Seminar: Masse und Macht
Dozentinnen: Prof. em. Jan Robert Bloch Lehrbeauftragter an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam Abgabedatum: 15.09.2005
Auf den Spuren des Einzelnen
in Canettis Masse und Macht
Hausarbeit
Name: Sven Sygnecka
Matr. Nr.: 707054
Studiengang: VWL. soz. Richtung
Semester: 10. Sem.
Anschrift: Patrizierweg 69
14480 Potsdam
Telefon: 0331/6009887
E-Mail: [email protected]
Seminar: Masse und Macht; SoSe 05 Sygnecka: Auf den Spuren des Einzelnen
I
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis......................................................................................................................I
1 Context und Content........................................................................................................ 1
1.1 Context ....................................................................................................................... 1
1.2 Content ....................................................................................................................... 1
2 Canetti und die Masse...................................................................................................... 2
2.1 Canettis Methode und Vorgehen................................................................................ 2
2.1.1 Anliegen und Grundkonzeption ......................................................................... 2
2.1.2 nomologische Phänomenologie.......................................................................... 3
2.1.3 Ein Paradoxon der Zeit....................................................................................... 5
2.2 Canettis Masse............................................................................................................ 7
2.2.1 Das Wesen der Masse ........................................................................................ 7
2.2.2 Der Gehalt von Massen .................................................................................... 11
3 Der Einzelne in der Masse ............................................................................................. 13
3.1 Der Einzelne in Canettis Masse ............................................................................... 14
3.1.1 Auflösung ......................................................................................................... 14
3.1.2 Verinnerlichung der Masse .............................................................................. 15
3.1.3 Verwandlungen ................................................................................................ 16
3.1.4 Massesymbole .................................................................................................. 16
3.1.5 Widerstand und Mahnung ................................................................................ 19
3.2 Masse aus gutem Grund ........................................................................................... 20
3.2.1 Glück der Gleichheit ........................................................................................ 21
3.2.2 Faszination der Masse ...................................................................................... 21
3.2.3 Reduktion der Unsicherheit.............................................................................. 22
3.2.4 Überwindung von Schwäche............................................................................ 23
4 Zusammenfassung.......................................................................................................... 24
Literaturverzeichnis............................................................................................................... 26
Seminar: Masse und Macht; SoSe 05 Sygnecka: Auf den Spuren des Einzelnen
1
1 Context und Content
1.1 Context Die vorliegende Arbeit sucht nach dem Einzelnen1 in Canettis Werk „Masse und Macht“ (im
Folgenden: MuM). Wenn man sich wie ich2 über mehrere Arbeiten damit beschäftigt, wie
autonom sich das Individuum im sozialen Zusammenhang bewegt, dann ist die Feststellung,
der Einzelne würde sich in Massen einfach auflösen, unbefriedigend. Wenn man als Volks-
wirt, also als Ökonom, in seinen Zweifeln auf spitzeste Art von Marxisten bestätigt wird, dann
kann mich das in meinem Zweifel nur bestärken. Die „Genossen von der Wiener Hochschul-
zeitung der MG“ (Verein zur Förderung des marxistischen Pressewesens 1982) schreiben über
„Masse und Macht“: „Kein Mensch tut mehr etwas aus den Gründen, die er dafür hat“, und
bezeichnen dies als „logischen Unsinn ersten Ranges“. Soweit würde ich nicht gleich gehen,
schon die Anerkennung der Institution „Nobel-Komitee“ ist dafür zu hoch, es drängt mich
aber doch der „Vergeheimnissung“, also der Beschreibung von Masse als rätselhaft, univer-
sal, plötzlich und schwarz, nachzuspüren und nach Gründen für die Masse zu suchen, die jen-
seits einer ständigen Angst vor dem Nächsten liegen. Ich will nicht glauben, dass das „eman-
zipatorische Moment“, der „der antizipatorischen Gerichtetheit des menschlichen Planens und
Tuns auf die Zukunft innewohnt“ (Holz 1882: 24) verschwindet.
1.2 Content Eine Schule innerhalb der soziologischen Theorie bilden die Anhänger des Paradigmas der
Rational Choice. Als heuristisches Instrument scheint die Idee, Menschen würden etwas tun,
weil sie es aus ihrer Sicht für die beste Handlungsalternative halten, relativ hilfreich zu sein.
Man kann über die Grenzen der Vernunft streiten, erklären lässt sich mit ihr einiges. Vorraus-
setzung einer Anwendung dieses Paradigmas auf die Handlungen von Menschen ist eine pe-
nible Beobachtung der Einflussfaktoren auf die Handlungen des Menschen. Erst wenn Input
und Output von Menschen hinreichend katalogisiert sind, kann versucht werden, die innere
Verfasstheit des Menschen als „rational“ zu kategorisieren.
Mit Canettis Werk liegt eine „Phänomenologie der Masse“ (Fuchs 1998: 306) vor, die eine
geeignete Grundlage für die Anwendung des Instruments der rationalen Wahl zu sein scheint.
1 Nach den neuen Rechtschreibregeln wird „der Einzelne“ groß geschrieben. Ich habe dies durchgehend ange-passt, auch in den Zitaten. Dort ist auch „daß“ durch „dass“ ersetzt wurden. Alle Hervorhebungen im Original wurden weggelassen. 2 Siehe die Arbeiten zur Gesundheit, zum sozialen Raum bei Bourdieu und zum Konsum unter der URL http://www.sygnecka.de im Downloadbereich.
Seminar: Masse und Macht; SoSe 05 Sygnecka: Auf den Spuren des Einzelnen
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Canetti selbst wurde sich gegen eine solche Interpretation sicher verwehren. Er fügt das über
genaue Beobachtungen seiner Zeit und akribische Suche in den Archiven gewonnene Material
in einer philosophisch-literarischen Weise zusammen, die gerade nicht vom Individuum aus-
geht.
Im folgenden Abschnitt soll Canettis Methode genauer untersucht und seine Sicht auf die
Masse zusammengefasst werden. Dabei sollen erste kritische Anmerkungen erfolgen. Im drit-
ten Abschnitt wird die Rolle des Einzelnen als interpretatives Muster hervorgehoben. Die
Anwendung dieses Musters erfolgt nachdem den Spuren des Einzelnen in Canettis Schilde-
rungen gefolgt wurde.
2 Canetti und die Masse
2.1 Canettis Methode und Vorgehen Irmgard Fuchs (1998: 306) beschreibt in ihrem Aufsatz in einem Sammelband zur Österrei-
chischen Literatur und Psychoanalyse das hier betrachtete Werk mit dem gehaltvollen Satz:
„In seinem großartigem Werk Masse und Macht entwickelt Canetti eine Phänomenologie der
Masse, die er als eigenständiges Gebilde mit ganz spezifischen Gesetzmäßigkeiten versteht, in
der die Individualität des Einzelnen aufgehoben ist.“ Von der Auflösung des Individuums
handelt Abschnitt 3.1.1, vom Wesen der Masse als eigenständiges Gebilde der Abschnitt 2.2.1
ausführlicher. Für diesen Teil sind die Aspekte einer phänomenologischen Vorgehensweise
und die Frage von Gesetzmäßigkeiten, die sich als monokausale Axiome über das Verhalten
in und von Massen herausstellen werden, interessant. Die Methode muss am Ende als miss-
glücktes Bindeglied von Intention und Werk erscheinen. Um dies darstellen zu können, folgt
der Schilderung von Canettis Anliegen und der Grundkonzeption des Werkes „Masse und
Macht“ die Besprechung der Methode als „nomologischen Phänomenologie“. Das paradoxe
Verhältnis von Intention und Werk wird abschließend als in der Zeit der Entstehung
2.1.1 Anliegen und Grundkonzeption „Das Hauptanliegen Canettis besteht darin, den Menschen über die Strukturen der Macht auf-
zuklären“ vermutet Fuchs (1998: 298) und auch Werlen (1995: 160) glaubt „Canetti ist be-
sorgt um den durch die Mechanismen der Macht gefährdeten Einzelnen, und die Hauptinten-
tion seines Werkes ist die Demaskierung und Bloßstellung dieser Mechanismen in all ihren
vielfältigen Erscheinungsformen.“
Dies erfolge, so Werlen, durch die Ontologisierung der Masse. Canetti entwerfe eine „Theorie
von Zuständen und Ereignissen, deren Zusammenhang durch dieselbe metaphysische Form-
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bestimmtheit gestiftet wird, die in sie alle eingeht“ (Holz 1982: 25). Während Freud und
Broch vom Individuum zum Verständnis der Masse kommen wollen, gibt Canetti der Masse
eine eigene Seins-Kraft, eine eigene Subjektivität. Dabei ist die Masse das flüchtige Antido-
tum gegen den Tod (Vgl. Holz 1982: 12), Canettis Eigenschaften der Masse entsprächen Hei-
deggers „Dialektik von Berührungsfurcht und Schutzbedürfnis“ (ders. 14).
Der Kerngedanke ist, dass es „versteckte anthropologische Grundkonstanten [gibt], die wie
Urgesetze die Masse regulieren“ (Werlen 1995: 152). Es gehe also darum, „die Grenzen der
Humanisierbarkeit des Menschen erforschen und abzustecken“ (Barth 1994: 80).
Was hier als Paradoxon erscheint, nämlich der Wunsch „für die Rechte und Autonomie jedes
einzelnen Individuums zu sprechen, [während] anderseits […] Masse und Macht von einem
unaufhaltbaren Telos zur Masse hin“ (Werlen 1995: 151) handelt, erklärt sich als Folge der
Methode Canettis – wie zu zeigen sein wird, wird die Stringenz der Methode Canetti zum
Verhängnis.
2.1.2 nomologische Phänomenologie Canetti ist in erster Linie Dichter und kein Wissenschaftler. Er braucht sich seine Methode
nicht vorwerfen zu lassen. Allein, er erweckt den Eindruck von Wissenschaftlichkeit durch
seine „rhetorische Strategie“ (Werlen 195: 151) eines „biologisch-deterministische[n] Narra-
tiv[s]“ (ders. 158). Die fehlende Trennung zwischen Wirklichkeitsdarstellung und Imagio
veranlasst Adorno vom „Skandalon“ der Methode zu sprechen (Vgl. u.a. Barth 1994: 63). Es
sei hier der schriftstellerischen Freiheit zugeschrieben, Realität und Fiktion, Wirklichkeit und
Traum miteinander zu verweben (Vgl. Streussloff 1994: 138f), möglicherweise ist dies sogar
schriftstellerische Notwendigkeit. Weil darin aber „das Neue und für den landläufigen Wis-
senschaftler Irritierende“ (Holz 1982: 11) liegt, gehe ich auf die Irritation im Folgenden ein.
