+ All Categories
Home > Documents > Aristoteles und das geschriebene Wort

Aristoteles und das geschriebene Wort

Date post: 21-Jan-2017
Category:
Upload: lyduong
View: 219 times
Download: 1 times
Share this document with a friend
13
Institute for Classical Studies, part of the Institute for Philosophy, Czech Academy of Sciences in Prague Aristoteles und das geschriebene Wort Author(s): TOMÁŠ HLOBIL Source: Listy filologické / Folia philologica, Vol. 117, No. 1/2 (1994), pp. 1-12 Published by: Institute for Classical Studies, part of the Institute for Philosophy, Czech Academy of Sciences in Prague Stable URL: http://www.jstor.org/stable/23466808 . Accessed: 15/06/2014 07:34 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Institute for Classical Studies, part of the Institute for Philosophy, Czech Academy of Sciences in Prague is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Listy filologické / Folia philologica. http://www.jstor.org This content downloaded from 195.78.108.40 on Sun, 15 Jun 2014 07:34:30 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Transcript
Page 1: Aristoteles und das geschriebene Wort

Institute for Classical Studies, part of the Institute for Philosophy, Czech Academyof Sciences in Prague

Aristoteles und das geschriebene WortAuthor(s): TOMÁŠ HLOBILSource: Listy filologické / Folia philologica, Vol. 117, No. 1/2 (1994), pp. 1-12Published by: Institute for Classical Studies, part of the Institute for Philosophy, Czech Academy ofSciences in PragueStable URL: http://www.jstor.org/stable/23466808 .

Accessed: 15/06/2014 07:34

Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at .http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp

.JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range ofcontent in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new formsof scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected].

.

Institute for Classical Studies, part of the Institute for Philosophy, Czech Academy of Sciences in Prague iscollaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Listy filologické / Folia philologica.

http://www.jstor.org

This content downloaded from 195.78.108.40 on Sun, 15 Jun 2014 07:34:30 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 2: Aristoteles und das geschriebene Wort

Listy filologicke CXVII, 1994, pp. 1-12

Aristoteles und

das geschriebene Wort*

TOMAS HLOBIL (Olomouc)

From its birth, then, philosophy was to find itself in an ambiguous Posi tion. In its Inspiration and its development it was related to both the initia

tions into the mysteries and the disputations of the agora; it wavered between

the sense of secrecy peculiar to the cults and the public argument that cha

racterized political activity. [...] Greek philosophy perhaps never completely extricated itself from the ambiguity ofits origins. The philosopher would con

tinually waver between two attitudes, hesitate between two conflicting temp tations.

Jean-Pierre Vernant

An vielen Stellen seines philosophischen Werks drückte der antike Philo

soph Piaton (427-347 v. Chr.) sein Mißtrauen sowohl gegen die geschrie bene Philosophie als auch gegen die geschriebenen Texte und schriftliche Kommunikation im allgemeinen aus.1 Piatons Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.) hinterließ keine ähnlich irritierende Stellungnahme. Vielmehr wur de Aristoteles' Ansicht, daß geschriebene Wörter (γραφόμενα) Zeichen

(σύμβολα) der Zeichen, also der gesprochenen Wörter sind, die als einzige direkte Symbole (σημεία) der psychischen Erlebnisse und Vorstellungen sind (Peri herm. 1,16a), zum Axiom der westlichen Auffassung der Sprache sowie des westlichen Denkens überhaupt. Aristoteles' Fassung der Schrift

als Mittel, das unmittelbar nur die Rede und nicht den Gedanken offenbart

(also eine Auffassung, die die Schrift als Nachahmung der Nachahmung charakterisiert), hat prinzipiell erst in den 60er Jahren des zwanzigsten Jahr hunderts J. Derrida2in Zweifel gezogen. Gerade J. Derridas Bemühung, die Schrift von dem aristotelischen Stigma "des Sekundären, Abgeleiteten, Nachträglichen" (J. und A. Assmann)3 zu befreien, ruft die Frage hervor,

* Ein modifiziertes Kapitel aus der Dissertation Psane versus mluvene. Pocätky

problematiky (Praha, FF UK 1993). Für die sprachliche Korrektur der deutschen

Übersetzung danke ich aufrichtig Frau Dr. B. Schiehle. 1

Vgl. vor allem Prot. (328e-329a), Phaidr. (274c-278b), 2. ep. (312d-314c) und

7. ep. (341c-344b). 2

Vgl. vor allem Derrida J., De la grammatologie und L'e'criture et la diffe'rance. Paris 1967.

3 Vgl. Assmann A. - Assmann J., Schrift und Gedächtnis. In: Assmann A. - Ass

mann J. - Hardmeier Ch. (Hrsg.), Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literari

schen Kommunikation I. München 19932, S. 266.

1

This content downloaded from 195.78.108.40 on Sun, 15 Jun 2014 07:34:30 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 3: Aristoteles und das geschriebene Wort

TOMÁŠ HLOBIL

welche Funktion Aristoteles dem geschriebenen Text zuschrieb. Wie faBte

eigentlich Aristoteles den geschriebenen Text in verschiedenen (Wort)Dis ziplinen auf?

Aristoteles zog in der Poetik (26) die Tragodie, also die Kunst, die My thos, Charaktere, Sprache, Erkenntnisfáhigkeit, Inszenierung und Melodik enthalt (Poet. 6,1450a), dem strukturell ármeren Epos vor. Aus der Poetik

ergibt sich, daB es in dieser Hinsicht auch gegenteilige Meinungen gab. Nach deren Verfechter stellte das Epos eine wertvollere Dichtkunst dar, denn

"diese wendet sich [...] an ein gebildetes Publikum, das der Gesten nicht be

darf" (26,1462a).4 Und gerade die Bemiihung, die Prioritatsstellung der Tra

godie im Vergleich mit der Epik zu verteidigen, fiihrte Aristoteles dazu, sie nicht nur als szenisches Gebilde, sondern auch als geschriebenes Literatur

werk zu untersuchen.

