sich auf’ und bremsten ihren Fall leicht. Aber die Wirkung dauerte nicht lange, denn der Luftdruck dreh-te sie um, und der rote Rock, der länger war als der schwarze, den sie darunter trug, wehte in die Höhe und bedeckte ihr Ge-sicht. Die letzten Meter fiel sie, ohne das Geringste zu sehen, und daher ohne zu wissen, wohin der Fall ging.

Sie hörte plötzlich einen Alarmschrei zu ihren Füßen und gab sich verloren. Sie biß die Zähne zusammen und schloß instink-tiv die Augen, obgleich sie sowieso nichts sah. Sie nahm an, daß sie auf die Erde aufschlagen würde, und der Tod durch den Aufprall schien ihr wünschenswerter, als auf die Mastspitze eines der kleinen Schiffe aufgespießt zu werden.

Etwas unter ihren Füßen gab nach, aber nicht ohne einen ge-wissen Widerstand entgegenzusetzen. Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie eine gewisse Kühle und einen Verlust an Gewicht merkte. Sie war ins Wasser gefallen, in dem sie jetzt untertauchte.

Da ihr Rock sie an den Armbewegungen hinderte und sie sich nicht schnell genug freimachen konnte, stieß sie bis auf den Grund hinunter. Die Füße berührten den Schlamm, und der Körper begann wieder nach oben zu steigen.

Die feuchte Seide schmiegte sich eng an den Körper und ließ sich deshalb nicht entfernen. Schnell entschlossen, riß sie mit den Fingernägeln den Stoff auf, und konnte sich in dem Augen-blick von ihm freimachen, als sie wie ein Kork wieder an die Oberfläche kam. Sie atmete tief auf und schaute sich um.

In einem nahen Boote befand sich ein Mann, der mit ent-stelltem Gesicht mit einer Laterne das Wasser ableuchtete. Es

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war sicher jener, der den Alarmschrei ausgestoßen hatte, und sein Boot war es, das beinahe durch den Fall der Roten Schlange gekentert wäre, was ihr gleichzeitig das Leben ge-kostet hätte.

Die Laterne verbreitete nicht genug Licht, um die Stelle zu beleuchten, an der die Frau wieder aufgetaucht war. Sie hatte auch nicht den geringsten Wunsch, entdeckt zu werden. Wenn irgendeiner der Männer aus dem Lagerhaus Nachforschungen anstellte, so sollte er glauben, daß sie tot und vom Strom mitge-rissen worden wäre.

Sie tauchte erneut unter, riß ihr ganzes rotseidenes Kleid ab und schwamm unter Wasser nach dem Binnenhafen. Als sie aus diesem Wasserarm heraus war, schwamm sie in einen anderen, verlassenen hinein, wo sie an Land stieg. Dort setzte sie sich den kleinen Hut mit dem dichten schwarzen Schleier auf und begab sich zu dem Ort, wo sie heute nacht ihren Wagen gelas-sen hatte.

Sie vertraute darauf, daß jemand, der ihr begegnen mochte, im Dunkel den Zustand ihrer Kleider nicht gewahren würde.

Glücklicherweise traf sie niemanden. Sie fand ihr Auto, wo sie es gelassen hatte, warf es an, trat auf den Gashebel und fuhr ans andere Ende von Baltimore, wobei sie die einsamen Straßen benutzte.

In dieser Nacht hätte sie beinahe ihr Leben verloren, wußte aber, diese Gefahr nicht umsonst eingegangen zu sein, denn sie hatte die Bestätigung ihrer Vermutungen erhalten, die sie seit einiger Zeit hegte. Während das Auto mit großer Geschwindig-keit seinem Ziel zujagte, machte die Rote Schlange bereits ihre Pläne.

* *

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Zweites Kapitel

TRAGÖDIE Der Aufzug hielt im Erdgeschoß. Die acht Leute, die auf ihm herabgekommen waren, stiegen ab. Der gut gekleidete Mann, der seinen Hut bis auf die Augen herabgezogen hatte, fragte:

„Und?“ „Ich glaube nicht“, antwortete einer der Männer, „daß sie es

überlebt hat, um etwas erzählen zu können.“ „Wer war es?“ „Die Rote Schlange.“ Der Mann hob erschreckt den Kopf. „Bist du dessen sicher?“ wollte er wissen. „Sie war wenigstens so gekleidet, wie man es von der Roten

Schlange sagt.“ „Habt ihr sie umstellt?“ „Ja.“ „Wo befindet sie sich?“ Der Mann zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, antwortete er. „Vielleicht klebt sie an

der Wand gegenüber oder sie schwimmt im Fluß.“ „Das sagst du so ruhig? Weißt du nicht, daß diese Frau, wenn

sie lebt …“ „Wer hat gesagt, daß sie lebt, Chef?“ „Erzähle mir ausführlich, was geschehen ist.“ Der Mann tat es. „Es ist ganz unmöglich“, endete er, „daß sie sich gerettet hat.

Sie wird an dem anderen Gebäude zerschellt sein, wie ich schon sagte. Sollte sie das Kabel aber zufälligerweise losgelassen ha-ben, dann dürfte sie sich auf einem der dort ankernden Schiffe den Hals gebrochen haben.“

„Das werde ich erst glauben, wenn ich es sehe. Robins!“

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„Ja, Chef,“ antwortete der Mann, der die ganze Zeit im Erd-geschoß geblieben war.

„Gehe hinaus und suche etwas zu erfahren! Komm’ aber schnell zurück. Wir können uns hier nicht lange aufhalten.“

Der Mann ging, und der Unbekannte wandte sich an die an-deren.

„Einer von den Lastwagen ist beladen“, sagte er. „Der andere muß jetzt auch schnellstens beladen werden. Wir können kein unnötiges Risiko laufen. Vorwärts!“

Die acht Leute kehrten an ihre Arbeit zurück und beeilten sich so sehr sie konnten.

Robins kam eher zurück, als sie fertig waren. „Es herrscht große Aufregung Chef!“ „Hast du die Leiche der Frau gefunden?“ Der andere schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, aber ich glaube nicht, daß der geringste Zweifel an ih-

rem Tode besteht.“ „Woher weißt du das?“ „Weil ich davon sprechen hörte … Ich traf auf der anderen

Seite eine Gruppe von Seeleuten … Einer von ihnen befand sich in seinem Boote, als die Rote Schlange herabstürzte. Er sagt, daß sie das Boot wie eine Kanonenkugel streifte und ins Wasser sauste. Zuerst glaubte er, daß sie auf sein Boot stürzen und sich und ihn erschlagen würde. Er hatte eine Laterne an Bord und suchte damit das Wasser ab. Es sah sie aber nicht mehr hochkommen und fand nur Stücke eines rotseidenen Kleides.

Er nimmt an, daß sie im Wasser das Bewußtsein verlor, wenn es nicht schon während des Falles geschah. Wahrschein-lich blieb sie in dem schlammigen Boden stecken. Mit der Ge-schwindigkeit, mit der sie herabkam, kann sie sich tief einge-bohrt haben. Die Leute sprachen davon, die Polizei anzurufen, um zu berichten, was sie gesehen haben.“

„Wissen sie, von wo die Frau herausstürzte?“

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„Sie sind dessen nicht sicher, aber sie kann nicht von vielen Stellen aus gefallen sein …“

„Nein“, stimmte der Mann bei. „Wenn sie die Behörden be-nachrichtigen, dann werden diese die umliegenden Gebäude un-tersuchen, um eine Erklärung für den Vorfall zu finden. Robins!“

„Ja, Chef.“ „Fahren Sie mit dem beladenen Lastwagen ab. Peters und

Blay können Sie begleiten. Je weniger hier sind, desto besser ist es, wenn wir eilig davon müssen.“

„Und ihr“, fügte er zu den anderen hinzu, während die drei Bezeichneten seinem Befehl nachkamen, „macht schnell! Die Polizei kann jeden Augenblick hier sein. Wir wissen nicht, ob die Seeleute bemerkt haben, daß sich hier Lastwagen befinden.“

Man hörte jetzt einen der Lastwagen abfahren. Die Beladung des zweiten Wagens ging weiter, als ein Auto vor der Tür des Lagerhauses hielt. Als sie es hörten, blieben alle, die sich drin-nen befanden, unbeweglich stehen. Der Chef steckte eine Hand in seine Rocktasche und blickte nach der Tür hin.

„Ich werde sprechen“, sagte er zu seinen Männern. „Verhal-tet euch abwartend und helft mir, falls es notwendig wird.“

Ein Mann war auf der Türschwelle erschienen, der vom Licht geblendet blinzelte und sich dann mit deutlicher Überra-schung umsah.

„Was bedeutet das?“ wollte er wissen. Der Chef trat ihm entgegen. „Das bedeutet …“ begann er. Als der andere die Stimme hörte, wandte er den Kopf.

Scheinbar erkannte er den Sprecher. „Sie sind hier?“ rief er erstaunt aus. „Wohin bringen Sie …“ Er unterbrach sich jäh, als sein Blick auf einen der Stapel

fiel. Er näherte sich ihm und betrachtete ihn un-gläubig. Dann wandte er sich dem Chef zu. Sein Zorn war so groß, daß er im ersten Augenblick kein Wort hervorbringen konnte.

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„Aber … aber …“ begann er endlich und machte die größten Anstrengungen, um sich zu beherrschen.

Plötzlich brach er los: „Wie, zum Teufel, konnten Sie es wagen …“ „Was wagen, mein Freund?“ fragte der andere und trat dro-

hend einen Schritt näher auf ihn zu. Verwirrt betrachtete der Ankömmling die Pistole, die der an-

dere aus seiner Rocktasche gezogen hatte. Er strich sich mit der Hand über die Stirn.

„Es ist nicht möglich“, murmelte er. „Ich muß träumen. Ich werde von einem Augenblick zum anderen erwachen und mer-ken, daß es nur ein Alpdruck war.“

„Sie werden tatsächlich in Bälde erwachen“, versicherte der Chef drohend, „aber im Jenseits. Sie wissen zu viel, mein Freund. Sie hätten besser daran getan, heute nacht zu Hause zu bleiben. Sie wissen zu viel und … die Toten sprechen nicht mehr!“

Bevor der andere nur ein Wort sagen oder die geringste Be-wegung zu seiner Verteidigung machen konnte, drückte der Chef seine Pistole ab. Ein schwarzes rundes Loch erschien auf der Stirn des anderen zwischen den Augenbrauen. Er fiel zu Boden, und auf seinem Gesicht stand noch immer ein Ausdruck der Ungläubigkeit, bei der ihn der Tod überrascht hatte.

„Schnell!“ befahl der Chef. „Holt die fehlenden Ballen her-aus! Ich nehme an, daß ihr nicht wollt, daß man uns hier mit der Leiche findet!“

Die Männer begriffen die Gefahr, die ihnen drohte, und setz-ten mit größter. Schnelligkeit ihre Arbeit fort. Der Chef holte inzwischen einen Sack, den er dem Toten unter den Kopf legte, damit das Blut, das aus seiner Stirnwunde floß, den Boden nicht befleckte.

Die letzten Ballen waren jetzt aufgeladen. „Wir müssen den hier auch mitnehmen“, sagte der Chef und

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deutete auf die Leiche. „Es ist uns nicht zuträglich, wenn man ihn hier findet. Wir werden ihn weiter weg in den Fluß werfen. Bringt ein paar Säcke, um ihn einzuhüllen.“

Die Männer kamen dem Befehl nach und trugen die Leiche auf den Lastwagen.

In der Ferne hörte man die Sirene eines Polizeiwagens. „Die Leute haben die Polizei benachrichtigt!“ rief Robins

aus. „Alles aufsteigen!“ befahl der Chef. Er wartete, bis alle außer einem aufgestiegen waren. Es han-

delte sich um einen überdachten Lastwagen. Als die hintere Tür geschlossen war, setzte er sich neben den Chauffeur. Auch der bis dahin Zurückgebliebene tat ein Gleiches. Auf dem Führer-sitz hatten bequem drei Mann Platz. Der Lastwagen setzte sich in Bewegung. Zum Glück für die Fliehenden war die Polizei auf die andere Seite des Wasserarmes geeilt, von wo die Be-nachrichtigung gekommen sein mußte. So kreuzte niemand ih-ren Weg.

Dreiviertel Stunde später hatten sie sich der Leiche entledigt, die sie am meisten kompromittierte.

* * *

Drittes Kapitel

EIN ALTER BEKANNTER Milton Drake durchquerte den Schlafwagen und begab sich in den Speisewagen. Es war kein Tisch frei. Deshalb nahm er auf dem freien Stuhl des nächststehenden Tisches Platz, an dem nur ein Mann saß. Dieser hob den Kopf und sah den Multimillionär überrascht an.

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„Milton Drake?“ fragte er. „Bob Derril?“ fragte dieser zurück. „Wir beide“, sagte der andere mit einem breiten Lächeln,

„haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Und Ihre Gattin?“ „Oh, danke! Sie befindet sich bei bester Gesundheit. Und Ih-

re Liebe?“ „Sie ist mir zu einer Tantalusqual geworden. Ich bin dauernd

hinter ihr her, ohne daß ich sie je zu fassen bekomme.“ „Und was macht die ‚Morning Post’?“ „Dank meiner Schlaflosigkeit erscheint sie weiter. Sind Sie

schon lange von Baltimore fort?“ „Eine knappe Woche. Fahren Sie dorthin?“ „Das tut mir leid. Wenn Sie so lange fort sind, werden Sie

mir kaum helfen können.“ „Suchen Sie jemanden?“ „Ja, ich suche jemanden, dessentwegen ich mich unter Mit-

schuld meiner Zeitungen in den ‚Ewigen Wandernden Juden’ verwandelt habe.“

„Die Schwarze Maske?“ „Warum sollte ich sonst den Broadway verlassen, wenn nicht

ihretwegen?“ „Befindet sie sich in Baltimore?“ „Wenigstens hier in der Nähe, versichert man.“ „Ein schlimmes Zeichen.“ „Sehr schlimm“, nickte der Zeitungsmann, „wenn auch na-

türlich alles von dem Standpunkt abhängt, den man einnimmt. Für mich zum Beispiel …“

„Sie begeistert der Gedanke, ihr hier begegnen zu können.“ „Wie zum Teufel soll mich das begeistern! Es belästigt mich!

Aber der Direktor meiner Zeitung hält es für eine gute Nach-richt. Er versichert …“

Das Kommen des Kellners unterbrach die Unterhaltung. Sie setzten ihr Gespräch nicht eher fort, bis er sie bedient hatte.

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„Woher wissen Sie, daß die Schwarze Maske in der Nähe von Baltimore umherstreift?“ fragte der Multimillionär endlich. „Ich habe keine Zeitung gelesen …“

„Man weiß es nicht genau. Es handelt sich um ein einfaches Gerücht, das nicht allen zu Ohren gekommen ist … wenigstens noch nicht. Wir haben einen guten Horchdienst. Alle Gerüchte, die eine Sensation versprechen, werden von uns gesammelt. Wenn es Gründe gibt, zu glauben, die Gerüchte seien etwas mehr als solche, forschen wir nach. Wenn es sich dabei um die Schwarze Maske handelt, dann rettet mich nichts davor, der Auserlesene zu sein.“

„Ich glaube, daß Sie es nicht ganz ungern tun“, bemerkte Milton.

„Nein? Hören Sie zu, Milton! Ich sagte Ihnen schon einmal, daß ich nicht wüßte, ob ich die Schwarze Maske verfolge, um eine Reportage von ihr zu erhalten, wie meine Zeitung es verlangt, oder ob ich ihr folge, weil sie mir den Kopf verdreht hat …“

„Ich erinnere mich daran. Deshalb sagte ich …“ „Sie verstehen mich nicht. Ich will damit sagen, daß diese

Frau mich tatsächlich verwirrt hat, aber …“ Er spießte seine Gabel wütend in das Fleisch, das auf seinem Teller lag. „Zum Teufel! Wenn man jemandem den Honig an die Lippen hält und ihn dann wegzieht, um ihn wieder näher zu halten und wieder wegzuziehen … Glauben Sie nicht, daß es besser wäre, ihn ganz wegzuziehen und einen in Frieden zu lassen? Dann würde man vergessen und weniger leiden.“

„Und“, fragte Milton, „wer sagt Ihnen denn, daß Sie diesmal nicht mehr Glück haben werden?“

„Mein Instinkt. Aber, bei Gott“, er hieb mit der Faust auf den Tisch, „wenn mir diese … diese … eines Tages in die Hände fällt …“

Er unterbrach sich plötzlich und begann schnell zu essen, als wenn er ganz ausgehungert wäre.

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„Diese … was?“ fragte der Multimillionär lachend. „Sprechen wir nicht von traurigen Dingen. Jedesmal wenn

ich den Namen dieser Frau erwähne, stehen mir die Haare zu Berge. Das ist keine Frau, das ist … die fleischgewordene Ver-suchung!“

Er ließ die Gabel und Messer los, hob den Kopf und schaute träumerisch wie in eine unbekannte Ferne. Dann stieß er einen lauten Seufzer aus, schüttelte den Kopf, als wolle er seine Ge-danken verscheuchen, nahm das Besteck wieder auf und aß weiter.

„Es müßte verboten sein“, sagte er nach einer Weile zwi-schen zwei Bissen, „daß solche Frauen wie diese frei herumlau-fen. Sagten sie etwas?“ fügte er mit einem feindseligen Blick auf seinen Begleiter hinzu.

Milton lachte. „Sie sind zu empfindlich für einen Reporter“, erklärte er. „Haben Sie sich die Schwarze Maske genau angesehen?“

fragte ihn Bob Derril. „Nur von der Seite und das erste Mal nur ein paar Sekun-

den.“ „Das erste Mal, ja“, antwortete der Reporter, „aber sind Sie

nicht kürzlich von ihr entführt worden?“ „Auch dabei hatte ich nicht die Gelegenheit, sie mir näher

anzusehen. Meine Probleme beschäftigten mich zu sehr. Trotz-dem erkenne ich an, daß sie jedem Bildhauer als Modell dienen könnte, der unsterblich werden möchte, zumal man auch den Eindruck hat, daß ihr Gesicht sehr schön sein muß.“

„Und Sie, der Sie mehrere Minuten neben ihr gefahren sind, können mit solcher Kälte von ihr sprechen? Wenn ich an Ihrer Stelle gewesen wäre, dann hätte man an jenem Abend unseren Tod in den Zeitungen veröffentlicht.“

„Warum?“ „Weil das Auto verunglückt wäre.“

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„Sie hätten sie nicht gesehen“, versicherte ihm der Multimil-lionär lächelnd. „Sie saß hinten im Wagen, und ich steuerte.“

Er schaute nach seiner Armbanduhr und dann aus dem Fen-ster. „Wir nähern uns Baltimore“, meinte er. „Wenn nichts da-zwischen kommt, werden wir in zwei Stunden dort sein. Was gedenken Sie zu tun, wenn Sie hinkommen?“

„Ich weiß es nicht, ich überlasse mich vollkommen dem Schicksal. Was soll ich denn tun, wenn ich nicht die geringste Ahnung habe, wo sich diese Frau befindet, die ich suche?“

„Sie werden doch irgendeinen Plan haben und nicht durch die Straßen schweifen in der Hoffnung, ihr irgendwo zu begegnen.“

„Doch, gerade das gedenke ich zu tun. Ich werde mir ein Zimmer in einem Hotel nehmen und mich den Tag über auf den Straßen umhertreiben, um irgendwo zu essen, wenn es gerade Essenszeit ist.“

„Ich glaube kaum, daß Sie damit weiterkommen werden. Man erkennt die Schwarze Maske nur an der Verkleidung, die sie trägt, wenn sie ihre Heldentaten ausführt. Glauben Sie, daß sie sich darin auf den Straßen von Baltimore zeigen wird?“

Bob Derril wischte sich mit der Serviette über den Mund und konzentrierte sich auf den Nachtisch, ohne die Frage seines Tischgenossen zu beantworten. Dazu sagte er:

„Lesen Sie die ‚Morning Post’?“ „Ab und zu.“ „Haben Sie keinen Artikel oder Kommentare über diese Frau

gelesen?“ „Ich hatte nicht das Vergnügen.“ „Ich fragte Sie nur deshalb, um zu wissen, ob Sie das

Sprichwort kennen, mit dem ich derartige Artikel immer begin-ne. Nicht wahr, Sie kennen es nicht?“

Der Multimillionär schüttelte verneinend den Kopf. „Es ist ein Sprichwort“, fuhr Bob Derril fort, „das bereits

zum geflügelten Wort wurde.“

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„Wie lautet es?“ „Die Schwarze Maske ist ganz famos. Wo sie ist, ist bald der

Teufel los!“ „Und stimmt das immer?“ „Es stimmt immer. Diese Frau wäre als Reporter unbezahl-

bar. Sie könnte einen Mord berichten, ehe er überhaupt stattge-funden hat. So eine gute Nase hat sie.“

„Sie sind also der Meinung, daß in Baltimore bald etwas Au-ßergewöhnliches geschehen wird?“

„Wenn ich Rauch sehe, dann weiß ich, daß das Feuer nicht weit ist. Das Schlimme dabei ist, daß ich es nicht eher finde, ehe ich der Feuerwehr nachgehe.“

„Die in diesem Falle die Polizeibehörde ist, nicht wahr?“ „Sehr richtig. Und wenn ich der Polizei folgen muß, dann

bezweifle ich sehr, zur rechten Zeit zu kommen, um die Schwarze Maske zu sehen. Es bleibt mir nichts als eins übrig.“

„Was?“ „Mich daran zu erinnern, daß die zukünftigen Ereignisse

immer ihre Schatten vorauswerfen. Alles hat sozusagen seine ‚Brut-Periode’. Wenn ich das Zusammenziehen der Wolken betrachte, dann kann ich vielleicht feststellen, wo sich das Ge-witter entladen wird, um rechtzeitig zur Stelle zu sein.“

„Trotz der Gleichnisse, mit der Sie Ihre Worte verbrämen, zeugen sie von einer gewissen Philosophie. Es tut mir leid, daß Ihre Pläne so ungenau sind. Ich hätte Ihnen gern geholfen.“

Bob Derril zuckte mit den Schultern. „Wer weiß?“ sagte er. „Vielleicht bietet sich Ihnen eine Ge-

legenheit, es zu tun. Mit der Schwarzen Maske kann man keine feststehenden Pläne machen. Wir müssen warten, ob sie sich irgendwo zeigt, und dann darf man sie nicht aus dem Auge ver-lieren. Wenn Sie mir helfen wollen …“

„Sehr gern“, beeilte sich Milton zu antworten. „Wenn Ihnen irgend etwas einfällt …“

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„Nichts anderes als zu warten, wie ich Ihnen schon sagte. Vielleicht hat die Schwarze Maske gerochen, daß in Baltimore irgend etwas geschehen wird. Wenn der Schlag sich gegen die Aristokratie der Stadt richtet, zu der Sie jeden Zutritt haben, dann hören Sie vielleicht etwas, das uns auf ihre Spur bringen kann. Wenn das der Fall sein sollte, bitte ich Sie, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Telephonieren Sie mir nach dem Hotel, oder schicken Sie mir eine Nachricht, daß ich Sie aufsuchen soll. Werden Sie das tun?“

„Aber sehr gern. Wo wollen Sie wohnen?“ „Im Hotel Meadows in der George-Street, nahe bei der Hop-

kins Universität.“ „Ich glaube“, entgegnete der Multimillionär, „daß mich mein

Sekretär mit dem Wagen abholen wird. Ich hoffe, daß Sie mir gestatten werden, Sie nach dem Hotel zu bringen.“

„Aber selbstverständlich! Ich bin Ihnen sehr verbunden. Was werden Sie jetzt tun?“

„Ich will mein Gepäck fertig machen. Wir sind bald da. Wenn Sie Ihr Gepäck holen und zu mir kommen wollen … Mein Abteil hat die Nummer sieben im Schlafwagen neben-an.“

„Ich werde mein Gepäck holen und zu Ihnen kommen.“ Sie riefen den Kellner, zahlten und standen auf. Dreiviertel Stunden später stiegen sie zusammen auf dem

Bahnhof in Baltimore aus, wo sie Garth erwartete, wie Milton vermutet hatte.