Zur Annäherung an die Wirklichkeit in der „sozio-anthropologische Untersuchung“ (Piel
1984: 59), am ausgeprägtesten an der „Typologie der Masse“ (ders. 72) zu betrachten, bedient
sich Canetti der Phänomenologie. Die auf Husserl zurückgehende Methode fordert „alles ab-
zulegen, was an Theorien, Meinungen und Alltagswissen überkommen ist und sich ganz auf
die ursprüngliche Erfahrung und Einsicht in Sachen und Sachverhalte zu konzentrieren“
(Fuchs 1998: 320) und korrespondiert mit Canettis Skepsis gegenüber den Theoretikern: „Je
strenger und konsequenter ihr Denken, um so größer die Verzerrungen der Welt, die sie zu-
stande gebracht haben“ (Canetti: Nachträge aus Hampstead; zitiert nach Fuchs 1998: 297).
Canetti sieht eine „Arroganz des Begriffs“ (Canetti: Die gespaltene Zukunft; zitiert nach Holz
1982: 19) des hermeneutischen Verfahrens. Für die Hermeneutik ist die „Hypothese eines
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willentlichen Grundes“ (Schöpf 1982: 104) maßgeblich. Es wird im Handeln Vernunft vor-
ausgesetzt. Die kommt bei Canetti nicht vor. Wahrscheinlich nicht, weil er Le Bon (1982: 21)
folgt, der meint, die Massen seien „unfähig zu dauerndem Wollen“, denn der „Gebrauch der
Vernunft ist für die Menschheit noch zu neu und zu unvollkommen, um die Gesetze des Un-
bewussten enthüllen zu können und besonders um es zu ersetzen.“ Viel mehr dürfte er fürch-
ten nicht zum Kern seines Interesses vorzustoßen: „Was ihnen [den Fachdisziplinen] ent-
schlüpft, ist eben das, worauf es ankommt“ (Canetti: Nachträge aus Hampstead; zitiert nach
Fuchs 1998: 297).
Zur phänomenologischen Grundhaltung gehört es, zu „[a]kzeptieren, dass die Art und Weise,
wie sich uns die Welt zeigt, immer auch mit unserer Gewohnheit der Wahrnehmung und mit
unseren Intentionen gegenüber dem Leben zusammenhängt“ (Wikipedia 2005), das heißt die
„gedanklichen Trennung von Objekt und Subjekt“ (ders.) soll vermieden werden. Folgerichtig
erkennt Fuchs (1998: 298) bei Canetti eine Weltanschauung, in der sich nicht Subjekt und
Objekt gegenüberstehen, sondern zwei Subjekte. Canetti ist nicht Erkennender und die Masse
(oder der Mensch in der Masse) das Erkannte, sondern die Masse entdeckt ihn genauso wie er
sie. Er gesteht sich seine Ergriffenheit von der Masse ein, sieht sogar darin, die Masse gefühlt
zu haben, einen erkenntnistheoretischen Vorsprung. Die Hermeneutik als Auslegekunst und
Kunst der wissenschaftlichen Interpretation (Eisler 2005) kommt der Phänomenologie recht
nahe.
Schöpf (1982: 101ff) macht bei der Einordnung der Psychoanalyse3 in die Wissenschaft über
die Methode als Gegenpol der Hermeneutik den logischen Positivismus aus, der „die Ereig-
nisse als Wirkung aus ihren Ursachen begreifen will.“ Diese Methode wird eher den Natur-
wissenschaften zugeschrieben, weil die vermuteten Kausalgesetze in der Erfahrung überprüf-
bar sein müssen. Schöpf unterscheidet in den strengen deduktiv-nomologischen4 Erklärungs-
vorgang mit „Anspruch auf universelle Gültigkeit“ der zu Grunde liegenden Gesetze und dem
induktiv-probabilistischen Vorgehen, bei dem von einer hohen Wahrscheinlichkeit eines Er-
eignisses bei einer bestimmten Ursache auf ein Gesetz geschlossen wird.
Canetti spricht z.B. vom Gesetz der Verteilung („Das Gesetz der Verteilung ist das älteste
Gesetz“ MuM 115; vgl. auch ders. 223). An der universellen Gültigkeit lässt er keine Zweifel.
Es ist aber nicht nur der explizite Gebrauch vom Gesetz sondern vor allem die bereit erwähnte 3 Canettis Werk ist zwar gerade in Abgrenzung zur Psychoanalyse geschrieben, aber gerade deshalb mit ähnli-chen Kategorien zu messen. Die Hinweise und Vergleiche sind zahlreich und es wäre eine eigene Arbeit diese Quellen auszuwerten. 4 „Nomologisch nennt J.V. Kries »Urteilsinhalte, die den gesetzmäßigen Zusammenhang des Geschehens betref-fen«“ (Eisler 2005).
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rhetorische Strategie. Werlen (1995: 152f) spricht von deterministischer Totalität, mit der das
Verschwinden des Individuums beschrieben werde und stellt fest: „Hier wird die Aufhebung
des Individuums in einer Rhetorik dargestellt, die ihre Strategien an der Sprache von Biologie
und Chemie orientiert.“ Die kurzen einleitenden Sätze, die wie eine journalistische Nachricht
oder der Abstract einer wissenschaftlichen Arbeit die Kapitel einleiten, seien „kühne Behaup-
tungen“, die „aus psychischen Erfahrungen und individuellen Beobachtungen Canettis ent-
standen“ sind und würden aber als „unbestreitbare Axiome in parataktischer Eindringlichkeit
und apodiktischem Ton mitgeteilt.“
Da also kein realer Positivismus vorliegt, sondern eine Phänomenologie im nomologischen
Gewand, ist die Methode und zugleich der Stil Canettis in „Masse und Macht“ als nomologi-
sche Phänomenologie zu beschreiben.
Holz (1982: 18) attestiert, dass dieses Verfahren nicht nur die „landläufigen Wissenschaftler“
selbst irritiert sondern letztendlich auch dem Autor auf die Füße fällt. „Canetti ist hilflos – es
scheint ihm seine Aussagen so gesetzmäßig, dass er nichts dagegen zu sagen weiß.“ Für Ca-
netti seien „Bildung von Massen und der Erwerb und die Ausübung von Macht naturgesetzli-
che Prozesse in der Gesellschaft.“
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die formulierten Gesetzmäßigkeiten einer Ursache entsprin-
gen. Fromm (2001) bemerkt kritisch, Canetti versuche, „alles aus einem Ursprung her zu er-
klären, der in einer doch recht verschwommen bestimmten Masse und ihren Wirkungen liegen
soll.“ „Der in all seinen Erscheinungsformen erkannte und beschriebene Massentrieb wird zur
universal geltenden Erklärung unserer Welt“ pflichtet Werlen (1995: 157) bei. Canetti bestä-
tigt diesen Eindruck, wenn er schreibt, ihm „zuckte es […] plötzlich durch den Kopf, dass es
einen Massentrieb gab, der immer im Widerstreit zum Persönlichkeitstrieb gab, und dass aus
dem Streit der beiden der Verlauf der Menschheitsgeschichte sich erklären lasse“ (Canetti:
Fackel im Ohr; zitiert nach Piel 1984: 60).
Canetti denkt monokausal. Einseitigkeiten und Fehldeutungen seien so vorprogrammiert, weil
Canettis Herangehen durch eben nur eine Sicht geprägt ist. So ergäben sich zwar „interessante
Einsichten zu Einzelnen Problemfeldern, aber in seiner Gesamtheit, bezogen auf die zentralen
Aussagen zu Masse und Macht und ihrer Bedeutung im 20. Jahrhundert, fehlen befriedigende
Aussagen“ (Fromm 2001).
2.1.3 Ein Paradoxon der Zeit Werlen hat bei Canetti ein Paradoxon zwischen Anliegen und Grundkonzeption festgestellt.
Das Paradoxon löst sich auf, wenn man sich die konkrete Masse ansieht, aus der Canetti seine
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Motivation schöpft. Die Entstehung der Masse im Hitlerdeutschland (Vgl. Barth 1994: 84)
und des Faschismus; davon handelt Masse und Macht, ohne es mit einem Wort zu erwähnen
(Vgl. Streussloff 1994: 142). Dies ist keine beliebige Masse sondern eine mit existentieller
Bedrohlichkeit. Canetti sucht eine „metaphysische Idee der Masse“ (Holz 1982: 10), denn
vom Standpunkt des Einzelnen können „die Regeln dieses Verhaltens […] nicht begreifbar
sein, weil sie es nicht sein dürfen“ (Wimmer 1990). Canetti rettet sich vor der Fassungslosig-
keit, indem er das Verhalten der Menschen als animalischen Trieb festschreibt, mit der Folge,
dass das Verhalten als naturgesetzlich festgeschrieben erscheint, also entschuldbar – jede an-
dere Handlung wäre ja ein aussichtsloser Kampf gegen die Natur gewesen, unabhängig da-
von, dass die Auflehnung gegen die repressiven Institutionen gefährlich genug war.
Noch ein weiterer Punkt macht aus Canettis Sicht die Interpretation der Masse als intentionale
Handlung von Individuen in den Zeiten der größten Verbrechen der Menschheit und eines
grausamen Weltkrieges unmöglich. „Seit das Menschenleben nicht mehr Maß aller Dinge sei,
gebe es für nichts mehr ein Maß, ist die pessimistische Grundaussage des Schriftstellers“
meint Fromm (2001). Ohne Maß fehlt die Grundlage für eine Bewertung, die wiederum Vor-
raussetzung für die Wahl einer individuell besten Möglichkeit ist.
