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Auf dem Weg in eine andere Welt Œ - Katholische … · Außerdem wird es mit ihrer Inkontinenz...

Date post: 17-Sep-2018
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18. W O R K S H O P MEDIZINETHIK Auf dem Weg in eine andere Welt zum Umgang mit dementen Patientinnen und Patienten Dokumentation
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Auf dem Weg in eine andere Welt �zum Umgang

mit dementen Patientinnen und Patienten

� Dokumentation �

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18. WORKSHOP-MEDIZINETHIK

Auf dem Weg in eine andere Welt �zum Umgang mit dementen Patientinnen und Patienten

Dokumentation vom 13. März 2004in der Französischen Friedrichstadtkirche

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Inhalt

Anstelle eines Vorwortes 7

Szenisches Anspiel 9

Dr. Hubertus Meyer zu Schwabedissen, BraunschweigWas sehen, fühlen, denken demente Menschen? 13

Verena Wetzstein, FreiburgDie Beziehung zum dementen Menschen zwischen Nächsten-und Selbstliebe 21

Dr. Elke Schumann und Prof. Dr. Michael Schecker, FreiburgWie gelingt die Kommunikation mit dementen Menschen? 35

Statements aus der Praxis 56

Dr. Gisela Dimroth, BerlinZum Umgang mit dementen Menschen aus ärztlicher Sicht 56

Andrea Reeck, BerlinZum Umgang mit dementen Menschen � Perspektiven der Pflege 60

Christa Matter, BerlinZum Umgang mit dementen Menschen �Patientinnen,Patienten und Angehörige 65

Referentinnen und Referenten 71

Bisherige Veröffentlichungen 72

Vorbereitung 73

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Anstelle eines Vorwortes

Menschen mit Demenz leben unter uns. Sie sind für uns jedoch nicht immererreichbar. Ihre Gedanken scheinen fern und undurchschaubar, aber wir wollen,dass sie pünktlich zum Essen kommen, nachts schlafen und den Herd nicht an-drehen, bevor sie das Haus verlassen. Somit ist schon das Zusammenleben imAlltag eine Herausforderung. Im Krankenhaus spitzt sich diese zu: Bei den Patien-ten kommen Ängste auf: wo bin ich, was machen diese Fremden mit mir undwarum geht es mir so schlecht? Angehörige sind voller Sorge, Pflegende und Ärztefinden oft schwer Zugang zu den Patienten und können Pflege, Diagnostik undTherapie häufig nur mit Schwierigkeiten durchführen.

Gibt es eine Verbindung zwischen der Welt der Demenzkranken und �unserer�Welt? Wie bleiben Menschlichkeit und Würde erhalten? Welchen Beitrag im Um-gang mit Dementen leisten Angehörige, Pflegende und Ärzte?

Diesen Fragen ging der hier dokumentierte Workshop Medizinethik am 13. März2004 nach. Wir laden Sie herzlich dazu ein, den Überlegungen und Impulsenmit Ihrer Lektüre noch einmal Aufmerksamkeit zu widmen.

Simone EhmEvangelische Akademie zu Berlin

Dr. Martin KnechtgesKatholische Akademie in Berlin

Dr. Jeanne Nicklas-Faust

Professor Dr. Thomas PorallaSt. Joseph Krankenhaus

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Szenisches Anspiel

Handelnde Personen:

Verwirrte Alte: Frau Müller: örtlich und zeitlich nicht orientiert, eherglücklich, 87 Jahre alt, urininkontinent (Anne Gerling)

Krankenschwester Christine: kompetent, fürsorglich, beschäftigt (AndreaReeck)Tochter: Frau Müller-Gerken, 55 Jahre, kümmert sich um die Mutter,wohnt im gleichen Haus, berufstätig in Vollzeit, Verwaltungsangestellte8.30 � 17.00 Uhr (Beate Schneider)Sozialarbeiterin Fr. Wagner, pragmatisch, kompetent, optimistisch (Dr.Jeanne Nicklas-Faust)Ärztin Frau Rose: bereits Feierabend, hat Entlassung geplant, Tochternoch nicht informiert

Vorgeschichte:

Frau Müller ist 87 Jahre alt. Sie lebt mit Ihrer 55-jährigen Tochter zusam-men in einer 4-Zimmer-Altbauwohnung in Berlin. Sie ist verwitwet undseit einigen Jahren zuckerkrank. Seit fünf Jahren ist sie zunehmendverwirrt. Ein ambulanter Pflegedienst kommt einmal täglich zur Insulin-gabe. Der Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung wurde vor einemhalben Jahr abgelehnt. Vor fünf Tagen wurde Frau Müller aufgrund einesSturzes bei Unterzuckerung ins Krankenhaus aufgenommen.

Eine alte Frau irrt durch den Raum, nestelt an ihrer Tasche, sucht etwas,fragt nach Essen, kramt in ihren Taschen, findet alte Brotreste, Eierscha-len, legt die Dinge irgendwo ab, irrt weiter durch den Raum, verliert ihreUnterhose.

Schwester Christine trifft die Tochter auf dem Flur:

Sr. Christine: Ach, gut dass Sie da sind Frau Müller-Gerken, haben sie dieSchuhe und den Mantel mitgebracht?

Frau Müller-Gerken: Wieso denn das?

Sr. Christine: Ja, hat denn Frau Dr. Rose nicht mit Ihnen gesprochen? IhreMutter wird doch morgen entlassen.

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Frau Müller-Gerken: Nein, ich habe sie schon seit zwei Tagen nicht er-reicht, aber um Rückruf gebeten. Entlassung das geht doch gar nicht, ichhabe zu Hause überhaupt nichts vorbereitet und der Pflegedienst, der im-mer zum Spritzen kommt, weiß auch noch nicht Bescheid.

Sr. Christine: Der Pflegedienst ist informiert und der Mittagstisch weiß auchschon Bescheid.

Frau Müller-Gerken: Aber das können sie doch nicht machen.Meine Mutter ist doch erst einige Tage da und noch gar nicht richtig ge-sund. Außerdem, wie soll das gehen. Ich weiß ja schon gar nicht mehr, womir der Kopf steht.Ich kann meine Mutter doch kaum noch alleine lassen, sie findet sich inder Wohnung immer weniger zurecht, die Nachbarn haben sich schon be-schwert, weil sie tagsüber öfter durchs Haus irrt und überall klingelt, neu-lich ist sie sogar auf die Straße gelaufen und wusste nicht mehr, wo siewohnt � zum Glück traf sie auf Leute aus dem Nebenhaus, die sie kennen.Ich kann sie doch aber nicht einschließen...Außerdem wird es mit ihrer Inkontinenz immer schlimmer und sie ziehtsich immer die Windelhose aus, ich hatte gehofft, dass sie gegen ihre In-kontinenz hier noch etwas tun können. Man kann einen Menschen dochnicht einfach von einem Tag zum anderen auf die Straße setzen.

Sr. Christine: Oh, das tut mir sehr leid. Da ist ja offensichtlich einiges nichtgut gelaufen. Es ist wirklich ärgerlich, dass Sie noch nicht informiert wur-den. Die letzten Tage waren hier sehr turbulent. Das neue Abrechnungs-system zwingt uns, unsere Patienten immer schneller zu entlassen, manch-mal ist das für alle Beteiligten sehr schwierig. Aber der Blutzucker ist inOrdnung und so haben wir keinen Anlass mehr, Ihre Mutter noch stationärzu behalten. Hier im Krankenhaus können wir nichts mehr tun, was nichtauch ambulant getan werden könnte.

Frau Müller-Gerken: Was soll ich denn jetzt machen?

Sr. Christine: Gehen sie zu Frau Wagner, das ist unsere Sozialarbeiterin.Sie hat noch eine halbe Stunde Sprechstunde. Dort hinten ist ihr Büro.

Frau Müller-Gerken: Was ich ursprünglich von Ihnen wollte: Wo ist eigent-lich meine Mutter, sie ist nicht in Ihrem Zimmer.

Sr. Christine: Oh nein, nicht schon wieder � Frau Müller! - (Schwester Chri-stine sucht Frau Müller.)

Frau Wagner telefoniert hektisch mit einem Pflegedienst: �Ja, ich weiß,dass das schwierig ist, aber irgendeiner muss es doch machen. Und Ihre

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Station ist nun wirklich direkt gegenüber. Der Hausarzt ist informiert und-wird ihnen eine Verordnung für die Behandlungspflege ausstellen und diePflegeversicherung ist auch durch.Vielen Dank! Ja, bei der nächsten Entlassung werden wir früher Bescheidsagen, aber es ist heute alles schneller geworden, da kommen wir ja gera-de noch so mit, unsere Patienten schaffen das oft nicht so leicht � Kranken-haus ist eben nur noch für ganz akute Fälle da, der Rest muss Zuhausegehen.�

Frau Müller-Gerken: Die Schwester hat mich zu Ihnen geschickt, meineMutter soll morgen entlassen werden, aber das kommt alles so plötzlichund ich weiß gar nicht, wie das gehen soll.

Frau Wagner: Ihre Mutter? Können Sie mir mal sagen, wie Sie heißen undwo Ihre Mutter liegt?

Frau Müller-Gerken: Entschuldigen Sie, natürlich, ich bin noch völlig durch-einander, weil auf einmal alles so schnell geht. Mein Name ist Müller-Gerken und meine Mutter ist Frau Müller liegt auf Station 23.

Frau Wagner: Ja, und nun erzählen Sie mal, wo liegt das Problem?

Frau Müller-Gerken: Ich weiß nicht mehr, wie ich das alles Zuhause orga-nisieren soll. Ich habe jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn ich zurArbeit gehe und meine Mutter alleine in der Wohnung zurück lasse. ZumGlück kommt ja noch der Pflegedienst zum Spritzen, aber wenn dort dieBezugsschwester wegen Urlaub oder Krankheit ausfällt, dann wird auchschon mal übersehen, dass sie noch darauf achten sollen, dass meine Mut-ter noch frühstückt.

Frau Wagner: Also, Ihre Mutter hat einen ambulanten Pflegedienst, da wollenwir doch mal sehen, was der übernimmt, und ob er schon informiert ist.Wie ist es denn mit dem Essen?

Frau Müller-Gerken: Die Schwester hat gesagt, dass der ambulante Pflege-dienst und auch der Mittagstisch schon informiert sind. Das mit dem Essenklappt aber nicht mehr so richtig. Meine Mutter bekommt zwar den Mit-tagstisch, der Fahrer hat einen Schlüssel und stellt ihr das Essen ins Zim-mer, aber sie vergisst dann das Essen. Ich rufe sie täglich mehrmals von derArbeit aus an, am Anfang hat das ja noch gut geklappt, aber inzwischenkomme ich oft heim und das Essen steht unangerührt da.Ich hatte wenigstens gehofft, dass sie eine Pflegestufe bekommt, aber diewurde vor einem halben Jahr abgelehnt. Meine Mutter hat dem Gutachterauch erzählt, dass sie noch alles alleine macht und meine Einwände habenihn nicht interessiert,...

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Frau Wagner: Wenn sich der Zustand Ihrer Mutter verschlechtert hat, könn-ten wir einen Neuantrag bei der Pflegeversicherung stellen. Es wäre dannsinnvoll, dass sie ein Pflegetagebuch führen, damit kann man durchausetwas bewirken.

Frau Müller-Gerken: Trotzdem, selbst wenn es mit der Pflegestufe diesmalklappt, wie soll dass alles weiter gehen, ich will sie doch nicht in einHeim abschieben, andererseits kann ich bald nicht mehr. Ich habe seitzwei Jahren keinen Urlaub mehr gemacht und habe bereits ein Magenge-schwür...

Frau Wagner: Zum einen denke ich, wir sollten mal alle Unterstützungs-möglichkeiten optimieren, kennt sich der Pflegedienst denn mit Demenzaus? Die Pflegestufe sollten wir angehen und wenn die Pflegestufe gewährtwird, kann man auch über eine Kurzzeitpflege nachdenken, damit Sie malrauskommen. Für Sie wäre es vielleicht auch gut mit einer Angehörigen-gruppe Kontakt aufzunehmen, da kann man sich austauschen, wird richtigverstanden und bekommt oft gute Tipps, ich gebe Ihnen mal ein Faltblattmit der Telefonnummer mit. Und schließlich könnten Sie ja mal überle-gen, ob eine Tagespflege das Richtige für Ihre Mutter wäre, da wäre sietagsüber versorgt.

Das Telefon klingelt, Frau Wagner hebt ab. Sr. Rosie, ach der Sohn ist jetztda, gut ich komme gleich hoch, legt auf, ja- Frau Müller-Gerken, ich habejetzt noch einen dringenden Termin auf einer Station, deshalb muss ich dasGespräch erst mal beenden, ich würde aber vorschlagen, dass wir wegender nächsten Schritte morgen früh telefonieren, die Entlassung selbst scheintja schon komplett organisiert zu sein?

Frau Müller-Gerken: Ja, leider. Aber Sie haben da viele gute Ideen. VielenDank, dass sie sich Zeit genommen haben. Ich würde Sie dann morgenfrüh anrufen, jetzt gehe ich erst mal zu meiner Mutter. Dieses Gesprächhat mir schon ein wenig weiter geholfen.

..... Aber ..... es ist halt einfach alles so furchtbar schwierig.

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Was sehen, fühlen, denken demente MenschenDr. Hubertus Meyer zu Schwabedissen, Braunschweig

Mein Auftrag lautet eine medizinische Einführung in das zu geben, wasDemente Denken, Wollen und Fühlen! Wird ein Bericht über Tatbestände,also etwas Objektives erwartet? Beinhaltet das Adjektiv medizinisch eineBegrenzung auf sichere medizinische bzw. naturwissenschaftliche Sach-verhalte? Warum möchte ich bei dem einzelnen Kranken wissen, was eroder sie denkt, will oder fühlt? Es gehört zu den Rechten eines Menschendarüber keine Rechenschaft ablegen zu müssen. Bei den meisten Mitmen-schen und natürlich auch Patienten weiß ich nicht, was sie Denken, Wol-len und Fühlen. Kann ich auch bei dem Demenzkranken akzeptieren, dassmich das ungefragt nichts angeht, oder erlaubt mir die veränderte Kommu-nikationsfähigkeit diese Rechte zu missachten?

Wenn ich auf die nachfolgenden Beiträge sehe, glaube ich annehmen zudürfen, dass die Beziehung und Kommunikation zwischen Arzt und Patienteigene, von den �medizinischen� Tatbeständen abgrenzbare Aspekte sei-en. Was mit medizinisch wohl gemeint ist geht am ehesten aus den Leitli-nien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Diagnostik und The-rapie der Demenzen hervor. Dort wird nach fortschreitendem Gedächtnis-verlust, von Einschränkungen bei den Aktivitäten des täglichen Lebens -erweitert um instrumentelle Aktivitäten-, von Hirnwerkzeugstörungen z.B. Apraxie Aphasie, Agnosie, Exekutivfunktionsstörung gefragt. Mancheverweisen noch darauf, dass die Diagnose Demenz streng genommen erstgestellt werden darf, wenn eine Pathologischanatomische Untersuchungdurchgeführt wurde mit Hilfe derer es gelingt, die Demenz durch charak-teristische mikroskopische Veränderungen des Gehirns zu beweisen - aller-dings erst nach dem Tode! Die verminderte Kommunikation und Bezie-hung der Nervenzellen untereinander im Gehirn ist in pathologisch-anatomischer und pathophysiologischer Hinsicht ein Charakteristikum derVeränderungen. Als zusätzliches Kriterium wird aber auch die bedeutsa-me Beeinträchtigung der sozialen und beruflichen Funktionsbereiche ge-fordert mit deutlicher Verschlechterung des früheren Leistungsniveaus. DesWeiteren der schleichende Beginn, der fortgesetzte Abbau und derAusschluss anderer Erkrankungen, die diese Symptome verursachen kön-nen. Bei dieser Definition bekommen die individuellen Krankheitsfolgeneine Bedeutung. Es ist also die Rede von Beziehung, Kommunikation oder

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Teilhabe, nicht aber vom Denken, Wollen und Fühlen des Patienten.Ist das Denken, Wollen und Fühlen mit Absicht außen vor gelassen?

Die Demenzerkrankung mit ihren Folgen auf Aktivitäten und Teilhabe istnicht ein Ereignis, dass sich innerhalb kurzer Zeit entwickelt, sondern inder Regel ein über Jahre verlaufender Prozess der Schädigung, bei dembesonders deutlich wird, dass Fähigkeitsstörungen und Einschränkung derTeilhabe sich ganz allmählich entwickeln.