Er gab ihm seinen Koffer und sagte: „Nehmen Sie bitte auch den Koffer von diesem Herrn, Bill.

Wir wollen ihn ins Hotel Meadows bringen. Wissen Sie, wo es liegt?“

„In der George-Street?“ „Ja, gehen wir.“ Sie gingen über den Bahnsteig. Das Auto des Multimillionärs

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befand sich ganz in der Nähe, und Bill ging es holen, während sie an der Tür warteten.

Nachdem sie den Reporter ins Hotel gebracht hatten, fragte Milton seinen Sekretär:

„Haben Sie sich den Mann genau angesehen?“ „Ja, Chef.“ „Bringen Sie mich nach Hause und begeben Sie sich dann

wieder hierher. Ich möchte, daß Sie ihn beobachten und mir über alle seine Schritte berichten.“

„Gut, Chef. Soll ich etwas Besonders beobachten?“ „Damit Sie Bescheid wissen, will ich Ihnen sagen, wer der

Mann ist und was er vorhat. Er ist Reporter und heißt Bob Der-ril, Berichterstatter der ‚Morning Post’ von New York.“

„Ist das nicht derselbe, der das Attentat auf Sie und die gnä-dige Frau in Florida verhinderte?“

„Ja, er ist hierhergekommen, um die Schwarze Maske zu su-chen, die in der Umgegend gesehen worden sein soll.“

Er erzählte ihm nun alles, was der Reporter ihm gesagt hatte. „Es ist möglich“, endete er, „daß Bob Derril mehr von der

Frau weiß, als er zugeben möchte. Deshalb müssen Sie ihn beo-bachten. Wenn er sich mit der Schwarzen Maske in Verbindung setzt, dann geben Sie ihn auf und folgen ihr. Verstanden?“

„Nur halb“, gab der kleine Mann zu. „Warum wollen Sie wissen, wo sich diese Frau verbirgt? Wollen Sie ihr danken? Dem Anschein nach hat sie nicht den geringsten Wunsch, sich für ihre Taten danken zu lassen … sie ist darin der Roten Schlange ähnlich.“

„Nein, ich respektiere ihren Wunsch, ihr Inkognito zu wah-ren und will sie dieserhalb nicht belästigen. Nicht deshalb, weil es mich nicht interessiert. Aber wenn sich Bob Derril nicht täuscht, dann bedeutet die Gegenwart dieser Frau in Baltimore, daß hier etwas geschehen wird … oder schon geschehen ist, was das Publikum noch nicht weiß. So etwas könnte den Kapu-

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zenmann interessieren. Wenn aber noch nichts geschehen ist, so wäre es notwendig, daß er ihren Aufenthalt kennt, um unter Umständen mit der Schwarzen Maske zusammenarbeiten zu können. Verstehen Sie?“

„Vollkommen, Chef. Ich werde alles tun, was ich kann.“

* * *

Viertes Kapitel

DIE ROTE SCHLANGE RUFT „So“, sagte Milton, „drehe an diesem Schalter … Nein, an die-sem nicht … an dem unteren.“

Der Knabe gehorchte. Die Lokomotive setzte sich in Bewe-gung und vergrößerte ihre Geschwindigkeit immer mehr auf dem Schienenstrang, der rings um das ganze Zimmer lief.

„Wenn du diesen Hebel ziehst“, fuhr der Multimillionär fort, „dann fährt der Zug auf ein anderes Gleis. Paß auf!“

Der Multimillionär zog an dem Stellwerkhebel, und als die Lokomotive an die Abzweigung kam, bog sie ab und zog den Zug hinter sich her.

Milty klatschte erfreut in die Hände. „Großartig, Papa! Können die beiden Züge nicht gleichzeitig

laufen?“ „Natürlich, wir werden es einmal versuchen.“ Er nahm den Strom weg und hielt den Zug an. Dann setzte er

eine zweite Lokomotive mit ihren Wagen in entgegengesetzter Richtung wie die erste auf das Gleis.

„Aber, Papa, so stoßen sie doch zusammen!“ rief der Junge aus.

„Wenn du geschickt bist, nicht. An manchen Stellen ist die

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Linie doppelgleisig. Wenn du rechtzeitig das Stellwerk hand-habst …“

„Sie können sich aber dort begegnen, wo die Linie eingleisig ist“, meinte der Junge. „Was geschieht dann?“

„Was in solchen Fällen zu geschehen pflegt“, antwortete der Multimillionär. „Sie werden zusammenstoßen und entgleisen. Diese Gefahr besteht aber bei richtigen Eisenbahnen auch. Trotzdem aber kommt es sehr selten vor. Weißt du warum?“

„Nein.“ „Weil ein Zug dann auf der Station wartet, wo es immer meh-

rere Gleise gibt, bis der andere Zug vorbei ist. Paß einmal auf.“ Er drehte den Schalter, und die beiden Züge setzten sich in

Bewegung. Dabei näherten sie sich einander mit immer größe-rer Schnelligkeit.

„Verlier sie nicht aus den Augen!“ rief Milton. „Papa, Papa!“ schrie der Kleine erregt. „Sie werden zusam-

menstoßen, Sie befinden sich auf derselben Strecke und es gibt keine Station.“

„Ein Stückchen in der Mitte ist doppelgleisig.“ „Einer wird eher da sein als der andere,“ meinte das Kind

noch erregter. „Wir werden trotzdem versuchen, die Katastrophe zu ver-

meiden. Siehst du?“ Er drehte an einem Schalter. „Wir werden einen anhalten, bis der andere näher kommt … Jetzt setzen wir ihn wieder in Gang …“

„Der andere ist zu weit vor!“ „Wir werden ihn etwas langsamer fahren lassen …“ So manövrierte Milton hin und her, bis er es fertig gebracht

hatte, die beiden Züge aneinander vorbeifahren zu lassen, ohne zusammenzustoßen.

Der Junge stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Ich habe nicht geglaubt, daß du es fertigbekommen würdest,

Papa. Jetzt will ich es einmal versuchen …“

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Mavis, die von der Tür aus zugeschaut hatte, fiel jetzt ein: „Hast du diesen Zug gekauft, Milton, damit das Kind damit

spielt oder du? Weißt du, daß du ausgehen mußt?“ Der Multimillionär hob den Kopf. „Wohin denn?“ fragte er. „Zu Cranes. Du mußt ihnen dein Beileid aussprechen.“ „Zu den Cranes? Mein Beileid aussprechen?“ rief Milton

überrascht aus. „Papa, Papa! Sie stoßen zusammen!“ schrie Milty erregt. Schnell schaute der Multimillionär zu Boden. Die Lokomoti-

ven befanden sich schon nahe beieinander und es gab keine Ausweichstelle zwischen ihnen. Aufgeregt sprang der Junge hin und her.

„Du kannst sie nicht retten. Du bist zu spät gekommen!“ „Es bleibt uns noch ein Mittel … das Abstellgleis.“ Er zog am Stellwerk, damit einer der Züge auf das Neben-

gleis fuhr, daß zu einem kleinen Lokomotivschuppen führte. „Zu spät! Zu spät!“ rief Milty. „Der andere wird ihn vorher

erreichen.“ Und es geschah so, es gab keine Zeit mehr. Milton streckte eine Hand vor und drehte einen Schalter. Ei-

ne der Lokomotiven fuhr auf das Abstellgleis und zog vier Wa-gen hinter sich her. Drei kamen durch. Der vierte wurde von der Lokomotive des anderen Zuges, Sekunden bevor sie zum Ste-hen kam, gerammt und entgleiste.

„Die Katastrophe ist fast ganz vermieden“, sagte er. „Im letz-ten Wagen befand sich niemand, so daß kein Menschenleben zu beklagen ist. Das soll dir zeigen, Milty, daß man immer aufpas-sen muß, wenn man eine Verantwortung übernommen hat.“

Er erhob sieh vom Boden. „Spiel du allein weiter, oder nimm dir Wa-I-Ha als Wei-

chensteller.“ Die ‚Squaw’ von John von den Everglades hatte die Bewe-

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gung der Züge interessiert verfolgt. Sie saß mit gekreuzten Bei-nen auf dem Boden und stieß ein Brummen aus, das alles be-deuten konnte.

Milton wartete keine Antwort ab. Er näherte sich der Tür, faßte Mavis am Arm und begab sich in die Bibliothek hinüber.

„Was sagtest du mir von den Cranes?“ fragte er. „Was ist denn geschehen? Warum soll ich ihnen denn mein Beileid aus-sprechen?“

„Hast du die Nachmittagszeitungen nicht gelesen?“ „Nein, nicht einmal die Morgenzeitungen.“ „Shelton Crane ist tot.“ Milton blieb stehen und sah seine Frau überrascht an. „Tot?“ rief er aus. „Woran ist er denn gestorben? Vor einer

Woche war er noch gesünder als ich.“ „Man fischte ihn heute morgen aus dem Fluß auf.“ „Selbstmord?“ fragte Milton ungläubig. „Mord!“ antwortete Mavis. Sie befanden sich an der Tür der Bibliothek. „Gehe hinein“, sagte die Junge Frau, „und lese die Nachricht

selbst. Hier hast du eine der Nachmittagszeitungen.“ Milton nahm die Zeitung vom Tisch und entfaltete sie. Die

Nachricht stand auf der ersten Seite, nahm aber nur sehr wenig Raum ein. Sie beschränkte sich darauf zu erklären, daß man oberhalb Baltimore im Patapsco-Flusse eine Leiche aufge-fischt habe. Es handelte sich um einen Mann fortgeschrittenen Alters, der eine Schußwunde in der Stirn zwischen den Au-genbrauen hatte. Diese Wunde mochte die Ursache seines To-des sein.

Die Polizei hatte den Verstorbenen schnell identifiziert. Es handelte sich um Shelton Crane, den Präsidenten der Amalga-mated Importers Inc. aus Baltimore, einen sehr bekannten Mann, der große Sympathien in der Stadt besaß. Man würde in späteren Ausgaben auf Einzelheiten zurückkommen.

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Der Multimillionär legte die Zeitung wieder hin und schaute Mavis an.

„Der arme Shelton!“ murmelte er mit ehrlichem Mitgefühl. „Wer kann ihn ermordet haben? Ich habe nicht geglaubt, daß er irgendeinen Feind auf der Welt besäße. Warst du in seinem Hause?“

Mavis nickte bejahend. „Sobald ich die Nachricht erfuhr“, antwortete sie. „Meine

Absicht war, an der Seite der Witwe zu bleiben, aber es befan-den sich so viele Leute dort, daß ich mich darauf beschränkte, ihr mein Beileid auszusprechen und ihr zu sagen, daß sie jeder-zeit über mich verfügen könnte. Dann kehrte ich zurück.“

„Weiß man nicht mehr als das, was die Zeitung berichtet?“ „Wenn die Polizei etwas weiß, so schweigt sie darüber. Und

Lana Crane befindet sich nicht in dem Zustand, um die Neugier ihrer Besucher zu befriedigen. Robert dagegen versichert, daß sie nicht die geringste Idee haben, was geschehen sein kann. Sein Vater ging gestern in der Frühe aus, nachdem er mit je-mandem telephoniert hatte. Er schien sehr besorgt, aber er sagte nicht, wohin er ging, noch Wann er wiederkommen würde. Das ist alles, was sie wissen.“

„Ich werde mich ein bißchen zurecht machen und hingehen. Shelton war einer meiner besten Freunde.“

„Gehe“, sagte die junge Frau. Milton begab sich in sein Zimmer hinauf. Schnell zog er sich

um und kam von neuem herunter. Er bat Jennings, Garth zu benachrichtigen, aber dieser war nirgends zu finden. Jetzt erin-nerte er sich daran, daß er ihm einen Auftrag gegeben hatte und befahl dem Chauffeur, den Wagen aus der Garage zu ziehen und ihn zur Villa der Cranes zu fahren.

Während er wartete, ging er in die Bibliothek, nahm die Zei-tung auf und las die Nachricht noch einmal, ohne in ihr etwas Neues zu finden, das ihm beim ersten Male entgangen war.

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Warum mochte man Shelton getötet haben? Wer konnte jener geheimnisvolle Mörder sein?

Er steckte die Zeitung in die Tasche, als man ihm sagte, daß der Wagen vorgefahren war, und als er zum Hause der Cranes fuhr, öffnete er sie wieder und sah die anderen Seiten durch. Nur eine Sache erregte seine Aufmerksamkeit. Es war eine kur-ze Nachricht unter der Rubrik: ‚In letzter Stunde’. Die Über-schrift war fesselnd: „Der geheimnisvolle Vorfall in der gestri-gen Nacht“. Nach der Zeitung baggerte man den Zufluß zum Binnenhafen zwischen den Lagerhäusern der Amalgamated Importers Inc. und der Corinth Company aus. Man hatte nichts anderes gefunden als ein rotseidenes Kleid.

Es war klar, daß der geheimnisvolle Vorfall, auf den sich die Nachricht bezog, nichts mit dem Tode vom Shelton Crane zu tun hatte, oder zumindest glaubte man nicht daran. Sonst hätte die Zeitung die Nachrichten zusammengebracht und gewisse Theorien entwickelt.

Trotzdem war es merkwürdig, daß man nach dem Tode von Shelton von einem geheimnisvollen Vorfall sprach, der sich in der Nähe des Lagerhauses der Gesellschaft ereignet hatte, de-ren Präsident er war. Es würde der Mühe wert sein, die Mor-genzeitungen zu lesen, wo er sicher mehr Einzelheiten finden würde.

Er blieb nur kurze Zeit im Hause der Cranes und konnte dort nichts Neues feststellen.

Als er wieder wegfuhr, ließ er sich zu einem Klub bringen und sagte dem Chauffeur, er möchte seiner Frau melden, daß er in einer Stunde nach Hause käme oder telephonieren würde.

Im Klub bestellte er einen Whisky, und man gab ihm auf Verlangen eine Morgenzeitung, die er sofort zu lesen begann. Es dauerte nicht lange, bis er das gefunden hatte, was er suchte, und las begierig.

In der vergangenen Nacht hatte die Polizei zu früher Mor-

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genstunde einen dringenden Anruf erhalten und war an den Kai in der Nähe der Lancaster-Street geeilt, wo sie aus dem Munde des Seemannes John Rogers einen merkwürdigen Bericht ver-nahm.

Rogers, dessen Barkasse in der Nähe des Kais der Corinth Company vertäut war, hatte sich von ihr gegen drei Uhr mor-gens in einem Boot entfernt. Plötzlich hatte er ein seltsames Geräusch über sich gehört, und als er den Kopf hob, erlebte er den größten Schreck seines Lebens. Etwas Großes fiel von oben mit rasender Schnelligkeit herab.

Er glaubte, seine letzte Stunde wäre gekommen. Der Gegen-stand schien direkt auf ihn und sein Boot herabzustürzen. Der Anprall würde ihn töten und das Boot versenken. Er machte verzweifelte Anstrengungen, um mit aller Kraft beiseite zu ru-dern. Der Gegenstand streifte den Bug des Bootes und stürzte ins Wasser.

Trotz des Halbdunkels, und der Geschwindigkeit glaubte er in jenem Gegenstand einen menschlichen Körper zu erkennen, der in Sekundenschnelle an seinen Augen vorbeisauste. Es schien der Körper einer Frau, aber er war sich dessen nicht ganz sicher.

Der Schreck war sehr groß gewesen, aber sein Mitgefühl überwand ihn schnell. Wenn es ein Mensch war, der da herab-stürzte, konnte er ihm vielleicht helfen. Er hob die Laterne, die er im Boot hatte und suchte das Wasser ab, um zu sehen, ob der Körper wieder nach oben kam. Aber er wartete vergebens. Nachdem er eine Weile hin und her gerudert war, kehrte er nach der Barkasse zurück und erzählte seinen Kameraden, was ge-schehen war.

Zwei von ihnen stiegen in sein Boot, und während einer ru-derte, hielten die beiden anderen Ausschau. Das einzige Ergeb-nis ihrer Bemühungen war der Fund eines roten Kleides, dessen Rock von oben nach unten durchgerissen war. Man konnte

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nicht wissen, ob das rote Kleid der Person gehörte, die Rogers hatte herabstürzen sehen, und sich auch nicht, wenn es wirklich so war, erklären, wie das rote Kleid ohne seine Besitzerin an die Oberfläche gekommen war.

Man hatte auch kein Geräusch gehört, das die Anwesenheit irgendeines Menschen im Wasser angezeigt hätte. Wenn die unbekannte Person an Land geschwommen wäre, wäre es natür-lich gewesen, daß sie sich zur Barkasse von Rogers begeben hätte. Aber niemand hatte sich ihr genähert.

Ohne zu verstehen, was geschehen war, aber in der Furcht, daß die betreffende Person, die herabgestürzt war, sich im Schlamm verfangen habe, stürzte sich Rogers ins Wasser und tauchte an der Stelle, wo er sie hatte im Wasser verschwinden sehen. Er fand nichts auf dem Grunde, und da er den ganzen Wasserarm nicht durchsuchen konnte, gab er das Tauchen auf. Einer seiner Kameraden telephonierte an die Polizei und erstat-tete ihr Bericht.

Ein Polizeiboot fuhr den Wasserarm entlang und fand nichts. Man begann Baggerapparate anzufordern und suchte inzwi-schen die Umgegend ab.

Nach Aussagen von Rogers konnte die betreffende Person nur von einem von zwei Gebäuden herabgestürzt sein: entweder vom Lagerhaus der Corinth Company oder vom letzten Stock-werk der Amalgamate Importers Inc. Eine eingehende Untersu-chung, die sofort stattfand, ergab kein Ergebnis. In keinem der beiden Gebäude hatte man etwas gefunden, was Licht auf die Angelegenheit warf. Die Wächter beider Gebäude sagten aus, daß von diesen nichts herabgestürzt sein könnte, weil sie sofort jeden entdeckt hätten, der sich unter Umständen eingeschlichen hätte.

Milton faltete die Zeitung zusammen, zündete sich eine Zi-garre an und trank nachdenklich seinen Whisky. Die Zeitungen hatten keine Verbindung zwischen diesem Vorfall und dem ge-

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heimnisvollen Tode von Shelton entdeckt. Aber … war es mög-lich, daß die Polizei nicht irgendeinen Zusammenhang zwi-schen den beiden Ereignissen vermutete? Natürlich konnte der herabgestürzte Körper nicht der von Shelton sein, denn er hätte den Fluß hinauftreiben müssen, um ihn dort aufzufinden, wo man ihn auffischte, was ganz unmöglich war. Es war eher an-zunehmen, daß die Theorie von Rogers richtig war und es sich um eine Frau handelte, der das rotseidene Kleid gehörte. Wenn es aber so war, was tat dann eine Frau um die vorgeschrittene Nachtstunde an einem solchen Ort? Hatte sich die Polizei nicht dieselbe Frage vorgelegt?

Nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, kam er zu der Überzeugung, daß die Polizei etwas mehr wußte oder mehr vermutete, daß sie aber darüber schwieg, bis sie weitere Argu-mente in der Hand hatte.

Plötzlich stand er auf, rief den Kellner, zahlte, verließ den Klub und gab einem Taxichauffeur die Adresse von Druid’s Hollow an. Unversehens war ihm eine Idee gekommen. Er er-innerte sich auf einmal Bob Derrils, seiner Unterhaltung mit ihm im Zuge … „Die Schwarze Maske ist ganz famos, wo sie ist, ist bald der Teufel los!“ Sollte der Reporter recht haben und das der Teufel sein, der bald los war?

Dieser Gedanke war der Grund, warum er so eilig vom Klub aufbrach. Er wollte sehen, ob Garth zurückgekommen war oder ob eine Nachricht von ihm vorlag. Vielleicht hatte Derril eine Spur entdeckt. Vielleicht …

Er richtete sich plötzlich im Taxi auf, und sein Herz schien einen Augenblick auszusetzen. Das rote Kleid!