Als Ziel der Tragedie bezeichnete Anstoteteles, ' die Jammer und Schau

dern "

hervorzurufen "und hierdurch eine Reinigung von derartigen Er

regungszustanden" zu bewirken (6, 1449b). Fiir das Fundament (αρχή) der Tragodie, fiir deren Seele (ψυχή) hielt er den Mythos (μνθος), d.h. Hand

lung, genauer die Zusammenfiigung von Geschehnissen. Wenn "jemand Reden aneinanderreihen wollte, die Charaktere darstellen und sprachlich wie gedanklich gut gelungen sind, dann wird er" - so formuliert Aristoteles

(Poet. 6,1450a) - "gleichwohl die der Tragodie eigentiimliche Wirkung nicht zustandebringen. Dies ist vielmehr weit eher bei einer Tragodie der

Fall, die in der genannten Hinsicht Schwachen zeigt, jedoch einen Mythos, d.h. eine Zusammenfiigung von Geschehnissen, enthalt" (έχουσα δέ μϋ-θον και σύστασιν -ττραΎμάτων).

Die Auffassung der Tragodie, die die Handlung (den Mythos) den Sitten sowie der sprachlichen (λέξις) und gedanklichen (διάνοια) Seite vorzieht, er laubte Aristoteles bei deren Untersuchung von der visuellen Theaterinsze

nierung abzusehen: "Nun kann das Schauderhafíe und Jammervolle durch

die Inszenierung, es kann aber auch durch die Zusammenfiigung der Ge schehnisse selbstiíí αυτής της συστάσεως των -προτ/μάτων) bedingtsein, was das Bessere ist und den besseren Dichter zeigt. Denn die Handlung mufi so zu sammengefiigt sein (συνεστάναι τον μΰ-θον), dají jemand, dernur hort und nicht auchsieht (Т. H.), wie die Geschehnisse (τά ττρά7ματα) sich vollziehen, bei den Vorfallen Schaudern undJammer empfindet." (Poet. 14,1453b; vgl. auch 6,1450b).

Spáter, bei der Besprechung der sprachlichen (λεξις) und gedanklichen (διάνοια) Seite der Tragódie tat Aristoteles einen weiteren Schritt in Rich

tung Literarisierung der Tragódie. Er gab zwar zu, daB die die διάνοια be treffenden Fragen (also alles, "was mit Hilfe von Worten zubereitet werden soli") eher in die Rhetorik gehoren, hob aber zugleich hervor, daB "man

4 Die Poetik zitiert nach der LJbersetzung von M. Fuhrmann (1982).

2

This content downloaded from 195.78.108.40 on Sun, 15 Jun 2014 07:34:30 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 4: Aristoteles und das geschriebene Wort

ARISTOTELES UND DAS GESCHRIEBENE WORT

auch bei den Geschehnissen (έν τοις ττράγμασιν) von denselben Verfahren Gebrauch machen mufi, wenn es darům geht, diese Geschehnisse als jam mervoll oder furchtbar oder grq/.i oder wahrscheinlich hinzustellen

" {Poet.

19,1456b). Die Benutzung dieser Verfahren in der Rhetorik und Tragodie ist

jedoch nicht dieselbe, denn in der Tragódie miissen sich die Wirkungen der dramatischen Geschehnisse auch "ohne lenkende Hinweise (Τ. Η.) (άνευ διδασκαλίας) einstellen [...],wahrendsie bei allem, was aufWorten beruht, vom Redenden hervorgerufen und durch die Rede erzeugt werden miissen

"

(έν τω λόγω ύττό του λέγοντος τταρασκευάζεσθαι; 19,1456b). Der Un terschied zwischen der Rhetorik und der (dramatischen) Poesie ergibt sich aus der verschiedenen Ausgangssituation, die den Charakter der rhetori schen und dichterischen Tátigkeit beeinfluBt, ja sogar vorausbestimmt. Mit zutreffenden Worten von M. Fuhrmann5: "Der Redner findet den Stoffvor, mit dem er sich befafit; er капп ihm nur mit Hilfe der Darstellungsweise die erstrebten Wirkungen abzugewinnen suchen. Der Dichter schafft sich seinen

Stojf (und sei es nur durch seine Wahl); er hat daher die Moglichkeit, die er strebten Wirkungen schon in den Geschehnissen selbst zur Geltung zu bringen."

Das Absehen von der Rezeption der Tragodie im Sinne einer szenischen

Durchfuhrung sowie einer rhetorisch oralen Deklamation fiihrte Aristoteles

zu dem SchluB, daB das Lesen der Tragodie (also die fiir die konkurrierende

Epik charakteristische Rezeption) eine wichtige Rezeptionsweise darstellt (Poet. 26,1462a)6. Gerade "die blofie Lektiire kann ja zeigen, von welcher

Beschaffenheit sie [die Tragodie] ist" (δια γαρ του άναγινώσκειν φανερά όποια τίς έστιν).7

5 Aristoteles, Poetik (Griechisch/Deutsch). Ůbersetzt und herausgegeben von M.

Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 127, Anm. 4. 6 Trotz dieser Stellungnahme des Aristoteles kann man nicht behaupten, daB die

Tragódie fiir ihn primar ein Literatur- und nicht ein Theaterwerk gewesen ware. Vgl. "Man mufi die Handlungen zusammenfiigen und sprachlich ausarbeiten, indem man

sie nach Móglichkeit vorAugen stellt. Denn wenn man sie so mit grofiter Deutlichkeit

erblickt, als ob man bei den Ereignissen, wie sie sich vollziehen, selbst zugegen ware,

dannfindet man das Passende und ubersieht am wenigsten das dem Passenden Wi

dersprechende." (17,1455a) Von den Studien, die sich mit der Frage befassen, ob Aristoteles die Tragódie fiir

Literatur- oder Theaterwerk hielt, vgl. vor allem: Szanto E., Zu Aristoteles' Poetik.