Damit wird die Beschränkung auf das Medizinische bereits verlassen. Die-se Krankheit kann in das neue Konzept der WHO über den Zusammenhangvon Krankheit und Behinderung gut eingeordnet werden. Bei diesemKrankheitsbegriff müssen Art und Ausmaß der Behinderung beachtet wer-den, ebenso wie die zusätzlichen Kontextfaktoren. Die Behinderung istanders als im Krankheitsfolgenkonzept nicht mehr persönliche Eigenschaft.Es handelt sich bei der Behinderung um ein soziales Verhältnis zwischenbehindertem Menschen und Umwelt (vgl. Davy in: SDSRV 2002; Niemann,NZS 2001, 583, 584). Dabei stehen die Faktoren anders als beim Krankheits-folgenkonzept nicht in einer eindeutigen, vom Körperschaden ausgehen-den Kausalbeziehung, sondern in einer prozesshaften Wechselwirkung alsSynthese zwischen einem medizinischen Behinderungsbegriff, der alleinean persönlichen Faktoren ansetzt, und einem sozialen Behinderungsbegriff,nach dem Behinderung ein im wesentlichen gesellschaftliches Phänomenist. Umweltfaktoren werden mit einbezogen im Sinne der physikalischen,sozialen und einstellungsbezogenen Umwelt, in der der Kranke sein Lebengestaltet. Der soziale Kontext als Feld der Auseinandersetzung und Ort dersozialen Manifestation der Krankheit wird ebenfalls verändert, nicht nurdadurch, dass er die Krankheitsfolgen ausgleicht.

Die Demenzkranken sind nicht nur deswegen eine besondere Herausforde-rung, weil sie zahlenmäßig zunehmen, sondern weil eine auf Gestaltung,Funktion und Teilhabe ausgerichtete Gesellschaft nicht bereit ist, mögli-cherweise auch nicht bereit sein kann, auf Mitglieder Rücksicht zu neh-men, die diesem Anspruch nicht genügen. Damit sind diese Menschenheute bereits in einem Stadium �krank� in dem sie in früheren Zeiten nochals Spielart des Normalen hätten �gesund� weiter leben können.

Wenn ich mich mit dem Thema beschäftige, verlasse ich bereits den vor-gegebenen Rahmen einer medizinischen Einführung und berücksichtigeneben der Kommunikation und Beziehung auch das Denken, Wollen undFühlen. Warum wollen wir denn medizinisch wissen, was Demente Den-ken, Wollen und Fühlen. Ist es der Wunsch sie zu verstehen, um die Vor-

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aussetzung für Kommunikation zu schaffen? Ist es dann möglich, mit denBetroffenen angemessener umgehen zu können? Oder ist es die Absicht,sich zu vergewissern, ob das, was man missversteht, woran man scheitertund sich erschöpft, ein objektivierbares, allgemein anerkanntes Phänomenist, bei dem man sich der Solidarität der anderen vergewissern kann? Ist esdie Suche nach Gewissheiten im �Meer der Verrücktheiten�? Oder suchtman die Sicht eines Patienten: Hilft es weiter, wenn Betroffene gefragtwerden könnten? Ich kann das, was Demente denken, wollen und fühlen,nicht wissen, wenn der Patient nicht davon spricht. Die Krankheit ist abergerade dadurch gekennzeichnet, dass die Fähigkeit zur Abstraktion undReflexion zunehmend eingeschränkt ist. Kann ich aus den Verhaltenswei-sen nicht erkennen, was den Patienten bewegt? Liegen Wollen und Fühlendieser Menschen nicht offen vor mir? Jeder, der seine Mitmenschen, Ge-sunde wie Kranke, beobachtet, zieht Schlüsse und glaubt, richtig beobach-tet zu haben, wenn die Reaktion und die Äußerungen den Erwartungenentsprechen. Wenn unter diesen Einschränkungen zumindest die Gefühleoffen liegen, warum fällt der Umgang mit Dementen so schwer?

Da Demenzerkrankungen per definitionem immer weiter voranschreiten,gibt es keine Zeugen für das Denken, Wollen und Fühlen von Demenz-kranken vom Zeitpunkt des Auftretens der Erkrankung bis hin zum Tod.Streng genommen sollte ich mir also nicht erlauben, über Zustände zureferieren, die den Anschein einer Demenzerkrankung erwecken (zumBespiel beim Delir oder bei schweren Krankheiten und nach Operationen).Die Gleichsetzung von Delir und Demenz ist abgesehen von seltenen Ver-laufsformen unter medizinischen Gesichtspunkten in aller Regel falsch.Dennoch lade ich Sie ein, über eine solche Hilfsbrücke zu gehen und sichden Bericht einer 80jährigen Patientin anzuhören, die im Stadium des Deliresmanchem Arzt und dem Pflegepersonal dement erschien. Da die Patientindiesen Text später schreiben konnte und darüber differenziert reflektierenkonnte, ist klar, dass es sich nicht um eine Demenz gehandelt haben kann.Auch wenn es sich also um ein Konstrukt handelt, verdeutlicht dies aber,wie die Welt in einem solchen Ausnahmezustand wahrgenommen werdenkönnte:

�Aus dem Fenster sehe ich auf einen modernen roten Klinkerbau, der ander Fassade Symbole der modernen Wissenschaft hat: Formeln, Porträtsvon Berühmtheiten. In einer hochrankenden Kletterpflanze sind Menschen-gesichter, grün wie das Laub, beweglich. Das Haus, in dem ich meistenslebe, hat sehr merkwürdig eingerichtete Räume, überall sind Vorhänge inden Hauptfarben grün und blau, ein Karomuster. An mehreren Fenstern als

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Aufkleber Pinguine. Draußen vor dem Fenster hüpft auch manchmal einMann vorbei in einem Pinguinkostüm � In dem Haus gibt es Waren, dievom deutschen Staat verkauft werden. Wir sind eine Gruppe von Entführ-ten oder auch gefangen genommenen, die hier auf ihren Verstand über-prüft werden. Wer keinen hat, für den kann noch Lösegeld bezahlt werden,sonst wird er entsorgt.� An anderer Stelle fährt die Patientin fort. �DieseGeschichte ist aber nur ein Teil der Erlebnisse, es gibt noch mehrere ande-re Schauplätze und �Mitspieler�. Auch treten hin und wieder Menschenaus meinem realen Leben auf� All diese realen Menschen sind aber nurmal kurz und wesensfremd in meinem neuen Leben dabei. Viele Dingelassen sich jetzt nicht mehr mit Worten erfassen. Ich habe Erlebnisbildervor mir, aber wenn ich sie mit Worten schildern will, entgleiten sie mir.Vieles wird in einer Art Zerrspiegel sichtbar. Vor allem Zeiten, Stunden,Tage, Daten sind nicht greifbar. Manches dehnt sich unendlich lange, an-deres krümmt sich und geht ganz schnell.

Wie nähert sich die Wissenschaft diesem Phänomen? Das Thema einerVeröffentlichung lautet beispielsweise (S.Re, Z.Gerontol Geriat 36:447-453(2003): �Emotionale Ausdrucksverhalten bei schweren demenziellenErkrankungen.� Die Mimik der Untersuchungsteilnehmerinnen wurde miteiner Videokamera gefilmt. Die so entstandenen Sequenzen waren zwi-schen 2 und 10 Minuten lang. Für die Auswertung wurden aus den Video-clips nach zuvor definierten Kriterien jeweils Sequenzen bis zu einer Mi-nute Dauer entnommen und in dieser Sequenz die Mimik analysiert. DieMimik wurde mit dem Facial Action Coding System (FACS) ausgewertet.Bei FACS handelt es sich um ein Kodiersystem, mit dem alle sichtbarenmimischen Bewegungen erfasst werden können. Auf anatomisch muskulä-rer Grundlage sind 44 Grundkomponenten bzw. Aktionseinheiten definiert,die das Basisreportoire mimischen Ausdrucks darstellen.� Bei dieser Arbeitwurde als dieses Ziel definiert: �Als vorrangig sehen wir allerdings dieImplementierung von Interventionsmaßnahmen in Alten- und Pflegehei-men sowie die Entwicklung eines praktisch handhabbaren Instrumenteszur Erfassung von Lebensqualität bei demenziell erkrankten Menschen instationären Einrichtungen an�.

Da es keine Menschen gibt, die insbesondere von schweren Stadien be-richten können, bleiben wir trotz des Erlebnisberichtes und begleitenderwissenschaftlicher Untersuchungen auf Vermutungen und Spekulationenangewiesen. Unterscheiden sich die verschiedenen Stadien der Demenz-erkrankung nur im Ausmaß der Defizite? Oder führt der zunehmende quan-titative Verlust von Fähigkeit und Teilhabe in eine andere Welt des Den-

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kens, Wollens und Fühlens? Und wenn, wann ereignet sich der qualitativeSprung? Können wir diesen Qualitätswechsel � wenn es ihn denn gibt �bemerken? Ist es vielleicht der Zeitpunkt, an dem nicht mehr der Patientan seiner Krankheit zu leiden scheint, sondern seine Angehörigen? Ist vondiesem Augenblick an das, was ich mir vom Denken, Wollen und Fühlendes Dementen vorstelle, ganz unangemessen, weil unsere Vorstellungeneiner anderen Qualität, aus einer anderen Welt sind? Viele von Ihnen ken-nen die Bilder des Malers Horn, der unvoreingenommen betrachtet eineEntwicklung vom handwerklich akkuraten Kunstmaler und Werbegraphik-er zur naiven, farbenkräftigen in Rot und Gelb gehaltenen Kunst vollziehtunter Missachtung der Regeln der Perspektive und wirklichkeitsgetreuerAbbildung. Diese Kunst bleibt Kunst, auch wenn die Entwicklung nichtdurch eine Reifung der Person und einer Änderung der Technik des Malenserklärt werden kann, sondern Symptom der fortschreitenden Demenz-erkrankung zu sein scheint. Wenn ich diese Kunst als solche anerkenne, istes eine andere Qualität der bildlichen Darstellung. Die Interpretation derBilder als Ausdruck eines vorwiegend kognitiven Verfalls ist zumindest zuBeginn auch möglich, aber nicht unbedingt richtiger.

Was hilft es aber dem Betroffenen, und mehr noch dem Betreuenden wenner zum Denken, Wollen und Fühlen des Dementen vordringen möchte, umIhn zu verstehen und ihm gerecht zu werden. Es hilft vielleicht zu verste-hen, dass wir nicht immer und vollständig in dessen Welt eindringen kön-nen. Je weiter fortgeschritten die Krankheit ist, umso weniger können wirfolgen. Der gute Diagnostiker erkennt eine Demenzerkrankung relativ früh.Er folgt dem Kranken nur in seine Welt nur, um in kritischer, abwägenderBeurteilung und Distanz die Diagnose zu stellen. Dem allzu einfühlsamenTherapeuten und Angehörigen droht, dass er die Erkrankung insbesonderemit den Störungen der Fähigkeit und Teilhabe in ihrer Bedeutung nichteinzuschätzen weiß oder gar übersieht, wenn er dem Kranken in seineWelt folgt und in dieser Welt agiert.

Diese Unwägbarkeiten und die eigene Unsicherheit braucht eine Theorieoder Vorstellung von dem was die Kommunikation mit dem Demenzkrankenbehindert. Allerdings scheint es komplizierter als der erste Anschein ver-muten lässt, da wir ohnehin nicht wissen können, was jemand, sei er nungesund oder krank, denkt, fühlt oder will, wenn er es nicht berichtet odermöglicherweise nur averbal zum Ausdruck bringt, weil ihm gewisse kogni-tive und kommunikative Fähigkeiten verloren gehen oder verloren gegan-gen sind. Wir wissen noch nicht einmal genau, ob der Betroffene seineWünsche, sein Fühlen und sein Denken wahrnimmt, also Selbstreflexion

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übt oder üben kann und wenn er es denn kann, ob er es uns mitteilen kann.Mit �Mitteilung� ist hier nicht nur das gesprochene Wort gemeint. Der�Gegenstand� unserer Betrachtungen ist kein Gegenstand im engeren Sin-ne. Wir können das Denken, Fühlen und Wollen ohnehin nur in einer Formwahrnehmen, die Gesunde oder Kranke in der Lage sind zu äußern. Es istnicht nur der eigentliche Gegenstand der Erörterung � wie in derWahrnehmungsphilosophie im allgemeinen angenommen wird � nicht zu-gänglich, sondern wir können auch nicht sicher sein, ob die Mitteilungendarüber (oder besser die Zeichen oder Symbole für die sie stehen), diesel-ben Inhalte repräsentieren, die wir selbst, die wir uns nicht für dementhalten, dafür verwenden würden.

Das, was wir wahrnehmen, wird noch entsprechend unserer eigenen Vor-stellungen vom Denken, Fühlen und Wollen des Kranken verändert. Dasnehme ich aber nur wahr und ist für mein Bewusstsein nur dann existent,wenn ich ein geeignetes Wahrnehmungsinstrument habe: Das Auge fürLichtwellen, das Ohr für den Schall und so weiter. Gilt das auch für dieWahrnehmung des Denkens, Wollens und Fühlens von Demenzkranken?Besitzen wir dafür ein Wahrnehmungsinstrument? Es wird ja nicht der Ge-genstand in diesem Fall das Denken, Wollen und Fühlen an sich wahrge-nommen, sondern nur Zeichen von ihm. Diese Zeichen erlauben nur danneine Ordnung der Welt, wenn die Gegenstände und Zeichen � wie kom-plex auch immer � korrelieren. Dadurch ergibt sich für alle an diesemSystem Beteiligten und die, die Regeln kennen und anwenden können,eine ausreichend zuverlässige Gesetzmäßigkeit zur Ordnung der Dinge.

Bei den Demenzkranken werden wir verunsichert, denn die ausgesandtenZeichen sind zwar vertraut, aber sie sind Zeichen eines anderen Sachver-haltes, eines anderen Zustandes, der uns nicht bekannt, geschweige dennvertraut ist.

Wir empfangen Zeichen aus einer qualitativ veränderten Welt des Kran-ken, deren Gesetzmäßigkeit und das wo für sie stehen nicht mit dem über-einstimmt, was wir erwarten zu empfangen. Damit ist eine Störung derKommunikation und des gegenseitigen Verständnisses unausweichlich.

Reicht dies aus, um zu erklären, warum Demenzkranke alle diejenigen,die mit ihnen umgehen, über kurz oder lang vollständig vereinnahmen underschöpfen? Haben wir einen erwachsenen Menschen vor uns, der jedeVerantwortung für sein Tun nach und nach nicht mehr übernimmt und letzt-lich verliert? Erscheint er uns wie ein Kleinkind, das in selbstverständlicherRücksichtslosigkeit alle Kräfte derjenigen absorbiert, die sich mit ihm ernst-

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haft befassen und nicht ausweichen? Im Gegensatz zum Kind geschiehtdas aber bei Demenzkranken nicht in dem Verlangen die Welt mit Neu-gierde und Tatendrang zu erobern, an der eigenen Phantasiewelt zu erpro-ben und die Fähigkeit zur Teilnahme am Kommunikationsystem zu erler-nen, sondern als Ausdruck einer schwindenden Kommunikations- undBeziehungsfähigkeit, die die Teilhabe am sozialen Leben zunehmend er-schwert.

Es gibt also Hindernisse, das zu erfahren, was Demenzkranke denken,wollen und fühlen. Unabhängig von Krankheit hat ein jeder das Recht,das, was er denkt, will und fühlt für sich zu behalten. Und wenn ich esdennoch für besser halte, darüber Bescheid zu wissen, was mein Gegen-über bewegt, werde ich aus prinzipieller Erwägung Gefahr laufen, Deutun-gen für richtig zu halten, die der Welt des Dementen nicht entsprechen.Nachvollziehbarkeit ist eine Falle � nachvollziehbar bedeutet weder rich-tig (von mir beobachtet) noch richtig oder falsch (von anderen gesehen),noch sachlich zutreffend. Nachvollziehbar ist auch nicht gleich wünsch-bar oder angemessen. Es geht eher darum was tragbar ist. Wie weit aber istdas, was nachvollziehbar ist, erträglicher?

Dennoch � ich habe ja ein Publikum vor mir, das weiß, was geboten ist imUmgang mit dementen Menschen. Ein Publikum, das weiß, dass

� in der Verwirrtheit Sinn entdeckt werden muss, um sie zu ertragen;

� es schwer wird, wenn Beschämung und Betroffenheit als �Schikane� oder�Lüge� interpretiert werden;

� Schreie Stille ausfüllen können und die Sehnsucht nach Nähe ausdrük-ken kann;

� es hilfreich ist, kindliches Verhalten als Ausdruck des Wunsches nachSicherheit und Geborgenheit zu sehen. Ein Publikum das gute Erfahrunggemacht hat, wenn es Verwirrtheit als �Suche nach Halt� sieht und Wahn-ideen als Reaktion auf Verlust. Ein Publikum, dass

� durch Verleugnen von Verlust das seelische Gleichgewicht besser erhal-ten werden kann;

� es nicht oft nicht unmöglich ist, einen Realitätsbezug von �Halluzinatio-nen� und �Unruhe� zu sehen und motorische Unruhe als Darstellung einesinneren Konfliktes;

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� man in der Phantasiewelt auch verborgene Wünsche erkennen kann undhinter dem Wahn den Kontaktwunsch nicht einen Angriff;

� �nervende� Kontaktwünsche nicht als �aggressives Verhalten� interpre-tiert werden müssen;

� engagierte Gespräche mit den Kranken zu seiner Stärkung beitragen;

� es den Demenzkranken nicht wie ein Kind behandeln darf, auch wenndies ein gängiges Verhaltensmuster in einer asymmetrischen Beziehungist, auch dann nicht, wenn der Kranke wie ein Kind geliebt wird;

� sich auf der anderen Seite darüber im Klaren ist, das man immer wiederSteuerungsfunktionen für den Kranken übernehmen muss.