Wimmer (1990) gibt ebenfalls einen Hinweis darauf, wie Canettis Ansatz als in seiner Zeit
verankert zu verstehen ist. Er spricht von einem Grundkonsens, der in Gesellschaften gilt. Als
Beispiel dient ihm die Klagemeute.5 Erweitert man wie Wimmer die Bandbreite Canettis tra-
gender Massenaffekte von Hetze, Flucht, Weigerung, Umkehrung und Fest um den möglichen
Gehalt von Meuten, also um Klage, Jagd, Krieg und Vermehrung, so kann auch der Krieg als
Grundkonsens gelten und für moderne Gesellschaften ist es die Vermehrung. „Wenn es einen
Glauben gibt, dem die lebenskräftigen Völker der Erde eins ums andere verfallen, so ist es der
Glaube an die Produktion, dem modernen Furor der Vermehrung.“ (Canetti: Masse und
Macht; zitiert nach Wimmer 1990). „Wenn dies der Grundkonsens der gegenwärtigen Gesell-
schaften ist, und alles spricht für Canettis These, so ist es klar, dass eine solche Gesellschaft
Gebote und Verbote hat, die auf diesem Konsens fußen“ (Wimmer 1990). Genau diese Gebo-
te und Verbote, also „Normen, die nicht immer argumentierbar sind“ (ders.), erfordern es,
sich analytisch auf die Ebene zu heben, der diese Normen entstammen. Man muss den
Grundkonsens der Gesellschaften verstehen, um die Vorgänge in den Gesellschaften zu ver-
5 In Klagereligionen schließt sich der Einzelne „einem an, der für sie stirbt“ um sich zu entsühnen: „Was immer sie anderen angetan haben, das nimmt ein anderer nun auf sich, und, indem sie ihm treu und ohne Rückhalt an-hängen, entgehen sie, so hoffen sie, der Rache“ (MuM 171). Hier gibt es nichts abzuwägen und zu entscheiden, bedingungslose Anhängerschaft ist der Grundkonsens bis der Tote abgestoßen wird.
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stehen. In Kriegsmeuten, wie die Zeit des deutschen Nationalsozialismus gesehen werden
kann, liegt der Grundkonsens in einer „Absicht gegeneinander“ (MuM 116)6. Das entspricht
dem „Vernichtungswunsch, den Canetti implizit allen Menschen unterstellt“ (Streussloff
1994: 143). Aus heutiger Sicht, in der der Grundkonsens auf die Vermehrung gerichtet ist,
und es geboten ist „lange zu leben und rüstig zu bleiben, aktiv und konsumptiv“ (Wimmer
1990) fällt es entsprechend schwer, Canettis Annahmen zu folgen.
2.2 Canettis Masse
2.2.1 Das Wesen der Masse „Nichts ist angekündigt, nichts erwartet worden.[…] Plötzlich ist alles schwarz von Men-
schen“ (MuM 14). Die Beobachtung reicht Canetti. Irgendetwas aber ist, und wenn es nur die
Vermutung oder die Behauptung ist, dass etwas wäre. Welche Eigenschaften muss dieses Et-
was haben, damit es eine Anziehungskraft auf die Menschen ausüben kann, die stärker ist, als
die Abstoßungskräfte der Angst vor dem Unbekannten, das einen berühren könnte?
Ich werde im Abschnitt 3.2. auf die Anziehungskräfte, wie sie Canetti formuliert zurückkom-
men. Ernesto Grassi fügt dem José Ortega y Gassets Werk „Aufstand der Massen“ einen Arti-
kel über das Enzyklopädische Stichwort Masse an. Darin werden die gefühlsmäßigen Vorrau-
setzungen der Massenbildung prägnant beschrieben: „Masse wird eine größere Zahl von Men-
schen genannt, die, wenn auch nur vorübergehend und unter bestimmten, zeitlich bedingten
gefühlsmäßig gebundenen Vorraussetzungen, durch ein Gemeinsames – eine Leidenschaft,
eine Erregung, eine Hoffnung, ein Augenblicksziel – zu einer Einheit zusammengeschlossen
werden.“ (Gasset 1930: 142)
An dieser Masse hat Canetti vier Eigenschaften beobachtet, die die Masse als Entität mit ei-
nem eigenen Willen konstruieren.
1. Die Masse will wachsen, denn „die sich versperren, sind ihr verdächtig“ (MuM 15).
Dies folgt einer Logik in der die Verdächtigen aller Gefährlichkeit beraubt werden,
wenn die Masse sie einverleibt. Wie sicher aber funktioniert der Prozess der Auflö-
sung des gefährlichen Einzelnen? Kann man sich darauf verlassen, dass der Einzelne
innerhalb der Masse seine Gefährlichkeit verliert?
Canetti selbst bringt das Gleichnis einer Festung: Die Masse „hat den Feind vor den
Mauern, und sie hat den Feind im Keller“ (MuM 23). Der Feind im Keller sind die Re-
6 Der Vergleich hinkt vielleicht darin, dass die anderen, also die Länder und Gruppen, anfänglich keine Absicht gegen die Deutschen hatten.
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siduen des Individuums, das sich nicht ganz aufgelöst hat. Die Gefährlichkeit bleibt,
solange das Eigeninteresse bleibt.
„Weil der Einzelne Berührung scheut, muss die Masse an ihren Rändern wachsen“
heißt es bei Holz (1982: 14). Weil sich also der Einzelne auch in der Masse vor dem
Unbekannten fürchtet, der etwas weiter weg steht, zieht er ihn an sich heran. Dies ist
der eigentliche Zeitpunkt des Wachstums. Das plötzliche Umschlagen bzw. die Entla-
dung, in der der Hinzugezogene Teil der Masse wird, bleibt bei Canetti diffus. Es ist
nicht ersichtlich, warum das neue Teilchen der Masse nun nicht mehr gefährlich ist.
Gleichwohl ist es nun Schale und muss sich vor dem nächsten fürchten.
Die Folge des Wachstumswillens ist allerdings eine Zerstörungssucht von Massen,
weil erstens mit dem dabei entstehende Lärm „die kräftigen Lebenslaute eines neuen
Geschöpfes, die Schreie eines Neugeborenen“ (MuM 18) symbolisiert werden und
weil es zweitens ein „Angriff auf Grenzen“ (MuM 19) ist, die am Wachstum hindern.
Massen, die nicht mehr wachsen, zerfallen. Dies geschieht genau so plötzlich wie sie
entstehen, wird also nicht erklärt. Außer: „Die Masse besteht [nur], solange sie ein un-
erreichtes Ziel hat“ (MuM 31).
Die abgemilderte Form des Wachstumstriebs der offenen Masse ist die geschlossene
Masse, die ihr „Hauptaugenmerk“ auf Bestand legt. Die geschlossene Masse wird ab-
gefangen, und ein vorgeschobener Zweck dient als „Ersatz für Bedürfnisse härterer
und heftiger Art“ (MuM 21). Dieses Bedürfnis ist „ihre alte Lust am plötzlichen, rapi-
den und unbegrenzten Wachstum“ (MuM 21). Durch das Bevölkerungswachstum
bzw. dem Konzentrationsprozess in Städten war die Lust am Wachsen nicht mehr zu
unterbinden. Aus geschlossenen Massen werden plötzlich offene Massen (Vgl. MuM
21).
2. In einer Entladung verlieren die Menschen in der Masse ihre Verschiedenheiten und
fühlen sich als gleiche. Sie entladen sich, weil es sie glücklich macht, die Distanzen
zwischen sich zu überwinden, die sie „verdüstern“ und „erstarren“ lassen. Es braucht
die Masse zur Überwindung der Distanzen. Weil die anderen „an ihren Distanzen fest-
halten, ist er ihnen um gar nichts näher“ (MuM 17), wenn er allein versucht sie zu ü-
berwinden. Die Überwindung der Distanzen ist aber eine Illusion, die nur in der Masse
oder für die Zeit der Masse aufrechterhalten werden kann. Dann „ist keiner mehr, kei-
ner besser als der andere“ (MuM 17) und der Einzelne „fühlt sich erleichtert, da alle
Distanzen aufgehoben sind, die ihn auf sich zurück warfen und in sich verschlossen“
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(MuM 19). Das Glück der Gleichheit ist der eigentliche Grund für die Masse: „Um
dieser Gleichheit willen wird man zur Masse“ (MuM 30)
Ob die Gleichheit tatsächlich solch ein Glück ist, wird in Abschnitt 3.2.2 besprochen.
Interessant in diesem Zusammenhang ist zudem Wimmers Deutung des Canettischen
Ansatzes. In einer Produktionskultur, so Wimmer (1990), sei es belanglos „[w]o der
Einzelne steht oder lebt […] solange alle Stellen im Netz besetzt sind.“ Das heißt die
Differenz ist für den Einzelnen wichtig, auch wenn die Art der Differenz von nachge-
ordneter Bedeutung ist: Jeder will einen Platz in der von der Produktion geprägten Ge-
sellschaft. Die Produktion ist hierarchisch und verkettet. Es gibt präferierte Glieder
oder Stufen in den Ketten und Hierarchien aber alles ist besser als nicht eingebunden
zu sein.
Auch der Gleichheit wegen sind Massen süchtig nach Zerstörung. Symbolisch sollen
Hierarchien zerstört werden: „Man vergreift sich an den allgemein etablierten Distan-
zen“ (MuM 19). Canetti schreibt: „Was ihm geschieht, soll auch den anderen gesche-
hen, er erwartet von ihnen das selbe“ (MuM 19). In einer Mischung aus Gönnertum
(Der andere soll auch frei sein.) und Arroganz (Meine Freiheit lasse ich mir nicht
durch seine Grenzen nehmen.) scheint demnach Zerstörung in der Masse das probates-
te Mittel zu sein, sich frei zu fühlen, denn „seine Freiheit ist die Überschreitung dieser
Grenzen“ (MuM 19). Weil sich der Einzelne so frei so gut fühlt will er auch die Gren-
zen der anderen einreißen, sei es deren Fenster oder sonstiges verpflichtendes Eigen-
tum.
3. Die Masse sucht die Dichte, um die Berührungsfurcht des Einzelnen loszuwerden
(Vgl. MuM 14) und um nichts anderes zwischen ihre gleichen Teile (die Menschen)
zu lassen (MuM 30).