In: Festschrift Theodor Gomperz. Wien 1902, S. 275-289; Crusius O., Die Anagnos tikoi. Exkurs zu Aristot. Rhet. 111,12. In: Festschrift Theodor Gomperz. Wien 1902, S.

381-387; Bulle H., Das Buhnenbild bei Aristoteles. Philologus 84, 1929, S. 252-257; Werner G., Wie gefahrlich ist das Theater? Platon und Aristoteles zur Spezifik thea

tralischer Kommunikation. Philologus 135, 1991. Heft 2, S. 258-263. 7 Von den antiken Lesegewohnheiten im allgemeinen und vor allem von damali

ger Gewohnheit, laut zu lesen, vgl. vor allem: Balogh J., Voces paginarum. Philolo

gus 1927, S. 84-109, 202-240; Wohleb L., Ein Beitrag zur Geschichte des lauten Le

3

This content downloaded from 195.78.108.40 on Sun, 15 Jun 2014 07:34:30 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 5: Aristoteles und das geschriebene Wort

TOMÁŠ HLOBIL

Bei der Behandlung der Literarisierung wich Aristoteles nicht einmal der am natiirlichsten und zugleich am stárksten zur Miindlichkeit neigenden Disziplin - der Redekunst - aus. Aufgrund des Vergleichs verschiedener Redearten gelangte er im dritten Buch der Rhetorik (III, 12,1413b) zu dem SchluB, dafi zu jeder Redeart ein unterschiedlicher Stil (λέξις) pafit, denn díe

λέξις von Biichern (Schriften) und offentlichen Reden (λέξις γραφική και αγωνιστική) ist nicht dieselbe. Die geschriebenen Reden, die der Red ner abfassen mu β, um auch die Abwesenden ansprechen zu kónnen, schie

nen Aristoteles "arm bei den offentlichen Verhandlungen" (έν τοις άγώσι στενοί) zu sein. Demgegeniiber fand Aristoteles die Reden, die einen Erfolg "beim Vortrag" (εν λεχ·θέντες) verzeichneten, fand Aristoteles schwach (Ιδιωτικοί) bei der Lektiire. Der in den offentlichen Reden benutzte Stil

(δημηγορική λέξις) braucht nach Aristoteles' Ansicht keine genaue, zu

gríindliche Durcharbeitung - er áhnelt einer GrundriBzeichnung. Im Gegen satz dazu ist die λέξις γραφική, die man am haufigsten in den zu lesenden

epideiktischen Reden (schon weniger in Gerichtsreden) benutzt, der ge naueste (ακριβέστατη), stilistisch am griindlichsten ausgearbeitete Stil, "denn die geschriebenen Reden haben eine grófiere Wirkung durch den

sprachlichen Ausdruck (λέξις) als durch die Gedankenfiihrung" (διάνοια) (III,1,1404a).

Wenn sich die (geschriebene) Rede nur (bzw. vor allem) auf den Stil, die

Sprache - die λέξις - konzentriert und die gedankliche Seite - die διάνοια -

aus dem Blickfeld verliert, dann erfiillt sie nicht mehr die aristotelische αρετή λέξεως, die besondere Aufgabe oder Funktion der Worter - námlich die der Klarheit. Denn um trefflich zu sein, mu β die Sprache in jeder ihrer Formen klar darstellen (Rhetorik 111,2,1404b; Poetik 22,1458a). Wenn sich die rheto rische "Oberzeugung von der Bemiihung um den Beweis lost," betont zu

treffend P. Ricoeur8, "triumphiert der Wunsch, zu verfiihren und zu gefal len, und der Stil ist nicht mehr Figur, nicht mehr nur das Gesicht eines Kor

pers - sondern ein Schmuck im 'kosmetischen' Sinne des Wortes. Diese

Moglichkeit ist [...] vonAnfang an im Projekt der Rhetorik enthalten [...]. Da die Schrift [aber] eine Veraufierlichung zweiten Grades ist, stellt diese Tren

nung bei ihr wohl eine besonders scharfe Drohung dar."

sens. Philologus 1930, S. 111-112; Hendrickson G. L., Ancient Reading. The Classi

cal Journal 1929, S. 182-196; Knox В. M. W., Silent Reading in Antiquity. Greek, Roman and Byzantine Studies 1968, S. 421-435; Hlobil Т., Čtení (dramatických) tex

tů v předhelénistickém Řecku. Estetika XXIX, 1992, Nr. 2, S. 50-56. 8

Vgl. Ricoeur Р., Zwischen Rhetorik und Poetik: Aristoteles. In: Ricoeur Р., Die

lebendige Metapher. Aus dem Franzosischen von R. Rochlitz. Miinchen 19912, S. 42.

Zum Themalexis, dianoia und Metapher vgl. auch Derrida J.,La mythologie blanche.

In: Marges de la philosophie. Paris 1972, S. 247-324.

4

This content downloaded from 195.78.108.40 on Sun, 15 Jun 2014 07:34:30 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 6: Aristoteles und das geschriebene Wort

ARISTOTELES UND DAS GESCHRIEBENE WORT

Dieser Zwiespalt zwischen dem, wie man etwas sagt, und dem, was man

sagt, zwischen dem Stil (der Sprache iiberhaupt) und dem gedanklichen Inhalt findet nach Aristoteles seinen Hohepunkt gerade in den stilistisch (sprachlich) am griindlichsten ausgearbeiteten Schriftreden. Es sieht so aus, als ob die Form - die Sprache - in den geschriebenen Reden undurchsichtig und zu Ungunsten der gedanklichen Seite zum eigentlichen Inhalt der Mit

teilung wiirde; als ob erst die Verschriftlichung der Rhetorik ihre noetische

Nichtigkeit, ihre Leere hochsteigern und klar zum Ausdruck bringen konn te. Und eben dieser Zug verband die persuative Rhetorik mit einer weiteren Wortkunst, der mimetischen Poesie, und zugleich unterschied sie beide grundsatzlich von der Philosophie.