Wenn die Schwarze Maske etwas gerochen hatte, warum sollte es der Roten Schlange nicht ebenso ergangen sein? Und ein rotes Kleid …

Er schüttelte sich bei dem Gedanken, daß die Rote Schlange vielleicht in irgendeine Falle gegangen war. Wenn sie der ‚Ge-

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genstand’ war, auf den sich Rogers bezogen hatte? Und wenn sie jetzt in diesem Augenblick da unten im Schlamm auf dem Grunde des Flusses steckte?

Ein Schauder rann ihm durch den Körper. Nein, sagte er sich. Es war nicht möglich, daß die Rote Schlange tot sein konnte. Wenn sie Zeit hatte, sich des Kleides zu entledigen … Aber wer sagte ihm denn, daß sie es sich ausgezogen hatte … Man hatte es ihr auch vorher wegnehmen und zusammen mit ihrem Kör-per in den Fluß werfen können.

Er schüttelte den Kopf, um solche Gedanken zu verscheu-chen. Er ließ sich von seiner Phantasie zu weit treiben. Ein ein-faches rotes Kleid war kein Beweis dafür, daß die Rote Schlan-ge überhaupt etwas mit der ganzen Sache zu tun hatte. Es gab viele rote Kleider …

Als das Taxi hielt, sprang er hinaus, zahlte dem Chauffeur und trat ins Haus.

„Ist Garth zurückgekommen?“ fragte er, als Jannings ihm die Tür öffnete.

Der Mayordomo schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, Herr“, sagte er. Mavis erschien in der Halle. Sie warf einen Blick auf ihren

Gatten und merkte, daß sein Gesicht erregt war. „Was ist los, Milton?“ wollte sie wissen. Der junge Mann gab sich alle Mühe, ruhig zu erscheinen. Er

schob Mavis in den kleinen Salon. Er sah ein, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als ihr irgendeine wahrscheinliche Erklä-rung seines Zustandes zu geben. Deshalb wollte er ihr etwas erzählen, was ihr Interesse erweckte und sie ablenkte.

„Erinnerst du dich des Reporters, den wir in Florida kennen-lernten?“ fragte er.

„Welchen Reporter?“ „Der damals gerade zur rechten Zeit kam, um dem Auto den

Weg zu verlegen, von dem aus man uns ermorden wollte.“

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„Der Mann, der mit der Schwarzen Maske zusammentreffen wollte?“

„Ja, derselbe.“ „Was ist mit ihm?“ „Er befindet sich in Baltimore. Ich traf ihn im Zuge.“ „Hat er es schon aufgegeben, die Frau in Schwarz zu tref-

fen?“ fragte Mavis lächelnd. „Im Gegenteil, er scheint mehr entschlossen denn je, denn,

wie er mir sagte, ist er ihr auf der Spur.“ „Hier in Baltimore?“ „Wie es scheint, laufen Gerüchte um, daß sie hier gesehen

wurde.“ „Eine schlimme Sache“, meinte Mavis. „Man sagt, daß dort,

wo sich die Schwarze Maske blicken läßt, immer etwas ge-schieht.“

„Das sagt er auch. Deshalb ist er hergekommen.“ „Höre“, meinte er plötzlich, „willst du mich benachrichti-

gen, wenn Garth kommt? Ich gehe einen Augenblick nach oben und …“

Er wollte hinaufgehen, aber Mavis faßte ihn am Arm. „Einen Augenblick, Milton, du hast mir noch nicht gesagt,

warum du so erregt warst. Ist dir etwas zugestoßen?“ Sein Mittel hatte nicht geholfen, Mavis hatte sich nicht ab-

lenken lassen. „Erregt?“ sagte er. „Ich dachte nicht, daß man es mir anmerken

würde. Aber ich muß wirklich zugeben, daß ich nicht so ruhig bin, wie ich sein könnte. Denke daran, daß Shelton einer meiner be-sten Freunde war. Sein Tod hat mich sehr geschmerzt, und das Aussehen seiner Witwe hat mich nicht gerade beruhigt, wie du dir denken kannst. Wenn ich nur etwas tun könnte, um diesen niederträchtigen Mörder der Gerechtigkeit zu übergeben …!“

Er machte sich von seiner Gattin frei, die nichts mehr tat, um ihn zurückzuhalten.

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„Vergiß nicht, mich zu benachrichtigen, wenn Garth kommt.“

Er ging der Treppe zu. Als er sicher war, daß Mavis ihn nicht mehr sehen konnte,

beflügelte er seine Schritte und sprang schnell die Treppe hin-auf. Er trat in sein Zimmer, schloß die Tür hinter sich, öffnete den Schrank und ging in den Geheimgang. Wenn die Rote Schlange in die Sache verwickelt war, würde sie ihm irgendeine Botschaft geschickt haben.

Er kam in die Nische, in der das Sende-Empfangsgerät ein-gebaut war. Ein rotes Licht zeigte an, daß der Apparat lief. Er eilte herbei, um die Worte zu hören. Aber das Licht erlosch in dem Augenblick, als er nach den Kopfhörern griff. Die Bot-schaft war gerade zu Ende.

Er schnitt das Magnetband ab, das um eine der Spulen ge-wickelt war und steckte es in den Wiedergabe-Apparat. Ein Gewicht fiel ihm vom Herzen, als er ihre sanfte, melodiöse Stimme vernahm.

Die Nachricht war nur kurz, sie umfaßte nur ein paar Worte. Aber sie genügten ihm, um ihm zu zeigen, daß die Heldin des geheimnisvollen Vorfalls, der in den Tageszeitungen bespro-chen wurde, tatsächlich die Rote Schlange war und sie unver-sehrt das Abenteuer überstand, da sie ja erst vor wenigen Se-kunden gesprochen hatte.

Die Botschaft besagte: „Es ist notwendig, den Vizepräsidenten der Amalgamates

Inc. zu beobachten.“ Es war eine lakonische Nachricht und typisch für die Frau in

Rot. Warum war es notwendig, den Vizepräsidenten zu beo-bachten? Um zu verhindern, daß er seinerseits das Opfer eines Mörders wurde? Fürchtete die Rote Schlange, daß man einen Anschlag auf das Leben jenes Mannes machen würde, um ihn wie Sheldon Crane zu töten?

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Es war unnütz, sich Fragen zu stellen. Wenn die Rote Schlan-ge mehr Erklärungen für notwendig hielte, würde sie diese ge-ben. Inzwischen war es das Beste, ihren Weisungen zu folgen.

Als Milton in sein Zimmer zurückkehrte, vermischte sich in seinen Gedanken das Bild der Roten Schlange mit dem der Schwarzen Maske.

Bob Derril hatte sich nicht getäuscht Die Ereignisse gaben ihm volles Recht. Die Schwarze Schlange hatte ein Verbrechen vorausgefühlt und wurde von dem Tatort angezogen wie die Magnetnadel vom Nordpol.

* *

*

Fünftes Kapitel

MILTON DRAKE BEOBACHTET Sie hatten Abendbrot gegessen, als Milton ans Telephon geru-fen wurde. Als er sich meldete, erkannte er die Stimme von William Garth.

„Dieser Bob Derril“, sagte der kleine Mann, „ist das reine Perpetuum mobile, Chef. Er ist nicht ein einziges Mal zum Hal-ten gekommen seit ich mich in seinen Schatten verwandelt ha-be. Und da er alles zu Fuß macht, bin ich schon halbtot.“

„Hast du wenigstens irgend etwas Interessantes entdeckt?“ „Bis jetzt nichts. Er scheint auch nicht richtig im Bilde zu

sein. Jedenfalls machte er eine Menge Besuche, und es gelang mir, einige Gespräche zu belauschen. Er sucht nach der Schwarzen Maske, aber so viel ich sehe, hat er bis jetzt keine Fortschritte gemacht. Aber nichts kann ihn entmutigen, und es würde mich nicht wundern, wenn er zum Schluß doch noch Er-folg hätte.“

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„Wo befindet er sich jetzt?“ „Er ißt Abendbrot in einem Restaurant außerhalb der Stadt,

und ich benutze die Gelegenheit, um an Sie zu telephonieren.“ „Glauben Sie, daß es der Mühe wert ist, ihn weiter zu beo-

bachten?“ „Ich sagte es Ihnen schon, ich glaube, ja. Es kommt mir so

vor, als ob er mehr weiß, als er Ihnen sagte, denn während er wartete, daß man ihm das Essen brachte, zog er einen Stadtplan hervor und studierte ihn eine ganze Weile. Dabei lächelte er. Leider konnte ich den Plan nicht sehen, da er an einem Tisch allein in der Ecke sitzt. Er hat den Plan neben sich und schaut zwischen jedem Bissen darauf. Ich sehe ihn in diesem Augen-blick und glaube, daß er mich nach dem Essen an einen Platz führen wird, wo es mehr Möglichkeiten geben wird etwas zu entdecken. Ich werde Sie benachrichtigen, wenn …“

Milton unterbrach ihn: „Hören Sie zu, Bill. Ich fürchte, daß ich diese Nacht außer

Hause verbringen werde. Es ist möglich, daß Sie mich nicht antreffen, wenn Sie später telephonieren.“

„Was soll ich dann tun?“ „Handeln Sie nach Ihrem eigenen Urteil. Sie kennen die An-

gelegenheit so gut wie ich. Richten Sie sich nach den Umstän-den. Wenn Sie sehen, daß etwas geschehen sollte, wobei Sie Hilfe brauchen, dann wenden Sie sich an Fräulein Larding … Telephonieren Sie ihr in meinem Namen … Es ist möglich, daß sie sich auch nicht zu Hause befindet, aber im Augenblick fällt mir nichts Anderes ein. Verstanden?“

„Vollkommen, Chef. Wie es auch immer sei, so werde ich doch versuchen, mich morgen früh mit Ihnen in Verbindung zu setzen.“

„Sie müssen auch schlafen, Bill …“ „So lange Bob Derril aushält, glaube ich, auch aushalten zu

können. Wenn es ihm einfällt, schlafen zu gehen, werde ich ein

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Gleiches tun, aber jemanden dalassen, der weiter beobachtet, bis ich wiederkomme.“

„Wen?“ „Machen Sie sich deswegen keine Sorge, Chef. Ich werde

schon eine Vertrauensperson suchen. Ich habe den Kontakt mit meinen alten Freunden noch nicht verloren.“

„Schön, ich überlasse Ihnen das. Aber seien Sie vorsichtig. Wenn Sie etwas entdecken, sorgen Sie dafür, daß es mir zu Oh-ren kommt, falls Ihnen etwas zustoßen sollte.“

„Keine Angst, Chef.“ Der Multimillionär hängte den Hörer an und kehrte ins Spei-

sezimmer zurück, wo ihn Mavis erwartete. „Hast du heute abend etwas vor?“ fragte er. „Soll ich dich ir-

gendwohin bringen?“ „Nein, Milton. Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich zu

Hause bleiben. Wirst du ausgehen?“ „Ja … ich glaube, Ja. Ich möchte gern Grimm einmal besu-

chen und ihn fragen, ob er etwas Näheres über den Tod unseres Freundes Crane weiß. Ich zweifle daran, daß ich ihn antreffen werde, aber ich will die Lokale besuchen, wo er zu verkehren pflegt. Wenn du aber ausgehen willst?“

Mavis lächelte. „Wir können ein andermal ausgehen. Sieh zu, ob du Grimm

findest, wenn das dein Wunsch ist. Wirst du spät heimkom-men?“

„Ich weiß es noch nicht. Es kann sein, daß ich den oder jenen treffe. Warte deshalb nicht auf mich.“

Er ging in sein Zimmer hinauf, machte sich zurecht, gab sei-ner Frau einen Abschiedskuß und fuhr mit dem kleinen Wagen davon.

Milton war nicht sicher, was er eigentlich tun sollte. Die Bot-schaft der Roten Schlange war zu spät gekommen, als daß er die Beobachtung des Vizepräsidenten der Amalgamates Impor-

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ters Inc. hätte beginnen können, ehe dieser sein Büro verließ. Er hatte es auch nicht für richtig gehalten, Garth mit dem Auftrage zu betrauen. Die Überwachung Bobs konnte ein besseres Resul-tat geben als jede andere, und deshalb durfte sie nicht abgebro-chen werden.

Zunächst begab er sich deshalb zur Wohnung des Vizepräsi-denten der Amalgamated Importers Inc. um festzustellen, ob er sich zu Hause befand. Wenn das der Fall war, konnte er viel-leicht in der Nachbarschaft Wache beziehen und die Umgegend durchsuchen, um zu sehen, ob er jemanden entdeckte, der gleichfalls das Haus beobachtete. Er war sich selbst nicht ganz einig, vertraute aber darauf, daß ihm im Laufe der Nacht schon irgendein fester Plan einfallen würde. Inzwischen fuhr er, wie wir schon sagten, nach dem Hause des Mannes hin, dessen Be-obachtung ihm die geheimnisvolle Frau empfohlen hatte.

Auf dem Wege wurden seine Gedanken klarer. Er kannte Ray Mews persönlich, und dieser wußte, welch’ gute Freund-schaft ihn mit Sheldon verbunden hatte. Sein Besuch würde deshalb gerechtfertigt sein und er nichts damit verlieren.

Er hielt seinen Wagen draußen vor dem Gartenzaun der Villa an, die Mews bewohnte. Dann rief er den Portier, der ihn er-kannte und das Tor öffnete, das er mit seinem Wagen durch-fuhr. Vor dem Hauptgebäude, wo ihn bereits ein Diener erwar-tete, hielt er.

„Ist Herr Mews zu Hause?“ fragte Milton in die Halle tre-tend.

„Ja, Herr“, lautete die Antwort. „Wenn Sie in den kleinen Sa-lon treten wollen, werde ich ihn sofort benachrichtigen.“

Der Multimillionär betrat den kleinen Salon und nahm auf einem Sessel Platz. Wenige Minuten später kam der Hausherr, ein Mann von etwa vierzig Jahren mit vornehmen Allüren und einem energischen Blick.

„Ich freue mich sehr, Sie zu sehen, Herr Drake“, sagte er.

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„Ich habe gehört, daß Sie auswärts wären und erwartete deshalb nicht, heute abend mit Ihrem Besuch beehrt zu werden.“

„Ich war tatsächlich auswärts“, nickte der junge Mann, „und kam erst heute nachmittag von New York zurück. Da hörte ich von dem Tode des armen Sheldon und machte seiner Familie einen Beileidsbesuch. Der vielen Leute und des bedauerlichen Zustandes der Witwe wegen aber konnte ich nicht genau erfah-ren, was eigentlich geschehen war. Sie wissen doch, welche Freundschaft ich für den armen Sheldon empfand …“

„Er war ein Mann, wie es wenige gibt, Herr Drake, und wir bedauern alle den Vorfall unsagbar.“

„Ich glaube es … Aber entschuldigen Sie bitte, Herr Mews, daß ich Sie um diese Stunde störe. Es ist mir jedoch unmöglich gewesen, eher zu kommen und mein Interesse, etwas Näheres über den Vorfall zu erfahren, hat mir nicht gestattet, bis morgen zu warten. Ich hoffe …“

Ray Mews unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Herr Drake“, sag-

te er. „Ich verstehe vollkommen Ihre Gefühle. Mir wäre es an Ihrer Stelle genau so gegangen. Das einzige, was ich bedauere ist, daß ich Ihnen auch nicht mehr sagen kann, als Sie schon wissen. Man fischte den armen Sheldon im Flusse treibend auf. In seinem Hirn steckte eine Kugel …“

„Das habe ich schon in der Zeitung gelesen“, nickte Milton. „Wissen Sie nicht, ob die Polizei irgendeine Spur gefunden hat? Es ist schrecklich daran zu denken, daß ein Mann mit so hervor-ragenden Eigenschaften wie Sheldon ermordet werden kann, ohne daß seine Mörder ihr Verbrechen büßen …“

„Wenn die Polizei etwas mehr weiß, als sie gesagt hat, Herr Drake, dann verschweigt sie es. Es ist auch meine persönliche Meinung, daß die Behörden mehr wissen, als sie zugeben. Viel-leicht haben sie irgendeinen Hinweis und glauben, daß sie die Verbrecher leichter fangen werden, wenn diese nichts davon

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erfahren. Zweifeln Sie nicht daran, Herr Drake, daß der oder die Verbrecher nicht straflos ausgehen werden. Wenn die Polizei dieses Geheimnis nicht lösen kann, dann wird es sich die Amalgamates Importers Inc. angelegen sein lassen, die Dienste eines erstklassigen Privatdetektivs in Anspruch zu nehmen und gleichzeitig eine hohe Belohnung auf das Ergreifen des Mör-ders aussetzen.“

Milton Drake blieb noch eine Weile im Hause von Mews, und als er merkte, daß er nichts mehr erfahren konnte, verab-schiedete er sich und entfernte sich von der Villa. Ein wenig weiter aber stellte er seinen Wagen in einer dunklen Nebenstra-ße ab, kehrte zur Villa zurück und umschritt diese ganz, ohne irgend jemand zu treffen.

Wenn eine andere Person die Villa beobachtete, so mußte sie sich in den Büschen des Gartens versteckt halten. Aber es war unnütz, dies im Augenblick zu durchsuchen. Die Vegetation war so dicht, daß sich jemand sehr gut darin verborgen halten konnte und nicht zu finden war, so lange er sich nicht bewegte.

Er würde eine gewisse Zeit warten und dann unter Umstän-den den Zaun überklettern, um das Haus aus nächster Nähe zu beobachten.

Im Schatten eines Baumes verborgen beobachtete er den Zaun und gleichzeitig die oberen Fenster des Gebäudes.

Um elf Uhr flammte in einigen Licht auf, was darauf deuten ließ, daß sich die Bewohner zurückzogen. Um halb zwölf Uhr, als Milton sich zu sagen begann, daß es jetzt an der Zeit sei, sich in den Garten zu begeben, hörte er plötzlich ein Geräusch auf dem Grundstück, das ihn von seinem Vorhaben Abstand nehmen ließ.

Ein Motor hatte sich in Bewegung gesetzt. Der Motor eines Automobils. Das Surren schien näher zu kommen. Jetzt spielten seine Scheinwerfer über den Zaun. Statt aber seinen Weg nach dem Ausgang fortzusetzen, drehte es um, und das Surren ent-

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fernte sich. Er hörte jetzt das Knirschen von Bremsen, aber der Motor lief weiter.

Er begriff sofort, was das zu bedeuten hatte. Jemand wollte wegfahren und hatte verlangt, daß der Wagen aus der Garage vorfuhr. Dabei war er sicher, daß niemand um diese Stunde wegfahren würde als Mews selbst, und da er ihn nicht aus dem Auge verlieren wollte, lief Milton schnell nach der dunklen Straße, wo er seinen Wagen gelassen hatte. Geräuschlos fuhr er ihn in eine nahegelegene Nebenstraße. Dort wartete er am Steu-er, bis das Auto aus dem Grundstück kam, was fünf Minuten später geschah.

Als der Wagen am Gartentor wartete, damit der Pförtner öff-nete, gewahrte er im Lichtschein der starken Birne über dem Tor das Gesicht des Mannes, der den Wagen führte. Es war Mews selbst. Niemand befand sich neben ihm und scheinbar auch niemand im Wagen selbst.

Der Wagen fuhr durchs Tor und bog nach rechts ein in die entgegengesetzte Richtung von Baltimore. Milton wartete, bis er sich ein wenig entfernt hatte und nahm dann mit verlöschten Scheinwerfern die Verfolgung auf. Es wunderte ihn nicht, daß Mews um diese Stunde sein Haus verließ, was ihn wunderte war, daß er sich um diese Stunde von der Stadt entfernte.

Hatte ihn die Rote Schlange darum gebeten, ihn zu beobach-ten, um ihn gegen ein Attentat zu schützen? Oder … hatte er die Worte der Botschaft falsch aufgefaßt? War es denn möglich, daß Ray Mews auf der Liste der Verdächtigen der geheimnis-vollen Frau in Rot stand?

Bisher war es Milton nicht in den Sinn gekommen, an so et-was zu denken. Aber er durfte sich nicht ablenken lassen. Scharf trat er auf die Bremse. Er war so in seine Gedanken versunken gewesen, daß ihm der Mann, den er verfolgte, beina-he entkommen wäre. Schnell schaltete er den Rückwärtsgang ein und bog mit seinem Wagen in den Seitenweg, den Ray

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Mews eingeschlagen hatte. Die Nacht war dunkel, und die Bäume, die am Wege standen, machten das Fahren gefährlich. Er wagte es aber nicht, die Scheinwerfer einzuschalten aus Furcht, daß der andere etwas von seiner Gegenwart bemerkte.

* *

*

Sechstes Kapitel

BÜNDEL, BRETTER UND SCHÜSSE Das Automobil von Ray Mews hielt, die Scheinwerfer erlo-schen. Milton schaute sich schnell um und entdeckte einen Sei-tenweg, in den er hineinfuhr. Hier wagte er, das Stadtlicht an-zuzünden und fuhr zwischen den Bäumen hindurch mitten in einen Busch hinein, der seinen Wagen vollkommen verbarg.

Er löschte die Lichter, stellte den Motor ab und steckte die Schlüssel in die Tasche. Bevor er ausstieg, nahm er unter sei-nem Sitz eine Jacke und eine Mütze hervor. Er zog seinen Rock aus, nahm seinen Hut ab und verbarg beides unter dem Sitz. Schnell schminkte er sich, so daß seine Gesichtszüge vollkom-men unkenntlich wurden. Dann zog er die Jacke an, setzte die Mütze tief über die Augen und kehrte zu Fuß eilig auf die Land-straße zurück, wobei er immer im Schatten der Bäume blieb.

Je mehr er sich der Stelle näherte, wo Mews sein Auto an-gehalten hatte, um so deutlicher schien es ihm, als ob er Be-wegungen und gedämpfte Stimmen mehrerer Personen ver-nahm.