Ausgestattet mit dieser Einstellung haben wir zumindest das theoretischeRüstzeug, in eine fruchtbare Kommunikation und einen angemessenenUmgang mit dementen Menschen zu treten. Haben wir deshalb aber auchschon eine Vorstellung von dem, was der Betroffene denkt, fühlt oder will.?Nein! Wir haben nur Erklärungen und Handlungsanweisungen, Interpreta-tionen und eigene Schutzräume gefunden, die dringend notwendig sind,das nicht Verstehbare zu begreifen und uns die Aufgabe erleichtert, würdigmit Dementen umzugehen.

Die oben genannten Ratschläge gehen also nicht unbedingt von dem Den-ken, Wollen und Fühlen der Dementen aus, sondern es wird eher der um-gekehrte Weg eingeschlagen. Es wird versucht die Frage zu beantwortenwie ein Umgang mit dem Patienten möglich ist, ohne dass der Betreuteaber auch der Betreuende daran zu Grunde geht. Der richtige Umgang mitDemenzkranken wird daran gemessen, ob eine Entlastung für Patienten,Angehörige und Dritte erreichbar ist, ohne dass einer von diesen Schadennimmt. Es ist also eher ein pragmatischer Umgang mit den Bedürfnissenund den Beziehungen als eine Frage nach dem, was der Patient wirklichdenkt, will und fühlt.

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Die Beziehung zum dementen Menschen zwischenNächsten- und SelbstliebeVerena Wetzstein, Freiburg

1. Das öffentliche Bild der Alzheimer-Demenz

�Ein Gespenst geht um in Europa �� wer kennt sie nicht, die ersten Wortedes Kommunistischen Manifests. So wie die von Marx aufgeworfene Frageeiner gerechten Verteilung der Güter dem 20. Jahrhundert ihr Signum auf-drückte, so steht zu befürchten, dass die Demenz das 21. Jahrhundert mitähnlicher Intensität prägt. Dieses neue Gespenst huscht meist unsichtbarund im Verborgenen vorüber, doch seit einigen Jahren taucht es regelmä-ßig und in zunehmender Frequenz in der Öffentlichkeit auf. Einer drohen-den Gefahr gleich, die ihre Schatten vorauswirft, um deren Existenz manweiß, die jedoch einen solchen Schrecken evoziert, dass man froh ist,wenn es aus der Öffentlichkeit wieder abgetaucht ist � wohl wissend, dasses wieder kommen wird: gewachsen, intensiver und drängender.

Dieses Bild drängt sich dem Betrachter1 förmlich auf, wenn man unter-sucht, wie das Thema Demenz im Alter im öffentlichen Diskurs behandeltwird. Nicht nur die Zahl der Veröffentlichungen und Beiträge hat in denvergangenen Jahren stetig zugenommen, sondern vor allem die Sprache,in der in der Öffentlichkeit von Alzheimer-Demenz die Rede ist, ist voneinem immer gleichen Grundtenor bestimmt. So ist in der Öffentlichkeitvon Alzheimer-Demenz die Rede als von einem �Tod bei lebendigem Leib�,einem �Tod im Leben�, einem �lebendigen Begräbnis�, einem �menschen-unwürdigen Siechtum�, einem �schreckliche[n] Leiden � demütigend fürden Patienten�, einer �Beraubung der Humanität�, einem �schrecklichenAlptraum�, der �Jahrhundertkrankheit� oder von dementen Menschen als�Dorftrottel[n]�.2

Derart drastische Bilder müssen als Indiz für zweierlei gelesen werden:zum einen dafür, dass das Phänomen Alzheimer-Demenz die Menschenbewegt; zum anderen dass, da eine weitergehende inhaltliche Füllung derBilder zumeist ausbleibt, eine Dämonisierung der Alzheimer-Demenz statt-findet. Nicht Sachaussagen werden getroffen, sondern drastische Szenari-en und Bilder müssen dafür herhalten, um Demenz öffentlich überhaupt inWorte bringen zu können.

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Mit dem Thema Demenz sind Ängste und Befürchtungen verbunden. FürBetroffene und Angehörige3 stellt sich der dementielle Prozess als einepersönliche Tragödie dar. Indem der Geist des Betroffenen förmlich zerfres-sen zu werden scheint, die Patienten gleichsam in einem Meer des Verges-sens zu ertrinken scheinen, stellt die Alzheimer-Demenz im Umfeld einerauf Autonomie und Selbstbestimmung bedachten Kultur nicht mehr undnicht weniger als einen Angriff auf das Selbstverständnis des Menschendar. Diese Verunsicherung übt einen solchen Schrecken aus, dass derdementielle Prozess dämonisiert und die Betroffenen stigmatisiert werden.Ein gesellschaftlicher Diskurs (im Sinne von einer zielgerichteten Ausein-andersetzung mit dem Thema) über die mit Alzheimer-Demenz verbunde-nen Probleme und Fragen fehlt aber nahezu vollständig � öffentlich prä-sent sind vorwiegend einseitige Bilder.

Unvereinbar mit diesen öffentlichen Bildern zur Demenz steht ein andererDiskurs daneben, ein privater Diskurs. Dieser wird von einem gänzlichverschiedenen Tenor beherrscht. Die Aussagen pflegender Angehöriger spie-geln das mutige, manchmal verzweifelte, hoffnungsvolle, manchmal er-nüchterte, aber immer zuneigende und liebende Handeln wider. Da ist dieliebevolle Rede von �meinem kleinen Mädchen�, von �was sie früher fürmich getan hat, das muss ich jetzt für sie machen�, von den Gesten undReaktionen, die in aller Verwirrtheit des Betroffenen bis weit in die De-menz hinein erfahrbar sind. Da wird von der Person des dementen Men-schen gesprochen, die, wenn auch schemenhaft und verdeckt, doch nocherfahrbar ist.

Miteinander vereinbar scheinen diese beiden Diskurse kaum zu sein. Zwi-schen der öffentlichen Rede über Demenz und dem Diskurs, den Angehö-rige und Nahestehende pflegen, besteht ein fundamentaler Unterschied.Woher rührt diese Diskrepanz? Wieso klaffen öffentliche und private Bil-der so weit auseinander? Und vor allem: Müsste nicht der private Diskursgestärkt werden?Ich strebe im Folgenden in fünf Schritten eine grundlegende Reflexion überdas Beziehungsgeschehen Demenz an und werde dabei auf einer grund-sätzlichen Ebene kritisch gesellschaftliche Muster reflektieren undHandlungsoptionen aufzeigen.4

2. Medizin als Leitwissenschaft der Alzheimer-Demenz

Ein erster Schritt gilt der Frage: Wie kommt es zu den einseitigen Bildern

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im öffentlichen Diskurs? Welche inhaltlichen Kriterien stecken hinter dendrastischen emotionalen Bildern, wie ich sie eben genannt habe? Mit an-deren Worten: Woraus generiert sich das gegenwärtige öffentliche Demenz-konzept?5

Vor nunmehr 30 Jahren wurde, so meine These, durch die Delegation derDemenzen an die Medizin ein methodischer Reduktionismus in die öffent-liche Debatte übertragen. Bis dahin war öffentlich kaum von Demenzendie Rede. Verwirrte Menschen im Alter waren �senil�, �verkalkt� oder ähn-liches. Indem die senile Form der Alzheimer-Demenz als Krankheit defi-niert wurde,6 hat es sich die Öffentlichkeit vermeintlich sehr leicht ge-macht: Für Krankheiten ist die Medizin zuständig. Diagnostizieren undHeilen oder Leiden lindern � das sind die Kernaufgaben der praktisch täti-gen Ärzte. Im vergangenen Jahrhundert ist es der Medizin gelungen, zahl-reiche bislang als unheilbar geltende Krankheiten zu therapieren. DieseErwartung und Hoffnung bringt die Öffentlichkeit der Medizin auch imBereich der Demenz entgegen. Die daraus resultierende Hochschätzungder Medizin hat es ermöglicht, die Deutungskompetenz auch zur Alzheimer-Demenz auf die Medizin zu übertragen. Orientierung an Experten undderen Wissen erscheint heute als die Möglichkeit der Wahl, um komplexeVorgänge und Phänomene handhabbar zu machen. So gilt die Medizinheute als die Leitwissenschaft, die zuverlässig Aussagen zur Demenz trifft.Das Konzept, das die Medizin von Demenzen entworfen hat, impliziertverschiedene Punkte:7 Zum einen definiert sie Demenzen als Krankheiten� die es zu heilen gilt. Dabei liegt der Fokus vornehmlich auf den kogniti-ven Einbußen, die den Prozess der Demenz bestimmen. Ihrem Anliegender Diagnostik und Therapie gemäß konzentriert sich die Medizin desWeiteren auf das Anfangsstadium der Demenz: Wann treten die ersten Sym-ptome auf (Diagnose) und wie ist (so lautet die Frage heute) in den An-fangsphasen der Verlauf verzögerbar (�Therapie�)? Nichts anderes als dasihrem Auftrag der Erkennung und Heilung von Krankheiten Gemäße tut dieMedizin.

Dieses, für die Medizin sehr angemessene, biomedizinische Konzept derDemenz fand nun allerdings über das trojanische Pferd naturwissenschaft-licher Objektivität Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs über Demenz.Wenn heute über Demenz gesprochen wird, dann wird in den von der me-dizinischen Forschung bereitgestellten Kategorien gehandelt. � Mit weit-reichenden Folgen:

Das medizinische Konzept der Demenz hat, naturgemäß, Leerstellen. Die

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Hilfskonstruktion der Trennung in Phasen und Stadien des Demenzprozessesführte in der medizinischen Betrachtungsweise dazu, die �zweite Hälfte�der Demenz, dann, wenn nach dem momentanen medizinischen Kenntnis-stand �nichts mehr zu tun ist� (als Pflege),8 auszublenden: Für die Betroffe-nen in einem weit fortgeschrittenen Stadium besteht von medizinischerSeite keine Zuständigkeit mehr.

Die Realität der zahlenmäßigen Zunahme dementer Menschen in den ver-gangenen und kommenden Jahren drängt die Gesellschaft nun dazu, überDemenzen nachzudenken. Da kein anderes Konzept zur Verfügung steht,wird das vermeintliche Geschenk der Medizin geöffnet und das biomedi-zinische Konzept aus dem zitierten trojanischen Pferd entlassen. Es erobertunsere Gazetten und prägt nachhaltig unser Bild der Demenz. DemKategorienfehler, dass die Medizin kein objektives Gesamtbild des Demenz-prozesses zur Verfügung stellt, sondern Beschreibungen für ihren ausschnitt-haften Bereich der Wirklichkeit liefert, sind wir damit erlegen. Die Ver-nachlässigung der späten Phasen der Demenz hatte eine gesellschaftlicheDämonisierung zur Folge. Die Hochschätzung der geistigen Leistungsfä-higkeit unserer Tage tat ihr Übriges dazu: Demenzen erscheinen uns alsein Bruch mit den Werten unserer Gesellschaft. Wer nicht über sein Lebenselbst bestimmen, nicht rational handeln kann, gilt nicht viel in einemleistungsorientierten Umfeld. Damit war das Schreckbild �Alzheimer� kom-plett.

Reduktionen, wie sie die Medizin dringend vornehmen muss, wurden alsallgemeingültig übernommen. Dies betrifft im Kern einen anthropologi-schen Reduktionismus, der zu Einseitigkeiten in der Bewertung führt undLeerstellen zur Folge hat. So stehen durch die Konzentration auf Diagno-stik und Therapie in den Anfangsphasen der Demenz für Demente in spä-ten Phasen, bei denen die kognitiven Einbußen bereits so weit fortgeschrit-ten sind, dass keine verbale Kommunikation mehr möglich ist, keine Kate-gorien zur Verfügung. Zum anderen impliziert der verengte Blick auf diekognitiven Einbußen, mit denen die Demenz auch aber eben nicht nureinhergeht, ein reduktionistisches Menschenbild. �Der Demente� erscheintals ein monadisches Einzelwesen, der lebensgeschichtslos, beziehungslos,unberücksichtigt seiner Leiblichkeit dem Prozess der Demenz ausgeliefertist. Sowohl die professionelle Pflege als auch pflegende Angehörige, dievom dementiellen Prozess mitbetroffen sind, geraten gar nicht erst in dasBlickfeld des öffentlichen Diskurses. Nahezu der gesamte Pflegebereich,professionell wie laienhaft, bleibt allein gelassen. Er kommt im gesell-schaftlichen Diskurs kaum vor.

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3. Christliche Anthropologie: Relationalität

Aus verschiedenen Gründen halte ich diesen eben beschriebenen gegen-wärtigen öffentlichen Diskurs für reduktionistisch. Im Unterschied dazugehe ich davon aus, dass es sich bei der Demenz im Kern um einBeziehungsgeschehen handelt. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass vonDemenz in erster Linie in anthropologischen Kategorien zu sprechen ist.Folglich sind Aspekte hervorzuheben, die im gegenwärtigen Diskurs kaumvorkommen.

Lassen Sie uns im Folgenden einen Blick werfen auf ein theologisches, imGrunde biblisches, Menschenbild und untersuchen, wie weit es im Bereichder Demenz trägt.

In einer ebenso geheimnisvollen wie folgenreichen Kurzformel, die unterBezugnahme auf den ersten Schöpfungsbericht der Genesis9 von derGottebenbildlichkeit des Menschen spricht, sind die Grundlinien des bibli-schen Menschenbildes vorgezeichnet.

Die Gottebenbildlichkeit des Menschen lässt sich nun in verschiedeneArgumente ausfächern, von denen ich hier unserem Thema entsprechendnur auf zwei eingehen möchte:

Zum einen: Indem der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, kommtihm eine unverwechselbare und unveräußerbare Würde zeit seines ganzenLebens zu. Bild Gottes ist damit jeder Mensch, um seiner selbst willen,weil er in seinem geschöpflichen Sein etwas von Gott widerspiegelt. Ach-tung und Liebe gelten dem Menschen auch dann noch, wenn er seinenatürliche Anziehungskraft verloren hat.10 Bezogen auf die Demenz be-deutet dies: Es ist ein und derselbe Mensch, der als Dementer über dasgleiche Lebensrecht verfügt wie als Alternder, Erwachsener, Neugeboreneroder Ungeborener. Unserer lebensweltlichen Intuition entspricht ja auchdie Beobachtung, dass die Abwesenheit von Bewusstsein nicht die Abwe-senheit der Person ist. Die Person geht auch dann nicht verloren, wennGehirnfunktionen schwinden. Diese Identität der Person ist eng gekoppeltan die Kontinuität: Sie geht davon aus, dass die menschliche Existenz ineinem einzigen Kontinuum verläuft, das sich in verschiedene Lebensab-schnitte einteilen lässt, die jedoch alle zur Zeitgestalt ein und derselbenüber ihre verschiedenen Lebensphasen mit sich identischen Person gehö-ren.11 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Tatsache, dass der Demenzprozessohne moralisch relevante Zäsuren verläuft, erst ihre volle Bedeutung: Kei-

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ne noch so große Zahl von Plaquesablagerungen im Hirn eines alzheimer-dementen Menschen vermag es, eine Zäsur darzustellen � der Prozess derDemenz läuft vielmehr als eine Kaskade ab, in der keine relevanten Ein-schnitte festzustellen sind. Zu jedem Zeitpunkt in der Demenz steht derMensch in Kontinuität mit seinem Leben voller individueller Wertsetzungen,die er Zeit seines Lebens ausgebildet hat.12 Dass ein dementer Mensch inder Endphase seines Lebens angelangt ist, verlangt zwar praktisch Rück-sicht auf diese besondere anthropologische Lebenssituation; in grundle-gender Hinsicht ändert das aber nichts an seinem würdevollen Dasein.Eine Teilung in eine zu behandelnde erste Hälfte der Demenz und einevernachlässigbare zweite Hälfte kommt von einem theologischen Blick-winkel aus nicht in Frage. Darüber hinaus nimmt die theologische Anthro-pologie im Unterschied zum gegenwärtigen Diskurs die leib-seelische Ein-heit des Menschen in den Blick. Gegen eine einseitige Fixierung auf dieKognition ist daran zu erinnern, dass der Mensch zwar als ein vernunft-befähigtes Wesen bestimmt ist. Er muss aber seine Vernunftbegabtheit nichtzu jedem Zeitpunkt gleichermaßen ausüben. Ein Personverständnis, dasallein auf kognitive Fähigkeiten abhebt und der konkreten Leiblichkeitdes Menschen keine Beachtung schenkt, bleibt abstrakt. �Es verfehlt dieunhintergehbaren Existenzbedingungen konkreter Personen [�],�13 zu derdie Dimension der Leiblichkeit wesentlich gehört.