Den Unterschied zwischen der Philosophie einerseits und der Rhetorik und Poesie andererseits zeigt am klarsten gerade die schriftliche Form der beiden Wortkiinste. Die geschriebene Rhetorik riickt in den Vordergrund ihrer Mitteilungen die wortliche Seite (λέξις) - d.h. das, was beziiglich der natíirlichen Funktion nur als bloBer lenkender Hinweis zur Offenbarung des

auBersprachlichen Inhalts dienen solíte. Die λέξις der geschriebenen Rheto rik ist nicht mehr dem dialektischen Argumentieren untergeordnet und wird zum Selbstzweck, der die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenkt. Im Gegen satz zur Sprache der geschriebenen Rhetorik lehnt sich die λέξις der (guten) Tragodie gegen die άρετή λέξεως - gegen die Klarheit, Durchsichtigkeit - nicht auf, da die λέξις der Tragodie nach Aristoteles' Auffassung immer die instrumentale Funktion gegeniiber der Handlung, den Geschehnissen, dem Mythos erfiillt (erfullen muB). Denn, mit den Worten P. Ricoeurs9, "was uns

in einem Gedicht gefallt, ist die Art der Klarung, der vollstandigen Trans

parenz, die durch die tragische Komposition geleistet wird".

Die λέξις der Tragodie ist áhnlich durchsichtig wie die Sprache der Philo

sophie. Das Wort in der Philosophie bedeutet (bzw. solíte bedeuten10) nam lich immer etwas Bestimmtes, denn nicht das Eine bedeuten, wie Aristote

les in der Metaphysik (IV,4,1006b) hervorgehoben hat, heiBt soviel, wie nichts zu bedeuten und wenn die Wórter nichts bedeuten, dann verschwin

det nicht nur das gemeinsame Gesprách zwischen den Menschen, sondern

sogar auch das Gesprach mit sich selbst. Das Ziel der sprachlichen Durch

sichtigkeit ist allerdings in beiden Fállen ganz unterschiedlich. Am offen sichtlichsten zeigt es die Lektiire der Tragodie, d.h. die Rezeptionsweise der

9 Ricoeur Р., Zwischen Rhetorik utid Poetik: Aristoteles. In: Ricoeur Р., Die le

bendige Metapher. Aus dem Franzosischen von R. Rochlitz. Miinchen 19912, S. 50.

Zur Durchsichtigkeit der Tragódie vgl. auch die altere Arbeit von A. N. Whitehead, Science and the Modern World (1925, Kap. 1), an die in den 50er Jahren N. Frye

(Anatomy of Criticism, 1957, 3. Essay) angekniipft hat. 10 Daher argert sich auch Aristoteles in der Rhetorik (111,5,1407b) iiber die Unein

deutigkeit der philosophischen Texten des Herakleitos.

5

This content downloaded from 195.78.108.40 on Sun, 15 Jun 2014 07:34:30 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 7: Aristoteles und das geschriebene Wort

TOMÁŠ HLOBIL

Literatur, die von allen Hilfsmitteln des Theaters (Szene, Musik, Schauspie lern, oraler Deklamation) absieht und die fiir die konkurrierende Epik cha rakteristisch ist. Die Lektiire der Tragodie kann námlich am ehesten (am besten) feststellen, ob alle ihre Bestandteile der eigentlichen Seele - dem Mythos - untergeordnet sind. Aristoteles schreibt der durchsichtigen λέξις der

Tragodie zu, den Mythos, und dies sei betont, nur den Mythos (die Gescheh nisse) zu vermitteln. Im Gegensatz dazu erkannte er der ebenso durchsichtig instrumentalen Sprache der Philosophie ein hoheres, ja sogar das aller hochste Ziel zu: die Vermittlung der wirklichen Erkenntnis des Seins, επιστήμη (Anal. hyst. 19,100a; Eth. Nik. VI,3,4,1139b-1140a).11

uie icnritt íst nacn Meinung aes Aristoteles eine mcnanmung aes zwei

ten Grades. Die geschriebenen Texte finden nach seiner Ansicht ihre natiirli che und geeignete Betátigung in der Poesie und Redekunst. Und eben die Schriftform der beiden Disziplinen zeigt zugleich deutlich deren grund sátzliche - noetische - Unterschiedlichkeit von der Philosophie. Das ruft die Frage hervor: Wie war Aristoteles' Stellungnahme zur schriftlichen Philo sophie? Unterschied sie sich iiberhaupt von der des Platon?

hici der beantwortung dieser rragen gehen wir von der ailgemein vertre

tenen Ansicht aus, daB der entscheidende Teil von Aristoteles' philosophi schem Werk, das zur schriftlichen Veroffentlichung bestimmt wurde, wáh

rend seines ersten Aufenthaltes in Athén entstand.12 Warum verzichtete spa ter Aristoteles auf seine schriftstellerische Tatigkeit? W. Jaeger, der Bahn brecher der genetischen Untersuchung seiner Philosophie13, begriindete die

se Wende mit der neuen Forschungsweise, deren Schwerpunkt nicht auf ei

ner schriftlichen, sondern auf einer oralen Lehre beruhte: "Aristotle radical

ly altered his views about the necessity ofpresenting science in literary form, and about the relation between literary and truly productive work (24). Here

we have a gradually increasing paralysis of the desirefor literary creation, until finally is wholly wrapped up in teaching. The vast sum of his life is to befound neither in the treatises nor in the dialogues. It lies in his living in fluence on his pupils [...]. When separatedfrom his creator and his voice the treatises could not and did not produce any independent effect" (317). Die se Stellungnahme unterschied nach W. Jaeger Aristoteles von seinem Lehrer