Der Wagen des Vizepräsidenten der Amalgamated Impor-ters Inc. hielt an einem schmalen Weg. Niemand bewachte ihn. Die Stimmen und das Geräusch kamen vom Ende dieses We-ges her. Milton ging ihn vorsichtig entlang und blieb dann

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plötzlich hinter einem Busch stehen. Er streckte den Kopf ein wenig vor.

Nicht weit von ihm befand sich eine sandige Bucht, die vom Wasser des Flusses bespült wurde. Rings um diese kleine Bucht standen hohe Bäume, so daß eine Barkasse, die dort verankert lag, von keinem Punkt des Flusses außer von gegenüber gese-hen werden konnte.

Neben jenem Strand lag jetzt ein verhältnismäßig großes Schiff, das außer ein paar Laternen keine Beleuchtung hatte. Das Licht aber war so gedämpft, daß es nicht einmal eineinhalb Meter weit reichte und war ganz gelblich.

An der Seite des Schiffes lagen kleinere Boote, die noch schlechter beleuchtet waren, und zwischen ihnen und dem Schiff bemerkte man ein dauerndes hin und her von Männern, die mit Bündeln beladen waren.

Es war deutlich, daß die Ladung des Schiffes mit aller Schnelligkeit auf die großen Boote verfrachtet wurde. Das Gan-ze dirigierte ein Mann, der am Bug stand und mit einem ande-ren sprach in dem Milton trotz der Dunkelheit Mews erkannte.

Er betrachtete die Szene eine ganze Zeit. Es würde noch eine Weile dauern, bis die ganze Umladung vorgenommen war, und er wollte die Zeit benutzen, um irgend etwas ausfindig zu ma-chen, das ihm gestattete, näher an die Schiffe heranzukommen.

Unter den Bäumen verborgen begann er, um die kleine Bucht herumzugehen, bis er an eins der äußeren Enden kam. Vorsich-tig hielt er Ausschau und stellte fest, daß sich eins der großen Boote nahe genug vor ihm befand, um es mit ein paar Sprüngen erreichen zu können.

Er gewahrte auch noch etwas Anderes, das ihm bisher nicht aufgefallen war.

Ein paar Meter weiter drüben, halb zwischen Bäumen und Sträuchern verborgen, lagen zwei riesige Stapel von Brettern.

Es gab im ganzen vier große Boote, die in einer Reihe ne-

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beneinanderlagen. Die Bündel, die vom Schiff abgeladen wur-den, brachte man von Boot zu Boot bis ins letzte, das Milton gerade gegenüber lag. Dieses war in kurzer Zeit beladen, und dann kam das nächste dran.

Während man dieses belud, sprangen zwei Männer an Land und gingen auf die Bretterstapel zu. Sie begannen jetzt, Bretter nach dem beladenen Boot hinzutragen. Der Multimillionär be-griff sofort, was das zu bedeuten hatte. Man wollte die Ladung mit Holz bedecken, damit es so aussah, als ob die Boote nichts anderes als Bretter mit sich führten.

Zwei Mann waren zu wenig, um diese Arbeit auszuführen. Einer von ihnen rief, daß jemand kommen möge, um ihnen zu helfen. Wenn ihn jemand hörte, so kümmerte sich keiner dar-um, denn niemand erschien. Da kam Milton auf eine riskante Idee. Es war wahrscheinlich, daß sich die Leute, die da arbeite-ten, nicht genau kannten, oder wenigstens nicht genau genug, um sich bei der Dunkelheit zu erkennen. Es war auch nicht wahrscheinlich, daß sie sich den Mann besonders ansahen, der kam, um ihnen bei ihrer Arbeit zu helfen.

Zwischen den Bäumen hindurch näherte er sich einem der Bretterstapel. Er wartete, bis die beiden Männer jeder mit einem Brett auf der Schulter dem Boote zuschritten, und ohne es sich zweimal zu überlegen, warf er sich auch ein Brett über die Schulter und folgte ihnen.

Er kam an die Seite des Bootes und lud das Brett an dersel-ben Stelle ab wie die anderen. Niemand sprach ein Wort. Ohne Zweifel glaubten sie, daß es der Mann wäre, den sie zu Hilfe gerufen hatten.

Er schwitzte, wie seit langem nicht. Die Bretter waren schwer, und es mußte eine ganze Menge hingebracht werden. Endlich waren die ganzen Bündel bedeckt. Inzwischen war das zweite Boot beladen worden, und nun mußte man die Bretter auf dieses bringen.

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Jetzt gab es mehr Leute zum Aufladen, da die Männer aus dem vorletzten Boot frei geworden waren, und Milton sagte:

„Ich werde euch noch zwei Bretter hinbringen und dann ge-hen. Ihr braucht mich nicht mehr.“

Nachdem er das zweite Brett hingetragen hatte, benutzte er einen günstigen Augenblick, um ungesehen auf die letzte Bar-kasse zu springen und sich dort in einem Winkel zu verbergen. Wenn die anderen ihn vermißten, dann würden sie glauben, er wäre an Bord des Schiffes zurückgekehrt, zu dessen Mann-schaft sie ihn wahrscheinlich zählten.

Es vergingen mehrere Stunden, bis die ganze Arbeit getan war. Das Schiff zog seine Anker auf, fuhr aus der Bucht hinaus und verlor sich flußabwärts. Bald darauf kam ein kleiner Schlepper, der die vier Barkassen ans Tau nahm. Auf jede be-gaben sich zwei Männer, und Milton konnte von seinem Ver-steck aus sehen, daß sie mit Maschinenpistolen bewaffnet wa-ren. Sie schienen bereit zu sein, sich zu verteidigen, wenn ihnen jemand in den Weg kam.

Der Schlepper zog die Barkassen flußabwärts nach Baltimore zu. Jeder, der sie gesehen hätte, mußte glauben, es handele sich

um eine Holzladung, die aus Irgendeinem Sägewerk kam. Milton verlor vollkommen die Zeitrechnung. Es mußte schon

spät sein, als er feststellte, daß der Schleppzug sich dem Bin-nenhafen von Baltimore zuwandte. Bald darauf ließ der Schlep-per die Barkasse an einer Mole liegen, über der man lesen konnte: „The Dandywill Lumbar Company.“

Auch ohne den Namen zu lesen, hätte man gewußt, daß man sich einer Holzfirma gegenüber befand, denn überall lagen gro-ße Stapel von Brettern und Balken, die zum Teil mit Segeltuch bedeckt waren, um sie gegen Unwetter zu schützen.

Die Mannschaft der Barkassen begann an Land zu springen und die Boote zu vertäuen. Der Wächter des Bretterschuppens kam herbei und half beim Abladen.

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Als Milton eine günstige Gelegenheit gekommen sah, sprang er an Land und verbarg sich hinter einem der schon erwähnten Holzstapel. Er wollte der Abladung beiwohnen, um die Bündel näher zu sehen und ihren Inhalt festzustellen.

Man lud zunächst nicht das ganze Holz ab. Der Mann, der die Sache leitete, mußte Mews selbst sein, wenn man ihn jetzt auch nur an seiner Kleidung erkannt hätte, denn. er hatte sich das Gesicht geschwärzt und den Hut tief über die Augen herab-gezogen. Er schien ein größeres Interesse daran zu haben, die Bündel abzuladen als die Bretter. Deshalb nahm man von die-sen nur so viel ab, als nötig war um die Ballen freizulegen, die sich darunter befanden. Diese brachte man sofort in den Hinter-grund des Schuppens, wo sie anscheinend gelagert werden soll-ten.

Man hatte schon alle Ballen hereingebracht und begann ge-rade die Bretter abzuladen, als plötzlich etwas weiter von dem Multimillionär entfernt, ein Schrei zu hören war, dem ein Schuß folgte.

Milton nahm seine Mütze ab und zog sich die schwarze Ka-puze über.

Die Pistole in der Hand schritt er vorsichtig vorwärts zu der Stelle hin, wo der Schuß gefallen war. Bevor er sie erreichte, ertönten weitere Schüsse, und als er hinter einem Stapel hervor-lugte, sah er wieder die Vermutungen von Bob Derril bestätigt.

Drüben, mit dem Rücken gegen einen Balkenstapel gelehnt, stand eine Frau von exotischem Aussehen in einem enganlie-genden schwarzen Gewand. Ihr Kopf war mit einer Art sich eng anschmiegendem Helm bedeckt, und ein weißer Mantel mit hohen steifen Kragen hing von den Schultern herab. Die Frau hielt eine Pistole in der Hand und stand drei bewaffneten Män-nern gegenüber.

In dem Moment, als der Kapuzenmann sich vorbeugte, wa-ren durch eine Stapelgasse zwei weitere Männer erschienen, die

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sich bereit machten, gleichfalls die Schwarze Maske anzugrei-fen, welche aber die Gefahr überhaupt nicht zu beeindrucken schien.

Mit eiskalter, bewunderungswürdiger Ruhe drückte sie den Hahn ihrer Pistole ab, und der eine jener drei Männer, die sie vor sich hatte, ließ seine Waffe fallen und stürzte in die Brust getroffen vornüber. Trotzdem konnte sie ihr Mut nicht retten. Der Angreifer waren zu viele und sie hatte keine Deckung. Au-ßerdem würden auf die Schüsse hin weitere Männer herbeiei-len.

Sofort nachdem sie geschossen hatte, ließ sich die Schwarze Maske zu Boden fallen und entging so der auf sie abgefeuerten Salve, während sie gleichzeitig wieder abdrückte. Ein zweiter Mann stürzte zu Boden.

Jetzt schoß einer der beiden, die soeben angekommen waren. Die Frau schwankte, aber sie fiel nicht, obgleich sie getroffen worden war.

Alles, was wir berichteten, war so schnell geschehen, daß der Kapuzenmann noch keine Zeit gefunden hatte, einzugreifen. Aber jetzt tat er es.

Zwei aufeinander folgende Schüsse trafen die beiden An-kömmlinge, die nicht erwartet hatten, von einer anderen Seite angegriffen zu werden. Nur ein Mann stand noch auf den Bei-nen, aber man hörte bereits das Herannahen eiliger Schritte.

Als die Schwarze Maske nur noch einen Mann vor sich sah, warf sie einen raschen Seitenblick nach der Richtung, von der ihr Hilfe gekommen war. Sie sah den Kopf des Kapuzenmannes und hob eine Hand zum Gruß. Gleichzeitig schoß sie auf den übrig gebliebenen Mann, den sie aber nicht traf, da er sich zu Boden geworfen hatte. Ohne die weitere Entwicklung abzuwar-ten, sprang sie in eine Stapelgasse und war den Blicken des Ka-puzenmannes entschwunden.

Eine schrille Stimme gab nunmehr Befehle. Man wollte alle

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Ausgänge schließen, um den Eindringlingen so den Rückzug unmöglich zu machen. Milton wußte, daß noch eine Menge Leute übrig waren und es hier nichts für ihn zu gewinnen gab. Er zog sich nach der Seite zurück, wo er den Ausgang des Schuppens vermutete.

Eine Stimme in seinem Rücken ließ ihn erkennen, daß er entdeckt worden war. Blitzschnell wandte er sich um und schoß auf den sich vorbeugenden Mann. Dann versuchte er, sich zwi-schen den Stapeln wie die Schwarze Maske zu verlieren. Trotz-dem wäre es ihm nicht möglich gewesen, aus diesem Labyrinth herauszukommen, ohne entdeckt zu werden. Er wußte nicht genau, wo sich die Tür befand. Seine eigenen Verfolger waren es, die ihm halfen. Er hörte jemanden schreien:

„Ich werde ihm den Rückzug von dieser Seite abschneiden!“ Er verbarg sich in einem Winkel und ließ den Mann, der ge-

rufen hatte, an sich vorbeigehen, um ihm dann zu folgen. Als er die Mauer gewahrte, die auf die Nebenstraße führte,

schoß er auf ihn, gelangte an die Wand, zog sich mit einem Sprung hinauf und wollte gerade auf der gegenüberliegenden Seite hinabgleiten, als in kurzer Entfernung ein Auto hielt, aus dem ein Mann sprang. Es war Bob Derril!

Der Reporter, der so unerwartet erschien, hatte keine Zeit, festzustellen, was eigentlich geschehen war. Ur-plötzlich tauch-te die Schwarze Maske aus dem Dunkel, setzte ihm die Pistole in den Nacken und zwang ihn, sofort wieder am Steuer Platz zu nehmen, während sie in den Ford stieg. Das Auto setzte sich wieder in Bewegung und verschwand wie eine Erscheinung.

Milton stand schon auf dem Boden und rannte hinter dem Wagen her, um sich an den Reservereifen zu hängen. Aber nach wenigen Sprüngen schon mußte er feststellen, daß er zu spät kam.

Durch die Tür der Mauer waren bereits zwei Leute von Mews erschienen und hatten ihn gesehen. Sie schossen auf ihn,

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aber trafen ihn nicht. Sofort schoß er zurück, aber mit demsel-ben negativen Ergebnis wie seine Angreifer.

In seinem Rücken hörte er ein Auto, das fast geräuschlos herangeglitten kam. Er schoß wieder auf die beiden Männer und wandte sich dann blitzschnell um, damit er der neuen Gefahr begegnen konnte.

Die Vordertür des geräuschlosen Wagens stand offen und ei-ne Stimme sagte:

„Einsteigen, Chef!“ William Garth war zur rechten Zeit gekommen, um ihn aus

der gefährlichen Lage zu befreien. Der Kapuzenmann erkannte die Stimme, sprang in das Auto

und schloß die Tür hinter sich. Jetzt heulte nicht weit entfernt eine Sirene auf, die sich

schnell näherte. Jemand mußte die Polizei von der Schießerei im Schuppen der ‚Dandywill Lumber Company’ benachrichtigt haben.

Garth drückte den Gashebel herunter. „Mir scheint, daß uns die Schwarze Maske entschlüpft ist“,

sagte er. „Aber“, meinte Milton und nahm seine Kapuze ab, die er in

die Tasche steckte, „ich glaube nicht, daß uns Bob Derril ent-schlüpfen wird.“

„Wohin wollen Sie fahren, Chef?“ „Laß’ mich ans Steuer. Ich will meinen Wagen holen, den

ich in einem Busch stehen ließ. Du begleitest mich, um dann diesen mitzunehmen. Unterwegs können wir miteinander spre-chen.“

Garth wechselte den Sitz mit seinem Chef.

* * *

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Siebentes Kapitel

DIE ROTE SCHLANGE MACHT SICH EINEN SPASS

Durch den großen Lagerraum der Amalgamated Importers Inc. schweifte, eine Taschenlampe in der Hand, eine von Kopf bis Fuß in Rot gekleidete Frau, die eine Maske der gleichen Farbe vor dem Gesicht trug. Trotz der Schrecken der vergangenen Nacht, trotz der großen Gefahr, in der sie geschwebt hatte, war die Rote Schlange nicht bereit, die Sache aufzugeben, ehe sie zu Ende geführt war.

In dem der Tür nahe gelegenen Teil des Lagerraumes befan-den sich hohe Ballen-Stapel, während im Hintergrunde nur Bretter auf dem Boden lagen, die anderen Waren als Unterlage gedient haben mochten.

Auch drüben an der Wand befanden sich gestapelte Bündel, die die Rote Schlange sorgfältig untersuchte. Dann löschte sie die Lampe und verbarg sich hinter einigen Bündeln, so daß sie von niemandem gesehen werden konnte, der in den Raum hi-neinkam.

Sie mußte lange warten und wußte nicht, wieviel Zeit inzwi-schen vergangen war, aber es mußte schon bald gegen Morgen-grauen sein, als sie plötzlich nur wenige Schritte von sich ent-fernt ein Quietschen und dann einige Stimmen hörte.

Von ihrem Versteck aus war es ihr unmöglich zu sehen, was vor sich ging, aber sie konnte es sich denken. Wie sie vermutet hatte, befand sich in dieser Wand eine Geheimtür, die sehr gut getarnt war, und diese hatte sich geöffnet.

Eine Stimme sagte: „Macht kein Licht. Nach dem, was in der vorigen Nacht ge-

schah, wäre es eine Unklugheit. Wenn sich auch die Polizei zurückgezogen hat, nachdem sie hier nichts finden konnte, so

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kann doch irgend jemand das Gebäude beobachten und beim geringsten Lichtschein Alarm schlagen. Ihr könnt euch leicht zurecht tasten.“

„Keine Sorge, Chef, wir werden es schon machen.“ Die Rote Schlange hörte Schritte von Männern, die etwas auf

den leeren Brettern absetzten. Sie erriet, daß man neue Ware aufstapelte. Die Furcht jener Männer, entdeckt zu werden, war ein Vorteil für sie. Sie kam hinter dem Stapel hervor und näher-te sich der geöffneten Tür bis dorthin, wo sie das an diese Tür genagelte Bündel hinderte, weiterzugehen. Dieses Bündel dien-te ihr zu gleicher Zeit als Deckung.

Eine ganze Weile schleppten die Männer Ware herbei, als plötzlich ein Schuß auf der anderen Seite der Geheimtür ertön-te. Dann folgte eine Salve und wieder ein einzelner Schuß.

Die Stimme, die zuerst gesprochen hatte, ließ sich wieder vernehmen:

„Bringt schnell herein, was noch fehlt und schließt die Tür! Ich werde nachsehen gehen, was los ist!“

Neue Schüsse ertönten. Der Mann, der sich in der Nähe der Tür befand, war gegangen. Jene Männer, die sich im Lager be-fanden, waren gleichfalls hinausgegangen, und nur einer von ihnen befand sich noch innerhalb des Raumes. Er war gerade hereingekommen. Die Rote Schlange sah ein, daß sich keine günstigere Gelegenheit mehr für sie bieten würde.

Schnell kam sie hinter dem Bündel hervor und trat durch die Tür. Sie befand sich in einem ziemlich dunklen Schuppen voller Holz. Schnell durchlief sie ihn bis zu der geöffneten Tür, die sie im Hintergrunde gewahrte. Aber sie konnte nicht hinaus, weil dort ein Mann stand.

Inzwischen waren neue Schüsse und Schreie ertönt, aus de-nen sie schloß, daß die Eindringlinge noch nicht umstellt waren. Sie nahm an, daß der eine von beiden wahrscheinlich der Kapu-zenmann und der andere Garth sein mochte.

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Der im Lagerraum zurück Gebliebene kam jetzt heraus. Die Frau mußte sich verstecken, um nicht entdeckt zu werden.

„Was ist los,“ fragte der Mann, als er an die Tür kam. „Die Schwarze Maske und der Kapuzenmann“, antwortete

der andere. „Sie hatten sich anscheinend auf der Mole versteckt. Ich weiß nicht, ob sie etwas bemerkt haben.“ Es war die erste Nachricht, die die Rote Schlange erhielt, daß die Schwarze Maske auch ihren Anteil an den Geschehnissen nahm, was sie in Wirklichkeit aber nicht verwunderte.

„Hat man sie gefaßt?“ fragte der Mann. „Noch nicht, aber sie können nicht auf die Mole hinaus, alle

Ausgänge sind besetzt.“ In diesem Augenblick ertönte ein neuer Schuß, und dann

hörte sie den Motor eines Autos und weitere Schüsse. „Die Schüsse kommen von der Straße“, sagte der Mann. „Ich

will den Kameraden helfen.“ Wenn die Schüsse von der Straße kamen, dachte die Rote

Schlange. dann braucht weder die Schwarze Maske noch der Ka-puzenmann Hilfe von mir. Sie war nahe daran gewesen, die bei-den Leute niederzuschießen und den Umstellten zu Hilfe zu eilen.

Ein neues Geräusch wurde jetzt vernehmbar: der Ruf einer Sirene. Die Polizei näherte sich.

„Vorwärts!“ ertönte die Stimme des Chefs. „Bringt die Ver-wundeten in das Lager. Es darf hier nichts Verdächtiges bleiben!“

Wenige Augenblicke später liefen ein paar Männer, die Ver-wundete trugen, durch den Schuppen.

„Habt ihr sie gezählt? Fehlt keiner?“ fragte die Stimme des Chefs.

„Nein, es fehlt keiner, Chef. Wir sind jetzt alle hier.“ „Laßt die Waffen im Lager. Ihr wißt schon, was ihr zu tun

habt. Mich dürfen sie nicht sehen. Man könnte mich erkennen und fragen, was ich hier zu tun hätte. Wo ist der Wächter?“

„Hier!“ sagte eine Stimme.

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„Kennst du deine Anweisungen für einen solchen Fall?“ „Vollkommen, Chef, Sie können beruhigt sein.“ Die Bewe-

gung hörte auf. Die Männer, die die Verwundeten weggebracht hatten, gingen wieder hinaus. Auch der Wächter ging mit ihnen, und die Tür war frei.

Die Rote Schlange schaute sich um, um sich zu vergewis-sern, daß niemand zurückgeblieben war. Dann schlich sie sich zwischen den Stapeln hindurch der Tür zu.

Die Sirene kam vor dem Schuppen zum Schweigen. Bremsen knirschten. Jemand klopfte kräftig an das Tor in der Mauer.

Hinter einem Bretterstapel hervor konnte die Rote Schlange den Wächter sehen, der sich langsam zur Mauer begab. Die Schläge wiederholten sich stärker und eine Stimme rief:

„Wenn Sie nicht sofort öffnen, werden wir das Tor spren-gen!“ Der Wächter näherte sich.