Allerdings ist das neue Wesen „Masse“ von einer doppelten Bedrohung heimgesucht:
die Bedrohung von außen, die sie am Wachstum hindern will und die Bedrohung von
innen, den Eigeninteressen der Einzelnen (MuM 23f). Während letzteres die Gefahr
des Abfalls des Einzelnen und damit ein geringeres Wachstum bzw. sogar den Verfall
der Masse bedeuten kann, ist ersteres, der Druck von außen im Hinblick auf die Dichte
nicht ganz klar: Dichten steigen wenn bei steigendem Zulauf der Raum gleich groß
bleibt. Grenzen helfen wachsenden Massen an Dichte zu gewinnen.
So ist mit der Dichte ein doppelten Pathologie verbunden: Erstens wird die Angst des
Einzelnen vor der Berührung eines anderen durch die Angst der Masse vor Zerfall und
Begrenzung ersetzt. Es gibt keinen Ausweg aus der ständigen Angst und Bedro-
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hung, die Masse ist paranoid. Zweitens: Dichte und Begrenzung stehen positiv im
Zusammenhang; je enger die Grenze, desto größer bei gleicher Masse (Teilchenzahl)
die Dichte. Die Masse sucht aber die Dichte und fürchtet die Begrenzung. Die
Masse ist schizophren.
4. Die Masse braucht ein „Ziel, das außerhalb jedes Einzelnen liegt und für alle zu-
sammen fällt“ (MuM 31).
In geschlossenen Massen herrsche am ehesten die Illusion, sich zu einem Zweck zu-
sammenzufinden. Zeremonien der Wiederholung dienen der Aufrechterhaltung der Il-
lusion und der Überbrückung des Zustands der Auflösung bzw. des fehlenden Wachs-
tums. „[I]mmer war man zu einem bestimmten Zweck beisammen, sei es religiöser,
festlicher oder kriegerischer Art, und der Zweck schien den Zustand zu heiligen“
(MuM 20). Man müsse aber, so Canetti, die Masse „nackt, man möchte sagen, biolo-
gisch […] sehen, ohne die transzendenten Sinngebungen und Ziele, die sie sich früher
einimpfen ließ“ (MuM 22).
Die Masse „will das größte Gefühl ihrer animalischen Stärke und Leidenschaft selbst
erleben und benutzt zu diesem Zwecke immer wieder, was sich ihr an sozialen Anläs-
sen und Forderungen bietet“ (MuM 22). Der Zweck bzw. das Ziel der Masse ist also
das Erleben animalischer Triebe.
Andererseits stellt Canetti fest, man könne Massen von innen angreifen, „indem man
den Forderungen, die zu ihrer Bildung geführt haben entgegenkommt“ (23). Dies wäre
aber ein Appell an individuelle Gelüste, die der „klaren und sauberen Grundgesin-
nung“ (das Erleben animalischer Triebe?) der Masse entgegenstehen.
In Ringmassen ist das gemeinsame die Erregung. Canetti beschreibt die Art der Erre-
gung nicht und spezifiziert nicht, was dort erregt. Er stellt nur fest, dass „die Einzel-
heiten, die sie sonst unterscheiden und zu Individuen machen, [sich] verwischen“
(MuM 29), weil „[i]hre sichtbare Erregung steigert die seine.“
Massen wollen wachsen und suchen die Dichte. Die Ursache des Wachsens wurde als Para-
noia und die Suche nach Wachstum und Dichte als Schizophrenie herausgearbeitet. Massen
haben bisher das Ziel der Schaffung eines animalischen Erlebens. Die Gleichheit innerhalb
der Masse ist eine Bedingung. Da aber bisher lediglich die Zugehörigkeit zur Masse als das
herausgearbeitet werden konnte, was bei den „Molekülen“ der Masse gleich ist, ist diese Ei-
genschaft bisher tautologisch.
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2.2.2 Der Gehalt von Massen Nach der Darstellung der Eigenschaften der Masse zielt Canetti darauf ab, die formale Hülle
zu füllen. Am Anfang hieß es, nichts sei gewesen und plötzlich sei die Masse da. In geschlos-
senen Massen, so die These des Autors, würden heftigere Bedürfnisse unterdrückt indem ih-
nen transzendente Ziele eingeimpft wurden. Dann wollen alle gleich sein, aber wie die Masse
ihre Teile ausrichten, was also der Magnet ist, der die Teil „einnordet“, darüber wurde nichts
gesagt. Letztendlich wurde ein religiöser, festlicher oder kriegerischer Zweck schon als
„Kleidung“ der nackten Masse beschrieben. All das „sagt über das, was sie empfindet, über
ihren Gehalt, nur wenig aus“ (MuM 53). Was sind also die heftigen Bedürfnisse der Masse,
wie fühlt sie „animalische Stärke und Leidenschaft“ und was ist ihr Gehalt?
Dieser Gehalt sei nicht immer rein zu fassen, so Canetti, und oft sei die Gelegenheiten, in de-
nen Massen entstehen künstlich und „ihr Reichtum ist ein Endprodukt hoher und komplexer
Kulturen“ (MuM 53). Die natürlichen tragenden Affekte7, was per definitionem schon etwas
anderes ist als ein Zweck oder Ziel, nämlich heftige Gemütserregungen und seelische Erschüt-
terungen, sind wenig komplex und entstammen zum Teil der Tierwelt. Dies gilt für Hetz- und
Fluchtmassen“, „Verbots-, die Umkehrungs- und die Festmasse sind spezifisch menschlich“
(MuM 54).
1. Die Hetzmasse ist „aufs Töten aus, und sie weiß auch, wen sie töten will“ (MuM 54).
Der für die Hetzmasse freigegebene Mord „springt für alle Morde ein, die man sich
versagen muss“ (MuM 54). Weil der Tod selber „in mancherlei Verkleidung“ ständig
droht, erwächst dem Menschen das Bedürfnis der Ablenkung des Todes auf andere.
Der Mord, zudem der feige Mord in der Masse, befriedigt nur kurz und dann kommt
die Schuld. Deshalb folgt Mord auf Mord um die Hetzmasse aufrecht zu erhalten. Der
Tod ebnet alle Unterschiede ein – er macht alle gleich, alle sterben.
Kulturell überlagert tritt die Hetzmasse als die Menge der Tageszeitungsabonnementen
auf. Wer wissen will, welche Morde es gegeben hat, der ist selber der Mörder – zu-
mindest aber der Hetzer. Man muss sich des Todes der anderen vergewissern, so Ca-
netti: entweder man tötet in der Masse selbst, bestaunt den institutionellen Mord oder
liest einfach davon.
7 In dem bereits erwähntem enzyklopädischen Stichwort zur Masse nach Gasset verbindet sich mit der Masse verbindet „die Vorstellung von einer Anzahl von Menschen, die unter bestimmten psychologischen Vorrausset-zungen zu plötzlichen Affekthandlungen verführt werden können“ (Gasset 1930: 142). Hier wird den Masse-menschen implizit jede Vernunft abgesprochen, was später noch expliziert wird.
Seminar: Masse und Macht; SoSe 05 Sygnecka: Auf den Spuren des Einzelnen
12
Der Akt der Freigabe scheint dabei der wesentliche Punkt zu sein – und ist überhaupt
nicht beleuchtet. Kann der Einzelne die Freigabe negieren, moralisch und normativ?
2. Die Fluchtmasse unterscheidet sich von der Panik in der Anerkennung des anderen:
„Die Energie der Flucht vervielfacht sich, solange jeder darin die anderen anerkennt:
er darf sie vorwärts schieben, doch nicht beiseite stoßen“ (MuM 60). Beginn der
Flucht ist eine Gefahr (vielmehr die Wahrnehmung einer Gefahr). Die Masse besteht
aus denen, für die es gefährlich wird, die Gefahr ist für alle gleich. Die Fluchtmasse
zerfällt bei vermeintlicher Sicherheit durch Sättigung oder Auflösung des Gefährli-
chen. Fluchtmassen sind zäh, sie werden langsamer, aber sie fliehen – bis zum
Schluss.
3. In der Verbotsmasse schließen sich Menschen zusammen, die „nicht mehr tun [wol-
len], was sie bis dahin als Einzelne getan haben“ (MuM 62). Das selbst auferlegte
Verbot entstammt immer einem Bedürfnis der Betroffen selbst. Es ist eine Weigerung,
die alle gemeinsam haben, die gleich macht. Verbotsmassen sind deshalb negative
Massen – in der Gefahr zur positiven umzuschlagen. Beispiel ist der Streik.
4. In Umkehrungsmassen haben die, die „so lange wehrlos waren, […] plötzlich Zäh-
ne“ (MuM 65). Es gab lange Zeit ein Befehlsverhältnis, wobei jeder Befehl „in dem,
der gezwungen ist, ihn auszuführen, einen peinlichen Stachel zurück[lässt]“ (MuM
65). Die Umkehrungsmasse entlädt sich in „einer gemeinsamen Befreiung von Be-
fehlsstacheln“ (MuM 66). Vorher aber „hält man sich an den Untersten schadlos“
(MuM 66). Nach der Umkehrung gibt es ein neues Befehlsverhältnis, in dem sich die
neuen Unterlegenen nach genügend langer Zeit wieder der Befehlsstachel entledigen
wollen . Diese Schilderung steht für Revolutionen. In einem anderen Beispiel „geht es
um eine frische Unterwerfung unter die Gebote Gottes, um eine Bereitschaft also, alle
Stacheln, die sie in einem erzeugen könnte, willig auf sich zu nehmen“ (MuM 69f).
Hier begeben sich Menschen kollektiv in ein neues Befehlsverhältnis.
5. Bei Festmassen werden die „Erträgnisse, welcher Kultur immer, […] in großen Hau-
fen zur Schau gestellt. […] Nichts und niemand droht, nichts treibt in die Flucht, Le-
ben und Genuss während des Festes sind gesichert. Viele Verbote und Trennungen
sind aufgehoben […]. Die Dichte ist sehr groß, die Gleichheit aber zum guten Teil ei-
ne der Willkür und des Genusses. […] [M]an lebt auf diesen Augenblick hin und führt
ihn zielbewusst herbei“ (MuM 70).