Zum anderen: Gegen die Darstellung des dementen Menschen alsmonadisches Einzelwesen stellt der biblische Befund die Relationalität desMenschen, das Leben in Beziehungen. Als Abbild des trinitarischen Gottes,der in sich selbst Relation zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist ist, kannder Mensch sein Leben nur im Verhältnis zu anderen leben: zu Gott, zu seinenMitmenschen (Nächsten) wie auch zu sich selbst. Menschliche Liebe undmenschliches Leben hat damit immer ein Gegenüber. Es gehört wesentlichzum Menschsein, dass man es nur in Relation, d.h. in Bezug auf andereund mit anderen zusammen ist. So konstituiert sich das Selbst eines Menschenauch nur im Spiegel des anderen, im Spiegel seines Gegenübers. Dementewerden nicht zu Einzelwesen � auch wenn sie im Verlauf des Prozesses denKontakt mit ihrer Umwelt nach und nach verlieren mögen. Selbst in der ex-tremen Hilflosigkeit der Demenz kann die Würde des Menschen von anderenwahrgenommen werden.14 Die Sichtbarmachung von Würde ist ein inter-aktionelles Geschehen. Sie wird dem Dementen von demjenigen entge-gengebracht, der ihn in seinem veränderten Sosein versteht und annimmt.Begegnung mit dementen Menschen bedeutet damit immer auch den Voll-zug eines Anerkennungsaktes, indem der Angehörige, der Pflegende oderder Arzt seine persönliche Beziehungsfähigkeit zum Ausdruck bringt.15

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4. Die unersetzliche Rolle pflegender Angehöriger

Im christlichen Menschenbild und seinem Kernpunkt der Relationalität desMenschen kommen wesentlich Angehörige und Pflegende in den Blick.Dabei besteht zwischen den Beziehungen, die professionell Pflegende undAngehörige zum dementen Menschen haben können, ein fundamentalerUnterschied, der für die weitere Reflexion nicht außer Acht gelassen wer-den darf.

Während Angehörigen zunächst keine vordefinierte Rolle zukommt, istdas Pflegpersonal immer in einer professionellen Rolle in die Verantwor-tung gestellt. Sie haben es in ihrer Ausbildung gelernt, wie mit Krankenund der Pflege bedürftigen Menschen umzugehen ist. Sie kennen prakti-sche Handgriffe und haben ein professionelles Instrumentarium zur Hand,wenn es darum geht, einen emotionalen Zugang zu dementen Menschenzu finden. Eine professionelle Rollendistanz ist möglich. Im Unterschieddazu haben sich Angehörige meist nicht vorbereitend mit der Situationeines Demenz-Prozesses auseinander setzen können. Sie haben es sichnicht ausgesucht, und doch werden sie direkt von dem dementiellen Prozessbetroffen. Sie sind in einem guten Sinne Laien, die in einem familiären,die Beziehung in den Vordergrund stellenden Verhältnis demente Men-schen begleiten. Doch haben Angehörige im Unterschied zu professionellPflegenden niemals Feierabend. Das Diktum des 36-Stunden-Tages ist Le-gion.16 Es sind die Angehörigen, die von der besonderen Situation des De-menz-Prozesses neben den Betroffenen am meisten berührt sind: In derRegel erkennen sie die Veränderungen der Patienten als erste, sie initiie-ren Arztbesuche und leisten oftmals einen Großteil der Pflege.

Es liegt in der Eigenheit des Demenzprozesses, dass den Angehörigen eineunersetzliche Rolle zukommt, die nicht von professioneller Pflege ausge-füllt werden kann. Wo das Kurzzeitgedächtnis nachlässt, Erinnerungen anlängst Vergangenes aber lange erhalten bleiben, braucht es gerade dieAngehörigen, die um einer empathischen Betreuung willen die Vorliebendes Betroffenen kennen. Wer sonst sollte Auskunft geben über Gewohnhei-ten und Neigungen der dementen Person, die nur aus der Biographie derBetroffenen erkennbar sind? Versuche, wie sie nun in einem FrankfurterPflegeheim stattfinden, in dem so genannte Erinnerungszimmer zusammen-gestellt werden, sind sicherlich von hohem Wert.17 Dort werden Gegen-stände aus der Jugendzeit heute hochaltriger dementer Menschen zusam-

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mengetragen, um diesen eine Brücke zur eigenen Welt zu bauen und Wohl-befinden zu ermöglichen. Doch zeigen sie auch die Hilflosigkeit, mit de-nen die professionelle Pflege behaftet ist, da sie den Lebenslauf und diePersönlichkeit des dementen Menschen selbst nicht kennt.

Es bedeutet Eulen nach Athen tragen, wenn ich an dieser Stelle noch einenzweiten Aspekt nenne, aufgrund dessen Angehörige heute als Pflegendebedeutsam werden: Aufgrund der zu erwartenden numerischen Überforde-rung des Pflegesystems wird uns kaum etwas anderes übrig bleiben, alsAngehörige vermehrt in die Betreuung und Pflege dementer Menschen ein-zubinden. Pflegeheime und Hospize, wie sie das Christentum seit vielenJahrhunderten betreibt, sind ein wichtiger Bestandteil einer humanen Ge-sellschaft. Aber spätestens mit den heutigen Fragen um die gerechte Ver-teilung von knappen Ressourcen im Gesundheitssystem stoßen wir an dieGrenzen der Institutionalisierung von Nächstenliebe, von Caritas. Unsereeinzige Möglichkeit, hinter die Errungenschaften von Menschlichkeit inder Pflege nicht zurückzufallen besteht darin, zu einem hohen Maß annichtprofessioneller Pflege zurückzukehren.

Durch das hautnahe Miterleben des dementiellen Prozesses stehen Ange-hörige aber auch unter großen Belastungen, die sie in ihrem eigenen Le-ben bisweilen deutlich einschränken. Während des im Durchschnitt acht-jährigen Verlaufs eines Demenz-Prozesses modifiziert sich jeweils die Be-lastung für die Angehörigen durch die immer neu auftretenden Verände-rungen. Die Anforderungen übersteigen oft die psychischen und physischenMöglichkeiten der nahe stehenden Pflegenden. Was in der angelsächsi-schen Literatur mit dem Begriff des �caregiver burden� benannt wird, wirdin den letzten Jahren vermehrt auch im deutschsprachigen Raum reflek-tiert.18 Die besondere Situation einer engen Bezugsperson zu einemdementen Menschen führt in den meisten Fällen zu sozialen Rollen-veränderungen und kann zu Depression und Angst, angespannten Bezie-hungen zu anderen Familienmitgliedern und einem allgemeinen Gefühlder Überforderung führen. So wird nicht nur das gewohnte Gefüge einerEhe oder lebenslangen Partnerschaft durch die Symptome der Demenz unterUmständen zerstört. Durch die Verhaltensstörungen der Betroffenen wer-den auch emotionale Gewissheiten in Frage gestellt. Häufig führen auchUnsicherheiten im Verhalten und erschöpfungsbedingte unkontrollierteReaktionen der Pflegenden zu Selbstvorwürfen. Die Lebensperspektive pfle-gender Angehöriger scheint bisweilen aussichtslos zu sein, da der langeDemenz-Prozess unabsehbar wirkt.

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5. Nächsten- und Selbstliebe

In der Spannung zwischen der unersetzlichen Rolle, die Angehörige fürdemente Menschen spielen und der bis an die Grenzen der Belastbarkeitgehenden Anforderungen stellt sich die Frage, was von Angehörigen wirk-lich erwartet werden kann, wie weit die Nächstenliebe in der Begleitungund Pflege gehen muss.

Werfen wir wieder einen Blick auf das biblische Zeugnis und entwickelnvon dort aus Anhaltspunkte für das dementielle Beziehungsgeschehen zwi-schen Angehörigen und Betroffenen.

Das Nächstenliebegebot bildet die innerste Mitte des biblischen Ethos.19

Theologisch gesprochen bildet die Liebe das Prinzip des Miteinanderlebensvon Menschen. Indem sie ein Beziehungsgeschehen darstellt, bestimmtsie das Verhältnis zum anderen.20 Dabei erstreckt sich Liebe auf die unter-schiedlichsten Beziehungskonstellationen, symmetrische wie die zwischenMann und Frau wie auch asymmetrische, wie die zwischen Eltern undKindern. Liebe bedeutet nicht ein Besitzen (daran würde die Liebe zerbre-chen), sondern einen andauernden Prozess des aktiven Verhaltens und ler-nenden Eingehens auf den Anderen. Liebe erfordert es, die Anerkennungund Bejahung des Anderen auch über Veränderungen hinweg durchzutragen.So wie sich Beziehungen im Laufe eines Lebens verändern, so verändernsich auch die Ausdrucksformen der Liebe.

Mit diesen Eckdaten des biblischen Liebesgebotes haben wir nun das Felddes Sittlichen strukturiert. Wie sieht diese Nächstenliebeforderung im Be-reich der Demenz konkret aus?

Nach dem eben Gesagten kann dies nur heißen, dass es den Angehörigenzukommt, die Veränderungen von einer symmetrischen hin zu einer asym-metrischen Beziehung zum Betroffenen mitzutragen. Dies erfordert einungeheures Maß an Veränderungsbereitschaft und Verzicht. Wenn der ge-wohnte Gesprächspartner verloren geht, gemeinsame Unternehmungen nichtmehr möglich sind, sind dies einschneidende Veränderungen in Beziehun-gen, die nicht spurlos an den Betroffenen vorbeigehen. Ohne Einschrän-kungen der eigenen Lebensgewohnheiten wird eine empathische und für-sorgliche Begleitung und Pflege dementer Menschen kaum möglich sein.Doch bis wohin, bis zu welcher Grenze geht diese Nächstenliebeforderung?Bis zur völligen Selbstaufopferung und Selbstaufgabe? Mit den Heiligen,den Titanen der Nächstenliebe, stehen scheinbar leuchtende Vorbilder zur

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Verfügung.21 Bilder der bis zur Selbstaufopferung pflegenden Frau, wie sieuns in der Heiligen Elisabeth von Thüringen (13.Jh.), der Patronin der Cari-tas, oder einer Mutter Teresa vor Augen gestellt sind � können diese BilderVorbilder für pflegende Angehörige sein?

Dass die Selbstaufgabe in der Pflege nicht der Typus, sondern der äußersteGrenzfall der Zuwendung zum anderen ist, hat nicht erst die Psychoanaly-se erkannt. Zu dem Begriff der Person, den ich zu beschreiben versuche,gehört die Einheit von Selbstsorge und Sorge für andere. Denn das Gebot�Liebe deinen Nächsten wie dich selbst� enthält ja beides in der denkbarkürzesten Formulierung: die Sorge für sich selbst wie die Zuwendung zumandern.22 Nur wer über einen eigenen Selbststand verfügt und an der Bezie-hung zu sich selbst Maß nimmt, kann in Nächstenliebe handeln. Sicher-lich kennen Sie alle die Beobachtungen zum Wechselverhältnis zwischendem Verhalten von Angehörigen und Reaktionen der dementen Person.Gestresste Angehörige sind dem dementen Menschen wenig nütze. Aufbarsches Verhalten reagieren demente Menschen oftmals mit störendemVerhalten � eine Spirale, aus der sich nur schwer ein Ausweg finden lässt.

6. Alzheimer-Demenz: Eine Herausforderung für die Gesellschaft

Diese Beschreibung des Wechselverhältnisses von Angehörigen- und De-menz-Verhalten belegt einmal mehr die besondere personale Verwobenheit,die mit einem dementiellen Prozess einhergehen kann. Angehörige wer-den selbst zu der Begleitung Bedürftigen. Nimmt man die Demenz als einBeziehungsgeschehen ernst, so betrifft sie nicht nur den dementen Men-schen, sondern auch den Angehörigen. Damit erstreckt sich die Nächsten-liebe- oder Fürsorgeforderung auch auf pflegende Angehörige.

Im praktischen Bereich sind bereits Modelle und Ansätze erkennbar, wiedie Entlastung und Begleitung von Angehörigen aussehen könnten. Aufeiner ersten Ebene werden von verschiedenen Seiten Informationen bereit-gestellt, die über die Alzheimer-Demenz, deren Verlauf und mögliche un-terstützende Maßnahmen unterrichten. Neben einer wachsenden Zahl vonInformationsveranstaltungen für Betroffene und Angehörige ist hierzu auchdie große Zahl an Ratgeberliteratur und Erfahrungsberichten von Angehöri-gen zu rechnen. Als eine weitere Form der Betreuung Angehöriger wirdzunehmend Angehörigenberatung und Angehörigenpsychotherapie ange-boten. Hier scheint Gruppenangeboten deutlich der Vorrang vor Einzelan-geboten gegeben zu werden.

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Grundsätzlich wäre eine engere Verzahnung von professioneller und priva-ter Pflege und Begleitung wünschenswert, ein Themenfeld, das bislang nochwenig reflektiert wird. In der Zusammenarbeit dieser Bereiche würde dieessentielle Aufgabe bei dementen Menschen, nicht allein auf den Abbauim Demenz-Prozess zu schauen, sondern die verbleibenden Fähigkeitenum des Wohles der Patienten willen zu fördern und zu stärken, für beideSeiten sicherlich leichter gelingen.

7. Ausblick

Wenn wir uns nicht zu Geiseln des in Europa umgehenden GespenstesDemenz machen wollen, so sehe ich Hoffnung und Perspektive nur darin,dass die Gesellschaft beginnt, Demenzen als ein relationales Phänomenzu sehen.

Es ist an der Zeit, dass wir das Thema Demenz wieder in die Mitte derGesellschaft zurückholen. Dies kann aber nur geschehen, wenn wir unsendlich davon verabschieden, dass es sich bei der Demenz um ein reinmedizinisches Phänomen handelt, für dessen Behandlung nur Ärzte, Exper-ten, zuständig sind. Demenz ist ein relationales Phänomen, sie betrifft dieBeziehung zwischen Menschen � in zugespitzter Form. So wird es in Zu-kunft mehr darum gehen müssen, Palliation und Begleitung, Fürsorge oder,christlich gesprochen, Nächstenliebe in den Vordergrund zu stellen.Ein Ethos der Fürsorge entspringt der Grundeinsicht in die Relationalitätund das menschliche Angewiesensein auf andere. Indem es das Wohlerge-hen der hilfsbedürftigen Personen in den Vordergrund stellt, sollte das Grund-prinzip des pflegerischen, ärztlichen und gesellschaftlichen Ethos stärkerbetont werden. Eine fürsorgliche Gesellschaft wird das Wohlergehendementer Menschen in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellen. Indemsie Rücksicht auf alte, hilfsbedürftige Personen nimmt, spricht sie sich füreine Option des Schutzes verletzlicher Personen aus, wie sie immanenterBestandteil des christlichen Ethos ist.

Verwendete Literatur:

1 Aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet dieser Beitrag auf die jeweilsausführliche Nennung männlicher und weiblicher Formen. Frauen sind inder Regel mit gemeint, wenn männliche Formen verwendet werden.

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2 Vgl. die Zitate in dieser Reihenfolge aus: D. B. MORRIS: Krankheit undKultur. Plädoyer für ein neues Körperverständnis, München 2000 (orig.:Illness and Culture in the Postmodern Age, Berkeley/London 1998), 164;N. C. ANDREASEN: Brave new Brain. Conquering Mental Illness in the Era ofthe Genome, Oxford 2001, 253; A. FUHRMANN: Das Alzheimer-Schicksalmeiner Frau. Lebend begraben im Bett? Ein persönlicher Erfahrunsgsbericht,Stuttgart 1990; S. B. NULAND: How We Die. Reflections on Life�s FinalChapter, New York 1994, 164; BAYER-PHARMAFORSCHUNG (Hg.): Von Menschenfür Menschen, Leverkusen 1998, 45; I. B. BLACK: The Dying of EnochWallace. Life, Death, and the Changing Brain, New York 2001, 21; R. E.TANZI/A. B. PARSON: Decoding Darkness. The Search for the Genetic Causeof Alzheimer�s Disease, Cambridge 2000, XIII: �Few real nightmares onearth compare to the terror wrought by Alzheimer�s disease.�; L. THOMAS:The Problem of Dementia, in: ders.: Late Night Thoughts on Listening toMahlers�s Ninth Symphony, New York 1983, 120-126, hier 121; A. BAHNEN:Todesstachel. Walter Jens und Hans Küng streiten für die aktive Sterbehil-fe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 101 vom 02.05.2001, 61. Beieiner Podiumsdiskussion zum Thema Sterbehilfe am 1. Mai 2001 in Tü-bingen vertrat der katholische Theologe Hans Küng folgende These: �Küngmöchte sogar über die nun gesetzlich verankerte holländische Regelunghinausgehen und auch für Demenzerkrankungen einen vorausverfügten,guten Tod� ermöglichen: Er wolle nicht als Alzheimerpatient enden, derohne Wissen um die eigene Identität dereinst als Dorftrottel durch Tübin-gen laufe.� (A. BAHNEN, Todesstachel [2001], 61).