„Wer ruft?“ antwortete er, ohne aufzumachen. „Was ist das für ein Skandal?“

„Im Namen des Gesetzes! Öffnen Sie!“ „Im Namen des Gesetzes!“ rief der Mann aus. „Ich weiß

nicht, was das Gesetz um diese Stunde hier sucht! Aber ich werde öffnen.“

Er schloß das Tor auf. Vier Polizeiagenten stürzten herein, denen zwei weitere folgten. Einen Moment aber blieben sie ste-hen, um zu fragen:

„Was ist hier los? Wer hat geschossen? Wo …?“ Der Wächter machte ein erstauntes Gesicht. „Hier ist gar nichts geschehen!“ sagte er. „Niemand hat hier

geschossen. Was ist denn das für ein Märchen?“ Der Chef der Polizisten, in dem die Rote Schlange Haupt-

mann Rawlings erkannte, sah ihn offenen Mundes an. „Hier ist nichts geschehen?“ rief er aus. „So viel ich weiß, nicht. Und ich müßte es wissen, denn ich

bin hier in diesem Schuppen als Wächter angestellt.“

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„Haben Sie keine Schüsse gehört?“ fragte der Hauptmann ungläubig.

„Schüsse …? Nein. Hier hat niemand geschossen, vielleicht draußen. Aber ich habe nichts gehört, da ich mich im Schuppen befand. Wer hat Ihnen denn gesagt, Hauptmann, daß hier ge-schossen worden ist?“

„Einer, der es gehört hat. Ihre Erklärungen befriedigen mich nicht.“

Er wandte sich an seine Agenten: „Durchsuchen Sie den gesamten Schuppen und die Mole“,

befahl er. Und zum Wächter fuhr er fort: „Befinden Sie sich allein hier?“ „Nein, Herr.“ „Wer ist noch da?“ „Ein paar Männer. Sie laden Bretter ab, die gerade vom Sä-

gewerk gekommen sind.“ „Hat niemand von ihnen die Schüsse gehört?“ „Fragen Sie am besten selbst.“ „Ich werde das tun“, erwiderte Rawlings finster. „Mir scheint

die Sache hier nicht ganz stubenrein.“ In diesem Augenblick gewahrte die Rote Schlange, daß der

Wächter erschrak. Sie folgte seinem Blick und gewahrte, was ihn erschreckt hatte.

Ein paar Schritte von den beiden entfernt lag eine abgeschos-sene Patronenhülse auf dem Boden.

Rawlings schien das Erschrecken des anderen nicht bemerkt zu haben. Er schaute sich nach allen Seiten um, als suche er irgend etwas.

Der Wächter schien nicht zu wissen, was er machen sollte. Von einem Augenblick zum anderen konnte die Hülse entdeckt werden, deren Vorhandensein schwer zu rechtfertigen war.

Er trat einen Schritt auf die Hülse zu. Der Hauptmann schien

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immer noch nichts zu merken. Dann tat er noch einen Schritt und setzte den Fuß darauf. Das war aber nur ein augenblickli-cher Behelf. Wenn die anderen wiederkamen und er sich bewe-gen mußte … Es war wirklich erstaunlich, daß niemand die Hülse gesehen hatte.

„Hauptmann“, sagte der Mann plötzlich, „wollen Sie nicht selbst in den Schuppen gehen und ihn durchsuchen? Dort kön-nen Sie auch die Arbeiter befragen. Es gibt dort einen Tisch und einen Stuhl …“

„Ich brauche mich nicht zu setzen“, antwortete Rawlings kurz, „aber“, fügte er in einem anderen Ton hinzu, „es wird vielleicht besser sein, wenn ich Sie begleite.“

Mit lebhafter Stimme sagte der Wächter: „Bitte hier, Hauptmann …“ und Rawlings folgte ihm. Wahrscheinlich hatte er die Absicht, während die Arbeiter

verhört wurden, nach hier zurückzukehren und die Hülse ver-schwinden zu lassen. Er hätte zum Beispiel die Mütze fallen lassen und mit ihr die Hülse aufheben können. Aber das war zu gefährlich, zumal ihn ja die Polizei auch durchsuchen konnte und dann die Hülse finden würde, die sicher ein anderes Kaliber hatte als der Revolver, den er an seinem Gürtel in einer Leder-tasche bei sich trug.

Die Rote Schlange sah die Beiden sich entfernen, kam aus ihrem Versteck hervor und trat auf die Straße. Es waren nicht eins sondern zwei Automobile, die dort hielten: ein großes, in dem zweifellos die Agenten gekommen waren, und ein kleine-res, das Rawlings stets zu benutzen pflegte. Am Steuer des Wa-gens des Hauptmanns aber saß ein Polizist.

Sie konnte nicht weiter hinausgehen, ohne gesehen zu wer-den.

Nachdem sie einen Augenblick überlegt hatte, begab sie sich wieder hinter den Stapel, hinter dem sie sich verborgen hatte und kletterte gewandt hinauf. Oben angekommen legte sie sich

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lang hin und schaute sich vorsichtig um. Wenn die Agenten nicht so bald zurückkamen, dann war es möglich, daß der Poli-zist aus dem Wagen Rawlings ausstieg, um sich ein wenig die Füße zu vertreten. Wenn er das tat, dann gab es für sie vielleicht eine Möglichkeit zu entwischen.

Einige Minuten vergingen. Der Chauffeur schaute ab und zu nach der Tür hin. Dann öffnete er zur großen Freude der Roten Schlange die Tür und stieg aus. Er schaute die Straße hinauf und hinunter, näherte sich dann der Tür und blickte in den Schuppen hinein.

Die Rote Schlange wagte nicht länger zu warten. Es war kei-ne gute Gelegenheit, aber vielleicht fand sich keine bessere.

Sie befand sich ganz in der Nähe der Mauer, schwang sich hinauf und ließ sich nach draußen hinabgleiten. Auch wenn jetzt der Chauffeur den Kopf wandte, hätte er sie wegen der herrschenden Dunkelheit nicht sehen können.

Sie hätte die Straße hinuntergehen und sich entfernen kön-nen, aber sie hatte keine Lust, um diese Stunde zu Fuß zu ge-hen. Es würde schwer sein, ihre Anwesenheit zu erklären, wenn ihr jemand begegnete und sie anhielt. Auch eine Frau ohne Schleier würde um diese Stunde in dieser Gegend Verdacht er-regen.

Sie lächelte, als sie an das dachte, was ihr eingefallen war. Geräuschlos schlich sie sich zum Wagen von Rawlings, indem sie den großen Wagen umging. Der Chauffeur war ein paar Schritte in Richtung auf die Mole gegangen und stand mit dem Rücken zur Straße.

Die Rote Schlange öffnete geräuschlos die Tür des Wagens, stieg ein, schloß sie wieder und ließ sich auf den Boden gleiten. Solange niemand auf den Gedanken kam, in das Innere des Wagens zu schauen, war sie sicher. Die größte Gefahr bestand darin, daß Rawlings vielleicht ein paar der Arbeiter festnahm. Dann war das große Auto zu klein und einer oder der andere

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mußte im Wagen des Hauptmanns fahren. Diese Gefahr war aber verhältnismäßig gering, denn Mews hatte seine Leute zu gut instruiert. Man würde nichts Verfängliches finden. Nichts?

Plötzlich überdachte sie, daß alles, was ihr zuerst günstig gewesen war, jetzt zum Nachteil gereichen konnte. Wenn der Chauffeur noch lange an der Tür stehenblieb, dann sah er viel-leicht die leere Hülse. Aber auch wenn er sie nicht sah, so ver-hinderte seine Gegenwart doch, daß der Wächter die Hülse bei-seiteschaffen konnte.

Sie begann sich zu fragen, ob sie ihren Scherz mit der Polizei nicht zu weit getrieben habe. Der Spaß konnte ihr teuer zu ste-hen kommen. Sie sagte sich, daß es vielleicht besser wäre, wenn sie wieder ausstiege und sich entfernte. Sie war schon zu der Überzeugung gekommen, daß sie sich keiner unnützen Ge-fahr aussetzen durfte, als der Chauffeur ihrem Zögern ein Ende setzte und wieder am Steuer Platz nahm. Jetzt blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als in ihrem Versteck zu verharren.

Die Minuten schlichen dahin. Zweimal wandte der Polizist den Kopf und warf einen zerstreuten Blick in den Wagen. Aber darin lag keine Gefahr, da sie sich ganz an die vordere Wand gedrückt hatte und so nicht von ihm gesehen werden konnte. Er konnte aber wieder absteigen und durch ein Seitenfenster hin-einschauen.

Mit gespannten Nerven, bereits bei der geringsten Entdec-kung aufzuspringen und zu fliehen, blieb die Frau unbeweglich liegen und wagte kaum zu atmen.

Endlich hörte man Schritte. Die Stimme Rawlings tönte an ihre Ohren.

„Trotz allem“, sagte er, „bin ich nicht ganz befriedigt. Ich kann nicht glauben, daß man sich mit der Polizei einen schlech-ten Scherz erlaubt hat. Sie, Peters, bleiben als Wache hier und melden sofort, wenn irgend etwas Ungewöhnliches vorfällt.“

Hatte der Wächter die Patronenhülsen entfernen können?

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Die vordere Wagentür öffnete sich. „Ich kehre zum Kommissariat zurück“, sagte Rawlings, „und

werde dort noch eine Stunde bleiben, ehe ich nach Hause gehe. Es ist besser, wenn Sie hier bleiben und die Umgegend durch-streifen. Fragen Sie jeden, dem Sie begegnen, ob er Schüsse gehört hat. Sergeant … Sie übernehmen den Befehl.“

„Jawohl, Herr Hauptmann.“ Rawlings nahm neben dem Chauffeur Platz. Das Auto setzte

sich in Bewegung, und die Rote Schlange atmete erleichtert auf. Sie waren schon ziemlich weit von der Mole entfernt, als die

Frau in Rot den zweiten Teil ihres waghalsigen Planes in die Tat umzusetzen beschloß.

Geräuschlos erhob sie sich vom Boden. In jeder Hand hielt sie eine Pistole, deren Läufe sie auf den Nacken des Chauffeurs und des Hauptmanns Rawlings setzte.

„Keine verdächtige Bewegung!“ bemerkte sie, „oder …!“ Mehr als die Drohung machte die Überraschung Rawlings

bewegungslos. Der Chauffeur war der ruhigere von beiden. Er machte eine kurze Schwenkung in der Hoffnung, daß der ihn Bedrohende das Gleichgewicht verlieren würde.

Glücklicherweise hatte das junge Mädchen diese Möglich-keit nicht außer acht gelassen. Sie schoß nicht, aber sie gab dem Chauffeur einen starken Schlag ins Genick, so daß er halb be-täubt die Kontrolle über das Auto verlor, das auf den Bür-gersteig hinauffuhr und gegen eine Hauswand geschleudert worden wäre, wenn nicht Rawlings die Gefahr hinter sich ver-gessen und eingegriffen hätte.

Schnell griff er ins Steuer und es gelang ihm, die Katastrophe zu vermeiden. Da der Chauffeur aber immer noch betäubt war und er selbst von seinem Sitz aus den Wagen nicht führen konnte, drückte er zuerst auf die Fußbremse und zog dann auch die Handbremse.

„Hauptmann“, sagte die Frau, „Sie werden mir den Gefallen

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tun, Ihre Pistole herauszuziehen und sie soweit als möglich fortzuwerfen. Ich rate Ihnen sie nicht zu gebrauchen, denn be-vor Sie es tun könnten, hätten Sie keinen Kopf mehr.“

Rawlings murmelte eine Verwünschung. „Ich warte, Hauptmann!“ Der Hauptmann sah mit einem Seitenblick auf den Unterge-

benen, der halb vom Sitz gerutscht war. Er hatte das Bewußt-sein nicht verloren, aber er war halb betäubt, so daß er nichts machen konnte.

Ganz langsam zog er seine Pistole heraus und kalkulierte die Möglichkeiten. Er mußte die Sache aber schwarz sehen, denn mit einem Brummen warf er sie aus dem Fenster. Das Brum-men und die Bewegung aber sollten die Rote Schlage nur ab-lenken. Die Pistole des Chauffeurs war im Bereich seiner linken Hand, und er streckte jetzt vorsichtig die Hand aus, um sich ihrer zu bemächtigen, ehe die Frau etwas merkte.

Aber es war ein Irrtum seinerseits. Die Frau gewahrte die Bewegung und lächelte.

„Darum wollte ich Sie gerade bitten, Hauptmann“, sagte sie. „Diese Pistole muß denselben Weg nehmen wie die andere.“

Der Hauptmann hielt die Hand bewegungslos. „Der Teufel soll mich holen, wenn ich Ihnen gehorche! Wer

sind Sie denn?“ „Das werden Sie schon rechtzeitig erfahren“, lautete die

Antwort. „Wollen Sie mir gehorchen, oder soll ich zu anderen Mitteln greifen?“

„Machen Sie was Sie wollen! Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Sie haben sich da mit mehr eingelassen als Sie vollbringen können, Diesmal wird es Ihnen schlecht ergehen!“

„Glauben Sie, Hauptmann Rawlings?“ murmelte die Rote Schlange sanft. „Es würde mir nicht die geringste Mühe kosten, Ihnen eine Kugel in den Schädel zu jagen.“

„Sie haben aber nicht die geringste Absicht, es zu tun“, ant-

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wortete der andere schlau. „Schießen Sie doch, wenn Sie es wagen.“

Der Hauptmann hatte recht. Die Rote Schlange wünschte nicht im geringsten, ihn zu töten. Nicht einmal verwunden hätte sie ihn wollen, was im Augenblick ganz unmöglich war, denn wenn sie abdrückte, war die Verletzung tödlich. Der Plan Raw-lings war ganz klar. Er wollte Zeit gewinnen, bis der Chauffeur wieder zu sich kam. Er vertraute darauf, daß sie zu zweit dann mit der Angreiferin fertig würden.

Die Rote Schlange biß sich auf die Lippen, Die Sache schien unentschieden verlaufen zu sein. Wenn sie sich vorbeugte, um den Chauffeur zu entwaffnen, würde der Hauptmann den Au-genblick benutzen, sie zu packen und zu überwältigen.

Rawlings schien ihr Dilemma zu begreifen und brach in ein unangenehmes Lachen aus.

„Und was machen wir jetzt, mein Fräulein? Gestatten Sie, daß ich mich umdrehe und Ihr Gesicht betrachte?“

„Wenn Sie in eine Leichenhalle kommen wollen, dann brau-chen Sie es nur zu versuchen“, antwortete sie ihm.

Der Chauffeur bewegte sich jetzt und schien seine geistigen Fähigkeiten wiederzugewinnen. Es konnte nicht länger so wei-tergehen.

„Steigen Sie aus, Hauptmann! Ich möchte Ihnen keinen Schaden tun. Wenn Sie diesem Befehl aber nicht Folge leisten, dann schieße ich, ohne zu zögern.“

„Diesem Befehl zu gehorchen, habe ich nichts dagegen.“ Er öffnete die Tür. Gleichzeitig öffnete die Rote Schlange

mit der linken Hand die Tür auf der entgegengesetzten Seite. Rawlings sprang auf den Boden und rannte wie ein Wilder

dorthin, wo seine Pistole lag. Er rechnete damit, daß die Frau weder ihn noch den Chauffeur aus dem Auge verlieren wollte, und beides konnte sie nicht tun. Er würde also Gelegenheit ha-ben, sich zu bewaffnen, ehe es ihr möglich war zu schießen.

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Aber die Rote Schlange kümmerte sich nicht um ihn. Sie hat-te angenommen, daß er sofort auf seine Pistole losstürzen wür-de und wußte schon, was sie zu tun hatte.

Im gleichen Augenblick wie er sprang sie auf der entgegen-gesetzten Seite aus dem Wagen. Während er auf die Pistole zu-lief, öffnete sie die vordere Wagentür, packte den Chauffeur am Arm und zog ihn mit einem scharfen Ruck aus dem Auto, daß er zu Boden fiel.

Als Rawlings die Pistole aufhob saß sie bereits am Steuer und machte die Bremse los.

„Die Rote Schlange!“ rief der Hauptmann sie erkennend aus. Zweimal drückte er seine Pistole ab. Der erste Schuß traf die

Wagentür und der zweite die Windschutzscheibe, die aber nicht zersplitterte, da sie aus unzerbrechlichem Glas war.

Der Chauffeur erhob sich schwankend auf der anderen Seite und faßte nach seiner Pistole.

„Auf Wiedersehen, Hauptmann!“ rief die Rote Schlange und trat auf den Gashebel. „Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Sie wer-den den Wagen im selben Zustande zurückerhalten, wie Sie ihn mir überlassen.“

Der Hauptmann aber hörte die letzten Worte nicht mehr, denn das Auto jagte bereits davon.

Blind vor Wut schoß er das ganze Magazin seiner Pistole ab, ohne daß es ihm in seinem Zorn einfiel, auf die Reifen zu feu-ern. Auch blieb ihm nicht viel Zeit, denn schon bog der Wagen in eine Seitenstraße ein.

Die Schüsse des Chauffeurs waren noch ergebnisloser, so-weit das möglich war.

Der Hauptmann und sein Untergebener sahen sich an. Dem Chauffeur fielen eine Menge Dinge ein, wie man das Gescheh-nis hätte vermeiden können, zum Beispiel, wenn man sofort auf die Reifen geschossen hätte, ehe sich der Wagen in Bewegung setzte Aber er hielt es für besser seine Meinung zu verschwei-

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gen, als er das zornrote Gesicht seines Vorgesetzten sah. Die kleinste Kritik seinerseits würde einen Zornausbruch nach sich ziehen, dessen einziges Opfer er war. Er wußte nicht einmal, ob er den Mund auftun sollte.

Aber auch das half ihm nichts. „Was stehen Sie da herum wie ein Lasttier?“ heulte Rawlings.

„Warum suchen Sie kein Telephon und schlagen Alarm? Und Vorsicht, was Sie sagen! Wir werden uns sehr lächerlich machen, wenn man erfährt, daß die Rote Schlange einem Polizeihauptmann den Dienstwagen weggenommen hat, um zu fliehen!“

Aber alle Vorsichtsmaßregeln nützten nichts. Es mußte je-mand geschwätzt haben. Die Vormittagszeitungen brachten die letzte Heldentat der Roten Schlange mit wahrem Vergnügen und mit einer Unmenge von Einzelheiten, Und obgleich diese erfunden waren, versetzten sie den Hauptmann in ohnmächtige Wut, da sie den Ereignissen sehr nahe kamen.

Um ihn noch mehr zu hänseln, wurde der Wagen am näch-sten Morgen vor dem Fundamt entdeckt. Am Steuerrad war ein Zettel von der Hand der Roten Schlange angebunden, auf dem zu lesen stand, daß die ihr zustehende Belohnung für das Auf-finden eines verlorenen Gegenstandes auf der Straße dem Wai-senhaus des Polizeikorps von Baltimore zu überweisen sei.

* *

*

Achtes Kapitel

GRIMM SPRICHT VON DER ROTEN SCHLANGE „Ich nehme an“, sagte der Hauptmann, „daß mir nichts anderes übrig bleibt, als mich in dieser Angelegenheit unter Ihren Be-fehl zu stellen.“

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„Die Fälle, die direkt oder indirekt mit der Roten Schlange zu tun haben, fallen tatsächlich in meinen Bereich“, nickte In-spektor Grimm.

„An dem Tage, an dem ich diese Frau erwische“, brummte Rawlings, „drehe ich ihr den Hals um.“

„Der Spaß, den sie sich mit Ihnen leistete, war ein bißchen stark.“

„Oh, glauben Sie nicht, daß ich ihr deswegen besonders grol-le,“ beeilte sich der Hauptmann zu sagen. „Ich hätte ihr verzie-hen, wenn sie meinen Wagen benutzt hätte, um sich aus der Gefahrenzone bringen zu lassen. Was mich wütend macht, ist der Zynismus, mit dem sie mich auf die Straße setzte und sich mit meinem Auto davonmachte.“

Grimm lächelte. „Das macht Ihnen Spaß, nicht wahr?“ brummte der Haupt-

mann. „Einen Augenblick, Hauptmann. Wollen Sie mir den Vorfall

genau berichten? Ich weiß nur, was in der Zeitung steht, und da handelt es sich nur um den Schabernack, dessen Opfer Sie wa-ren.“

„Das ist bald erzählt. Jemand rief das Präsidium an, daß, nach dem Lärm zu urteilen, im Schuppen der ‚Dandywill Lum-ber Company’ eine Schießerei im Gange sei. Die Sache schien mir wichtig genug, meine Gegenwart zu rechtfertigen. Ich fuhr in meinem Wagen, gefolgt von einem bemannten Polizeiauto, los.“

„Was geschah in dem Schuppen?“ „Als ich ankam, nichts.“ „Es war also ein falscher Alarm?“ „So schien es anfangs. Der Wächter des Schuppens öffnete

auf unser Klopfen und schien erstaunt, als er uns vor sich sah. Seiner Aussage nach war dort kein Schuß gefallen, und auch in der Nachbarschaft hatte er keinen gehört.“

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„Sie haben ihm natürlich nicht geglaubt, nicht wahr?“ „Natürlich nicht. Ich schickte die Agenten los, die Mole und

den Schuppen zu untersuchen und alle zu verhören, die sie an-trafen. Inzwischen blieb ich mit dem Wächter am Tor stehen.“

„War er nicht unruhig?“ „Er war frech wie ein Dachs, wenigstens anfangs. Nach einer

Weile merkte ich, daß er nervös wurde, aber ich wußte nicht warum. Ich sah keinen Grund dafür und schaute mich um, in der Absicht, die Ursache seines Betragens zu ergründen. Wäh-rend ich dies tat, trat er einen Schritt beiseite. Ich merkte dabei, daß er mich ansah und den Schritt sehr vorsichtig getan hatte.

Ich tat so, als blickte ich interessiert in eine andere Richtung. Er sah mich wieder an, blickte kurz auf den Boden und tat noch einen Schritt. Jetzt wußte ich, was los war. Dicht vor uns lag eine leere Patronenhülse. Er hatte sie eher bemerkt als ich und wollte sie meinen Augen verbergen. Schon stand sein Fuß dar-auf, und nun wandte ich mich ihm wieder zu und tat, als hätte ich nicht das Geringste bemerkt.