Seminar: Masse und Macht; SoSe 05 Sygnecka: Auf den Spuren des Einzelnen
13
3 Der Einzelne in der Masse Der Einzelne wird bei Canetti zum einen in der Schilderung der Macht deutlich. Befehl und
Frage, Überleben und Verwandlung, Maske und Figur zeigen die Konstitution des Einzelnen
im Machtverhältnis. Insofern diese Aspekte des Einzelnen für die Bildung und das Bestehen
von Massen relevant sind, wurden sie kenntlich gemacht.
Das Individuum ist in Canettis Masse keine fundamentale Analyseeinheit. Wie noch darzu-
stellen sein wird, löst sich der Einzelne in der Masse auf. Genauer gesagt, entsteht der Einzel-
ne aus der Masse und wenn er sich wieder in sie hineinbegibt, dann kehrt er zum natürlichen
Zustand zurück.
Beginnt die Analyse beim Einzelnen wird vom methodologischen Individualismus gespro-
chen. Der methodologische Individualismus richtet sich gegen Canettis Vorstellung, es gebe
eine organische Einheit, die ihren Teilen vorgeordnet ist (Vgl. Manstetten 2000: 57). Neben
der explikativen Funktion der „Rückführung aller sozialen Erscheinungen auf das Handeln
von Individuen“ (ders. 58) muss auf die normativen Implikationen der Methode hingewiesen
werden: „implizit ist der Anspruch zu entnehmen, jedes Individuum solle seine Zwecke setzen
können, ohne vor einem »übergeordneten Ganzen« darüber Rechenschaft ablegen zu müssen.
[…] Darin liegt eine Umkehrung überlieferter Begründungspflichten. Antike wie mittelalterli-
che Philosophen nehmen in der Regel an, dass das Individuum sich nie selbst Maßstab sein
kann, sondern sein Tun einem ihm übergeordnetem Maß zu unterwerfen hat“ (ders. 59f).
Canettis Stoßrichtung korrespondiert mit dieser impliziten Norm: „Canetti will sich nicht un-
terwerfen, er will nicht, dass die Menschen sich fügen“ (Holz 1982: 18). Das sein „morali-
scher Appell eher hilflos [klingt], zu allgemein, um Wege zu zeigen“ (ders.) liegt in seiner
Verhaftung an Le Bons Massenbild, das der Masse keine Vernunft zubilligt. Canetti „bleibt
auf dem Standpunkt des bürgerlichen Individuums“ (ders.). Die Methode des Individualismus
kann die bourgeoise Borniertheit überwinden.
Im Abschnitt habe ich Canettis Methode als nomologische Phänomenologie gekennzeichnet
und ihr in der Entstehungszeit des Werks begründetes paradoxes Verhältnis zu Canettis Inten-
tion herausgearbeitet. Der methodologische Individualismus entspricht der „Hypothese eines
willentlichen Grundes“ (Schöpf 1982: 104) der Hermeneutik. Nachdem ich nun dem Einzel-
nen zuerst auf Canettis Weg in die Masse gefolgt bin, will ich in einem zweiten Schritt zei-
gen, dass mit der hermeneutischen Hypothese Masse erklärt werden kann und dabei Canettis
genaue Beobachtungen von großer Hilfe sind.
Seminar: Masse und Macht; SoSe 05 Sygnecka: Auf den Spuren des Einzelnen
14
3.1 Der Einzelne in Canettis Masse
3.1.1 Auflösung Die Aufhebung des Individuums ist als die Übernahme der Eigenschaften der Masse zu ver-
stehen, quasi als Überblendung. Canetti beschreibt diese Überblendung als Augenblick der
Entladung. „In der Entladung werden die Trennungen abgeworfen und alle fühlen sich gleich“
(MuM 17). Wie ich aber bereits beschrieben habe, sind die Distanzen von Gegenseitigkeit
geprägt. Das Handeln eines Einzelnen bleibt ohne Wirkung.
Holz (1982: 13) beschreibt das „Todesbewusstsein, die Todesfurcht [als] die Reflexionsform
des Lebenswillens, die dem Menschen als Menschen eigen ist.“
„In der Masse, solange sie sich erhält, verschwindet der Tod des Einzelnen“, fährt Holz fort,
„Reflexion [Todesfurcht] ist nur im Einzelnen, wenn dieser seine Individualität aufgibt im
Eins-Gefühl mit den anderen fällt auch die Reflexionsform dahin.“ Die Auflösung des Einzel-
nen ist der Verzicht auf die Reflexion über das eigene Leben, oder dessen Komplementär-
menge, dem Tod. Handlungsleitend wird der Erhalt des Eins-Gefühl mit der Masse.
Der Entindividualisierungszustand der Einsfühlung, deren begrifflichen Ursprung Holz bei
Max Scheler sieht, wird mit dem Zustand einer Hypnose beschrieben: das geistige Zentrum
der noetischen (denkenden, erkennenden) Akte aller Art wird inaktualisiert, das vital-
automatische System aber wird seinen ältesten Funktionen und Bewegungsformen nach in
gesteigerte Tätigkeit versetzt; „Urteil, Wille, Wahl, Liebe und Hass des Hypnotisierten sind
dann nicht die ›seinigen‹“ (ders.).
Sollten Canettis Ideen diesen Ursprungs sein, befindet er sich theoretisch auf eine Linie mit
dem Rassisten8 Le Bon. Auch Le Bon beschreibt den Zustand der Massen als einen der „sich
sehr einer Verzauberung nähert, die den Hypnotisierten unter dem Einfluss des Hypnotiseurs
überkommt“ (Le Bon 1982: 16). Freud wendet ein: „Es muss uns als eine empfindliche Un-
vollständigkeit berühren, dass eines der Hauptstücke dieser Angleichung, nämlich die Person,
welche für die Masse den Hypnotiseur ersetzt, in der Darstellung Le Bons nicht erwähnt
wird“ (Freud 1993: 39f).
Bei Hegel ist die Auflösung des Individuums die Anhebung des Individuums auf eine höhere
Ebene: „Die Individualität existiert nicht mehr (denn ich bin Glied der Masse), aber sie ist
8 Für ihn werden Charaktereigenschaften, die aus „Ahnenspuren bestehen, aus denen sich die Rassenseele auf-baut“ (Le Bon 1982: 14), in Masse vergemeinschaftlicht, weil die bewussten „Verstandsfähigkeiten und damit auch die Persönlichkeit der Einzelnen verwischen“ (ders.).
Seminar: Masse und Macht; SoSe 05 Sygnecka: Auf den Spuren des Einzelnen
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aufbewahrt (denn ich bin noch ich selber), und sie ist auf eine andere Ebene gehoben (denn
die Masse ist mehr und mächtiger als ich)“ (Holz: 1982: 14).
3.1.2 Verinnerlichung der Masse Fuchs (1998: 322f) versteht unter diesem „befremdlichen Aspekt des Canettischen Œuvfres“
das die „Massenexistenz die normale Lebensbasis darstellt und die Masse nicht nur außer uns,
sondern auch in uns ist. […] [Ihrer] Auffassung nach will der Dichter damit ausdrücken, dass
der Mensch von Natur aus eine soziales Lebewesen ist, das die Disposition zur eigentlichen
Menschwerdung, also zur Verwandlung, besitzt, dass aber der Drang zu anderen hin, der
Drang zur Gleichheit, zur Dichte und der gemeinsamen Richtung einer Kultivierung von
Kindheit an bedarf.“
Diese Kultivierung dürfte jedoch von Gesellschaft zu Gesellschaft anders sein. Ich habe in
diesem Zusammenhang bereits auf Wimmers Interpretation der Produktionskultur verwiesen.
Piel (1984: 76) sieht in der modernen Gesellschaft, die bei ihm inzwischen auch 20 Jahre alt
ist, ebenfalls keine Kultur, die den Drang zur Gleichheit kultiviert: „In der modernen Massen-
gesellschaft erzeugt nun gerade der dauernde Anblick von Massen, in denen jeder Einzelne,
sich selbst verabsolutierend, um sich selber kreist, den objektiven Eindruck von einem Chaos
das auch im Inneren eines jeden zu sein scheint.“ Wie kommt es zum Chaos im inneren?
„Von der elementaren Vielheit der Natur bedroht, zielt alles im Menschen darauf ab, sein
Vereinzelung zu überwinden. Er tut das, indem er sich […] das anzueignen versucht was ihn
bedroht, die Masse“ (Streussloff 1994: 148). Das „Eigenleben, das der personifizierten Masse
zugesprochen wird, verlagert sich stillschweigend in das Innere des Subjekts, wird zu einem
Aspekt des Ichs“ (ders. 140).
Die äußeren Massen sind dann nach Piel (1984: 86) Gegenmassen zu den gefährlichen einver-
leibten Massen. Er macht dabei einen mythischen Zirkel auf: „ein Kreislauf, bei dem die ele-
mentare Natur zuerst vom Menschen einverleibt wurde, um nun in seinem Inneren ihre Wir-
kung zu tun und um schließlich auszubrechen und als objektives, nämlich als soziales oder
politisches Phänomen die Massen dieses Jahrhunderts zu bewegen.[…] Dabei ist das Moment
der Drohung und unmittelbaren Gewalt, dass die Menschen einst an der Natur in Schrecken
versetzt hat, durch alle Stationen bis in die Gegenwart mächtig geblieben.“
„Diese Gegenmasse hat ihren Selbsterhaltungs- und Anverwandlungstrieb in dem großen, die
Kollektive zusammenhaltenden ,Man‘ der Traditionen, Sitten und Gebräuche gefunden. Die-
ses ,Man‘ ist die allgemeine, das Leben, vor allem aber den harten Alltag strukturierende
Seminar: Masse und Macht; SoSe 05 Sygnecka: Auf den Spuren des Einzelnen
16
Kraft.[…] Das was man tut, tat sich seit eh und je und tut sich bis heute fast wie von selbst.“
(ders.: 70)
3.1.3 Verwandlungen Eine weitere Perspektive auf den Einzelnen eröffnet die Besprechung von Figur und Maske.
Anders als die Rollentheorie, die den Menschen im Geflecht von Rollenerwartungen verfan-
gen versteht, vermutet Canetti hinter all den Masken noch eine Figur. Die Maske versteckt,
was dem Einzelnen in der jeweiligen Situation nicht dienlich ist, sie versteckt, was der andere
als bedrohlich wahrnehmen könnte und ist genau deshalb bedrohlich.