Platon, der mit seinem literarischen Schaffen (selbst wenn dessen Beziehung zu den oral gefiihrten Diskussionen in der Akademie auch sehr eng war) das

11 Die Frage, wieweit Aristoteles dem Mythos selbst die Fahigkeit zuerkannte, das

philosophische Wissen zu umfassen {Met. 1,3,982b; Poet. 9,1451b), kann man beisei

te lassen, denn es ist klar, daB das mythische Denken Aristoteles' Auffassung der

Philosophie nicht entsprach. 12

Vgl. die zusammefassende Interpretation von DCring I., Aristoteles, Paulys RE.

Supplementband XI. Sp. 294-312, 330-335. Stuttgart 1968. 13 Jaeger W., Aristotie. Fundamentals of the History ofHis Development. Trans

lated with the authoťs corrections and additions by R. Robinson. Oxford 19482.

6

This content downloaded from 195.78.108.40 on Sun, 15 Jun 2014 07:34:30 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 8: Aristoteles und das geschriebene Wort

ARISTOTELES UND DAS GESCHRIEBENE WORT

gesellschaftliche Geschehen zu beeinflussen versuchte. Platon wollte den

Philosophen in einem dramatischen ProzeB des Suchens und Findens, im

Kampf gegen die Pseudowissenschaft, die politische Macht, die Gesellschaft und auch gegen sich selbst zeigen (25). Demgegeniiber konzentrierte sich Aristoteles allmáhlich immer mehr nur auf das alleinige theoretische Wis sen und Erkennen und zugleich wirkte er nur miindlich auf den engen Kreis

seiner Schíiler. Aristoteles' unmittelbare Lehrweise, seine Konzentration auf das "Hier" und "Jetzt" waren fiir die Griechen nach W. Jaeger "something absolutely new, and, with the age of the great philosophic schools just be

ginning, it started a new epoch. Stoics, Epicureans, Academics, all laid more

weight on oral teaching than on literary self-expression" (318). W. Jaeger hat zutrerrend den Konzeptionsunterschied zwischen der Phi

losophie von Platon und Aristoteles hervorgehoben. Sein SchluB, daB das Vorziehen der Oralitát zuungunsten der Literaritát einen neuen Zug dar stellte, den Aristoteles in die griechische Philosophie hineintrug, scheint al

lerdings streitig zu sein. Die "literarische" Beschaffenheit der griechischen Philosophie (vgl. Anaximandros, Hekataios, Herakleitos uw.)14zog doch, wenn auch aus anderen denkerischen Beweggriinden als Aristoteles15, schon

Platons Lehrer Sokrates (469-399 v. Chr.) grundsátzlich in Zweifel. Sokra tes' Entscheidung, uber seine Lehre nicht zu schreiben, konnte man im Zu

sammenhang mit der griechischen philosophischen Tradition als formale

Folgerung verstehen, die sich aus seiner eigentiimlichen philosophischen Orientierung ergab: Gegen die schriftlichen naturphilosophischen Abhand lungen der friiheren Zeit stellte Sokrates seine miindlich gefiihrten Gesprá che uber das Erkennen seiner selbst, des menschlichen Verstandes und der

Sittlichkeit. Unmittelbar hing aber Sokrates' Entscheidung wahrscheinlich mit der Tátigkeit seiner Zeitgenossen

- der Sophisten - zusammen. Sokra

tes bemiihte sich die Sophisten, deren Tátigkeit zu (schriftlichen) Vortrágen und Deklamationen neigte, nicht nur inhaltlich (mit Hinweisen auf die noe tische Inkonsequenz und versteckte Persuativitát ihrer Eristik) zu bekámp fen, sondern er versuchte gegen sie auch formal, durch die Art und Weise

seines eigenen Handelns (Symp. 177b, 198d-199d), aufzutreten. Mag man das Nichtschreiben des Sokrates vom Standpunkt der Philosophie positiv begriinden, wie es vor allem die Metaphysikverfechter tun (J. Patočka: "Mit

14 Eine Obersicht der schriftstellerischen Tatigkeit der Vorsokratiker bietet Gut

hrie W. К. C., A History ofGreek Philosophy I. The Earlier Presocratics and the Py

thagoreans. Cambridge University Press 1980, S. 54-55 (Thales, vgl. auch die Anm.

21), S. 72-73, 115 (Anaximandros und Anaximenes), S. 155 (Pythagoras), S. 406-408

(Herakleitos). Hier auch Hinweise auf die sekundáre Literatur zu diesem Thema. Zur

literarischen Tatigkeit der Sophisten vgl. Baumhauer O. Α., Die sophistische Rheto

rik. Eine Theorie sprachlicher Kommunikation. Stuttgart 1986. 15 Mittelstrass J., Versuch uber den Sokratischen Dialog. In: Stierle K. - War

ning R. (Hrsg.), Das Gesprach. Miinchen 1984, S. 11-27.