Er mußte wissen, daß er früher oder später weggehen müßte und ich dann die Hülse sehen würde. Deshalb schlug er mir vor, mit ihm nach dem Schuppen zu gehen und dort die Arbeiter zu verhören, da es dort einen Tisch und einen Stuhl gab. Ich kam seinem Wunsche nach und gab ihm nachher sogar Gelegenheit, wieder hinauszugehen und die belastende Hülse verschwinden zu lassen. Er wird jetzt noch glauben, daß wir nichts gemerkt haben, und das ist es gerade, was er glauben soll.“

„Hatten Sie noch ein Ergebnis bei der Durchsuchung?“ „Meine Agenten meldeten mir, daß sie an verschiedenen

Stellen Blutflecke entdeckt hatten. Sie trafen mehrere Arbeiter an, die im Schuppen Holz abgeladen hatten. Wir durchsuchten alle, ohne bei einem einzigen eine Waffe zu finden. Keiner von ihnen hatte einen Schuß gehört. Es handele sich sicher um einen üblen Scherz, meinten sie.

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Als ich mich überzeugt hatte, daß ich dort nichts mehr he-rausfinden konnte, kündigte ich an, daß ich mich zurückziehen und einen Agenten als Wache dortlassen würde. Die anderen sollten die Umgegend abstreifen und alle Personen verhören, denen sie begegneten, um festzustellen, ob jemand Schüsse vernommen hatte. Die Umgegend aber war vollkommen verlas-sen.

Der Fund der leeren Hülse bewies, daß es sich nicht um ei-nen falschen Alarm handelte. In dieser Nacht waren dort Schüs-se abgegeben worden. Da der Wächter versucht hatte, die Hülse zu verbergen, war es klar, daß er entweder an der Schießerei teilgenommen hatte oder zum mindestens wußte, wer die Kämpfenden gewesen waren. Daß die Arbeiter alle geleugnet hatten, irgendeinen Schuß gehört zu haben, bewies, daß es sich gleichfalls um Komplizen handelte.

Ich trat den Rückweg nach dem Präsidium an, um einem Agenten eingehende Weisungen zu erteilen, den Schuppen zu beobachten, ohne sich von irgend jemandem sehen zu lassen. Aber es dauerte länger, als ich vorgesehen hatte, da die Rote Schlange plötzlich im Innern meines Wagens erschien.“

Er berichtetet ausführlich, was geschehen war und schloß dann:

„Die Tatsache, daß sich die Rote Schlange in der Nähe be-fand, bestätigt meinen Verdacht, daß dort irgend etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein muß. Sie hatte sich wahr-scheinlich in mein Auto geschlichen, während ich im Schuppen war.“

„Ich weiß nicht, Hauptmann“, sagte Grimm, „warum es mir so scheint, daß die Rote Schlange nicht nur deshalb sich in Ih-rem Wagen verbarg, um Ihnen einen Streich zu spielen. Viel-leicht glaubte sie, daß Sie mit der Überzeugung aus dem Schuppen kommen würden, dort sei nichts geschehen. Deshalb zeigte sie sich.“

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„Daran habe ich auch schon gedacht“, gab Rawlings zu, „deshalb grolle ich ihr auch nicht so sehr, wie ich es eigentlich tun müßte. Sie hätte natürlich auf eine andere Art und Weise fliehen können, ohne jemand Gelegenheit zu geben, ihre Ge-genwart festzustellen. Ich glaube, daß ich ihr bis zu einem ge-wissen Grade dankbar sein muß. Aber warum, zum Teufel, hat sie mir nicht telephoniert oder irgendeine andere Benachrichti-gung geschickt? Sie hätte mir damit vielmehr sagen können.“

„Jeder“, meinte Grimm lächelnd, „wehrt sich die Flöhe ab, wie er kann. Wenn sie es nicht richtig machte, Hauptmann, dür-fen Sie auch nicht vergessen, daß Sie sich nicht gerade hervor-ragend verhalten haben.“

„Was wollen Sie damit sagen?“ „Sie näherten sich dem Schuppen mit heulender Sirene?“ „Natürlich.“ „Das dachte ich mir. Man hörte die Sirene im Schuppen lan-

ge bevor sie ankamen. So hatten die Leute Zeit, eventuelle Verwundete beiseite zu schaffen, alle Hülsen aufzulesen, die auf dem Boden verstreut sein mochten und die Waffen beiseite zu schaffen. Es war ein Zufall, daß ihnen jene Hülse entging, die der Wächter entdeckte. Ich bezweifle sogar, daß ihnen diese entging. Hat nicht vielleicht die Rote Schlange die Hülse hin-geworfen, damit Sie diesen wichtigen Fund machen sollten?“

„Daran habe ich nicht gedacht. (Und die Rote Schlange auch nicht, wie wir wissen). Aber es kann so sein. Doch wie es auch immer gewesen sein mag. Der Schuppen ist die ganze Nacht über bewacht worden. Man hat aber nichts feststellen können.“

„Es ist nicht das Geringste geschehen?“ „Nicht das Geringste“, antwortete der Hauptmann. „Es war auch nicht zu erwarten, nachdem sich ein Agent dort

befand.“ „Ja, aber ein Agent, dessen Gegenwart niemand kannte. Der,

den ich zuerst dort ließ, wurde nach einer Stunde zurückgezo-

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gen unter dem Vorwand, daß man annahm, es hätte sich um einen schlechten Scherz gehandelt.“

Grimm dachte einen Augenblick nach und fragte dann: „Wie war der Name dieser Holzfirma?“ „Die ‚Dandywill Lumber Company.“ „Die Firma hat einen sehr guten Ruf. Wo befindet sich der

Schuppen? Wollen Sie ihn mir auf dem Plan zeigen?“ Rawlings näherte sich dem Stadtplan, der an der Wand hing. „Hier“, sagte er und zeigte mit dem Finger auf die Stelle. Oliver Grimm schaute den Plan einen Augenblick an. „Ich glaube nicht an Zufälle“, sagte er endlich, „und das sind

schon zu viele.“ „Zufälle?“ rief der Hauptmann erstaunt aus. Der andere nickte mit dem Kopf. „Haben Sie nicht bemerkt“, fragte er, „daß der Schuppen der

Dandywill Lumber Company sich direkt hinter dem Gebäude befindet, in dem die Amalgamated Importers Inc. ihr Warenla-ger hat?“

„Das ist mir nicht aufgefallen, und ich sehe auch keinen Grund dafür.“

„Es ist möglich, daß es nichts zu sagen hat“, antwortete der Inspektor. „Man muß es aber in Betracht ziehen.“

Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: „Vorgestern Nacht erhielt die Polizei die Nachricht, daß je-

mand aus einem dieser Gebäude ins Wasser gestürzt ist. Man fürchtete, daß sich die betreffende Person im Schlamm verfing. Als man den Flußarm absucht, findet man keine Leiche aber ein rotes Seidenkleid.“

„Und?“ „Man durchsucht die angrenzenden Lagerhäuser und findet

nichts. Das Merkwürdigste aber ist, daß auch die Wächter, die sich in den Gebäuden befinden, nichts wissen. Niemand hat etwas gesehen oder das geringste Geräusch gehört. Glauben Sie

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nicht, daß es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden Fällen gibt?“

„Etwas schon, aber …“ „Warten Sie, ich bin noch nicht am Ende. Am folgenden

Morgen findet man die Leiche Sheldon Cranes im Fluß treiben. Er ist der Präsident der Amalgamates Importers Inc., aus derem Lager der Meinung des Schiffers Rogers nach der Körper ins Wasser fiel …“

„Wollen Sie zwischen diesen beiden Tatsachen eine Verbin-dung finden?“ fragte Rawlings.

„Ich will gar nichts finden. Ich beschränke mich darauf, Tat-sachen auseinander zu setzen, die sich in kurzer Reihenfolge er-eignet haben. Wenn wir sie alle durchgegangen sind, wollen wir sie studieren, um zu sehen, ob sie uns nicht etwas mehr sagen.“

„Fahren Sie fort.“ „In der vergangenen Nacht findet eine Schießerei im Schup-

pen der Dandywill statt. Wir wissen das genau, aber der Wäch-ter und die Arbeiter leugnen es. Dann erscheint die Rote Schlange, die scheinbar bei der Schießerei dabei war.“

„Und?“ „Drei Tatsachen“, fuhr Grimm fort, „die scheinbar nichts

miteinander zu tun haben, sich aber in wenigen Stunden folgen. Vielleicht können wir sie miteinander in Verbindung bringen.

Erstens, der Fund der Leiche. Crane war Präsident der Amal-gamates Importers. Das bedeutet an sich schon eine mögliche Vorbedingung. Wenn jemand es für nötig befand, Crane beisei-te zu schaffen, warum soll dann nicht die Möglichkeit bestehen, auch eine andere Person beiseite zu schaffen, die direkt oder indirekt mit der Amalgamated zu tun hatte?“

„Es ist möglich, aber es besteht keine konkrete Verbindung.“ „Fahren wir fort. Der Vorfall von gestern nacht. Der Schup-

pen der Dandywill grenzt mit der Rückseite an das Lagerhaus der Amalgamated.“

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„Das beweist nichts.“ „Es zeigt aber wenigstens, ob nun die Vorfälle miteinander

m Verbindung stehen oder nicht, daß alle Ereignisse in der Amalgamated oder in ihrer Nachbarschaft im Zusammenhang mit einer Person stehen, die mit der Firma zu tun hat.“

„Das läßt sich nicht leugnen, aber es genügt nicht, um eine Verbindung herzustellen.“

„Es genügt aber wenigstens, um diese Ereignisse gründlichst zu untersuchen. Und ich habe noch nicht alles gesagt.“

„Was fehlt noch?“ „Die Rote Schlange befand sich in der Nacht anscheinend im

Dandywill-Schuppen.“ „Und?“ „In der vorangegangenen Nacht wurde ein rotes Kleid im

Wasserarm gefunden.“ „Wollen Sie damit sagen, daß die Rote Schlange in der vo-

rangegangenen Nacht von dem Gebäude ins Wasser stürzte?“ „Warum nicht? Haben Sie sich das Kleid gut angesehen, daß

die Rote Schlange zu tragen pflegt?“ „Ja.“ „Haben Sie auch das andere Kleid genau betrachtet, das im

Flusse gefunden wurde?“ „Ja, da Sie es jetzt sagen, glaube ich auch, daß die beiden

Kleider gleich zu sein scheinen. Ich werde es bringen lassen, um es mir noch einmal genau anzusehen. Gestern Nacht hatte ich Gelegenheit, das Kleid dieser Frau genau zu betrachten.“

„Sie werden finden, daß sie beide gleich sind.“ „Es kann sich aber in der vorgestrigen Nacht nicht um die

Rote Schlange gehandelt haben.“ „Warum nicht? Man fand keine Leiche. Sie kann es sehr gut

gewesen sein.“ „Der Fall …“ „Sie fiel mitten in den Kanal. Wenn sie beim Sturz nicht die

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Besinnung verloren hat oder nicht bewußtlos herabgestürzt wä-re, dann gibt es keinen Grund, warum sie sich nicht ohne den geringsten blauen Fleck hätte retten können. Die Tatsache des Auffindens des roten Kleides beweist, daß sie bei Bewußtsein war. Wahrscheinlich wird es sich ihr um den Kopf gewickelt ha-ben, so daß sie es zerreißen mußte, um sich davon zu befreien.“

„Das ist auch eine Möglichkeit“, erkannte der Hauptmann an. „Sie stürzte vom Gebäude der Amalgamated ab.“ „Das konnte man nicht feststellen.“ „Haben Ihre Leute das Lagerhaus Stockwerk für Stockwerk

durchsucht.“ „Ja, ich selbst bin mit dabei gewesen.“ „Haben Sie zu den Fenstern hinausgeschaut?“ „Ja, natürlich.“ „Und dabei nichts Außergewöhnliches entdeckt?“ „Nein.“ „Dann werden Sie das nächste Mal besser die Augen aufma-

chen müssen, Hauptmann.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Obgleich der Fall nichts mit mir zu tun hat, interessierte er

mich doch so, daß ich einen Spaziergang nach dem Kai der Firma Corinth machte.“

„Und entdeckten Sie etwas?“ fragte der Hauptmann interes-siert.

„Ich sah, daß ein paar Leute der Telephongesellschaft ein Kabel in Ordnung brachten.“

„Und das ist eine Entdeckung?“ „Eine sehr wichtige. Das Kabel hatte sich scheinbar von den

Isolatoren gelöst, die sich am obersten Stockwerk der Amalga-mated befanden.“

In den Augen des Hauptmanns blitzte es auf. „Und?“ fragte er. „Ich sprach mit einem der Angestellten der Telephon-

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Companie. Ich drückte mein Erstaunen darüber aus, daß sich das Kabel von allein gelöst haben sollte. Wissen Sie, was mir der Angestellte antwortete?“

„Was denn?“ „Daß er das noch weniger verstände. Wie er mir sagte, war

das Kabel um einen Glasisolator geschlungen, ehe es ins Ge-bäude lief. Jeder Isolator wird vor seinem Einbauen auf Festig-keit geprüft. Sie sind viel zu stark, als daß sie so ohne weiteres zerbrechen könnten.“

„War denn der Isolator zerbrochen?“ „Er war vollkommen zersplittert, was nach Meinung des An-

gestellten nur durch kräftige Schläge geschehen sein kann.“ Der Hauptmann ließ einen erstaunten Pfiff hören. „Das ist sehr interessant“, sagte er. „Sehr interessant, und was folgt, noch mehr. Der Beamte

versicherte mir, daß sich das Kabel trotz der Zerstörung des Iso-lators nicht hätte lösen können, da es normalerweise von dem Eisen gehalten worden wäre, auf dem der Isolator angebracht ist. Das Kabel aber hatte sich nicht nur gelöst, sondern war gerissen, als hätte es ein großes Gewicht tragen müssen. Merken Sie, was das bedeutet? Welche Folgerungen ziehen Sie daraus?“

„Ich vermute dieselben wie Sie. Jemand, der sich ins Gebäu-de geschlichen hatte (nehmen wir an, daß es eine Frau war), wurde entdeckt und verfolgt. Sie gelangte bis ins oberste Stockwerk, und da sie keinen anderen Ausweg sah, zog sie sich am Telephonkabel entlang dem anderen Gebäude zu. Man über-raschte sie und zerschlug die Isolatoren. Ihr Gewicht zerriß es, und sie stürzte ins Wasser. Das folgerten Sie, nicht wahr?“

„Sehr richtig. Trotzdem aber versicherte der Wächter der Po-lizei später, daß niemand im Gebäude gewesen wäre und sich nichts ereignet hätte … genau wie in der vergangenen Nacht im Schuppen.“

„Sie haben recht“, nickte der Hauptmann.

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„Wenn es die Rote Schlange war. und es gibt genug Gründe diese Möglichkeit anzunehmen, dann hat sie sich gerettet. In der vergangenen Nacht erschien sie dann im Schuppen der Dandywill, der hinter der Amalgamated liegt, und ihre Gegen-wart wird wahrscheinlich die Schießerei ausgelöst haben. Klingt das logisch?“

„Ganz logisch. So logisch, daß man die Beobachtung weiter ausdehnen muß und …“

„Wir werden einen sehr bewegten Tag haben, Rawlings“, un-terbrach ihn der Inspektor. „Es gibt eine Menge zu tun, und wir wissen nicht, wieviel Zeit wir zur Verfügung haben. Überlegen wir ein bißchen. Wir müssen sehr vorsichtig zu Werke gehen. Der kleinste Fehler könnte alles über den Haufen werfen. Das Beste wird sein, daß ich Ihnen einen Plan skizzieren werde.“

Er sprach ein paar Minuten, und Rawlings hörte ihm schwei-gend zu. Ab und zu nickte er bejahend mit dem Kopfe.

„Ich glaube“, sagte der Hauptmann schließlich, „daß Ihr Plan ausgezeichnet ist. Wenn Sie gestatten, werde ich jetzt die ent-sprechenden Befehle geben, um die Untersuchung, die Sie vor-schlagen, durchzuführen. Bis nachher, Inspektor.“

Er stand auf. Grimm begleitete ihn bis zur Tür. „Wir werden uns später auf dem Präsidium sehen, oder ich

werde Sie anrufen“, sagte er.

* * *

Elftes Kapitel

DER SCHLÜSSEL DES GEHEIMNISSES

Mavis durchquerte die Halle in dem Augenblick, als Jennings die Tür öffnete und war daher die erste, die den Besuch begrüßte.

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„Halloh, Oliver! An dich habe ich jetzt am wenigsten ge-dacht! Wie bist du denn auf den Gedanken gekommen uns zu besuchen, nachdem du so lange nichts von dir hören ließest?“

„Das sind so meine Eigenheiten“, sagte der Inspektor und reichte dem Mayordomo seinen Hut. „Aber ich würde euch sehr gern öfters besuchen kommen, wenn ich nicht so viel zu tun hätte. Ist Milton zu Hause?“

„Wenn er fortgegangen ist, dann hat er es getan, ohne mir etwas davon zu sagen. Da er es aber nicht zu tun pflegt, so wird er wohl irgendwo stecken. Wir wollen einmal in der Bibliothek nachsehen, das ist sein Lieblingsplatz.“

Milton befand sich nicht in der Bibliothek. „Setz’ dich hin und warte“, sagte Mavis. „Ich will sehen, ob

ich ihn finde. Er kann nicht weit sein.“ Oliver Grimm ließ sich in einen Sessel fallen, um zu warten.

Milton erschien einige Minuten später, von Mavis und dem Mayordomo gefolgt. Dieser trug ein Tablett mit Gläsern, einer Flasche Whisky und einer Flasche Chartreuse. Während sich die beiden Männer begrüßten, nahm Mavis dem Mayordomo das Tablett ab und sagte ihm, daß er sich zurückziehen könnte. Dann schenkte sie jedem einen Whisky und sich selbst ein Glas Chartreuse ein.

„Setzt euch“, sagte sie und stellte eine Kiste mit Havanna-Zigarren auf den Tisch. „Und rauche, wenn du willst, Oliver.“

Der Inspektor wählte sorgfältig eine Zigarre aus und sah die junge Frau nachdenklich an, die sich in seine Nähe gesetzt hat-te.

„An dem Tage, an welchem Rawlings seine Hand auf deine Freundin legen wird“, sagte er und sah plötzlich den Multimil-lionär scharf an, „hat er versprochen, ihr den Hals umzudre-hen.“

„Wie gewöhnlich!“ rief Mavis lachend aus. „Hältst du ihn dazu fähig?“

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„Wenn die schlechte Laune, in der er sich zur Zeit befindet, anhält, dann glaube ich schon, daß er seine Drohung wahr-macht.“

„Worauf beziehst du dich denn?“ fragte Milton. „Stell dich nicht dümmer, als du in Wirklichkeit bist,“ sagte

Grimm kurz. „Ich beziehe mich auf die Rote Schlange, und du weißt es. Mavis hat mich vollkommen verstanden.“

„Ich beanspruche nicht, dieselbe Intelligenz zu besitzen wie sie“, antwortete der Multimillionär lächelnd.

Mavis verneigte sich leicht vor ihrem Gatten. „Danke“, murmelte sie, „es ist zum ersten Male, daß ich Mil-

ton die höhere Intelligenz seiner Frau anerkennen höre, und das schmeichelt mir wirklich.“

„Es könnte schmeichelhaft sein, wenn er es nicht mit diesem Lächeln gesagt hätte.“

„Du bist heute sehr angriffslustig, Oliver“, sagte der Multi-millionär, ohne das Lächeln zu lassen. „Ist das ein offizieller Besuch oder ein privater?“

„Teils – teils. Deshalb möchte ich eine Frage an dich rich-ten.“

„Wenn ich sie dir beantworten kann, dann werde ich es gern tun.“

„Es wird dir keine große Mühe kosten, aber ich weiß nicht, ob du mir mit derselben Offenheit antworten wirst, wie ich dich trage. Hast du irgendeine Verbindung mit der Roten Schlange?“

Mavis sah Milton interessiert an. Dieser zuckte nicht mit der Wimper.

„Verbindung? Wie soll ich denn mit ihr Verbindung haben, wenn ich nicht einmal weiß, wer sie ist?“

„Immer noch nicht?“ „Immer noch nicht.“ Grimm sah ihn aufmerksam an. „Und trotzdem“, erklärte er dann, „ist sie immer zur Stelle,

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wenn du dich in einer schwierigen Lage befindest. Wie erklärst du das?“

„Ich kann es mir nicht erklären, aber ich freue mich darüber.“ „Wie erfährt sie, wenn du irgendwelche Schwierigkeiten

hast?“ „Das weiß ich eben nicht.“ „Es sieht nach einer Verbindung aus, das wirst du nicht leug-

nen können.“ „Ihrerseits vielleicht, meinerseits nicht. Es ist möglich, daß

sie mich oft genug ohne Maske sieht, um über alles orientiert zu sein. Aber ich habe keine Möglichkeit, mich mit ihr in Verbin-dung zu setzen.“

„Das ist schade“, murmelte Grimm. „In diesem Augenblick würde ich eine Menge darum geben, mit ihr sprechen zu kön-nen.“

Es klopfte an die Tür, Milton hob den Kopf und sagte: „Herein!“ Es war Jennings. „Frau Randall fragt nach der gnädigen Frau“, meldete er. „Ich habe ihr gesagt, daß die gnädige Frau Besuch hat, aber

sie hat darauf bestanden zu warten. Ich habe sie in den kleinen Salon geführt …“

„Danke, Jennings. Sagen Sie ihr, daß ich sofort kommen werde.“

Der Mayordomo zog sich zurück. Mavis trank das Glas Chartreuse aus und zog sich zurück.