3 Mit Angehörigen sind in diesem Beitrag nicht nur Verwandte, sondernalle Personen gemeint, die dem Betroffenen nahe stehen.

4 Beim hier Gesagten konzentriere mich auf die Alzheimer-Demenz imAlter, häufigste Gruppe der Demenzen.

5 Zur Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Demenzkonzept vgl.ausführlich V. WETZSTEIN: Eine �eigenartige Erkrankung der Hirnrinde�? DasKonzept der Alzheimer-Demenz im Licht der theologischen Ethik, Diss.,masch., Univ. Freiburg i. Br. 2003 (im Erscheinen). Ähnlich, aber mit ande-rer Stoßrichtung, zu einem öffentlichen Konzept der Demenz vgl. S. G.POST: The Moral Challenge of Alzheimer Disease. Ethical Issues fromDiagnosis to Dying, Baltimore/London 2000 und M. B. Holstein: Ethics andAlzheimer�s Disease: Widening the Lens, in: Howe, Edmund G. (Ed.): Ethicsand Alzheimer�s Disease, Frederick 1998 (The Journal of Clinical Ethics;vol. 9,1: Special Issue), 13-22.

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6 Vgl. H. LAUTER/J. E. MAYER, Clinical and Nosological Concepts, in: Mül-ler, Christian/Ciompi, Luciano (Eds.): Senile Dementia. Clinical andTherapeutic Aspects, Bern 1968, 13-26 und R. KATZMAN, The Prevalenceand Malignancy of Alzheimer Disease: A Major Killer, in: Archives ofNeurology 33 (1976) 217-218, hier 217.

7 Vgl. hier und im Folgenden: V. WETZSTEIN: Verlust des �Selbst�? EthischeAspekte der Demenz, in: Gemeinsam Handeln. Referate auf dem 3.Kongress der Deutschen Alzheimer Gesellschaft Friedrichshafen, 12.-14.September 2002, Berlin 2003 (Tagungsreihe der Deutschen Alzheimer Ge-sellschaft e.V.; Bd. 4), 389-397.

8 Vgl. A. KURZ/H. LAUTER: Klinische Aspekte der Alzheimer-Krankheit, in:Helmchen, H./Henn, F./Lauter, H./Sartorius, N. (Hgg.): Psychiatrie derGegenwart, Bd. 4: Psychische Störungen bei somatischen Krankheiten, Berlinu.a. 41999, 71-103.

9 Gen 1,26f: �Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich[�]. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schufer ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.� Vgl. in einem anderen Kontext dasbislang unveröffentlichte Manuskript des Vortrags von W. LESCH: Der Em-bryo als lebendige Metapher. Zum Bildgehalt einer Anthropologie und Ethikder Menschenwürde, Vortrag am 14.02.2004 in Freiburg i. Br.

10 Vgl. E. SCHOCKENHOFF: Zwischen Selbstbewahrung und Verzicht. DerBeitrag des Christentums zum Verständnis der Nächstenliebe, in: Kutschki,N. (Hg.): Wenn es das Christentum nicht gäbe, Würzburg 1996, 9-25.

11 Vgl. E. SCHOCKENHOFF: Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriß,Mainz 32000 (orig.: Mainz 1993), 314, hier mit Bezug auf den Lebensbe-ginn.

12 Vgl. J. VOLLMANN: Aufklärung und Einwilligung in der Psychiatrie. EinBeitrag zur Ethik in der Medizin, Darmstadt 2000 (Monographien aus demGesamtgebiet der Psychiatrie; Bd. 96).

13 Vgl. E. SCHOCKENHOFF: Der vergessene Körper. Über die Einheit von Per-son und menschlicher Natur, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 48 (2002)271-281.

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14 Vgl. hier und im Folgenden: H. LAUTER: Die auf Wiederruf gestundeteZeit wird sichtbar am Horitont. Das Lebensende Demenzkranker, in: V.Wetzstein (Hg.): Ertrunken im Meer des Vergessens? Alzheimer-Demenzim Spiegel von Ethik, Medizin und Pflege, Freiburg i. Br. (im Erscheinen).

15 Vgl. ähnlich auch T. KITWOOD: Demenz. Der person-zentrierte Ansatz imUmgang mit verwirrten Menschen, Bern 2000 (orig.: Dementia reconsidered,Buckingham 1997).

16 Vgl. N. L. MACE/P. V. RABINS: Der 36-Stunden-Tag. Die Pflege des verwirr-ten älteren Menschen, speziell des Alzheimer-Kranken, Bern 41996 (orig.:The 36-hour day, Baltimore 1991).

17 Altenpflegeheim Nellinistift des Diakonissenhauses, vgl. FrankfurterAllgemeine Zeitung vom 06.03.2004.

18 Vgl. W. JANSSON/B. ALMBERG/M. GRAFSTRÖM/B. WINBLAD: The Circle Model� Support for Relatives of People with Dementia, in: Iqbal, K./Swaab, D.F./Winblad, B./Wisniewski, H. M. (Eds.): Alzheimer�s Disease and RelatedDisorders, Chichester e.a. 1999, 791-794, und A. KURZ: Alzheimer-Selbst-hilfe-Initiativen, in: Weis, Serge/Weber, Germain (Hgg.): Handbuch Mor-bus Alzheimer. Neurobiologie, Diagnose, Therapie, Weinheim 1997, 1305-1309.

19 Mk 12,31: �Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.� Vgl. zurDiskussion innerhalb der neueren Theologie: A. TAFFERNER: Gottes- und Näch-stenliebe in der deutschsprachigen Theologie des 20. Jahrhunderts, Inns-bruck 1992 (Innsbrucker theologische Studien; Bd. 37).

20 Vgl. hier und im Folgenden: K. HILPERT: Art. �Liebe�, in: Lexikon derBioethik, Bd. 2, 1998, 612-616.

21 Vgl. ebenfalls kritisch dazu: E. SCHOCKENHOFF: Zwischen Selbstbewahrungund Verzicht. Der Beitrag des Christentums zum Verständnis der Nächsten-liebe, in: Kutschki, N. (Hg.): Wenn es das Christentum nicht gäbe, Würz-burg 1996, 9-25.

22 Vgl. W. HUBER: Pflege und Ethik, Vortrag am 26.06.2002 in Berlin [http://www.ekd.de/vortraege/154_huber_020626_pflege_und_ethik.html].

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Wie gelingt die Kommunikation mit dementen Menschen?Zum Sprachabbau bei Alzheimer-KrankheitElke Schumann & Michael Schecker, Freiburg

Eine Demenz kann sehr verschiedene Formen haben. Während beisubkortikalen Demenzen motorische Auffälligkeiten im Vordergrund ste-hen, sind es bei Frontallappendemenzen vor allem Auffälligkeiten in dersozialen Interaktion. Bei einer Alzheimer Krankheit haben wir es dagegenvor allem mit Gedächtnisproblemen, Aufmerksamkeitsdefiziten und mitspezifischen sprachlichen Defiziten zu tun, auf die ich später im Einzel-nen eingehen werde.

Der Fokus dieser Ausführungen liegt auf den spezifischen Defiziten, diebei einer Alzheimer-Krankheit auftreten.

In der Literatur wird im Zuge der sprachlichen Defizite bei Alzheimer Krank-heit meist auch von Aphasie gesprochen � im Sinne des englischen Wortes�aphasia�. Das aber ist hochproblematisch. Diese Kontroverseb ist nichtnur von theoretischem Interesse, sondern auch jeweils unterschiedlichediagnostische und therapeutische Interventionen beinhaltet.

Die klassische Aphasie ist die Folge einer Läsion im Kortex der linkenHemisphäre, nicht-sprachliche Leistungen sind meist nicht gleichartig be-troffen; die Symptomatik verändert sich in den ersten Monaten im Sinneeiner spontanen Verbesserung. Anders verhält es sich bei einer Alzheimer-Demenz: Diese entwickelt sich allmählich und von Anfang an sind auchweitere kognitive Leistungen betroffen. Außerdem folgt die Krankheit ei-ner stetigen Progression. Wollte man nun die unterschiedlichen Stadien des Sprachabbaus beiAlzheimer-Krankheit mit aphasiologischen Begriffen benennen, würde sichfolgendes Bild ergeben:

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Abb. 1: Die Entwicklung von Sprachdefiziten bei einer Alzheimer-Demenz im Vergleich zu einer Aphasie

Die anfänglichen Wortfindungsstörungen würden am ehesten eineramnestischen Aphasie entsprechen. Mit zunehmender Progression kom-men Schwierigkeiten im Sprachverständnis dazu, was mit einer transkortikal-sensorischen Aphasie vergleichbar sein könnte. Im weiteren Verlauf derAlzheimer-Krankheit sind zunehmend Paraphasien (Wortersetzungen) undsich weiter verstärkende Verständnisschwierigkeiten zu beobachten, wassich als Wernicke-Aphasie bezeichnen ließe. Schließlich � in einem schwe-ren Stadium der Krankheit - können nur noch einzelne Wörter oder Lauteproduziert werden. In Begriffen der Aphasie wäre dies das Bild einer globa-len Aphasie. Vergleicht man nun diese Krankheitsentwicklung mit einererfolgreich verlaufenden Aphasietherapie, dann werden die grundsätzli-chen Unterschiede deutlich.

Welche sprachlichen Defizite sind nun im Einzelnen zu beobachten? Ab-bildung 2 zeigt eine Übersicht von Symptomen, wie sie sich bereits in denfrühen Stadien zeigen.

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Abb. 2: Sprachdefizite bei Alzheimer-Demenz im Überblick

In diesen frühen Stadien erscheint die Spontansprache noch weitgehendunauffällig. Deshalb wurde zunächst angenommen, dass sprachliche Defi-zite erst während einer mittelschweren Erkrankung auftreten. Dies ist abernicht der Fall.

So haben Alzheimer-Patienten bereits in den frühen Phasen mit sprachli-chen Schwierigkeiten zu kämpfen � obwohl (oder gerade will) sie hiernoch über eine Reihe von kompensatorischen Mechanismen verfügen, mitdenen sie ihre Einbrüche vor anderen und vor sich selbst verbergen kön-nen. Die Defizite zeigen sich in diesen frühen Stadien vor allem in dazuangelegten Tests, in denen die Patienten nicht auf ihre kompensatorischenFähigkeiten ausweichen können.

Die Störungen ziehen sich durch verschiedene linguistische Beschreibungs-ebenen. Zu Störungen in der Lexik - also auf der Wortebene - gehörenDefizite in der verbalen Flüssigkeit und Wortfindung. Außerdem könnenBeeinträchtigungen in der Grammatik beobachtet werden; sie zeigen sichim Umgang mit definiten Pronomina (Wörter wie �er�, �sie� oder �es�), imUmgang mit gapping-Phänomenen (sprachliche Verkürzungen bei parallelgebauten Satzkonstruktionen) und zunehmend in Problemen mit komple-xen Satzkonstruktionen. Die letzten drei Punkte der Übersicht (Abb. 2)

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betreffen Störungen in der Pragmatik, also im Gesprächsverhalten. Hierkönnen Schwierigkeiten beobachtet werden, Ergänzungen aus dem Kon-text automatisch abzuleiten und es treten Verständnisprobleme bei indi-rektem oder bildhaftem Sprechen auf. Nicht zuletzt haben die PatientenSchwierigkeiten, den so genannten �roten Faden� einer Unterhaltung zubehalten.

Im Folgenden werden die einzelnen sprachlichen Defizite näher erläutert:

1. Die Benennleistung

Im Test müssen Schwarz-Weiß-Strichzeichnungen benannt werden, die Be-griffe sind nach der Häufigkeit ihres Auftretens geordnet � hochfrequent �also oft benutzt; mittelfrequent und auch niedrigfrequent, also selten be-nutzt.Die Abbildung zeigt die Benennleistungen gesunder älterer Menschen. Essind Ergebnisse einer Altersstudie, die in Basel durchgeführt wurde.

Abb. 3: Benennleistungen gesunder älterer Menschen

Die Normwerte (fett gedruckt) sind in Prozent angegeben � sie sagen aus,wie viel Prozent der Vorlagen richtig benannt werden konnte. Die Zahlhinter dem Schrägstrich ist die statistisch relevante Standardabweichung,auf die nicht näher eingegangen werden soll. Die niedrigste Leistung Ge-sunder liegt bei 84 %, dies betrifft Frauen der Altersgruppe von 70-79 Jah-

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ren in Bezug auf mittelfrequente Begriffe; das heißt, dass 84% der Bildvor-lagen benannt werden konnten. Dagegen nun die Leistungen von AlzheimerPatienten:

Abb. 4: Benennleistungen von Alzheimer-Patienten

Die Schweregrad Einteilung orientiert sich an der GDS-Skala (GlobalDeterioration Scale), nach der sich in den Stadien 3 und 4 die ersten klini-schen Auffälligkeiten der Erkrankung zeigen.

Es sind deutlich die Defizite zu sehen: Nur mehr 61-62 % der Bildvorlagenkönnen benannt werden. Im Vergleich dazu lag die niedrigste LeistungGesunder bei 84%. Wie bereits erwähnt, betrifft dies Patienten, die imspontanen Gespräch zunächst unauffällig erscheinen.

Die gerade erläuterten Defizite beziehen sich auf die Quantität � es sindaber auch qualitative Veränderungen in den Benennleistungen zu beob-achten:

So finden sich statt der genauen Bezeichnung vermehrt Oberbegriffe wiezum Beispiel Lampe statt Taschenlampe, Boot statt Kanu oder auch Ma-schine statt Bagger usw. Es werden zudem statt der Begriffsbezeichnungeinzelne Funktionen oder Funktionsumschreibungen genannt � ein Dosen-öffner wird zu �wo man etwas aufmachen kann�. Weitere Beispiele zeigtdie Abbildung 5:

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Abb. 5: Qualitative Aspekte der Benennleistung bei Alzheimer-Patienten

2. Die verbale Flüssigkeit

Hierbei ist die Leistung gestört, auf einen Stimulus hin fortlaufend zu asso-ziieren. Das ist eine Leistung, die es uns ermöglicht, ein Alltagsgesprächflüssig zu führen. Im Test wird dazu die Kategorie �Tier� vorgegeben, diePatienten haben 1 Minute Zeit, so viele Tiere zu nennen, wie sie können.Die Abbildung 6 zeigt auch hier wieder zunächst die Ergebnisse Gesunder� wiederum der Baseler Altersstudie entnommen.

Die genannten Begriffe werden in 15-Sekunden-Intervallen erfasst; der Total-wert gibt die Gesamtzahl an. Die niedrigsten Werte liegen hier bei 20, 3Wörtern pro Minute.

Abb. 6: Leistungen in der verbalen Flüssigkeit von gesunden älteren Menschen

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Dagegen zeigt sich in den Ergebnissen von Alzheimer Patienten (Abb. 7),dass bereits in den klinisch relevanten Frühphasen nur mehr 12 Tiere proMinute genannt werden können - im Vergleich zu ca. 20 Begriffen Gesun-der.

Abb. 7: Leistungen in der verbalen Flüssigkeit von Alzheimer-Patienten

3. Umgang mit Pronomina

Im Gespräch mit Alzheimer-Kranken kann man Defizite hinsichtlich derBenutzung von Pronomina beobachten. Das Beispiel aus Abbildung 8 istder Auszug aus einem Textkorpus, der in Freiburg mit Hilfe eines semi-standardisierten Interviews erfasst und auf diese Fragestellung hin analy-siert wurde. Der folgende Ausschnitt soll die zugrunde liegende Problema-tik verdeutlichen.

Abb. 8: Auszug aus einem Interview mit einem Alzheimer-Patienten

Die ersten Zeilen (1 - 3) zeigen die Vorgabe des Testleiters. Immer dann,wenn ein direkter Bezug möglich ist, wird die Vollform (Nominalphrase)

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�der Schlüssel� entweder ausgelassen � wie bei: �Is mir leider in den Schneegefallen� oder aber die Vollform wird pronominal ersetzt � wie bei: �undfinden ihn nicht�.

Anders liest sich die Wiedergabe des Patienten ab Zeile 8. Auffällig isthier die fortwährende Wiederaufnahme der Vollform �Schlüssel�. Gesundewürden sagen: �Und der Pfleger weiß auch nicht, wo er is.�

Das heißt: Alles das, wovon wir annehmen können, dass unser Gesprächs-partner es genauso im aktuellen Kontext hat wie wir, alles das verbalisie-ren wir durch ein definites Pronomen. Man könnte es auch als eine Frageder Ökonomie bezeichnen: Das, was als Teil des aktuellen Kontextes vor-auszusetzen ist, muss nicht erst wieder neu aufgebaut werden � man greiftmit Hilfe eines Pronomens lediglich darauf zurück. Wenn nun aber dieaktuelle Repräsentation zu schnell verblasst � wie es bei der AlzheimerKrankheit der Fall ist � dann muss das Konzept jeweils immer wieder neuaufgerufen werden � und zwar mit Hilfe einer Vollform (in diesem Fall�der Schlüssel�).