7

This content downloaded from 195.78.108.40 on Sun, 15 Jun 2014 07:34:30 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 9: Aristoteles und das geschriebene Wort

TOMÁŠ HLOBIL

Hilfe seines trivialen Schemas deckt Sokrates einen der Grundwiderspriiche des Menschen auf, namlich den Widerspruch zwischen seiner Beziehung zum

Ganzen, das ihm unentziehbar eigen ist, und der Unfahigkeit und Unmog lichkeit, diese Beziehung in Form des iiblichen Endwissens auszudriic ken. "16), oder mag man es nietzscheanisch17 negativ beurteilen (J. L. Fischer: "Sokrates hatte einfach nichts Fertiges, was er mitteilen konnte, aufier sei nen mehreren Grundthesen. "18), so ist es aus Platons Philosophie ganz of

fensichtlich, daB Sokrates' Entscheidung stark die nachsokratische práhel lenistische Philosophie beeinfluBte. Gerade das Beispiel des Sokrates (und wahrscheinlich auch des Pythagoras19) scheint zu bewirken, dafi Platons

Philosophie sich gegen die Verschriftlichung (Veroffentlichung) und die Schrift iiberhaupt bewuBt aufzulehnen begann. Es sieht so aus, als ob gera de die Art und Weise der Mitteilung und Verbreitung fiir die Philosophie Platons (die nachsokratische Philosophie im allgemeinen?) einen der wich

tigsten Ziige darstellen wiirde, der sie von den ubrigen, (nach der Meinung des Philosophen) die wirkliche Wahrheit nicht beinhaltenden und vermit telnden Diszinlinen klar absonderte.

Platon, durch Sokrates' ausschlieBlich miindliches Philosophieren be einfluBt, sammelte gegen das Schreiben philosophischer Werke eine Reihe von bedeutenden Argumenten (Phaidr. 274c-278b; 2. ep. 312d-314c; 7. ep. 341c-344b). Er systematisierte und begriindete das MiBtrauen der (meta physischen) Philosophie gegen die Schrift und schriftliche Mitteilung. Zu

gleich befaBte er sich aber mit dieser Frage in seinen eigenen, schriftlich auf

gezeichneten philosophischen Werken. Und gerade dieser Zwiespalt, dieser MiBklang zwischen der inneren Úberzeugung und auBeren Handlung scheint Aristoteles' Standpunkt zu dieser Problematik zu kennzeichnen. Das

bestatigen nicht nur seine schon erwahnten Vorstellungen von Schrift und

schriftlichen Texten, sondern auch der Charakter seines philosophischen Schaffens.

Den GroBteil der veroffentlichten, nicht streng wissenschaftlich konzi

pierten Werke (εξωτερικοί Xcryoi) schrieb Aristoteles in Dialogen. Gerade

16 Vgl. Patočka J., Negativní platonismus. Praha 1990, S. 17. Áhnlich Patočka J.,

Sokrates. Přednášky z antické filosofie. Praha 1991, S. 7. 17

Vgl. "Sokrates unterscheidet sich von allen friiheren Philosophen durch seine

plebejische Abkunft und eine ganz geringe Bildung. Gegen die ganze Kultur und

Kunst war er immerfeindselig, ebenso gegen die Naturwissenschaft" (Nietzsche F., Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Leipzig 1896, S. 124).

18 Fischer J. L., Sókratés nelegendární. Ostrava 1970, S. 113. 19

Allgemein setzt man voraus, obwohl die antiken Nachrichten in dieser Rich

tung nicht einig sind (vgl. Guthrie W. К. C., A History of Greek Philosophy I. The

Earlier Presocratics and the Pythagoreans. Cambridge University Press 1980, S.

155), daB Pythagoras, dessen Ideen Platons Lehre stark beeinfluBten, seine Philoso

phie nicht schriftlich aufzeichnete.

This content downloaded from 195.78.108.40 on Sun, 15 Jun 2014 07:34:30 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 10: Aristoteles und das geschriebene Wort

ARISTOTELES UND DAS GESCHRIEBENE WORT

diese Literaturform erlaubte Platon - trotz seiner ablehnenden Stellung nahme zu geschriebenen philosophischen Werken - seine Philosophie schriftlich aufzuzeichnen. Denn die Literaturform 'Dialog', wie die gegen wártige platonische Forschung wiederholt hervorgehoben hat20, gestattet am

besten die Schwáchen, die Platon bei den geschriebenen Texten zu finden

pflegte (Unbeweglichkeit, Unfáhigkeit, sich selbst zu verteidigen und sich dem Gemiit einzelner Rezipienten anzupassen), zu beseitigen oder min destens zu mildern.

Offen bleibt allerdings die Frage, ob Platon wirklich iiberzeugt war, daB seine, wenn auch in Dialogen gefiihrte literarische Tatigkeit die philoso phischen Ideen erfolgreich und objektiv (d.h. entsprechend den Absichten des Urhebers) vermitteln konnte. Platons umfangreiches literarisches Ver

máchtnis deutet an, daB die Antwort auf diese Frage 'ja' lauten solíte. Aller

dings bietet es keinen direkten Hinweis in dieser Richtung. Indirekt be antwortet diese Frage vielleicht nur der SchluB des Dialogs Phaidros, in dem Sokrates seinen Dialogpartner Phaidros zur Beendigung ihrer Diskussion auffordert: "Nicht wahr, damit solíte unsere spielerische Erorterung (Т. H.) z.um Thema 'Reden' ihr angemessenes Ende gefunden haben." Diese Rand

bemerkung versteckt, wie E. Heitsch iiberzeugend gezeigt hat, Platons iro

nische Antwort auf die Frage nach dem wirklichen Sinn und Wirkungs bereich seines eigenen philosophischen Literaturschaffens. "Der Leser" -

so formuliert E. Heitsch - "stutzt: Wieso spielerisch ? Sokrates und Phaidros sind doch im Gesprach, also doch wohl-falls Sokrates die soeben gewonne ne Einsicht in den rechten Umgang mit Sprache nicht sogleich Liigen stra

fen will - ernsthaft bei der Sache. Doch Platon als Autor des Dialogs fallt hier sozusagen aus seiner Rolle und spielt nicht ohne Ironie mit der Situa

tion, in der er selbst und der Leser sich befinden: Letzterer hat paradoxer weise den Dialog als fixierten Text vor sich, und dieser ist nach der in eben

diesem Dialog vertretenen Lehre nun allerdings einen ernsthaften Einsatz

nicht wert. "21

Konnte man Aristoteles' Abkehr von der fiir die Óffentlichkeit bestimm ten geschriebenen Philosophie und seine spátere Konzentration auf die um