Der Einzelne muss nicht gleich sein in einer Masse, er muss nur die gleiche Maske tragen.
„Von Maske zu Maske ist alles möglich, aber nur ein Maskensprung“ (MuM 444). Darin liegt
eine Widerholung des mehrfach geäußerten Verdachts, dass der Einzelne auch in der Masse
nicht sicher ist. In der schwachen Konzeption der plötzlichen Entladung und dem Gleichnis
der Festung mit den Verrätern im Keller kam diese Vermutung bereits auf. Schlussfolgernd
bleibt das zentrale Motiv für die Masse, die Angst des Einzelnen, schwach.
3.1.4 Massesymbole Canetti versucht „das Eigentümliche im Falle jeder Nation zu bestimmen“ (MuM 197) und
fragt sich dabei, worin die Angehörigen einer Nation glauben anders zu sein. „Es kommt hier
gar nicht so darauf an, worin er wirklich anders ist“ (ders. 198). Viel eher will Canetti das
„bestimmt Nationale, das als Glaube da ist“ herausdestillieren und deshalb „sollen also Natio-
nen hier so angesehen werden, als wären sie Religionen.“ Sobald sich jemand auf seine Nati-
onalität beruft „rückt etwas Umfassenderes in seine Vorstellung, eine größere Einheit, zu der
er sich in Beziehung fühlt.“ Der Einzelne sucht nach der Masse in sich und muss dabei, so
Canetti, Symbole einer Masse finden. „Der Angehörige einer Nation sieht immer sich selbst,
auf seine Weise verkleidet, in starrer Beziehung zu einem bestimmten Massensymbol, das
seiner Nation das wichtigste geworden ist“ (ders. 199). Wie eine Nation zu einem solchen
Symbol findet und unter welchen Umständen es sich verändert (und: „Es ist veränderlicher als
man denkt.“) bleibt bei Canetti freilich der Schilderung am Beispiel vorbehalten.
Für die vorliegende Arbeit ist diese, wie ich es empfinde, Unzulänglichkeit nicht von Bedeu-
tung und soll nicht weiter verfolgt werden. Viel eher ist es interessant, welche Rolle der Ein-
zelne in den beschrieben Nationen spielt, auch wenn Canetti vorsorglich abwehrt, „über den
individuelle Menschen selbst wird damit kaum etwas ausgesagt.“ Allgemeiner gesagt soll
beleuchtet werden, welche Individualität aus der verinnerlichten Masse abgeleitet wird.
Seminar: Masse und Macht; SoSe 05 Sygnecka: Auf den Spuren des Einzelnen
17
Dem Engländer attestiert Canetti einen „viel besprochene[n] Individualismus“ weil er sich
als Kapitän fühlt, der das Meer beherrscht.
Das Meer als Massesymbol ist derart wandelbar, dass es als Massesymbol kaum einer Wand-
lung unterliegt. Wenn der Engländer gerade nicht auf dem gefährlichen Meer ist, lebt er in
Sicherheit und Sittlichkeit zu Hause, so Canetti. Heute gibt es einen Tunnel aufs Festland, die
Kolonien sind von untergeordneter Bedeutung. Seit Magreth Thatcher ist auch heimischer
Besitz und Sicherheit nicht mehr so fundamental wie es vielleicht 1920 war. Das Meer hat
sicher nicht mehr die nationale Bindekraft. Dies ist die Stelle, an der die fehlende Systematik
eine Lücke hinterlässt. Es bleibt dem Interessierten die Beobachtung des Großbritanniers heu-
te.
Die Holländer, korrekt die Niederländer, haben den Deich verinnerlicht. „Vereint stemmen
sie sich dem Meere entgegen.“ Aus dem gleichen Massesymbol, dem Meer, leiten die Nieder-
länder ein bedeutend gemeinschaftlicheres Gefühl ab. Das Individuum wird eng verzahnt mit
dem Nachbarn gesehen. Die Überlegenheit, die der Engländer über das Meer fühlt, fühlt er
allein, in der Bedrohung fühlen sich die Holländer als Einheit.
Der Schimmelreiter, Held auf dem Deich, der an seiner individuellen Größe kaputt ging, war
Deutscher. Vielleicht ist es nur das Bild der Deutschen, die dem Holländer heute die wogende
Masse der Tulpenblüten, Tomatenstauden und Yuka-Palmen andichtet. Vielleicht ist es auch
die immer rotierende Masse der Container in Rotterdam, die Fahrräder vor dem Amsterdamer
Bahnhof oder die Wohnwagen auf deutschen Autobahnen, die den Niederländer, auch dessen
Frauen9, heute im inneren als Tropfen eines fließenden Stroms fühlen lässt. Es bleiben Ver-
mutungen, die so plausibel sie scheinen, nur von Canetti hätten mit einer solchen sprachlichen
Absolutheit vorgetragen werden können, dass sie als unumstößliche Wahrheit gegolten hätten.
Dem Deutschen rauscht im Herzen der Wald in Gestalt des strammen Heers. „Er fürchtete
sich da nicht; er fühlte sich beschützt, einer von diesen allen […], die treu und wahr und auf-
recht waren.“ Hier ist es zwar ein wenig individuelles Gefühl im Sinne einer Unterscheidbar-
keit untereinander, das dem Einzelnen innewohnt, aber es ist ein Gefühl der individuellen
Größe, das den Deutschen an sich befällt: reckenhaft und standhaft ist er der Baum und mit
der schroffen Uniform Rinde gekleidet.
Canetti ist meines Erachtens einem Mythos aufgesessen, wenn er glaubt, der deutsche Wald
hätte von jeher das Aussehen gehabt, dass ihm die Forstwirtschaft über die Jahre verliehen
hat. Es soll nicht verhehlt werden, dass das Soldatentum in Deutschland und seinen vorgängi-
9 Canetti spricht nur über die Männer: „Die Masse der Männer setzt sich selber dem Deiche gleich“ (MuM 201).
Seminar: Masse und Macht; SoSe 05 Sygnecka: Auf den Spuren des Einzelnen
18
gen Staatsgebilden eine staats- und kulturtragende Rolle gespielt hat. Gerade in Potsdam ver-
folgt ist dieses Erbe aus unterschiedlichen Gründen allgegenwärtig. Canetti mag auch Recht
darin haben, wenn er das Verbot der Wehrpflicht als tiefe Demütigung der deutschen Seele
zwischen den Weltkriegen kennzeichnet. Eben jene Wehpflicht erfreut sich allerdings heute
so geringer Beliebtheit, dass „der Knabe, den es aus der Enge zu Hause […] hinaustrieb“ sei-
ne Aufnahme ins Heer immer seltener erlebt. Ein paar Trägern robusten Schuhwerks scheint
das stahlhelmbewährte Heer immer noch auf der Seele zu brennen. Bleibt zu hoffen, dass bald
ein findiger Literat entdeckt, was die Lücke im Herzen der anderen Deutschen füllt.
Die Franzosen sind Kinder die Revolution. Als Umkehrmassen überwerfen sich in Frank-
reich die Unterworfenen regelmäßig mit den Herrschern. Der Einzelne lebt im ständigen Be-
wusstsein der sozialen Mobilität, die im extremsten Fall auf dem Friedhof endete. Alle kön-
nen sich als gleich begreifen, sie nehmen im langsamen Riesenrad der Geschichte nur unter-
schiedlich honorierte Plätze ein. Dieses Riesenrad dreht sich aber nicht nach ehernen Geset-
zen, sondern man muss was dafür tun. Man könnte sagen, es dreht sich solange, solange die
die unten sind hinausspringen, kräftig anschieben und wieder aufspringen.
Jüngstes Beispiel der Überwerfung ist die Absage an die Herrschaft aus Brüssel. Ein „Non“
auf der Mehrzahl der Wahlzettel um die Europäische Verfassung ist freilich harmloser als die
Guillotine – die öffentliche Aufregung war dennoch immens: Gerade die Franzosen…die Re-
volution frisst ihre Kinder. Vor einigen Jahren starteten die Franzosen den Generalangriff auf
ihre Eliten, die sich über die Elite-Universitäten beständig reproduzieren und für alles, also
auch alles Schlechte in Frankreich verantwortlich sind. Er blieb allerdings ohne Erfolg. Von
Frankreich geht auch die wohl meist beachtete Massenbewegung gegen vorherrschende
Lehrmeinungen und Wirtschaftsideologien aus. Hier scheint Canettis Beobachtung hinrei-
chend haltbar zu sein.
Dem Schweizer stehen nicht zu übersehen die Berge vor Augen. Ihr Land ist der massive
Leib der Alpen. Der Leib strahlt Sicherheit, Heiligkeit und Erhabenheit aus. Von der Masse
der Berge geht eine Anziehungskraft aus, die die Schweizer zusammenhält.
Dem Spanier geht es ebenso wie dem Engländer. Er fühlt sich als Bezwinger. Weil er ge-
konnt um ein Rind herumtänzeln kann ist er Herrscher über die Menge in der Arena. Da diese
Menge in vorigen Kapiteln als Ringmasse bezeichnet wurde, verinnerlicht der Spanier eine
Masse von Menschen. Es herrscht gefühlte Gleichheit auf höchstem Niveau.
Nach diesen beiden unkommentierten Beispielen folgen die letzten beiden Nationen. Die erste
bleibt ohne Massesymbol und die zweite vereint mehrere Massesymbole zu einem schmer-
zenden Bewusstsein. In beiden Fällen lässt sich keine Aussage zu Wirkung der inneren Masse
Seminar: Masse und Macht; SoSe 05 Sygnecka: Auf den Spuren des Einzelnen
19
auf den Einzelnen machen, außer die, das es den Einzelnen auch ohne innere Masse gibt und
dass mehrere Massesymbole keine überlegene Position des Einzelnen begründen.
Bei den Italienern bleibt Canetti ratlos. Dieser Nation sei kein Massesymbol aufzuzwingen
gewesen. Auch ist Italien der Rest des römischen Reiches und Rom ist zweigeteilt, eignet sich
also leidlich schlecht zur Einsfühlung.