Bisher sind dazu nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen veröffent-licht worden. Neben der schon erwähnten Freiburger Studie untersuchteauch eine amerikanische Arbeitsgruppe um Almor et al. u. a. das Verständ-nis von Pronomina im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe:

Alzheimer-Patienten gesunde Kontrollen(frühe Stadien)

passendes Pronomen nicht-passendes Pronomen

Abb. 9: Verständnis von Pronomina im Vergleich von Alzheimer-Patienten zu gesunden älteren Menschen � gemessen wurde die Reaktionszeit

Um die Ergebnisse bewerten und vergleichen zu können, wurde die Reak-tionszeit gemessen. Auf der linken Seite sind die Ergebnisse von Alzheimer-

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Patienten zu sehen; auf der rechten Seite die der gesunden Kontrollen. Derjeweils linke schwarze Balken zeigt die Leistungen (also die Reaktions-zeit) bei Präsentation eines passenden Pronomens; der rechte graue Balkenzeigt die Leistungen bei Präsentation eines nicht-passenden Pronomens.Die Interpretation der Ergebnisse umfasst verschiedene Aspekte, von de-nen an dieser Stelle besonders einer hervorgehoben werden soll: Alzheimer-Patienten benötigen signifikant mehr Zeit, um ein passendes Pronomen zuverstehen als Gesunde. Das zeigt der schwarze Balken.

4. Kontextverarbeitung4.1. Testdesigns

Es war im Zusammenhang mit definiten Pronomen die Rede davon, dassdie Alzheimer-Patienten Schwierigkeiten haben, den entsprechenden Kon-text in die laufende Sprachverarbeitung einzubeziehen. Dies lässt sichverallgemeinern; man vergleiche etwa die Verarbeitung vonDoppeldeutigkeiten. Im Test wird ein doppeldeutiger Begriff durch zweiAbbildungen dargestellt. Der Satz darunter soll nun der passenden Abbil-dung zugeordnet werden (siehe Abbildung 10).

Abb. 10: Vorlagen zum Test von Doppeldeutigkeiten

Die Zuordnung des Satzes zum passenden Bild ist nur möglich, wenn dazuder entsprechende Kontext aufgebaut wird. In so genannten Priming-Expe-rimenten konnte nachgewiesen werden, dass Gesunde bei einem doppel-deutigen Begriff zunächst beide Bedeutungen präsent haben; erst durchEinbezug kontextueller Informationen erfolgt dann die Entscheidung fürdie passende Variante. Das Schloss wird natürlich in die Tür eingebaut und

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die heiße Birne ist die Glühbirne (auch wenn es als leckeren Nachtischheiße Birnen in Rotweinsauce gibt � doch es ist wohl keine Frage, dass dieGlühbirne in diesem Kontext weitaus konventioneller ist und entsprechendhäufiger verwendet wird). In einer Freiburger Studie konnten wir belegen,dass genau diese Fähigkeit � die Generierung von Kontext � im Krank-heitsverlauf immer weiter abnimmt. So ist dieser Test nicht nur ein Diagnose-instrument zur Unterscheidung von Gesunden zu Alzheimer-Patienten, son-dern es ist auch möglich, eine Einteilung in unterschiedliche Schwere-grade vorzunehmen.

Ähnlich verhält es sich beim Verständnis von Sprichwörtern. Deren Bedeu-tung liegt nicht im wörtlichen, sondern im übertragenen Sinn. Genau die-sen Transfer leistet der Einbezug kontextueller Informationen: In welcheSituationen gehört das Sprichwort? So sprechen wir bei der Redewendung�die Flinte ins Korn werfen� natürlich nicht von der Jagd, sondern von Si-tuationen, in denen es ums Aufgeben geht. Die folgende Abbildung zeigteine entsprechende Testvorlage; es soll entschieden werden, welche Be-deutung dem Sprichwort zugrunde liegt.

Abb. 11: Testvorlage zum Sprichwörter Test

Eine weitere Möglichkeit, die Generierung von Kontext zu überprüfen, bietetder Gesprächslegetest. Einzelne Gesprächskarten sollen erstens den ver-schiedenen Gesprächskontexten zugeordnet und zweitens in eine sinnvol-le Abfolge gebracht werden. Der Zusammenhang zur Kontextverarbeitungbesteht nun darin, dass es bei der Bearbeitung dieser Aufgabe notwendigist, auf Musterwissen zurückzugreifen, das wir in Form von Schemata re-

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präsentieren; so verfügen wir beispielsweise über ein Schema, wie übli-cherweise ein Hotelzimmer gebucht wird.

Abb. 12: Testvorlage zum Gesprächslegetest

4.2. Testergebnisse

Abbildung 13 zeigt die Ergebnisse der schon erwähnten Freiburger Studieim Überblick - zunächst die Unterscheidung von unauffälligen Kontrollenzu Patienten mit einer leichten Alzheimer Demenz � der MMSE (Mini �Mental � State - Examen) hier als Orientierungswert.

Abb. 13: Auswertung der Ergebnisse zur Kontextverarbeitung:Gesunde ältere Menschen im Vergleich zu Patienten, mit leichterAlzheimer-Demenz

Links sind die einzelnen Tests zu sehen � auf den Test der Kontext-differenzierung soll der Kürze wegen nicht näher eingegangen werden.

Haben Sie noch ein Zimmer frei?

Ein Doppelzimmer, bitte.

Zimmer 23, im zweiten Stock.

Einzel- oder Doppelzimmer?

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Relevant ist die Signifikanz als statistisches Maß für die Aussagekraft derTestergebnisse. Werte unter 0,05 sind signifikante Ergebnisse � alle Ergeb-nisse hier sind hochsignifikant. Das heißt, dass die Kontextverarbeitungbei Alzheimer Krankheit bereits in den Frühphasen deutlich beeinträchtigtist.

An der folgenden Übersicht zeigt sich, dass anhand von Ergebnissen derKontextverarbeitung eine Differenzierung zwischen den einzelnen Phasender Erkrankung möglich ist.

Abb. 14: Auswertung der Ergebnisse zur Kontextverarbeitung: Patienten mitleichter im Vergleich zu Patienten mit moderater Alzheimer-Demenz

Links sind wieder die einzelnen Tests zu sehen; oben die Unterscheidungzwischen leichter Alzheimer-Demenz mit einem MMSE über 18 und einermoderaten Alzheimer-Krankheit mit einem MMSE kleiner, gleich 18.Außer einem Untertest der Kontextdifferenzierung sehen Sie auch hier wiederhochsignifikante Ergebnisse.

4.3. Interpretation der Ergebnisse

Leistungen der Kontextverarbeitung basieren auf so genannten exekutivenLeistungen. Diese werden immer dann relevant, wenn rein sensorische In-formationen allein nicht ausreichend weiterverarbeitet werden können.Exekutive Leistungen sind - nicht nur, aber vor allem auch -Vervollständigungs- und Ergänzungsleistungen. Dies soll im Folgenden noch

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einmal anhand der Benennleistungen demonstriert werden:Ergebnisse von Studien belegen qualitative Unterschiede in den Benenn-leistungen von Alzheimer-Patienten. So zeigten sie z.B. bessere Ergebnis-se bei der Präsentation von Farbfotos im Vergleich zu Schwarz-Weiß-Strich-zeichnungen. Weiter verbesserten sich die Ergebnisse bei der Präsentationvon Realien. Dieser Unterschied war bei Gesunden nicht festzustellen,wie aus Abbildung 15 ersichtlich ist.

unauffällig dement

Benennen: Foto Benennen: Realien

Abb. 15: Qualitative Unterschiede in den Benennleistungen von gesundenälteren Menschen im Vergleich zu Patienten mit leichter Alzheimer-Demenz

Der niedrigere schwarze Balken steht für die Defizite Kranker beim Be-nennen von Farbfotos. Dagegen sind gleiche Leistungen beim Benennenvon Realien zu beobachten � wie es die grauen Balken zeigen.Warum dieser Unterschied? Romero schrieb bereits 1997: �Das Benennenvon weniger informativen Reizvorlagen stellt eine schwierigere Aufgabedar und wird dementsprechend fehlerhafter von Kranken bearbeitet.� We-niger informativ heißt in diesem Fall: es wird weniger an sensorischer In-formation geboten. Im Unterschied zu Fotos sind reale Gegenstände bei-spielsweise dreidimensional.

Was genau geschieht nun während der Informationsverarbeitung � beispiels-weise beim Benennen? Grundlage für die weiteren Ausführungen sindModellvorstellungen der kognitiven Psychologie.

Zunächst erfolgen Prozesse der Merkmalsanalyse und der Mustererkennung.Durch einen sensorischen Input - nehmen wir an, die Ansicht eines Gegen-

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standes - werden eine bestimmte Anzahl Merkmale aktiviert - Abbildung16 stellt die Aktivierung einer Reihe von Merkmalen 1 - 4 dar. Diese Merk-male wiederum sind in unterschiedlichem Ausmaß in den Konzepten A bisG enthalten. Doch nur das Konzept C � in der Abbildung umrandet - wirdvoll aktiviert.

Abb. 16: Schema kognitiver Verarbeitung, die allein auf sensorischem Input beruht

Dies ist ein Beispiel für eine �erfolgreiche� Verarbeitung, die allein auf-grund des sensorischen Inputs abläuft. Dies ist ein Modellfall, findet prak-tisch aber kaum statt. Die �Normalität� ist eher folgendes:

Abb. 17: Schema kognitiver Verarbeitung, die auf der zusätzlichen Aktivierung von top-down Prozessen beruht

Auch hier werden durch den Input � nehmen wir an, eine Strichzeichnung- wieder die Merkmale 1 - 4 aufgerufen. Im Gegensatz zum Modellfall von

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Abbildung 16 kann hier jedoch keines der Konzepte A - G voll aktiviertwerden. Deshalb erfolgt eine Zuschaltung unspezifischer top-downKontrollprozesse. Aufgrund dieser zusätzlichen Aktivierungen, die unteranderem das Konzept C betreffen, wird dieses nun auch hier voll aktiviert.Das bedeutet, dass in der Folge die Zeichnung benannt werden kann.

Die eben beschriebenen top-down Prozesse sind Teil der exekutiven Lei-stungen - das sind Leistungen, die bei Alzheimer-Krankheit von einer fort-schreitenden Degeneration betroffen sind.

Das Benennen von Schwarz-Weiß-Strichzeichnungen wird deshalb für dieBetroffenen zunehmend problematisch. Sie können die Ergänzungs-leistungen, die wir als Gesunde ganz automatisch aktivieren, nicht mehrin dieser Weise vornehmen. So kommt es schließlich zu den Defiziten inder Benennleistung, wie sie oben dargestellt wurden.

Wie aber kommt es zu den weiteren qualitativen Veränderungen, die beimBenennen zu beobachten sind? Es wurde bereits erwähnt, dass Alzheimer-Patienten vermehrt auf Oberbegriffe oder auch auf Funktionsumschreibungenzurückgreifen.

Grundlage für die folgende Darstellung ist die Vorstellung eines semanti-schen Netzwerkes, in dem die Konzepte aus unterschiedlichen Merkma-len zusammengesetzt werden. Hieraus ergibt sich insofern eine Begriffs-hierarchie als Konzepte mit wenigen Merkmalen in Konzepten mit mehre-ren Merkmalen enthalten sind - wie aus Abbildung 18 ersichtlich:

Abb. 18: Darstellung einer Begriffshierarchie mit Hilfe der Vorstellungsemantischer Netze

Am Beispiel der Abbildung heißt das: Merkmal 1 - 3 ist in Konzept A ent-halten. Dieses wiederum bildet mit den Merkmalen 4 und 5 zusammen das

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Konzept B. Also sind in B insgesamt die Merkmale 1 - 5 enthalten. Nochkomplexer und somit noch spezifischer ist das Konzept C � es enthält au-ßer Konzept A und B noch das Merkmal 6.

Es muss an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben, dass die Verbindungenzwischen den Konzepten - neuronal gesehen - unterschiedlich stark seinkönnen. In den bisherigen Beispielen wurde davon ausgegangen, dass dieVerbindungen alle gleich stark sind, um den Kerngedanken besser veran-schaulichen zu können.

Denkbar ist nun, dass das Konzept A beispielsweise �Hund� repräsentiert�,während Konzept B als dessen Spezifizierung beispielsweise für �Dackel�stehen könnte. Werden nun nur wenige Merkmale aufgerufen, wird ent-sprechend häufiger der abstraktere, weniger spezifische Begriff gewählt,der eben auch weniger Merkmale enthält (ein Oberbegriff) - so: Hund stattDackel.

Der Grundgedanke der bisherigen Ausführungen besteht darin, dass an dendiskutierten Prozessen der Sprachverarbeitung in unterschiedlicher Weiseexekutive Leistungen beteiligt sind, dass also die sprachlichen Defizitebei Alzheimer Krankheit allesamt auf die Degeneration dieser exekutivenLeistungen zurückzuführen sind. Deshalb nochmals die folgende Zusam-menfassung:

Was leisten exekutive Funktionen?Sie stellen eine zentrale Leistung dar, weil sie z.B. gewährleisten, dasssensorische Informationen, aber auch aktivierte Informationen aus demLangzeitgedächtnis für die weitere Verarbeitung mental �repräsent� gehal-ten werden können.

Das wirkt sich etwa auf die bereits erwähnten Ergänzungsleistungen aus,wie sie beim Benennen von Schwarz-Weiß-Strichzeichnungen erforderlichsind. Ergänzt werden muss außerdem, wenn wir beispielsweise verkürzteRede benutzen wie: �Peter ging um 8, Inge um 9, aber Lisa erst um 12�.Was tat Lisa � erst um 12�?

Es geht zweitens um integrative Aspekte, so, wenn wir sensorischen Inputmit Inhalten des episodischen Gedächtnisses oder des Weltwissens vernetzenund ins Langzeitgedächtnis einbauen.

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Und drittens sind exekutive Leistungen bei der Produktion erforderlich,weil wir die Präzision unserer Mitteilungen von der Verfügbarkeit von Kon-text abhängig machen und sie daraufhin abstimmen � wie zum Beispielbei der Entscheidung zwischen Pronomen �er� und der Vollform �der Schlüs-sel�.

Eine Verlangsamung solcher Prozesse bedeutet, dass die damit verbunde-nen Leistungen immer weniger - und schließlich gar nicht mehr erbrachtwerden können.

5. Therapeutische Ausblicke

Ich möchte vor dem oben skizzierten Hintergrund auf therapeutische Im-plikationen zu sprechen kommen. Doch vorweg einige grundlegende Über-legungen zu therapeutischen Interventionen bei einer Alzheimer Krank-heit:

5.1. Zum Therapiebegriff

Zu Anfang stellt sich die Frage, inwiefern die Alzheimer-Krankheit über-haupt therapierbar ist. Eine Heilung der Erkrankung ist nicht möglich � dasist bekannt. Was aber geleistet werden kann, ist ein Aufhalten oder auchHinauszögern der stetigen Progression der Erkrankung. Das wird durchmedikamentöse Intervention erreicht � am besten in Kombination mit The-rapien kognitiver Stimulation.

5.2. Therapieziele

Welche therapeutischen Ziele können verfolgt werden, wenn eine Heilungnicht möglich ist? Oder anders gefragt: Woran kann die Wirksamkeit the-rapeutischer Interventionen �gemessen� werden?

Im Vordergrund aller Bemühungen steht die Absicht, den Krankheitsverlaufzu verzögern. Zweitens sollte über die Erhebung so genannter �objektiverDaten� hinaus - wie etwa zu Aktivitäten des täglichen Lebens - auch diesubjektive Lebensqualität Berücksichtigung finden. In diesem Zusammen-hang ist es interessant, was von dem Betroffenen selbst als zentraler Lei-stungsbereich eingestuft wurde. Beispielsweise zeigte die Auswertung ei-

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ner amerikanischen Untersuchung, wie bedeutsam es für die betroffenenMenschen ist, wieder Musik hören zu können � sowohl technisch wie auchmental. Und ein zweiter Wunsch: zu kommunizieren über die Dinge, diefür die Alzheimer Patienten zunehmend größere Bedeutung erlangen: Krank-heit und Tod. Hier wird klar, wie wichtig es ist, die Kommunikation mitAlzheimer-Kranken aufrechtzuerhalten und zu fördern.

Im Rahmen nicht-medikamentöser Therapien legen die obigen Ergebnissenahe, dass gerade der Fähigkeit, auf verschiedene Weise Kontext einbe-ziehen zu können, große Bedeutung zukommt; diese Fähigkeit ist - so weitnoch verfügbar - zu beüben und damit gegen den funktionellen Abbau zustabilisieren. Der Rahmen dieser Darstellung erlaubt es jedoch nicht, For-men der kognitiven Stimulation eben dieser Art ausführlich zu erläutern.Was können die Angehörigen tun?

5.3. Anwendung in der Praxis

Der Selbstwert einer Person wird durch die Kommunikation mit ihremUmfeld bestimmt. Solange keine Störungen und Probleme auftreten, fühltsich diese Person sicher und kompetent.