20 Zu der Fahigkeit der Literaturform 'Dialog', die Schwachen des schriftlichen

Textes zu iiberwinden, vgl. z.B. Mittelstrass J., Versuch iiber den Sokratischen Dia

log. In: Stierle K. - Warning R. (Hrsg.), Das Gesprach. Munchen 1984, S. 11-27; Heitsch E., Platon iiber die rechte Art zu reden und zu schreiben. Mainz -

Stuttgart

1987; JtiRSS F., Platon und die Schriftlichkeit. Philologus 135, 1991, Heft 2, S. 167

176. Hier kann man auch ausfuhrliche Verweise auf weitere sekundáre Literatur zu

diesem Thema finden. Zu den Dialogen des Aristoteles vgl. vor allemBERNAYS i.,Die

Dialoge des Aristoteles in ihrem Verhaltnis zu seinen iibrigen Werken. Berlin 1863. 21 Heitsch E., Platon iiber die rechte Art zu reden und zu schreiben. Mainz-Stutt

gart 1987, S. 36, Anm. 57.

9

This content downloaded from 195.78.108.40 on Sun, 15 Jun 2014 07:34:30 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 11: Aristoteles und das geschriebene Wort

TOMÁŠ HLOBIL

fangreiche esoterische ("schriftstellerische") Tátigkeit nicht fur eine Ant wort ihrer Art auf Platons in Phaidros geáuBerte Zweifel halten? Konnte

man Aristoteles' Verzicht auf die offentliche Literaturtatigkeit und seine Zu

wendung zur Lehrtátigkeit im engen Kreis seiner Schiiler nicht als eine Fol

gerung verstehen, die sich aus Platons innerlicher Úberzeugung ergab, wo

nach jede, also auch jene in Dialogen gefiihrte, schriftliche Philosophie kaum die Ideen entsprechend den Absichten des Urhebers vermitteln kann? Aristoteles hob doch wiederholt hervor {Met. 1,1,980b; Peri aisthes. 1,1, 437a; De anima II,8,420b), daB eine notwendige Voraussetzung jedeš belie

bigen Lernens (hauptsachlich dann des Lernens, das zur Erkenntnis des

Wesens und der Ursachen aller Sachen fiihren soli) die Fáhigkeit, 'Tone zu hořen' {των ψόφων άκουε lv), ist, denn das Lernen wird durch (gesprochene) Rede und nicht, fiigen wir hinzu, durch geschriebene Texte vermittelt. Úber dies entspricht doch der Charakter der meisten erhaltenen esoterischen Wer

ke des Aristoteles der Ansicht Platons {Phaidr. 277e-278a; 276d; 7.ep. 344e), daB die besten aller Schriften nur ein Mittel der Erinnerung (ύττό μνησις) fur die wissenden Leute sind - d.h. fiir den Urheber und seine Schiiler. Die meisten Schriften des Aristoteles waren ja Vorlesungsmanu skripte.22 Diese Werke bewahrte Aristoteles den Bediirfnissen seiner Lehr tátigkeit entsprechend zwar auf, gab sie aber wahrscheinlich nie heraus. Die

se Werke teilten das komplizierte Schicksal seiner ganzen Bibliothek (Stra bon, Geogr. XIII,608-609) und wurden erst im 1. Jahrhundert v. Chr. durch Andronikos von Rhodos geordnet und veroffentlicht.

Aristoteles' Hinwendung von der schriftlichen zur miindlichen Form der Philosophie, seine Fassung der Schrift als Nachahmung der Nachahmung sowie seine Vorstellungen von den schriftlichen Texten in einzelnen (Wort) Disziplinen scheinen zu bestátigen, daB Aristoteles an das sokratisch-plato nische MiBtrauen gegen das geschriebene Wort und besonders gegen die

geschriebene Philosophie ankniipfte. Gerade die Oralitat verbindet die eso terische (akroamatische) Philosophie des Aristoteles23 - wenn auch diese nicht als Lebensform, sondern als stándig vertiefte Forschung aufgefaBt wurde24 - mit dem miindlichen Philosophieren des Sokrates.

22 Vgl. DOring I., Aristoteles. Paulys RE. Supplementband XI. Sp. 190. Stuttgart

1968: "Die meisten Schriften des Aristoteles sind Vorlesungsmanuskripte, einige sind

Memoranda ftir den eigenen Gebrauch und vielleicht geschrieben, um als Gedacht

nisstiitze fiir Vorlesungen zu dienen (Beispiele: die Poetik, В der Metaphysik), oder

Materialsammlungen (die Hist. an.); nur wenige sind wie die Meteorologie /-/// mit

Sicherheit direkt fiir Leser geschrieben. "

23 Das bedeutet allerdings keinesfalls Bestátigung der andronikischen Hypothese von der Existenz einer geheimen Lehre. Eine zusammenfassende ÍJbersicht der anti

ken Charakteristiken der aristotelischen Werke bietet DOring I., Aristotle in the An

cient Biographical Tradition. Goteborg 1957, S. 412-443. 24 Mittelstrass J., a.a.O. (Anm 15).