„Es tut mir leid, euch allein lassen zu müssen“, sagte sie. „Aber je eher ich diese Dame empfange, desto eher wird sie

gehen. Sie ist sehr hartnäckig und wird nicht fortgehen, bevor sie mich gesehen hat. Bis bald. Ihr werdet mich dann schon über euer Gespräch unterrichten. Alles was sich auf die Rote Schlange bezieht interessiert mich. Vielleicht ist es besser, wenn ich euch allein lasse. Falls Milton irgendein Mittel kennt,

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sich mit ihr in Verbindung zu setzen, ist es möglich, daß er es in meiner Gegenwart nicht sagt.“

„Warum nicht?“ fragte der junge Mann überrascht. „Um mich nicht eifersüchtig zu machen.“ Sie beugte sich zu ihm herab und gab ihm einen Kuß. „Du

kannst mich aber nicht eifersüchtig machen, auch wenn du es wolltest“, fuhr sie fort. „Ich habe dich fest. Bis bald, mein Lie-ber. Bis bald, Oliver.“

Lächelnd verließ sie die Bibliothek. „Ich sagte“, bemerkte der Inspektor, nachdem die junge Frau

gegangen war, „daß ich viel darum geben würde, wenn ich in diesem Augenblick mit ihr sprechen könnte. Ich will deutlicher sein. Ich will dir zeigen, daß mein Wunsch, mit ihr zu sprechen, keiner schlechten Absicht entspringt.“

„Ich sage dir …“ begann Milton. Der andere unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Lass’ mich zu Ende sprechen. Ich bin auf der Spur einer

dicken Sache, aber ich weiß trotzdem nicht, worum es sich han-delt. Ich weiß nur, daß irgend etwas geschieht und die Rote Schlange mehr davon weiß als ich. Wenn ich mit ihr sprechen und sie offen zu mir sein wollte, könnten wir uns eine Menge Arbeit sparen. Es würde mehr als einer Person das Leben retten. Deshalb frage ich dich im Ernst: Kannst du dich mit ihr in Ver-bindung setzen? Kannst du ihr das sagen, was ich dir eben sag-te? Ich will sie nicht persönlich sehen. Es genügt, daß sie mir schreibt oder mich anruft. Aber unverzüglich. Wir wissen nicht, was in den nächsten Minuten passieren kann.“

„Deine Bitte erstaunt mich, Oliver. Seit wann bittet denn die Bundespolizei eine Person um Hilfe, die sie nach allen Regeln der Kunst verfolgt?“

„Ich bitte persönlich darum, ich, Oliver, nicht der Polizeiin-spektor Grimm. Ich verfolge die Rote Schlange, weil es meine Pflicht ist. Aber wenn ich mich recht erinnere, sagte ich dir

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schon einmal, daß mir diese Frau trotz allem eine Bewunderung abnötigt, die ich besser nicht für sie fühlen sollte. Willst du mir antworten oder nicht?“

„Höre zu, Oliver. Du bist offen zu mir gewesen und ich will dir mit gleicher Münze zurückzahlen. Leider kann ich dir bei dieser Sache nicht helfen. Ich weiß nicht, wo ich die Rote Schlange finden kann. Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich ihre Persönlichkeit nicht kenne. Aber trotzdem gibt es jeman-den, der dir helfen kann.“

„Wer denn?“ „Sonia Larding.“ Oliver schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich bin ein Idiot!“ rief er aus. „Du hast recht! Und ich habe

nicht daran gedacht!“ Er stand auf. „Entschuldige mich, mein Junge, und grüße Mavis. Ich wer-

de letzt sehen, ob ich Sonia antreffe.“ Er ging zur Tür und öffnete sie. In diesem Augenblick näher-

te sich Jennings. „Der Herr wird am Telephon verlangt“, meldete er. „Ich habe

mit der Bibliothek verbunden.“ „Ich?“ fragte der Inspektor erstaunt. „Ja, Herr Inspektor.“ „Wer ist es denn?“ „Er hat seinen Namen nicht gesagt, aber es schien mir eine

Frauenstimme.“ „Danke, Jennings.“ Er kehrte in die Bibliothek zurück und schloß die Tür hinter

sich. „Wer, zum Teufel“, murmelte er, „kann mich hier anrufen?

So viel ich weiß, ist es nur Hauptmann Rawlings und meinem Kammerdiener bewußt, daß ich mich hier befinde. Aber eine Frau …“

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Er trat an den Apparat und nahm den Hörer ab. „Wer ist dort?“ fragte er. Maßloses Erstaunen spiegelte sich in seinem Gesicht. „Wie haben Sie gesagt?“ fragte er ungläubig. „Sind Sie Ge-

dankenleserin? … Ich höre … ja … ja … gut … sprechen Sie … Der Schlüssel? … Fünf Buchstaben? … Aber Fräulein, las-sen Sie mich keine Zeit verlieren!“ fügte er ungeduldig hinzu. „Wenn Sie mich angerufen haben, damit ich ein Kreuzworträt-sel lösen soll … Eh? … Seide!“

Er sah ganz perplex aus, aber plötzlich erhellte sich sein Ge-sicht.

„SEIDE!“ rief er aus und schlug mit der Faust auf einen na-hen Tisch, daß alle Sachen darauf tanzten. „SEIDE! Ich war ja ein richtiger Dummkopf! Sprechen Sie!“

Er hörte eine Zeitlang interessiert zu. „Danke!“ sagte er endlich, „besten Dank, Fräulein. Sind Sie

dessen ganz sicher? Gut! Werden wir uns dort sehen? Ja, Sie haben recht … vielleicht ist es besser so. Hören Sie, Fräulein … Warten Sie einen Augenblick …“

Er schüttelte heftig die Gabel des Apparates, zuckte dann mit den Schultern und legte den Hörer auf. Die Verbindung war unterbrochen worden.

Er hob den Kopf und heftete seinen Blick auf Milton, der ihn neugierig ansah.

„Der Besuch, den ich Sonia machen wollte, erübrigt sich jetzt“, sagte er.

Er ließ sich erneut in den Sessel fallen und schenkte sich noch einen Whisky ein.

„Die Rote Schlange?“ fragte der Multimillionär. „Ja. Wie zum Teufel mag sie herausbekommen haben, daß

ich mich hier befinde?“ „Vielleicht hat sie deine Wohnung angerufen, und der Kam-

merdiener hat ihr gesagt, daß du hier bist.“

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„Das ist möglich.“ „Hast du erfahren, was du wissen wolltest?“ „Mehr als das. Die Rote Schlange hat mich gut informiert

und mir auch ihre Theorie mitgeteilt.“ „Und trotzdem verfolgst du sie“, sagte Mavis, die in diesem

Augenblick in die Bibliothek trat. „Ach, es hat mich wirklich Mühe gekostet, diese Frau loszuwerden. Und weißt du, warum sie mich sehen wollte. Milton?“

„Wenn es sich um Frau Randall handelt, kann ich es mir denken. Es wird sich um irgendeine Wohltätigkeitssache han-deln …“

„Sehr richtig, und zwar handelte es sich um eine, für die ich gestern schon eine hübsche Summe spendete. Aber sie hat ge-sagt, daß sie nicht fortgehen würde, ohne daß ich noch etwas zeichne. Da blieb mir nichts anderes übrig. Gehst du, Oliver?“

Der Inspektor war aufgestanden. „Ich habe das erreicht, was ich mir vorgenommen hatte“,

antwortete Grimm, „und jetzt darf ich keine Zeit vertrödeln.“ „Du Gauner!“ rief Mavis lächelnd aus und sah ihren Mann

an. „Ich hatte also recht, daß du meiner Gegenwart wegen nicht zugabst, mit dieser Frau in Verbindung zu stehen!“

„Milton“, erklärte Grimm, „hat damit nicht das Geringste zu tun gehabt. Er hat jede Verbindung mit ihr weiter geleugnet. Die Rote Schlange selbst hat angerufen und nach mir gefragt.“

„Und du wirst ihre Hilfe damit danken, daß du ihr Hand-schellen anlegst, wenn sich dir eine Gelegenheit dazu bietet.“

„Das, liebe Mavis, sind Probleme und Dilemmas meines Be-rufes. Bis nächstens. Ich will versuchen, euch jetzt öfters zu besuchen.“

„Ist das eine Drohung oder ein Beweis von Hochachtung?“ fragte Milton lachend.

Oliver Grimm schaute seinen Freund von der Seite an. „Wenn ich das zum Beispiel zum … Kapuzenmann gesagt

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hätte“, meinte er, „dann wäre es eine Drohung gewesen. Da ich es aber zu dir … zu euch sage … ist es ein Beweis meiner Zu-neigung.“

Er drehte sich um und verließ die Bibliothek. Mavis sah ihn mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck

gehen. „Was hat er damit sagen wollen, Milton?“ fragte sie sich

plötzlich umwendend. „Ich muß zugeben, daß ich nicht intelligent genug bin, um

den Schleier zu durchdringen, in den Oliver seine Worte wic-kelt, und ich habe auch nicht die Absicht, seinen verschlunge-nen Gedankengängen zu folgen.“

Und da er fürchtete, daß seine Frau ihm weitere Fragen stel-len könnte, begab er sich an die Tür und sagte:

„Ich glaube, ich muß mich zum Essen umziehen. Bis bald, meine Liebe.“

Er stieg schnell die Treppe hinauf. Wenn Oliver fortfuhr, weitere Anspielungen zu machen, würde er bald den Verdacht von Mavis erregen. Und wenn das geschah, dann war es mit seiner Handlungsfreiheit vorbei.

Er schloß die Tür hinter sich und schob den Riegel vor, um vor Überraschungen sicher zu sein. Dann öffnete er den Schrank. Wenn die Rote Schlange sich mit dem Inspektor in Verbindung gesetzt hatte, so bedeutete es, daß jenes Abenteuer, an dem er, ohne es zu begreifen, in der vergangenen Nacht teil-genommen hatte, seinem Ende zuging. Es war deshalb sehr leicht möglich, daß sie ihm irgendeine Botschaft geschickt hat-te, die ihn veranlassen sollte, im letzten Augenblick mitzuarbei-ten.

Eine der Spulen war abgelaufen. Milton schnitt das Band ab und steckte es in den Wiedergabeapparat.

„Erwarte Punkt ein Uhr meinen Anruf hier“, sagte die Stim-me der geheimnisvollen Frau. „Wenn du diese Nachricht nicht

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zur Zeit erhalten solltest, dann warte um vier Uhr am Sendege-rät.“

Milton schaute nach der Uhr. Es fehlten noch fünf Minuten bis zur angegebenen Zeit. Er blieb neben dem Apparat stehen.

Langsam vergingen die Minuten. Vier Minuten vor eins, drei Minuten vor eins, zwei Minuten, eine Minute … Das rote Licht leuchtete auf. Mit zitternder Hand legte er sich die Kopfhörer um:

„Kapuzenmann?“ fragte eine Stimme. Er fühlte eine große Sehnsucht, wie es ihm immer ging,

wenn er die Stimme der Roten Schlange hörte. „Ich bin hier, Rote Schlange … ich bin hier …“ murmelte er. Und die Stimme der Frau begann zu sprechen.

* * *

Zehntes Kapitel

EIN MEISTERSPRUNG

In dem Erdgeschoß des Lagerhauses der Amalgamates Impor-ters Inc. herrschte große Bewegung. Alle Lampen waren ange-zündet, aber man hatte sämtliche Fenster mit dichten Tüchern so verhängt, daß nicht ein einziger Lichtstrahl nach draußen fiel.

In der Mitte des Raumes, den Hut tief über die Augen gezo-gen, stand Ray Mews und trieb die Leute, die Bündel und Ballen nach den draußen wartenden Lastwagen brachten, zur Eile an.

Jemand näherte sich ihm vom hinteren Teil der Halle. „Und?“ fragte ihn Mews. „Sie haben recht, Chef“, sagte der Mann. „Das Zurückziehen

des Polizisten war nur eine List. Es hielt sich noch ein anderer versteckt, dessen Ankunft wir nicht bemerkt haben.“

„Hast du dich seiner versichert?“

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„Er erlitt einen ‚Unfall’, Chef“, antwortete der Mann mit ei-nem unheimlichen Lächeln. „Er wird uns nicht mehr stören … jetzt und nie mehr.“

„Und wo ist die Leiche?“ „Draußen.“ „Leicht zu finden?“ „Es wird Mühe kosten.“ Einer der Lastwagen setzte seinen Motor in Gang. Mews

sagte zu denen, die mit ihm fortfahren sollten: „Die Barkassen sind schon eine Zeitlang fort. Sie werden

bald wieder hier sein. Macht schnell. Ihr müßt ehestens wieder zurück sein. Heute abend darf nichts mehr hier bleiben.“

„Jawohl, Chef.“ Die Männer fuhren ab. Die restlichen Bündel wurden auf den

zweiten Lastwagen geladen, der gleichfalls sofort abfuhr, nach-dem Mews der Besatzung dasselbe gesagt hatte wie den anderen.

Mews blieb mit drei von seinen Leuten im Lager zurück. Eine Zeitlang herrschte tiefes Schweigen. Mit sichtlicher Unru-

he ging der Chef hin und her. Immer wieder sah er nach der Uhr. „Es wäre besser gewesen, Chef, das Abladen zu verschieben“,

meinte einer der Männer. „Wenn die Polizei im Geheimen den Schuppen beobachtete, dann hat sie irgendeinen Verdacht ge-schöpft. Nach dem, was in den vergangenen Nächten geschah …“

Mews stieß einen Fluch aus. „Wenn dieser Idiot von Kapitän eine Radiostation an Bord

eingerichtet hätte, wie ich ihm anriet, dann brauchten wir nicht eine derartige Gefahr zu laufen!“

„Man hätte ihn am Strand benachrichtigen können“, meinte einer der Männer.

„Damit hätte man gerade etwas erreicht! Glaubt ihr, er wäre damit einverstanden gewesen, an seinen Ausgangspunkt zu-rückzukehren? Ihr kennt ihn nicht! Er wäre fähig gewesen, die Ladung ins Meer zu werfen.“

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„Aber vielleicht hätten wir auch damit gewonnen“, meinte ein anderer. „Wenn etwas geschehen würde …“

„Was zum Teufel soll denn geschehen? Seid ihr schon einge-schüchtert? Nur ein Agent hat den Schuppen beobachtet, und wir haben ihn rechtzeitig entdeckt. Bis morgen früh wird man ihn nicht vermissen. Wir können die Entladung und Umladung ohne Gefahr vornehmen. Das beunruhigt mich nicht.“

„Ist irgend etwas anderes los?“ fragte einer der Männer ängstlich.

„Der Schuppen der Dandywill hat seinen eigentlichen Zweck verloren. Scheint euch das wenig? Ab heute nacht können wir ihn nicht mehr benutzen. Sobald die Leiche des Agenten gefun-den wird, wird die Polizei in der ganzen Nachbarschaft nicht einen Stein auf dem anderen lassen.

Sie werden eine ganze Zeitlang alles genau beobachten, so daß wir keine Ausladungen mehr vornehmen können.“

„Besteht nicht die Gefahr, daß man die Verbindungstür ent-deckt, wenn eine genaue Durchsuchung abgehalten wird?“

„Natürlich, aber das will ich auf jeden Fall vermeiden. Wir verlieren viel, wenn wir den Schuppen nicht mehr benutzen können. Nur schwer werden wir einen anderen gleich günstigen Ort finden. Aber wir können viel mehr verlieren, wenn man erfährt, daß es eine Verbindung mit diesem Lager gibt. Dann können wir das Geschäft aufgeben … und für immer.“

„Wie können wir das vermeiden?“ „Das müßt ihr machen. Ihr findet Ziegel und Mörtel neben

der Tür. Sobald alles hier drinnen ist, müßt ihr die Verbin-dungstür zumauern.“

Plötzlich horchte er. „Mir scheint“, sagte er, „daß ein Lastwagen zurückkommt.

Er ist schneller gefahren, als ich annahm. Wenn die Barkassen jetzt kämen …“

Der erste Lastwagen war tatsächlich zurückgekehrt. Der

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zweite kam wenige Minuten später. Die Besatzungen beider betraten das Lager. Ray Mews gab ihnen die gleichen Anwei-sungen, die er ihnen heute nacht schon einmal gegeben hatte.

„Die Bündel“, sagte er, „müssen ohne Verzögerung hier her-eingeschafft werden. Ihr müßt sie dann weiter sofort auf die Lastwagen laden. Es ist zu gefährlich, sie hier zu lassen.“

Über dem Lastaufzug flammte ein rotes Licht auf. „Das Signal!“ rief er aus. „Die Barkassen nähern sich dem

Kai. Vorwärts, ihr müßt bereit sein, wenn sie anlegen.“ Die Leute ließen sich den Befehl nicht wiederholen. Sie be-

gaben sich nach dem Hintergrunde des Lagers, wo sich die Tür befand, die zum Schuppen der Dandywill führte.

„Bereitet die Ziegel vor“, sagte der Chef zu den Leuten, die bei ihm geblieben waren. „Ich will nicht einen Augenblick län-ger als notwendig hier bleiben. Bevor ich weggehe, muß alles in Ordnung sein. Der Mörtel liegt hinter dem Aufzug.“

Die drei Männer gingen fort, aber sie kamen nicht an ihr Ziel. Durch die halb geöffnete Tür des Schuppens hatten sie das Echo eines Schusses vernommen. Erschreckt blieben sie stehen und griffen instinktiv nach ihren Pistolen. Eine Salve ertönte.

Mit ein paar Sprüngen stand Ray Mews neben den dreien. Ein Mann kam wie ein Wilder in das Lager hinein-gelaufen. „Die Polizei!“ schrie er. „Der ganze Kai ist voll. Auf den

Bretterstapeln liegen Agenten! Ich glaube nicht, daß jemand entkommen wird!“

„Idiot!“ rief Mews wütend aus. „Warum hast du nicht die Verbindungstür geschlossen? Willst du, daß sie uns hier auf den Hals kommen?“

Er wartete keine Antwort ab, stürzte schnell hin, warf die Tür zu und schob den Riegel vor.

„Mathews hat uns verraten!“ rief einer der Leute. „Der ganze Kai kann nicht voller Polizisten sein, ohne daß er es merkte.“

„Und Maudy hat uns gleichfalls verraten!“ rief ein anderer.

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„Wenn er einen verborgenen Polizisten entdeckte, warum ent-deckte er nicht die anderen? Er sagte, er hätte alles durchsucht.“

„Auf die Lastwagen!“ befahl Mews. „Den Verrätern werden wir die Rechnung später präsentieren!“

Er lief auf das Tor zu und die anderen folgten ihm. Auf dem nahen Kai ertönten weitere Schüsse.

Eine Stimme, die von oben kam, ließ sie wie erstarrt anhalten. „Keine Bewegung! Wer noch einen Schritt tut, dem nagele

ich die Füße an den Boden!“ Mews sah nach oben. Auf dem ersten Treppenabsatz, eine

Pistole in jeder Hand, stand eine Frau, eine schwarz-gekleidete Frau mit einem weißen Umhang über den Schultern und eine Art Stoffhelm, der den oberen Teil ihres Gesichtes bedeckte.

„Die Schwarze Maske!“ rief der Vizepräsident der Amalga-mates erstaunt und wütend aus.

Schnell hob er den rechten Arm, schoß, und warf sich dann zur Seite. Die Bewegung ließ ihn fehlen, aber auch er entging dem Schuß der Frau.

Er stieß einen Triumphschrei aus. Durch den Sprung hatte er das erreicht, was die Schwarze Maske nicht vorhergesehen hat-te. Er war an die Wand gelangt, an der sich die elektrischen Schalter befanden. Ehe die Frau noch seine Absicht erraten hat-te, lag das ganze Lager in tiefem Dunkel.

Zwei Feuerscheine blitzten vom Treppenabsatz her auf. Die Schwarze Maske schoß nach der Tür, um den fünf Männern den Rückzug abzuschneiden. Die Leute erwiderten das Feuer. Der Vorteil war jetzt auf der Seite der letzteren. Wenn sie fächer-förmig ausschwärmten, konnten sie von verschiedenen Rich-tungen auf ihr Mündungsfeuer schießen, und wenn sie sich nicht zurückzog, würde sie von einer Kugel getroffen werden.

Aber dieser Vorteil dauerte nicht lange. Ein Lichtkegel brach plötzlich hinter einem der Ballen hervor. Eine sanfte, aber dro-hende, gleichfalls weibliche Stimme sagte:

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„Keine Bewegung!“ Sie unterstrich ihre Worte durch einen Schuß, der einem der

Männer seine Pistole aus der Hand riß. „Will noch jemand meine Treffsicherheit auf die Probe stel-

len?“ fragte sie dann. Ein Schuß aus dem Dunkel vom Treppenabsatz her riß einem

zweiten Manne die Waffe aus der Hand, der gerade auf den Lichtkegel schießen wollte.

„Bleibt zusammen. Wer aus dem Lichtschein springen will, den schieße ich mitleidslos nieder!“

Einige Minuten lang bewegte sich niemand. Die Schießerei drüben im Schuppen ging weiter.

Eine Stimme auf der Straße ertönte. „Macht zuerst Licht! Die können uns nicht entkommen!“ Mews schaute sich um wie ein gestelltes, wildes Tier. Er

hielt die Pistole in der Hand, wagte aber nicht, sie zu erheben. „Wir glaubten schon“, sagte die Stimme der Schwarzen

Maske, „Sie würden nie kommen, Inspektor Grimm.“ Und bevor man ihr antworten konnte, fuhr sie fort: „Wer du auch immer seist, lösch die Lampe aus und ziehe

dich auf die Treppe zurück.“ „Die Schwarze Maske!“ rief der Inspektor. „Laßt sie nicht

entkommen!“ „So bezahlt man den Teufel, der einem dient!“ rief die

Schwarze Maske lachend. „Aber Sie werden mich nicht be-kommen, Inspektor!“

Die Lampe verlosch, und die Rote Schlange, die sie gehalten hatte, lief im Dunkel auf die Treppe zu. Die Polizei hatte die Schalter noch nicht gefunden. Ein Polizist entzündete eine Ta-schenlampe, die sofort, nachdem sie aufgeleuchtet war, in sei-ner Hand zersprang.

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Mews und seine Leute versuchten gleichfalls, nach der Trep-pe hin zu entkommen, aber ein paar Schüsse der Schwarzen Maske ließen sie zurückweichen.