Was aber ist die Situation von Alzheimer Patienten? Im alltäglichen Um-gang werden ihre Defizite durch die Reaktion der Umgebung gespiegelt,es wird ihnen buchstäblich vor Augen geführt, was alles nicht mehr inOrdnung ist. Diese Spiegelung bedeutet eine große Gefährdung ihres Selbst-wertes � eine fortwährende Image-Verletzung. Stellen Sie sich vor, dassSie als normal intelligenter Mensch plötzlich nicht mehr wissen, zu wel-cher Tür sie hereingekommen sind. Für den Moment könnten Sie sich schüt-zen � Sie warten einfach, bis die anderen hinausgehen und gehen hinter-her. Was aber, wenn Sie sich wiederholt nicht mehr daran erinnern, wasSie selbst oder was ihr Gesprächspartner gerade gesagt hat? Aufgabe derAngehörigen ist es deshalb auch, diesen Gesichtsverlust so gering wie mög-lich zu halten.

Was heißt das konkret? Die folgenden Überlegungen orientieren sich weit-gehend an den bereits beschriebenen Defiziten.

Bei Wortfindungsstörungen ist eine bestehende Vertrauensbasis die Grund-voraussetzung, um dem Patienten den Begriff vorzugeben, nach dem er

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sucht, ohne dass er (oder sie) sich dadurch bevormundet fühlt. Man ge-währleistet damit den Fortgang des Gesprächs.

Wenn die Kranken Schwierigkeiten haben, verkürzte Äußerungen auf denKontext zu beziehen, so wird es für sie einfacher, wenn wir den Kontextknapp vorgeben � also nicht: �Und der Nachtisch?� Sondern: �Wo bleibtdenn der Nachtisch?�.

Hilfreich ist auch die bewusste Vereinfachung von Sätzen. Problematischfür die Kranken sind vor allem Satzabbrüche und der anschließende Be-ginn einer neuen Sentenz.

Hilfreich ist es, statt eines Pronomens die Vollform anzubieten � also nicht�er�, sondern �der Mann�, �der Schlüssel� usw.

Noch einmal: Es ist notwendig, verbal genügend kontextuelle Informatio-nen zu geben. Für Gesunde ist es kein Problem zu entscheiden, in welchenSituationen man sagt: �Einmal Freiburg. Hin und zurück� oder �Der Näch-ste bitte� - wohl aber für Alzheimer-Kranke.

Wenn der Umgang mit übertragenen Bedeutungen defizitär ist, dann müs-sen die Äußerungen wörtlich verstehbar sein � deshalb ist es wichtig, voll-ständige Aussagen zu machen. Also, nicht: �Es zieht!� - mit der implizitenAufforderung, doch endlich das Fenster zu schließen, sondern: �Mach dochbitte das Fenster zu. Es zieht.�

Zu kontextuellen Informationen gehören auch Hinweise auf einen Wech-sel des Redegegenstands. Auf einen Themenwechsel sollte man also expli-zit hinweisen.

Und nicht zuletzt sollte darauf geachtet werden, dass Situationen mit ei-nem hohen Geräuschpegel vermieden werden, da die Orientierung hierviel schwieriger ist. Stellen Sie sich eine gelungene Party mit vielen Gä-sten und lauter Musik vor. Was der Gesprächspartner erzählt, hören Sie nurteilweise, den Rest wird vervollständigt; Sie erschließen die Informationaus dem Kontext. Dazu aber sind Alzheimer-Patienten - wie bereits mehr-fach erläutert - nicht mehr fähig.

Über diese rein sprachrelevanten Hinweise hinaus sollen einige Überle-gungen den Abschluss bilden, bei denen es weniger um rein fachliche

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Kompetenz als eher um eine menschliche Ebene geht, denn auch ein Ge-spräch besteht nur zum Teil aus Sprache.

Es wurden bereits oben die Image-Verletzungen erwähnt � es ist das Ge-fühl, dass das eigene Verhalten ehrenrührig ist. Deshalb wird versucht, dieeigenen Unzulänglichkeiten vor sich selbst und vor anderen zu verstek-ken, was nicht unbedingt auf einer bewussten Ebene abläuft. So werdenbeispielsweise Gesprächslücken mit �kommunikativer Fertigware� über-deckt, das sind Äußerungsstücke, die irgendwie überall passen wie: �Soist eben das Leben, ja, ja.� Oder: �Das sage ich ja immer.� usw.

Auf der Grundlage sich wiederholender Misserfolgserlebnisse entstehen oftMisstrauen und soziale Distanz � mit dem Ergebnis, dass sich die Betroffe-nen mehr und mehr aus dem Alltag zurückziehen. Das führt gegebenen-falls zu unterschiedlichen Formen der Deprivation (Mangelsituation) bishin zu Formen der sensorischen Deprivation.

Was können wir tun, um einen solchen kommunikativen Rückzug zu ver-meiden?

Die zunächst wichtigste Voraussetzung ist sicher der Aufbau einer stabilenemotionalen Basis � ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.

Es ist darüber hinaus sehr ermutigend, die Aufmerksamkeit der Betroffenenauf die noch vorhandenen Fähigkeiten zu richten � auch auf die kommuni-kativen.

Wichtig ist es zudem, die Patienten zum Nachfragen zu ermutigen; sie,nicht zuletzt, zu ermutigen, von ihrer Umwelt ein angemessenes Gesprächs-verhalten zu verlangen.

Verwendete Literatur:

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Zum Umgang mit dementen Menschen aus ärztlicher SichtDr. Gisela Dimroth, Berlin

Eine Darstellung der ärztlichen Sicht auf Demenzerkrankungen in nur 15Minuten verlangt nach thematischer Beschränkung. Hier soll es um Therapie-möglichkeiten gehen und es soll ein medizinisch-medikamentöser Teil voneinem Teil der therapeutischen Beratung und Klärung unterschieden wer-den. In der Praxis freilich sind beide Teile nicht voneinander zu trennenund begleiten einander.

Die Basis jeder Demenztherapie ist die allgemeinmedizinische Grund-versorgung. Eine Zuckerkrankheit muss optimal eingestellt werden. Medi-kamente, die ein Delir ausgelöst haben könnten, müssen abgesetzt wer-den, eine Exsikkose (Austrocknung) muss aufgefüllt werden, akute Entzün-dungen behandelt werden, Vergiftungen (insbesondere Digitalis) erkanntwerden. Auch Schmerzen müssen erkannt und behandelt werden, sie tra-gen oft wesentlich zu Angst und Unruhe dementer Menschen bei. Ärzte,die demente Menschen behandeln, dürfen nie lediglich psychiatrischeGesichtspunkte im Auge haben, immer müssen auch allgemein-medizinische Probleme bedacht werden. Dies gilt insbesondere für gefäß-bedingte Demenzen. Der körperlich ansonsten gesunde Demente ist gele-gentlich unter den Alzheimer-Erkrankten zu finden.

Die medikamentöse Demenztherapie zielt auf kognitive Defizite und/oderpsychische Begleitstörungen ab. Unter kognitiven Störungen verstehen wirStörungen der Orientierung, des Gedächtnisses, des Denkvermögens, derUrteilsfähigkeit, Sprachstörungen, Störungen des Erkennens und des zweck-mäßigen Handelns. Diese Störungen sind zum Teil durch einen Mangeleines wichtigen Botenstoffs im Gehirn hervorgerufen, ein Mangel anAcetylcholin. Der Abbau dieses Botenstoffs kann gehemmt werden (durchAcetylcholinesterasehemmer), dadurch ist dann mehr verfügbar. Drei Prä-parate unterschiedlicher Firmen sind auf dem Markt. In Studien wurde er-wiesen, dass sich kognitive Störungen unter entsprechender Medikationleicht bessern und der geistige Abbau sich insgesamt um etwa ein Jahrverzögern lassen kann. Dies trifft nicht für alle Patienten zu und mussüberprüft werden, was die Kliniken aufgrund der kurzen Verweildauern nichtmehr leisten können und somit zunehmend Aufgabe der niedergelassenenÄrzte geworden ist. Als Wirksamkeitsnachweis gilt eine Verbesserung oder

Statements aus der Praxis

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ein verzögerter Abbau, festgestellt durch wenig aufwendige Testverfahren.Acetylcholinesterasehemmer sind zugelassen für leichte bis mittlereDemenzformen. Für mittelschwere bis schwere Demenzformen steht neu-erdings Memantin zur Verfügung. Klinische Beobachter hatten schon vorJahren eine günstige Beeinflussung beispielsweise des Essverhaltens gese-hen.

Unter den Medikamenten, die für die Demenztherapie diskutiert werden,gelten Östrogene mittlerweile als unwirksam. Ein Versuch einer Impfungwurde wegen katastrophaler Nebenwirkungen abgebrochen. Aussichtsreicherscheinen Statine, die als Lipidsenker eingesetzt werden, und Sekretasen,die im Entstehen der Amyloidketten zerschneiden, so dass sie sich nichtmehr schädigend ablagern können. Zurzeit laufende Studien versprechenpositive Ergebnisse, auch wenn Medikamente nur einzelne Mosaiksteinchenin einem im Ganzen noch unverstandenen, hochkomplexen Funktions-zusammenhang verändern können.

Unter psychischen Begleitstörungen verstehen wir Depressivität, Aggressi-vität, Misstrauen, Erregung mit motorischer Unruhe, Angst, Wahn und Hal-luzinationen, Antriebsverlust sowie eine Störung des Schlaf-Wach-Rhyth-mus. Gefährliche Fehlhandlungen (Weglaufen, Zimmerbrand, Überschwem-mungen) führen zur stationären Unterbringung und oft ist eine Linderungder Störungen Voraussetzung dafür, dass häusliche Pflege wieder möglichwird. Hirnorganisch vorgeschädigte Menschen sind besonders empfindlichund neigen etwa 7-mal häufiger zu Nebenwirkungen unter Psychopharma-ka, verglichen mit hirnorganisch Gesunden. Deswegen muss sehr vorsich-tig, sehr beobachtend und sehr individuell dosiert werden. Insbesonderedürfen keine Medikamente verordnet werden, die die kognitive Leistungs-fähigkeit zusätzlich beeinträchtigen können, wie z. B. tri- und tetrazyklischeAntidepressiva der alten Generation. Auch beim Einsatz von Neuroleptikamuss auf Nebenwirkungen geachtet werden, erst kürzlich wurde beispiels-weise vor dem Einsatz eines neueren atypischen Neuroleptikums (Olanzapin= Zyprexa) bei alten Menschen gewarnt, weil sich darunter eine vermehr-te Schlaganfallhäufigkeit zeigte. Beruhigungsmittel (Tranquilizer) könnendie Sturzneigung erhöhen. Manchmal muss schlichtweg ausprobiert wer-den, welches Medikament im Einzelfall nun wirklich den Schlaf fördert,abgesehen von einem angenehmen, aktivierenden Tagesablauf. Aus Vorur-teilen Psychopharmaka vorzuenthalten, ist ein Fehler. Es ist aber auch einFehler, sich ausschließlich auf Psychopharmaka zu verlassen und anmenschlicher Zuwendung zu sparen. Deren Bedeutung kann nicht hochgenug geschätzt werden.

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Aufklärung und Beratung:In der Vor- und Frühphase der Erkrankung können alle möglichen psychia-trischen Symptome, von scheinbar depressivem Rückzug, Angst, hypochon-drischen Befürchtungen, Impotenz bis zu ungewohnten Gefühlsausbrüchenauftreten, die die hirnorganische Problematik maskieren. Es muss individu-ell entschieden werden, ob in dieser Phase eine Aufklärung hilfreich ist.Die Mitarbeiter meiner Klinik haben, an einem Stichtag befragt, dies fürsich bejaht. Alle, bis auf eine, wollten eine frühe Aufklärung, wollten eineantidemente Therapie und wollten andererseits im Spätstadium weder einePEG noch eine Intensivtherapie. Eine frühe Aufklärung eröffnet die Mög-lichkeit, für eine Vorsorgevollmacht und ein Patiententestament zu wer-ben, in dem dies festgehalten werden kann, und in dieser Selbstbestimmtheitauch später Würde zu wahren. Patiententestamente werden zunehmendvon Betreuern und Ärzten respektiert.

In der mittleren Phase geht es darum, Verständnis zu wecken und destruk-tive Schuldzuweisungen aufzulösen. Weder die Betrachtung der Krankheitals Strafe für einen anfechtbaren Lebenswandel, noch der Hader darum,dass die Krankheit �unverdient trotz großer Tugendhaftigkeit� aufgetretensei, helfen weiter. Vielmehr hemmen und blockieren sie freie und kreativeUmgehensweisen mit der Erkrankung sowohl bei Patienten als auch beiAngehörigen.

Ein Beitrag zu deren Verständnis ist das einfühlsame Vertrautwerden mitPsychopathologie. Am Beispiel der zeitlichen Orientierungsstörungen kannman verstehen lernen, wie beängstigend es sein kann, nicht durch die Vor-stellung einer baldigen Veränderung in einer quälenden Situation getröstetzu werden. Die Qual wird als endlos erlebt und Angst und Hilflosigkeitverstärkt. Umgekehrt gibt es, wenn man aus der Zeit herausgefallen ist,auch die endlos erscheinende glückliche Gegenwart voller Wohlbefinden� beides sollte uns aus der Kindheit erinnerlich sein. Hilfreich kann esauch sein, in manchen auffälligen Symptomen ein Dissimulationsprinzipzu erkennen. Menschen neigen dazu, Mängel und Schwächen bewusstoder auch instinktiv zu verbergen. Tiere übrigens auch, indem sie sich beiAngriff durch Aufstellen des Felles größer machen, als sie eigentlich sind.In dieser Form der Dissimulation immer noch eine Abwehrleistung zu er-kennen, ist eine günstigere Haltung, als Abwehrleistungen als Fassadeabzutun. Wenn ein alter Mensch nachts Teppiche zusammenrollt und diesdamit begründet, dass er seine Eltern in Königsberg besuchen müsse, isteine rechthaberische Konfrontation fehl am Platz. Sie führt zu einem be-

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schämten Rückzug oder einer streitbaren Zuspitzung. Man kann stattdes-sen über Königsberg reden oder auch über die Eltern, dies alles in der Ver-gangenheit, ohne eine Präsenz vorzugaukeln. Bei einem solchen Zugangwird man oft erleben, dass die Orientierungsleistung des Kranken, der sichso aufgehoben fühlt, sich eher bessert. Dies kann man, wenn man denn fürdie Kranken quasi elternhafte Verantwortung übernimmt, �filiale Reife�nennen oder auch einfühlsame Nüchternheit.

In der späten Phase stellt sich die Frage nach dem Sinn einer Intensiv-therapie oder auch die Frage nach einer direkten, durch die Bauchdeckegelegten Magensonde. Es ist erwiesen, dass Magensonden das Leben beifinal Kranken nicht verlängern. Immer auch muss man bedenken, dass derfreundliche Kontakt bei der Nahrungsaufnahme dann nicht mehr stattfin-det. Schmecken, Saugen und angenehm feuchte Kühle im Mund von Pati-enten nicht mehr erfahren werden können, die dazu durchaus noch in derLage sind. Dass an schwer Demenzkranken mancherorts lebenslänglichHerzinfarktprophylaxe betrieben wird, ist zumindest fragwürdig.

In der mittleren und späten Phase muss auch die Frage einer Heim-unterbringung beraten und geklärt werden. Wenn ein Patient nicht mehrHilfe holen kann, nachts verwirrt ist und allein lebt, ist eine Heim-unterbringung unumgänglich. Sie kann aber auch vorher sinnvoll sein, wenner sich noch eingewöhnen kann und die Pflegenden einen Eindruck davongewinnen können, wie die Persönlichkeit, die Vorlieben und die Eigenhei-ten gewesen sein mögen. In jedem Fall ist die Belastungsfähigkeit derAngehörigen zu berücksichtigen, zu deren Entlastung wir alles, was unsmöglich ist, tun müssen. Bei gestörten Familienverhältnissen können wirVermittlungsversuche anbieten. Aber auch Ablehnung ist zu respektieren.Sie hat meist eine leidvolle Vorgeschichte, die wir nicht immer klärenkönnen.

Dort, wo wir nicht mehr verstehen, sollten wir auch kein Verständnis be-haupten. Im liebevollen Respekt sind Geheimnisse besser aufgehoben.

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Zum Umgang mit dementen Menschen �Perspektiven der PflegeAndrea Reeck, Berlin

Als Vertreterin der Perspektive der Pflege spreche ich heute zu Ihnen inVertretung für Frau Prof. Bienstein, die leider kurzfristig erkrankt ist unddaher nicht kommen konnte. So stand das Organisationsteam gesternnachmittag vor der Entscheidung, diesen Workshop ohne pflegerischeBeteiligung stattfinden zu lassen oder eine Ersatzrednerin zu finden. DieBegleitung und Pflege dementiell erkrankter Menschen ist eine großeHerausforderung � auch für die Pflegenden und sie verfügen inzwischenüber ein großes Repertoire an Pflegeangeboten. Es wäre in hohem Maßebedauerlich gewesen auf diese pflegerischen Aspekte zu verzichten.