10

This content downloaded from 195.78.108.40 on Sun, 15 Jun 2014 07:34:30 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 12: Aristoteles und das geschriebene Wort

ARISTOTELES UND DAS GESCHRIEBENE WORT

Eine solche Interpretation von Aristoteles' Stellungnahme zur literari

schen Philosophie ist denkbar und verfechtbar. Sie scheint aber Aristoteles' Standpunkt zu dieser Angelegenheit nicht vollstandig zu fassen. Der Inhalt von Aristoteles' peripatetischer Arbeiten enthalt namlich noch einen ande

ren Aspekt, den man in Betracht ziehen muB. Wenn Aristoteles zumin

destens innerlich nicht iiberzeugt gewesen ware, daB auch die geschriebenen philosophischen Werke den Urheberabsichten entsprechende Erkenntnisse und Schliisse zu vermitteln imstande waren, dann hátte er nicht in seinen

peripatetischen Arbeiten wiederholt auf sein exoterisches Schaffen verwie sen (Poet. 15,1454b; Eth. Nik. 1,3,1096a usw.). Es hatte auch keinen Sinn gehabt, daB er in den esoterischen (akroamatischen) Werken auf historisie rende Weise die Ansichten seiner philosophischen Vorgánger zusammen faBte, die gerade aus deren literarischem Vermachtnis stammten (Met. 1,3 5; De anima 1,2-5 usw.).25 Es hatte auch keinen Sinn gehabt, daB er seinen Schiilern empfahl, systematisch die Meinungen einzelner Denker zu ver schiedenen philosophischen Fragen aus deren geschriebenen Abhandlungen (έκ των γεγραμμέυων λόγων; Top. I,XIV, 105b) zu sammeln. Jaes hatte sogar keinen Sinn gehabt, diese Werke fiir seine beriihmte personliche Bibliothek zu gewinnen und darin aufzubewahren (Strabon, Geogr. XIII,608-609). Das alles aber tat Aristoteles.26 In dieser Hinsicht kann man behaupten, daB, be

ginnend mit Aristoteles' philosophischem Schaffen, die Philosophie trotz ihres sich fortsetzenden MiBtrauens gegen die geschriebene Mitteilung (ja sogar trotz deren Verzicht auf das geschriebene Wort) bewuBt zur literari schen Hermeneutik wurde.

25 In diesem Zusammenhang vgl. die Bemerkung von W. К. C. Guthrie, der auf

die Unsicherheit aufmerksam gemacht hat, mit der Aristoteles Thales' philosophische Ideen besprochen hatte. Der Grund dieser Unsicherheit bestand gerade in der Tatsa

che, "[that] no writings of his were available in Aristotles's time and probably long

before. Aristotle had no means ofknowing the reasons which led Thales to make his

statement, and when he ascribes a possible line ofthought to him makes no secret of

thefact that he is guessing. "

Guthrie W. К. С., A History of Greek Philosophy I. The

Earlier Presocratics and the Pythagoreans. Cambridge Univ. Press 1980, S. 54-55. 26 Gerade dieser Zug war wahrscheinlich, wie man mindestens aus den spáteren

neoplatonischen Biographien des Aristoteles schlieBen kann, fiir seine philosophis che Tatigkeit charakteristisch. Daher wurde er auch mit dem Beinamen 'Leseť (ana

gnostés, Vita Marciana 6; lector, Vita Latina 6) gekennzeichnet. In diesem Zusam

menhang vgl. den aufschluBreichen Kommentar von I. DOring (Aristotle in the Anci

ent Biographical Tradition. Goteborg 1957, s. 108-109). Dieser Beiname begleitete Aristoteles bis ins Mittelalter (Burleigh W.). Fiir diese Information danke ich auf

richtig Herrn PhDr. M. Okál, DrSc.

11

This content downloaded from 195.78.108.40 on Sun, 15 Jun 2014 07:34:30 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 13: Aristoteles und das geschriebene Wort

TOMÁŠ HLOBIL

RÉSUMÉ

Aristotelés a psané slovo

Aristotelova charakteristika psaného slova jako pouhého znaku znaku, mluvené

ho slova, které samo je jediným přímým symbolem duševních prožitků, představ, se

stala jedním z axiómů západního nazírání na jazyk. Chápání psaného slova jako ná

podoby nápodoby zásadněji zpochybnil až v 60. letech dvacátého století J. Derri

da. Odtud otázka, jaké byly Aristotelovy představy o psaném textu? V Poetice Aris

totelés analyzoval tragédii nejen jako scénický divadelní útvar, nýbrž i jako psané literární dílo. V Rétorice odlišil přesný sloh psaných epideiktických řečí od nepro

pracovaného stylu řečí veřejných. Právě psaná podoba obou těchto disciplín ukazu

je jejich odlišnost od filosofie, ačkoli jazyk (Χέξις) hraje v obou rozdílnou úlohu:

Jazyk rétoriky přestává podle Aristotela být průhledným nástrojem sdělování a stá

vá se sebestředným samoúčelem; jazyk tragédie je sice průhledný obdobně jako ja

zyk filosofie, avšak jeho cílem je zprostředkovat mýtus, nikoli skutečné poznání bytí

(έττιστήμ,η). Aristotelův náhled na písmo jako nápodobu nápodoby, jeho představy o psaných textech a jejich uplatnění v jednotlivých disciplínách, jakož i dvojakost

jeho filosofické tvorby (doprovázená odklonem od psané к mluvené filosofii) oprav

ňují tvrdit, že Aristotelés navázal na sókratovsko-platónskou nedůvěru vůči psané mu slovu a psané filosofii zvláště. Takový výklad však nepostihuje Aristotelův po stoj к psanému slovu v úplnosti. Aristotelovy odkazy к vlastním uveřejněným filo

sofickým dílům, jeho kritická shrnující pojednání o činnosti předchůdců, sbírání tex

tů pro vlastní knihovnu, jakož i doporučení adresované jeho žákům, aby systematic

ky sbírali stanoviska jednotlivých myslitelů z jejich psaných pojednání, naznačují, že počínaje Aristotelovou tvorbou se filosofie i přes pokračující nedůvěru v psané sdělení vědomě stala literární hermeneutikou.

12

This content downloaded from 195.78.108.40 on Sun, 15 Jun 2014 07:34:30 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions


Recommended