Endlich flammten die Birnen auf. Mews und seine Leute, die keinen Ausweg mehr sahen, ergaben sich. Die Rote Schlange und die Schwarze Maske waren verschwunden, aber man hörte eilige Schritte auf der Treppe.

Oliver Grimm nahm mit der Pistole in der Hand die Verfol-gung auf, während seine anderen Leute die Gefangenen be-wachten. Er stürzte dem Geräusch der Schritte nach, ohne etwas von den Flüchtigen zu gewahren. So gelangte er in das oberste Stockwerk. Er hörte gerade noch, wie die Tür zufiel, die aufs Dach führte.

Er fand die Leiter, stieg hinauf und hob die Tür auf. Jetzt be-fand er sich auf dem Dach.

Eine schwarze Gestalt lief auf der Rampe entlang. Die Rote Schlange sah man nirgends.

Grimm hob die Pistole. „Halt!“ befahl er. Die Schwarze Maske hörte nicht darauf. Er schoß in die Luft, um sie zu warnen. Oliver Grimm stieß einen Schrei aus, in den die beiden

Agenten einfielen, die ihm nachgeeilt waren, falls er sie brau-chen sollte.

Die Schwarze Maske wandte den Kopf und sah sich nach ih-ren Verfolgern um. Als diese sie schon fast erreicht hatten, rief sie lachend:

„Wer es wagt, soll mir folgen!“ Der Mantel fiel von ihren Schultern. Einen Augenblick stand

die Frau bewegungslos wie eine Statue aus Ebenholz gegen den grauen Nachthimmel. Dann schnellte sie sich in die Luft.

Vor den erstaunten Augen der Agenten vollführte sie einen Kopfsprung in das Wasser des Binnenhafens.

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„Was für eine Frau!“ rief einer, ohne seine Bewunderung verbergen zu können.

„Was für einen Sprung!“ rief der andere aus. „Großartig!“ meinte Grimm, „aber ich glaube nicht, daß sie

ihn überstehen wird!“ Eine hohe Wassersäule spritzte unten auf, als der Körper der

Schwarzen Maske untertauchte. Die Nacht war aber nicht hell genug, um sehen zu können, was unten vor sich ging. Doch gleich darauf tönte das Hämmern eines Motorbootes herauf …

„Ich glaube, wir haben hier oben nichts mehr zu tun“, sagte Grimm und nahm den Mantel auf. Dann ging er der Tür zu.

* *

*

Milton Drake war den Anweisungen der Roten Schlange ge-folgt und hatte sich mit seinem Wagen in der Nähe der Amal-gamates versteckt. Als die Lastwagen losfuhren, folgte er ihnen. Er wollte nur wissen, wo sie abgeladen würden und kehrte dann mit ihnen an ihren Ausgangspunkt zurück.

Gleich darauf hörte er auf dem Kai des Holzschuppens Schüsse und später auch die Schüsse im Lager der Amalgama-tes. Er hätte gern an der Schießerei teilgenommen, aber die Anweisungen der Roten Schlange waren strikt gewesen: Er sollte sich nicht von der Stelle bewegen, bis sie käme, was auch immer geschehen möge.

Plötzlich hörte er eine sanfte Stimme an seinem Ohr: „Vorwärts, Milton!“ Erschreckt drehte er sich um. Er hatte niemanden sich nä-

hern hören. Die Stimme aber war unverkennbar. In seinem Wa-gen saß eine zusammengekauerte Gestalt.

„Ich bin kein Geist, Kapuzenmann. Vorwärts! Jedes Verwei-len vergrößert die Gefahr!“

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Mechanisch ließ er den Wagen anspringen und fuhr los. Nach einer Weile sagte die Rote Schlange:

„Halte einen Augenblick!“ Er tat es. Die Tür öffnete sich. Die Rote Schlange setzte sich an seine

Seite. Sie trug aber ihr rotes Kleid nicht mehr. Sie trug das schwarze mit dem bekannten kleinen Hut und dem dichten Schleier.

„Vorwärts!“ sagte sie. Der Weg war im voraus festgelegt. Einige Kilometer weiter an

einer kleinen Nebenstraße ging er zu Ende. Die Rote Schlange öffnete die Tür. Sie setzte einen Fuß auf das Trittbrett … Der Multimillionär beugte sich instinktiv zu ihr, aber sie schob ihn sanft zurück.

„Danke, Milton“, sagte sie. „Willst du so gehen?“ fragte der junge Mann, ohne zu wis-

sen, was er sagte. „Wie soll ich denn gehen?“ fragte sie zurück. „Ich … ich …“ stotterte der Multimillionär, ohne zu wissen,

was er antworten sollte. Plötzlich fiel ihm etwas ein. „Du hast mir nichts gesagt, Rote Schlange. Ich habe alles ge-

tan, was du von mir verlangtest.“ „Deshalb“, sagte sie sanft, „ist meine Dankbarkeit noch grö-

ßer. Du hast blindes Vertrauen zu mir gehabt.“ „Ich weiß kaum, worum es sich handelte.“ „Morgen wirst du es wahrscheinlich in den Zeitungen lesen.

Warum soll ich jetzt Zeit verlieren? Ich möchte dich aber trotz-dem noch um etwas anderes bitten.“

„Worum?“ „Fahre in die Nähe des Lagers und suche zu erfahren, ob die

Schwarze Maske sich gerettet hat.“ „Die Schwarze Maske?“ rief Milton aus.

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„Sie befand sich auch dort. Sie ermöglichte es mir hinauszu-kommen. Die Polizei verfolgte sie, und ich konnte inzwischen aus einem Fenster des ersten Stocks klettern. Wirst du dich er-kundigen?“

„Ich verspreche es dir.“ „Wenn ihr etwas zugestoßen wäre.“ „Dann würde ich alles für sie tun was ich kann.“ „Ich danke dir noch einmal, Milton.“ Sie drehte sich um und ging in die kleine Nebenstraße hinein.

Während Milton einen Seufzer ausstieß und den Wagen um-drehte, begab sich die Rote Schlange ans Ende der Gasse, blieb vor einer kleinen Garage stehen, nahm einen Schlüssel heraus und holte ihren kleinen Wagen, den sie dort stets für besondere Fälle bereit hatte.

* *

*

Am nächsten Morgen gab es keine Zeitung, die nicht die sensatio-nelle Nachricht brachte. Die Polizei hatte eine mächtige Organisa-tion entdeckt, die in großem Umfange besonders Seide schmug-gelte. Die ganze Bande war festgenommen worden vom Kapitän bis zum letzten Matrosen, und auch der Chef, der zu aller Überra-schung einer der angesehensten Leute von Baltimore war.

Ray Mews, der Vizepräsident der Amalgamates, hatte das Lagerhaus der Company benutzt, um die Schmuggelware dort zu lagern.

Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, wenn die Barkassen zu ungewöhnlichen Stunden ausgeladen wurden, hatte er eine Geheimtür zwischen dem Schuppen der Dandywill Lumber Company und seinem Lagerhaus machen lassen, denn dort wurden Bretter zu allen Tages- und Nachtstunden abgeladen. Die Seide wurde unter Brettern und Balken verborgen herange-

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bracht und durch die Geheimtür ins Lagerhaus geschafft. Der Wächter der Dandywill war bestochen und die Lumber Compa-ny wußte nichts davon.

Auch der Tod Shelton Cranes war damit aufgedeckt worden. Die Pistole, mit der er erschossen worden war, befand sich im Besitz von Ray Mews.

Als dieser keinen Ausweg mehr sah, hatte er gestanden. Cra-ne war unversehens im Lagerhaus erschienen und hatte festge-stellt, daß die Seidenballen keine Zolletiketten trugen. Er tötete ihn, um ihm die Lippen zu verschließen.

Warum Crane zu dieser ungewöhnlichen Stunde ins Lager-haus kam? Das wußte man nicht. Die Polizei aber war der An-sicht, daß ihn jemand von den ungewöhnlichen Geschehnissen in seinem Lager telephonisch benachrichtigt haben mußte. Nur eine Zeitung erwähnte die Rote Schlange und machte ein gro-ßes Aufsehen aus der Haltung der Schwarzen Maske: Die Mor-ning-Post in New York. Die Nachricht hatte Bob Derril ein paar Stunden Gefängnis gekostet, weil er der Polizei seine Anwe-senheit in den kritischen Momenten am Kai nicht genügend erklären konnte. Aber er war die Gefahr nicht umsonst gelau-fen, denn sie hatte ihm gestattet, eine Blitzlichtaufnahme in dem Augenblick von der Schwarzen Maske zu machen, als sie sich vom Dach der Amalgamates ins Wasser stürzte. Die Mor-ning Post brachte sie groß auf der ersten Seite heraus. Und die Schlagzeilen besagten in riesigen Lettern:

DIE EBENHOLZ-SIRENE IN VOLLER FLUCHT!

EIN MEISTERSPRUNG, DER DIE POLIZEI AN DER NASE HERUMFÜHRTE!

Die Buchstaben waren drei Zentimeter hoch.

ENDE

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ALDO SALVA:

Der Treffer ins Schwarze

Notar Pedroni hatte aufs falsche Pferd gesetzt Man konnte nicht sagen, daß Antonio ein Weiberfeind war. Als Neapolitaner konnte er das gar nicht sein. Aber zur Ehe ließ er sich nicht betören, obwohl ihm in den Familien seiner Bekannt-schaft genügend Fallen gestellt wurden. Im Augenblick, in dem er merkte, daß wieder einmal ein Netz gesponnen wurde, zog er sich sachte zurück. Für seinen Haushalt sorgten alleinstehende Damen, die meistens bessere Tage gesehen hatten und in dem Notar Antonio Pedroni insgeheim eine Möglichkeit sahen, diese besseren Tage wieder aufleben zu lassen. Das Spiel hatte jedoch jedesmal den gleichen Verlauf. Sobald die Angriffstechnik von betonter Fürsorge in vertrauliche Zutunlichkeit überging, kün-digte Antonio der Betreffenden und wählte eine neue Hilfe.

An seinem Stammtisch im Café Vittorio Emanuele an der Via Grande sprach Antonio dann kopfschüttelnd von dem un-verständlichen Bestreben dieser Damen, eine angenehme, we-nig mühsame Stellung in ein Verhältnis umzuformen, das ein freies, weibliches Geschöpf in unbedingte Abhängigkeit zum Mann brachte. Seine Freunde am Tisch, fast sämtlich seit Jah-ren in diesen von Antonio so geschickt vermiedenen Fesseln, konnten ein Gefühl des Neides bei derartigen philosophisch untermalten Reden des Notars nicht unterdrücken. Sie warnten Antonio davor, sich zu fest auf seine Unantastbarkeit zu verlas-sen.

* * *

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Nachdem Donna Emilia schluchzend nach ihrer vom Notar seit längerem erwarteten Attacke das Haus verlassen hatte, faßte er einen entscheidenden Entschluß. Durch eine Agentur inserierte er in mehreren kleinen Provinzblättern und erhielt auch, wie verlangt, viele Zuschriften, denen Fotos beigelegt waren. Auf Signora Alda Poncini, 52 Jahre alt, verwitwet und grundhäß-lich, fiel seine Wahl.

Sie kam, sah und siegte. Das heißt, sie konnte ausgezeichnet kochen, war von großer Frömmigkeit und gab sofort zu verste-hen, daß sie an der Erfahrung mit ihrem verstorbenen Giacomo Poncini ein für alle Male genug habe, was die Ehe anbeträfe.

Immerhin ergab es sich, daß Antonio infolge eines ungefähr-lichen, aber chronischen Leidens in gewissen Abständen seine Häuslichkeit nicht verlassen konnte und dann notgedrungen die Gesellschaft seiner Haushälterin suchte. Antonio redete gern, redete viel und am liebsten allein. Alda Poncini saß dann auf der äußersten Stuhlkante, hörte ergeben zu und sagte nur „Si“ oder „No“. Bis zu dem Tag, als der Notar wieder einmal zu Hause bleiben mußte und auf den räuberischen Unsinn der Lot-terielose zu sprechen kam.

Alda erschrak offensichtlich und gab auf Antonios drängende Fragen zu, selbst zu diesen Sündern zu gehören. Eine Bekannte habe ihr das Los besorgt und die Nummer genau nach Aldas Geburtsdatum ausgesucht. Der Notar verlangte das verbrecheri-sche Papier zu sehen. Sie holte es ängstlich herbei und erhielt es nach Betrachtung mit spöttischen Worten über die verschwin-dend geringen Gewinnaussichten bei solchen Objekten zurück.

Die Freunde im Cafe spielten noch eine Zeit auf Alda, die neue Perle an. Als sie aber merkten, daß Signora Poncini tat-sächlich keinen Versuch zu unternehmen schien, Antonio ein-zufangen, vergaßen sie schließlich dieses heitere Gesprächs-thema. De Gasperi, Togliatti und, wie in Neapel üblich, Exkö-nig Umberto beherrschten wieder das Interesse.

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* *

* Um so überraschter war die Stammtischrunde, als Antonio ei-nes Abends eröffnete, daß er in den nächsten Tagen Alda Pon-cini zu heiraten gedächte. Daß er die Sache in aller Stille erledi-gen wollte, duldeten die Freunde nicht. Es wurde eine typisch neapolitanische Hochzeit, mit sehr viel gebratenem Huhn, Tin-tenfischen, Spaghetti und Ravioli, sehr viel Frascatiwein und Lacrimae Christi. Man konnte sein eigenes Wort nicht verste-hen, und jedermann fand, daß es nicht besser und festlicher hät-te sein können.

Um drei Uhr morgens braute Alda ihrem Antonio noch einen pechschwarzen Kaffee und überließ sich dann dem wohltuen-den Gefühl, vor den weltmännischen Freunden des Notars be-standen zu haben. Dann merkte sie, daß Antonio sie mit einem guten, aber etwas spitzbübischen Lächeln ansah.

„Weißt du übrigens“, fragte er und rückte seinen Sessel dicht neben sie, „weißt du, daß wir schwerreich sind?“

„Nein –“, antwortete sie und vergaß den Mund zu schließen, „wieso denn reich?“

Antonio legte den Arm um ihre Schultern und griff mit der andern Hand zärtlich an ihr Kinn:

„Dein Los, mein Kind – dein Los hat den Haupttreffer gezo-gen. Es steht in der Zeitung, du und dein Los, ihr werdet schon gesucht!“

Alda starrte ihn an. Mühsam konnte sie fragen: „Und du – du hast es gewußt und mich deshalb – geheira-

tet?“ Der Notar tätschelte ihre Wange: „Aber nein, Aldachen – das war natürlich nur ein Grund

mehr!“

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Sie schlug die knochigen Hände vor ihr Gesicht und begann laut zu weinen. Antonio war erstaunt, betroffen und von einer Ahnung überkommen.

„Du warst so dagegen“, würgte sie endlich die Worte hervor, „du nanntest es räuberischen Unsinn – und da – da habe ich das Los –!“

„Was hast du –?“ Seine Stimme klang ganz entsetzt. „Da habe ich das Los meiner Bekannten zurückgegeben. Sie

rechnete mir sogar noch eine Vermittlungsgebühr von dem Preis ab!“

Aber Antonio hörte sie nicht mehr. Er war zum erstenmal in seinem Leben ohnmächtig geworden.

WALTER DREESEN:

Unsterblichkeit – aus dem Hause gejagt

Mr. Allan, in hellgrauen Hosen und blauem Frack, seine Gattin im mauvefarbenen Seidenkleid neben sich, empfingen den zweijährigen Knaben mit allen Anzeichen der Freude und der Erfüllung eines langgehegten Wunsches. Reich und aristokra-tisch in der Lebenshaltung, war das Ehepaar Allan bereit, das adoptierte Kind mit jener überschwenglichen elterlichen Liebe aufzuziehen, die so oft bei Kinderlosen zu finden ist. Das Leben im Staate Virginia, auf den großen Landsitzen war dazu ange-tan, einem jungen Menschen das Gefühl von Überlegenheit und hohen kulturellen Ansprüchen als etwas Selbstverständliches erscheinen zu lassen. Der Knabe aber, ein ruheloses und über-empfindliches Kind, widerstand allen Versuchen, sich in den Rahmen der Ansichten seiner Pflegeeltern von der Haltung ei-nes Gentlemans einzuordnen. Sehr bald entfremdete die kaum bezähmbare Einbildungskraft des Knaben ihn seinen Eltern.

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Schließlich sahen die Allans keinen anderen Weg, als den Jungen mit sechs Jahren in eine Privatschule in England zu bringen. Auch die britischen Lehrer waren jedoch nicht in der Lage Haltung und Respekt vor den gesellschaftlichen Formen in den Knaben einzupflanzen. Fünf Jahre später mußten Mr. Allan und seine Frau das problematische Kind wieder nach Virginia zurücknehmen.

Der letzte Versuch den Ungebärdigen doch noch zu bezwin-gen, war seine Aufnahme in die berühmte amerikanische Mili-tär – Akademie West-Point. Er trat dort mit 21 Jahren ein, wur-de aber schon nach kurzer Zeit wegen seines unbeherrschten Temperaments und seiner Starrköpfigkeit wieder entlassen.

Einige Jahre später wurde Mr. Allan schwer krank und der Sohn erhielt die Aufforderung, schnellstens nach Hause zu kommen. Sein Eintritt in das Krankenzimmer seines Pflegeva-ters war dramatisch. Der alte Mann richtete sich in seinem Bett auf, ergriff einen schweren Spazierstock und schlug damit nach dem jungen Mann, der ihn in dem Versuch, einen perfekten Südstaaten-Gentleman aus ihm zu machen so enttäuscht hatte.

Der letzte Wunsch des Sterbenden war, daß er sofort das Haus verlassen sollte. Kurz darauf starb Mr. Allan.

Er wußte nicht, daß er den einzigen Menschen aus seinem Hause verwiesen hatte, der vom Schicksal dazu bestimmt war, seinem Familiennamen unvergänglichen Ruhm zu bringen und unsterblich zu machen. Der junge Mann, der verzweifelt und zornig das Haus verließ, war – Edgar Allan Poe, Amerikas größter Dichter!

* *

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FRANCOIS BENNET:

Frauenrecht nach Kaiserin Wu Die Frau eines chinesischen Großkaufmannes aus Schanghai erzählte nach gelungener Flucht in Hongkong von dem Skandal auf der Frauenversammlung, die in Peking im Mai dieses Jahres abgehalten wurde. Ein übereifriger Propagandist hatte als Bei-spiel, daß die Chinesen auch auf dem Gebiet des Frauenrechts lange vor den Europäern richtunggebend gewesen waren, die alte Kaiserin Wu zitiert. Die wenigsten wußten etwas von ihr, als man sich aber höheren Orts mit der feudalen Dame befaßte. mußte der Propagandist öffentlich Abbitte leisten für seine rückschrittliche Gesinnung.

Dabei war die Kaiserin Wu wirklich so etwas wie die erste Frauenrechtlerin. Anscheinend hatte sie ihren Mann, den Kaiser von Anfang an ziemlich unter dem Pantoffel. Sie setzte es durch, bei allen Beratungen, Sitzungen und Audienzen zugegen zu sein, allerdings verborgen hinter einem Vorhang. Als der Kaiser frühzeitig starb, nahm sie öffentlich ihren Platz unter den Ministern ein und trug dabei, um den Anstand nicht zu verlet-zen, einen falschen Bart. Sehr bald entschied sie sich für die vollständige Gleichberechtigung der Frau im öffentlichen Le-ben, eine Maßnahme, die für die chinesischen Begriffe die Welt auf den Kopf stellte. Frauen durften an den Prüfungen für Staatsämter teilnehmen, konnten nach erfolgreichem Bestehen jeden Regierungsposten bekleiden und brauchten nicht mehr wie bisher niederzuknien, wenn sie vor Gericht als Zeugen aus-sagten.

Leider, und das hatte der eifrige Propagandist nicht genügend in Rechnung gestellt, stiegen der Kaiserin Wu schließlich ihre Reformen zu Kopf und sie kam zu der Ansicht, daß sich in ihrer

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Person die Gleichberechtigung der Frau zur Überlegenheit über alle Männer verkörperte. Sie gab sich selbst den Titel „Göttli-che Kaiserin“ und als das noch nicht ausreichte, mußte sie mit „Allmächtige Gottheit“ angeredet werden Es war nicht mehr erlaubt zu sagen, die Kaiserin sei schön wie eine Lilie oder lieb-lich wie eine Rose, sondern die Lilie sei so schön und die Rose so lieblich wie die Kaiserin. Um ihre göttliche Allmacht zu be-weisen, ließ sie das Gerücht verbreiten, auf ihren Befehl wür-den Blumen zu blühen anfangen. Ihre Gärtner mußten die Pflanzen mit künstlichen Mitteln hochtreiben und dann kom-mandierte die Kaiserin bei Audienzen ihren Knospen, sich zu öffnen. Bei einer derartigen Gelegenheit gehorchten einmal die Päonien nicht sofort. In höchstem Zorn verfügte daraufhin die Kaiserin die Ausrottung sämtlicher Päonien in der Hauptstadt und verbot ihre weitere Züchtung.

Schließlich wurden selbst den geduldigen Chinesen die über-steigerten Launen ihrer „Allmächtigen Gottheit“ zu wahnwitzig. Man erinnerte sich, wie meistens bei solchen Anlässen, daß ir-gendwo versteckt im Palast der eigentliche, junge Kaiser lebte, holte ihn hervor und schickte die Dame Wu höflich aber uner-bittlich ins Privatleben. Nach althergebrachter Sitte verbrachte sie den Rest ihrer Tage damit, zahllose Gedichte zu schreiben und Sonnenblumenkerne zu knabbern. Des weiteren wird nichts mehr von ihr gemeldet.

Bis eben zu der Frauenversammlung in diesem Mai 1951. Wie der verdonnerte Propagandist erfahren mußte, konnte die Kaiserin auch nach so langer Zeit immer noch den Männern einen Hieb versetzen. Nach gut 1250 Jahren.

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