In den folgenden 20 Minuten werde ich die derzeitige Situation imKrankenhaus anhand von drei kurzen Fallbeispielen schildern. Dabeiwerden zunächst die �klassischen� Pflegeinterventionen dargestellt, so wiesie sich aus einer medizinischen Diagnose ableiten können, um anschlie-ßend die Problematik für dementiell Erkrankte und die Herausforderungenfür die Pflegenden aufzuzeigen.

Anschließend werde ich auf die Bedürfnisse dieser Menschen eingehen,soweit sie sich vermuten lassen, um dann die pflegerischen Konzepte undAngebote kurz vorzustellen.

Abschließend werde ich die benötigten Kompetenzen der Pflegendenerläutern, die zur Pflege und Begleitung von dementiell Erkrankten und ihrerAngehörigen erforderlich sind.

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Fallbeispiel 1

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Fallbeispiel 2

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Fallbeispiel 3

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Zum Umgang mit dementen Menschen �Patientinnen, Patienten und AngehörigeChrista Matter, Berlin

Als hauptamtliche Mitarbeiterin der Alzheimer-Gesellschaft Berlin e.V.,einer nun fast 15 Jahre alten Gesellschaft � das Jubiläum feierten wir am31. März 2004 � möchte ich mich heute gern dem Thema �Angehörige vonDemenzkranken� widmen und Ihnen sozusagen als Ihr Sprachrohr etwasüber die Lebenssituation und den �Umgang� mit Angehörigen berichten.Ich selbst begleite seit 1995 sog. �offene� Selbsthilfegruppen von Angehö-rigen Demenzkranker, insbesondere Alzheimer-Kranker und bin seit 1997als hauptamtliche Mitarbeiterin der Alzheimer-Gesellschaft Berlin e.V. inder Angehörigenberatung tätig.

Die Situation pflegender Angehöriger

Immer noch ist die Familie das wichtigste stützende soziale System fürAlzheimer-Patienten. Zwei Drittel der Demenzkranken werden zu Hausevon pflegenden Angehörigen betreut, überwiegend ohne fremde Hilfe. Derüberwiegende Anteil der Pflegenden sind Frauen. Die meisten von Ihnenselbst schon im Rentenalter.

Die Erkrankung eines Familienmitgliedes an einer Demenz ist ein kriti-sches Lebensereignis für die betreffende Familie (Brody, 1991). In der Re-gel übernimmt eine Person in der Familie die Hauptrolle bei der Pflege desKranken. In den meisten Fällen sind dies die Ehepartner, gefolgt von denTöchtern und Schwiegertöchtern (Kruse, 1994). Das Leben der Hauptpflege-person verändert sich radikal durch die Übernahme der Pflege einesdementen Familienmitgliedes. Bei der Pflege eines Demenzkranken han-delt es sich um eine Aufgabe, auf die Familienangehörige nicht vorberei-tet sind, die sie sich nicht ausgesucht haben, von der sie nicht wissen, wielange sie andauern wird und welche Probleme auftreten können.

Die Betreuung eines an einer Demenz erkrankten Menschen ist eine sehrschwierige Aufgabe. Sie erfordert umfangreiches Wissen und vielfältigeKompetenzen. Viele der Verhaltensweisen des Kranken sind für die pfle-genden Angehörigen zuerst unverständlich und führen zu Unsicherheit undRatlosigkeit im Umgang mit den Erkrankten.

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Die Belastungsfaktoren und das Belastungserleben pflegender Angehörigersind in einer Reihe von Studien ausführlich beschrieben worden (VierterAltenbericht 2002).

Belastungsquellen:

� ständiges Angebundensein� es verlernt zu haben, abzuschalten� der Gedanke, dass es keine Veränderung zum Besseren gibt� das erlebte Leiden der Angehörigen und die Angst, sie bald zu

verlieren� die Nähe zu Tod und Sterben� die verhinderte eigene Selbstverwirklichung und

die Veränderung der eigenen Lebensplanung� Schwierigkeiten, Urlaub nehmen zu können� die eigene körperliche-seelische Befindlichkeit� die gestörte Nachtruhe� der Mangel an Kontakten zu Freunden und Bekannten� die soziale Isolierung� fehlende Anerkennung� Beziehungsprobleme zwischen Pflegenden und Gepflegten.

Ohne eine begleitende Unterstützung und Entlastung sind die Pflegepersonensehr schnell überlastet und überfordert. Bei den pflegenden Ehepartnernsteht als belastendes Moment das eigene Alter und damit die abnehmen-den physischen Ressourcen im Vordergrund. Die Gefahr einer eigenen schwe-ren Erkrankung durch die Pflege ist vielfach belegt. Ähnliches gilt auch fürdie pflegenden Kinder, die ja selbst schon ein relativ hohes Alter erreichthaben und für die die Betreuung und Pflege auch zur Konfrontation mitdem eigenen Altersprozess wird. Spätere Stadien der Demenzerkrankungerfordern sehr oft eine 24-Stunden-Betreuung, so dass Angehörige auch nachtskeine Erholung finden. Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus der Krankensind ein wichtiger Grund für die Überlastung von pflegenden Angehörigen,den Zusammenbruch der häuslichen Pflege und somit eine der Hauptursa-chen für eine Heimeinweisung. Aber auch andere nichtkognitive Verhal-tensweisen, wie depressive Störungen, Unruhezustände und aggressivesVerhalten führen zu einer Verunsicherung und Überforderung bei den pfle-genden Angehörigen, so dass sie ein erhöhtes Risiko tragen, selbst psy-chisch zu erkranken (Haupt, 1999).Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung haben pflegende Angehörige mehroder ausgeprägtere körperliche Beschwerden. Hierzu zählen: Rückenschmer-

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zen, Bandscheibenschäden, Krankheiten des Herz-/ Kreislauf- und Muskel-/ Skelettsystems, Symptome allgemeiner Erschöpfung, Magenbeschwerden,Gliederschmerzen und Herzbeschwerden. Psychosomatische Störungen wieSchlafstörungen, Nervosität, Kopfschmerzen und depressive Verstimmun-gen. Auch der Medikamentenkonsum pflegender Angehöriger erhöht sichmit Beginn der Pflegesituation (Vierter Altenbericht 2002). Dazu zählenSchlafmittel (28%), Beruhigungsmittel (40%), Schmerzmittel (30%). Stu-dien zur häuslichen Pflege von Demenzkranken zeigen eine deutlich hö-here Belastung der Angehörigen im Vergleich zu Pflegenden von nichtDemenzkranken. Hier werden neben den o.g. Belastungen, insbesonderedie Persönlichkeitsveränderungen des Kranken als emotional und physischbelastend erlebt. Das �Auslöschen� der gemeinsamen Biographie, Hilflo-sigkeit im Verhalten gegenüber dem Kranken, Grübeln über potentielleGefährdungen, Sorge nicht durchhalten zu können und deshalb der Umzugin ein Heim notwendig werden könnte.

Die Pflege eines Demenzkranken stellt besonders hohe Anforderungen anden pflegenden Angehörigen. Die Persönlichkeitsveränderungen und ko-gnitiven Einbußen führen zu gravierenden Beeinträchtigungen beim Kran-ken, auf die die Umwelt häufig mit Ärger, Wut, Ungeduld, Überpflege o.ä. reagiert (Neumann in Fuhrmann et al., 1995).

Das Verhalten des Kranken kann dazu führen, dass das soziale Leben despflegenden Angehörigen zusehend verarmt, weil z. B. kein Besuch mehrnach Hause kommt oder der Patient nicht mehr zu Besuchen mitgenom-men werden kann.

Alzheimer Patienten können Verhaltensweisen zeigen, die mit den übli-chen sozialen Normen kollidieren und sich den gewohnten Lösungs-strategien widersetzen. Die zunehmende Unselbständigkeit der Patientenführt unausweichlich zu einem Wandel der Rollen. Das Zusammenlebenmit einem Alzheimer-Patienten bedeutet zudem ein langsames, schmerz-liches Abschiednehmen.

�Angehörige sind durch die Krankheit psychisch belastet und haben zuLebzeiten des Kranken einen verlängerten Trauerprozess zu bewältigen:den zunehmenden Verfall der Persönlichkeit des Kranken.� (Neumann,1992).

Angehörige, die ja auch Opfer der Krankheit sind, müssen also ausreichendberaten und professionell unterstützt werden. Und zwar von Anfang an!

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Das heißt also, es ist nicht nur wichtig, für eine angemessene Betreuungdes Erkrankten zu sorgen, sondern ebenso den Erhalt der Gesundheit undLebensqualität der pflegenden Angehörigen in den Mittelpunkt der Bera-tung zu stellen.

Die Angehörigen haben unterschiedlichste Erfahrungen mit behandelndenÄrzten gemacht: eine Angehörige hat eine fast 9jährige Odyssee hintersich, ehe ihr endlich die Diagnose mitgeteilt wurde, dazu führt sie aus: �Sotraurig und schockierend diese Diagnose auch ist, sie war doch auch eineriesige Erleichterung für mich. Denn nun war ganz klar, dass ich in alldiesen Jahren keine Gespenster gesehen hatte, sondern meine Mutter wirk-lich krank ist. Meine Erfahrungen sind, dass ich allein gelassen wordenbin, dass ich nicht mal die Kuppe des kleinen Fingers gereicht bekam undselbst zusehen musste, wie ich die Hilfe für meine Mutter organisiere.Meiner Meinung nach hätte es nicht so schlimm werden müssen. Wennz.B. der Hausarzt mit fürsorglichem Interesse für seine langjährige Patien-tin da gewesen wäre.�

Eine andere Angehörige hat nicht einen ganz so langen Weg hinter sich,der Hausarzt hat sehr schnell die Überweisung zu einem Neurologenveranlasst, dieser hat eine Ausschlussdiagnostik durchgeführt, aber nichtsofort die Diagnose mitgeteilt, sondern erzählt, dass andere Teile des Ge-hirns die Funktion der abgestorbenen Teile übernehmen könnten und dannhoffentlich bald ein Stillstand eintreten würde. Nur hartnäckiges Drängenund Nachfragen der Angehörigen führten dazu, dass ihr schließlich dieDiagnose mitgeteilt wurde und dann auch eine ausführliche Krankheits-aufklärung stattfand. Aber auch hier berichtet die Angehörige: �... im Nach-hinein betrachtet, hätte ich mir von der Neurologin eine schnellere Mittei-lung der Diagnose Alzheimer gewünscht. Sie wollte mich wohl schonen,aber der Kranke wäre von mir von Anfang an verständnisvoller behandeltworden.�

Am Anfang einer Beratung sollte immer die Aufklärung der Angehörigenüber die Diagnose und die Prognose des Krankheitsverlaufs stehen. Es istganz wichtig, ihnen eine medizinische Erklärung für die Leistungsdefiziteund Verhaltensänderungen des Patienten zu geben. Das hilft, Miss-verständnisse und Konflikte zu vermeiden. Die Gewissheit, dass eine Krank-heit vorliegt, wird sicher nicht dazu führen, dass die bestehenden Proble-me schlagartig beseitigt sind. Aber erst auf dieser Basis besteht für denAngehörigen die Möglichkeit, sich mit dem Krankheitsbild auseinander zusetzen. Pflegende Angehörige berichten immer wieder, dass sie sich eine

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frühzeitige Aufklärung gewünscht hätten. Dies hätte ihnen helfen können,sich rechtzeitig auf die Krankheit und die damit verbundenen Verhaltens-änderungen beim Kranken einzustellen. Aufgrund fehlenden Wissens pla-gen sich im nachhinein viele der Angehörigen mit Selbstvorwürfen, sichfalsch verhalten zu haben. Daher ist die ausführliche Information und Be-ratung der Angehörigen so wichtig. Häufig reicht ein einmaliges Beratungs-gespräch nicht. Das Verstehen und schließlich auch Annehmen der Krank-heit ist oft ein längerer Prozess, in dem Wiederholung und Begleitung nö-tig ist. Selbsthilfegruppen leisten hier eine sehr wichtige Arbeit.Eine gute Angehörigenberatung kann die Kompetenzen der Angehörigenin der Versorgung der Kranken erweitern und ihre Belastung vermindern.D. h. sie dient der Stärkung der Handlungskompetenz der Angehörigen:die individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Angehörigen herausar-beiten, so dass die Pflegesituation objektiv und subjektiv bewältigt werdenkann. Pflegende Angehörige brauchen praktische Ratschläge undHandlungsanleitungen, die den täglichen Umgang mit dem Kranken er-leichtern.

Neben der Wissensvermittlung, Beratung und Information über Entlastungs-angebote ist für viele Angehörige der gegenseitige Austausch mit Gleich-betroffenen ganz besonders wichtig. Möglichkeiten dazu bieten besondersAngehörigengruppen. In diesen Gruppen treffen sich pflegende Angehöri-ge, um über ihre Lebenssituation zu sprechen, um sich gegenseitig zu ent-lasten und zu unterstützen. Hier können sie versuchen, Probleme gemein-sam zu lösen, weil Sie erkennen können, dass andere Menschen Ähnlicheserleben oder merken, dass andere in einer noch schwierigeren Situationsind als sie selbst. Sie helfen sich gegenseitig durch den Austausch vonErfahrungen. Das Verständnis und die Solidarität mit Gleichbetroffenen hilftdann auch im Umgang mit den eigenen Gefühlen wie Scham und Schuld,Wut und Ärger. Darüber hinaus werden Hilfe und Ratschläge von gleicher-maßen Betroffenen häufig leichter angenommen als von professionellenHelfern. Der Besuch einer Angehörigengruppe bedeutet aber auch, dasssie als pflegender Angehöriger einen ersten Schritt unternehmen, etwas fürsich selbst zu tun. Der Besuch einer solchen Gruppe kann dazu beitragen,soziale Isolation zu vermeiden. Die neuen Sozialkontakte können Anstoßgeben, auch andere gemeinsame Aktivitäten durchzuführen und sich so-mit nicht mehr nur in der Rolle als �Pflegender� zu erleben.

Angehörigengruppen sind ein wichtiges Angebot, wenn nicht sogar daswichtigste überhaupt, für Angehörige von Demenzkranken und zwar inallen Stadien der Erkrankung.

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Vorbereitet zu sein auf das, was kommt. Sich nicht mehr hilflos einer Si-tuation ausgeliefert zu fühlen. Das ist es, was die Angehörigen berichten,was ihnen wirklich hilft und sie dazu befähigt diese lange Zeit der Pflegezu bewältigen. Sie haben Kontrolle über die Situation bekommen.

�Wir alle gehen diesen schweren Weg, aber gemeinsam ist es leichter�

Kontaktadresse:

Alzheimer-Gesellschaft Berlin e.V.Friedrichstr. 236, 10969 BerlinTel.: 030-89 09 43 57Email: [email protected]

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Referentinnen und Referenten

Dr. Hubertus Meyer zu Schwabedissen,

Klinikum Braunschweig,Gliesmaroder Str. 29, 38106 Braunschweig

Verena Wetzstein,

Katholische Akademie der Erzdiözese FreiburgPostfach 9 47, 79009 Freiburg

Elke Schumann,

Neurolinguistisches Labor, Albert-Ludwigs-Universität,Werthmannplatz 3, 79085 Freiburg

Dr. Gisela Dimroth,

Vivantes-Humboldt-Klinikum, Abt. Geronto-psychiatrie und Allgemeinpsychotherapie,Oranienburger Str. 285, 13437 Berlin

Andrea Reeck,St. Joseph-Krankenhaus,Bäumerplan 24, 12101 Berlin

Christa Matter,

Alzheimer Gesellschaft BerlinAlbrecht-Achilles-Str. 65, 10709 Berlin

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bisherige Veröffentlichungen:

Nr. 10 Patientenverfügung

Nr. 11 Pränataldiagnostik

Nr. 12 Künstliche Ernährung als ethisches Problem

Nr. 13 Leben um jeden Preis?

Nr. 14 Wahrheit am Krankenbett

Nr. 15 Kürzer im Krankenhaus � längeres Leid?

Nr. 16 ... und ruhe in Frieden

Nr. 17 Menschliche Medizin � zum Umgang mitFehlern im Krankenhaus

Dokumentationen und weitere Informationen erhalten Sieim Internet unter:

www.eaberlin.de �

www.Katholische-Akademie-Berlin.de �

www.sjk.de

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Vorbereitung:

Simone Ehm,Evangelische Akademie zu Berlin,Charlottenstraße 53/54, 10117 [email protected] / www.eaberlin.de

Dr. Martin Knechtges,

Katholische Akademie in Berlin,Hannoversche Straße 5, 10115 Berlinknechtges@katholische-akademie-berlin.dewww.katholische-akademie-berlin.de

Dr. Jeanne Nicklas-Faust,

[email protected]

Professor Dr. Thomas Poralla,

St. Joseph Krankenhaus, Bäumerplan 24, 12101 Berlinwww.sjk.de

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Eine Veranstaltungsreihein Kooperation von:

Evangel i scheAkademiezu Berlin

KATHOLISCHE AKADEMIEIN BERLIN e.V.


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