Letztendlich widmet sich Canetti den Juden. „Narren mögen von ihrer Gleichheit überall
fabeln“ (MuM 208). Mit der Massenwanderung als schmerzliche Erinnerung hat das Masse-
symbol einen geschichtlichen Ursprung, den Canetti eingangs noch verwirft („Weniger noch
bedeutet dem normalen Menschen die Geschichte seiner Nation.“ MuM 198). Die Massen-
wanderung führt vierzig Jahre durch den Sand, die nackteste aller Massen, das Meer ist ihnen
gefügig – die Juden tragen mehrere Massen in sich.
3.1.5 Widerstand und Mahnung Der Aufruf „der Macht furchtlos ins Auge zu schauen“ (Werlen 1995: 158) wurde bereits als
Ausdruck der Hilflosigkeit beschrieben (Vgl. Abschnitt 2.1.2). Doch Werlen (1997: 158f)
findet eine „immer stärker werdende anonyme Stimme“, die voller „entsetzter und gedämpfter
Seufzer“ den Leser über „die Brüchigkeit seiner eigenen Existenz“ informiert. Die in den ers-
ten Kapiteln des Buches „ausgedrückte Angst ist nicht mehr Teil der distanzierten Phänome-
nologie der Macht, sondern ein Aufschrei des betroffenen Individuums in seiner Verletzlich-
keit.“ Werlen beschreibt diese Stimme als „narrative Artikulation, die verzweifelt versucht,
sich gegenüber der Permanenz von Macht Gehör zu verschaffen“ und so „das Individuum vor
seinem totalen Verschwinden bewahrt.“
Diese Deutung gelingt vor allem, weil Masse und Macht in den Kontext des canettischen Ge-
samtwerks gestellt wird. Barth (1994: 77f) schildert, wie sich in Canettis Roman „Die Blen-
dung“ die Zeilen und Buchstaben der Bücher gegen ihren Herrscher Kien wenden. Die Bü-
cher verweigern die Gefolgschaft aus verschiedenen persönlichen Eitelkeiten. In der Blen-
dung wird die Möglichkeit des Aufstands noch beschrieben. Es sind die Bände der deutschen
Philosophen, die den Aufstand wagen, aber Canetti stilisiert nicht die Gebildeten zum Träger
der Rebellion, den „die Stärke eines Gelehrten besteht in der Einschränkung aller Zweifel auf
sein Fachgebiet, […] im ganzen ergibt er sich dem, was gerade herrscht“ (Canetti: Die Blen-
dung; zitiert nach Barth 1995: 80). Außer dem universellen Schriftsteller, dem Hüter der
Verwandlung, enthält auch die Masse die Möglichkeit zum Widerstand. In der Umkehrungs-
masse bildet die Auflehnung eine eigene Kategorie der Masse. Es ist die Menge der Befehl-
stachel, die den Zeitpunkt der Umkehrung bewirkt (Vgl. Abschnitt 2.2.2). Die Kritik an der
Seminar: Masse und Macht; SoSe 05 Sygnecka: Auf den Spuren des Einzelnen
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eigenen Masse scheint es aber genauso wenig zu geben, wie den Gedanken, die „tragende
Affekte“ von Massen zu hinterfragen oder sich Massen, die einer bestimmten Richtung fol-
gen, der Richtung wegen anzuschließen oder sich des Anschlusses zu verweigern.
Auch Holz (1982: 22) findet erst in Canettis Aufsatzsammlung „Die gespaltene Zukunft“ eine
„Gegenutopie der Individualität und Machtlosigkeit“, die Canetti in Konfuzius’ Lehre ver-
wirklicht sieht. Konfuzius denkt Leben ohne Macht: „er erlaubt keinem Menschen Werkzeug
zu sein […] – wer Menschen nicht gebrauchen kann, übt auch keine Macht über sie aus. Die
Gesellschaft der Weisen ist das Gegenteil der Masse, jeder Einzelne ist an sich geachtet und
für sich verantwortlich.“ Der Verführung der Macht setzt Konfuzius die Verpflichtung durch
Beispiel und Nachdenken entgegen. Auch wenn Canettis Deutung des Konfuzius nicht der
konfuzianischen Realität entspräche, so sei dieser Aufsatz die einzige Quelle, in der „Indivi-
dualität und herrschaftsfreier Diskurs“ von Canetti als „utopische Gegeninstanz“ besprochen
werden.
Das Individuum gewinnt bei Canetti umso schärfer Kontur, je weiter man sich von der Dar-
stellung der Masse entfernt. Schon in der Schilderung des Machtphänomens in Masse und
Macht wird der Aktionsradius des Einzelnen deutlicher, in anderen Werken finden sich dann
Hinweise bis hin zur konkreten „Utopie des Individuums“. Der Blick über die Grenzen des
ersten Teils von Masse und Macht hinaus bleibt hier kursorisch und zeigt, dass man sich bei
der Suche nach dem Menschenbild des Menschenfreundes (Vgl. Fuchs 1998: 307) nicht von
der „vorrationalen sozialen Totalität“ (Werlen 1995: 152) der canettischen Massekonzeption
verunsichern zu lassen braucht.
3.2 Masse aus gutem Grund Aus den Schilderungen der Formen und Arten der Massen in Abschnitt 2.2 lassen sich erste
Anhaltspunkte dafür finden, dass die Menschen sich aus bestimmten Gründen in eine Masse
begeben. Sie glauben, aus der Masse persönliche Vorteile zu erzielen. Die Einzelnen wollen
sich die Masse zu Eigen machen. Die Masse kann insofern auch bei Canetti als Ergebnis ag-
gregierter Einzelhandlungen verstanden werden. Es wurde untersucht wie Canetti den entge-
gen gesetzten Weg geht: der Einzelne entspringt der Masse und exekutiert deren Willen. Im
Folgenden werden das Glück der Gleichheit, die Faszination der Masse, die Reduktion von
Unsicherheit und die Überwindung von Schwäche als individuelle Motive, sich in eine Masse
zu begeben, gedeutet.
Seminar: Masse und Macht; SoSe 05 Sygnecka: Auf den Spuren des Einzelnen
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3.2.1 Glück der Gleichheit Als Gründe für den Einzelnen, in die Masse zu gehen, nennt Canetti erstens das Glück der
Gleichheit. Distanzen und Unterschiede belasten den Einzelnen, weil diese ihn immer auf
sich zurück werfen. Distanzen werden, und dieser Gedanke könnte Canettis naturwissen-
schaftlichem Studium entspringen, durch beide Seiten mitbestimmt: eine Art unveränderliche
Ladung besteht zwischen den Einzelnen, die dafür sorgt, dass wenn der eine einen Schritt
vorgeht, der anderen einen Schritt zurück macht. Weil die gesamte Gesellschaft über diese
Kräfte verbunden und entfernt gleichermaßen ist, ist der Einzelne auf sich zurückgeworfen. In
Massen sind diese Kräfte aufgehoben und alle sind sich nah, gleich bedeutungslos, gleich
machtlos. Für sich selbst sind sie alle nichts. Streussloff (1994: 138) beschreibt diese Vorstel-
lung als „Phantasma des Glücks der Ungeschiedenheit, des Aufgehens in einer allumfassen-
den Einheit“.
Darin ist die Frage enthalten, inwieweit dieser Wunsch nach Gleichheit tatsächlich Beweg-
grund für die Menschen ist. Die ökonomische Rationalitätshypothese, die ihre methodische
Unschuld verloren hat und längst normativen Status erreicht hat, erzielt zusammen mit dem
Individualismus, den ein ähnliches Schicksal ereilt hat10, seine Wirkung. Mehr ist besser. Die
sozialistische Idee einer Gleichheit bei Null findet wohl kaum noch Anhänger, obwohl sie ein
nahezu mythisches Pathos ausstrahlt.
Barth (1994: 74) berichtet wie erwähnt darüber, wie in Canettis „Blendung“ die Bücher gegen
den Versuch der Gleichmachung rebellieren, als der Sinologie Kien sie mit dem Rücken zur
Wand stellen will. Die Namenlosigkeit wird als Grausamkeit begriffen: „[A]uch Kiens Masse
setzt sich aus Einzelnen zusammen, aus Individuen, die ihre Identität behaupten wollen.“ Ca-
nettis „Komödie der Eitelkeit“ zeige zudem die Gefahr, die vom Verlust der Identität ausgeht:
„Nicht nur die persönliche, auch die soziale Identifizierung ist betroffen“ (dies. 84). Masse ist
demnach ohne Identität gar nicht möglich, denn sie setzt voraus, dass man sich mit der Masse
identifiziert. Und Identität konstruiert Individuen.
3.2.2 Faszination der Masse Das Gefühl, nichtiger Teil eines großen Ganzen zu sein, wird aber durch das Gefühl relati-
viert, Teil eines großen Ganzen zu sein. Canetti beschreibt die Faszination der Masse bei der
Beschreibung der „affektiven Hauptformen der Masse“ (MuM 53).
10 Schon Adam Smith hat allen Wohlstand auf die Verfolgung individueller Eigeninteressen zurückgeführt, was oft als Anlass für den unzulässigen Umkehrschluss genommen wurde, Wohlstand sei nur durch ungebremste Eigeninteressenerfüllung zu erreichen. Ullrich Becks Individualisierungsthese hat dann auch, nicht unumstritten, in der Soziologie die Vereinzelung in eine soziale Ontologie überführt.
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Bei der Hetzmasse hat „[d]ie Eile, Gehobenheit und Sicherheit einer solchen Masse […] et-
was Unheimliches“ (MuM 55). „Eine Art Hochgefühl zeichnet die Massenflucht aus, sobald
sie einmal in Gang gekommen ist: das Hochgefühl der gemeinsamen Bewegung (MuM 60).
Die Verbotsmasse ist ergriffen vom Sakralen des Stillen und Leeren, dass ihre Weigerung,
etwas zu tun, hinterlassen hat. „Das Interdikt […] erhebt sie ihrer Alltäglichkeit und verleiht
ihr eine ganz besondere Würde“ (MuM 64). Das Gefühl in Umkehrungsmassen wird nicht
näher beschrieben, es ist ein Setzen seines Selbst in eine höhere bzw. reinere Position. In der
Festmasse ist „[d]ie Atmosphäre für den Einzelnen […] eine der Lockerung“ (MuM 70) und
neue Gäste steigern „in Sprüngen die allgemeine Freude“ (MuM 71).
Für solche Momente, meine ich, lebt der Mensch und für viele ist der Erwartungswert zukünf-
tigen Glücks kleiner als das, was das Gefühl beim Eintauchen in die Masse abzüglich des er-
warteten Verlusts an zukünftigem Glück verspricht. Barth (1994: 69) zitiert Canetti, der sich
bei einer Protestkundgebung gegen die Ermordung Rathenaus der ungeheuren Anziehungs-
kraft der revoltierenden Masse ausgesetzt sah und ihr verfiel.
Es ist eine zu diskutierende Frage, ob die benannten Gefühle mit tierischen Instinkten und
animalischen Trieben gleichzusetzen sind. Ich denke kaum. Je nachdem, ob man der Definiti-
on von Rationalität als einer Fähigkeit, Leidenschaften mit einer Wahl in Handlungen zu ü-
bersetzen, (Vgl. Allingham 1999: 2) folgt, so kann die Hingabe an eine Masse als optimale
Erfüllung von Leidenschaften gedacht werden. In Zeiten, in denen Leidenschaften es schwer
haben, weil wirtschaftliche oder gesellschaftliche Zwangslagen es nicht zulassen, kann der
Weg in die Masse ein gut durchdachter Weg sein, sich sein Glück zu verschaffen.11
3.2.3 Reduktion der Unsicherheit Rationelles Handeln bedarf allerdings einiger Vorrausetzungen. Unter anderem ist dies eine
Begrenzung der Kontingenz von Wirkungen von Handlungsalternativen. Das heißt, wenn ich
in einer unsicheren Welt über die Konsequenzen meiner Handlungen im unklaren bin und
jede Handlung quantitativ zu jedem Ergebnis führen kann, kann ich nicht rational handeln,
also die beste Alternative auswählen. Dies ist besonders dann gegeben, wenn die Wirkung
einer Handlung von den Handlungen anderer abhängt. Die von Canetti attestierte Angst vor
Unbekannten kann unter diesem Gesichtspunkt als Reduktion der Unsicherheit eines Men-
11 José Ortega y Gasset argumentiert hier entgegengesetzt: Massen sind Orte der Gelüste und Leidenschaften und nur Menschen, die von wirtschaftlichen und traditionellen Zwangslagen befreit sind, können Massenmenschen sein (Gasset 1930: 40).
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schen begriffen werden, der im innersten ein rationales Wesen ist.12 Es muss also nicht die
Angst vor dem Tier im anderen sein13, sondern schlicht die Möglichkeit eines anderen Inte-
resses, dessen Konsequenzen auf die eigenen Handlungen gefürchtet wird. „Lieber eine siche-
re Kirche voll mit Gläubigen als die ganze unsichere Welt“ (MuM 20) schreibt Canetti und
beschreibt damit ein Motiv für den Einzelnen, in die Masse zu gehen, in der von einem glei-
chen Interesse ausgegangen werden kann. Das Moment des gleichen Interesses von Massen
hat sich von einer anfangs festgestellten Tautologie zu gemeinsamen Affekten und daraus
resultierenden positiv erlebten Gefühlen verdichtet.
3.2.4 Überwindung von Schwäche Erst wenn man versucht solche gemeinsamen Interessen ernster zu nehmen, dann wird ein
weiteres Argument des Einzelnen für die Masse plausibel. Canetti beschreibt das Urgefühl der
Schwäche gegenüber der Natur, die Menschen in Massen treibt. In der Masse liegt „die Chan-
ce, das Gefühl der Schwäche zu überwinden, das aus dem Wissen um die eigene Verletzbar-
keit und Hilflosigkeit resultiert“ (Piel 1984: 66).14 Die Überwindung von Schwäche kann
umformuliert werden in das „Erlangen von Kraft“ und Kraft hat eine Richtung, also auch et-
was, auf die sie gerichtet ist. Dies könnte das Ziel sein, dass Canetti ja auch als eine der vier
Eigenschaften der Masse formuliert. Nur kann dieses Ziel nicht das Ziel eines Subjektes Mas-
se sein, wenn der Einzelne seine Schwäche in ihr zu überwinden versucht. Masse wird hier als
Produkt einer Kooperation von Vielen gedeutet und damit Canettis Ansatz des furchtbaren
animalischen, raubmordenden Berserkers15 im Menschen in der Zwangsjacke der Kultur von
den trampelnden Füßen auf den denkenden Kopf gestellt.
12 Le Bon (1982: 31) verfolgt noch eine weitere Stoßrichtung des Sicherheitsarguments. In der Masse bestehe die „Gewissheit der Straflosigkeit, die mit der Größe der Menge zunimmt“, denn „[u]nglücklicherweise ruft der Überschwang schlechter Gefühle bei den Massen den vererbten Rest der Instinkte des Urmenschen herauf, die beim alleinstehenden und verantwortlichen Einzelnen durch die Furcht von Strafe gezügelt werden.“ Von den Aspekten der Verachtung der Massen abstrahiert, lautet das Argument, dass eventuelle negative Folgen des ei-genen Handelns für andere unschärfer zurechenbar sind. Unabhängig davon, ob diese negativen Folgen in Kauf genommen werden oder nicht intendiert sind, sinkt das Risiko einer Handlung, die Sicherheit steigt. 13 Canetti übertrage „die dem Tierreich entnommene Vorstellung von der Präsenz eines allgegenwärtigen Fein-des auf den Menschen“ (Streussloff 1994: 144) 14 Canetti ist hier noch auf der Vorstufe der Masse, der Meute. Außerdem glaubt er, die Idee der Kooperation sei von den Urvölkern der Tierwelt entlehnt. Auch wenn hier der Ansatz vertreten wird, die Menschen hätten selbst gelernt, dass es zusammen besser und schneller geht, und die größere Einheit Masse betrachtet wird, so denke ich verliert das Argument nicht an Kraft. 15 Canetti besteht auf „Identität des Menschen mit den Tieren” (Piel 1984: 68): „Dass sich alles wie in einem Affenhaus, von Aggression gepeitscht, bis auf den Tod bekämpft“ (ders. 69).
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4 Zusammenfassung Canettis Werk „Masse und Macht“ wird erst durch die Einordnung in sein Gesamtwerk und in
die Zeit der Entstehung verständlich. Der Schreibstil, der gesetzten Axiomen wie zum Beweis
einzelne Phänomene folgen lässt und so einen Eindruck der Gesetzmäßigkeit hinterlässt, wur-
de als nomologische Phänomenologie identifiziert. Er steht der Intention des Autors, den
Menschen über die Macht aufzuklären und vor der Unterwerfung zu warnen, diametral entge-
gen. Die Unfassbarkeit der Ereignisse des zweiten Weltkrieges verboten jedoch, hatte man
noch ein Funken Achtung vor der Spezies, dieses Verhalten als „vernünftig“ zu interpretieren.
Canetti ontologisiert deshalb die Masse und gibt ihr vier Eigenschaften: Wachstumsdrang,
Gleichheit ihrer Moleküle, Tendenz zur Dichte und die Notwendigkeit einer Richtung. Die
Darstellung ist insoweit inkonsistent, dass die Angst bleibt, die Gleichheit (noch) tautologisch
scheint und die Ziele Wachstum und Dichte zueinander in Konflikt stehen. Die Einteilung von
Massen nach Affekten scheint hingegen plausibel. Später zeigt aber die Erweiterung der Af-
fekte um die Gehälter von Meuten, dass diese Liste nicht vollständig ist. Der Einfluss der Kul-
turen wird in einem Satz weggewischt und ich glaube nicht, dass sich Massen ohne diesen
Einfluss auch nur modellhaft beschreiben lassen.
Auf den Spuren des Individuums in Canettis Masse werden dessen Auflösung als Verlust ei-
ner Todesfurcht und Einsfühlung beschrieben. Hegel sieht in der Auflösung gar die Hebung
des Einzelnen auf ein höheres Niveau. Die Verinnerlichung der Masse steht mit der Auflö-
sung des Individuums in engem Zusammenhang. Massen als Phänomene werden als Gegen-
gewicht zu der den Einzelnen zu erdrücken drohenden verinnerlichten Masse gesehen. Die
Verwandlung als Möglichkeit des Maskensprungs wird als Indiz gewertet, dass es innerhalb
der Masse keine Sicherheit geben kann – jederzeit kann der andere die Maske abnehmen und
die furchtbarste Figur entblößen. Anhand der Massensymbole von Nationen wurde, als erste
Anwendung, gezeigt, dass durch verschiedene verinnerlichte Massen ein anderes Individuali-
tätsbewusstsein entsteht. Die konkrete Zurechnung auf eine Nation muss kritisch hinterfragt
werden, Canetti hinterlässt hier eine theoretische Lücke. Sucht man nach Möglichkeiten des
Widerstandes findet man in anderen Werken Canettis, die nicht die nomologische Strenge von
Masse und Macht haben, Ansätze. Als konkrete Gegenutopie ist dabei die konfuzianische
Idee des sich selbst auferlegten Verbots, anderer Menschen Werkzeug zu sein am weitestge-
henden.
Als zweiten größeren Anwendungsblock wird versucht, die Hypothese des willentlichen
Grundes auf die von Canetti beobachteten Phänomene anzuwenden. Das Glück der Gleichheit
scheint dabei wenig plausibel, die Faszination der Masse hingegen macht das Entstehen von
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Massen aus dem Individuum heraus verständlich. Auch die Reduktion der Unsicherheit als
Vorraussetzung rationalen Handelns und die Überwindung von Schwäche durch Kooperation
helfen Massenbildungen zu verstehen ohne das Tier in uns zu bemühen.
Auch wenn so die eben auch durch Canettis rhetorische Strategie vermittelte Aussage, alles
Verhalten ließe sich durch Triebe animalischen Ursprungs erklären, entkräften ließ, so ist da-
mit nicht gesagt, dass erstens alles Handeln der Vernunft der Einzelnen entspringt, noch dass
die Maßstäbe, die zur Massenbildung führen, gut oder schlecht sind. Mit der Darstellung des
Grundkonsenses nach Wimmer wurde ein Ansatz präsentiert, die Maßstäbe auf der Gesell-
schaftsebene zu verorten. Die Bewertung dieser Maßstäbe bleibt dann den Philosophen oder
dem gesunden Menschenverstand vorbehalten.
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