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Arbeitsschutz in der digitalen Arbeitswelt - thueringen.de · Aktuelle Herausforderungen in...

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Arbeitsschutz in der digitalen Arbeitswelt Prof. Dr. Wolfhard Kohte Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg 22.03.2018
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Arbeitsschutz in der digitalen Arbeitswelt

Prof. Dr. Wolfhard Kohte

Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg 22.03.2018

Gliederung

I. Aktuelle Herausforderungen

II. Digitale Betriebssicherheit

III. Digitale Ergonomie

IV. Arbeitszeit in der digitalen Arbeitswelt

V. Aufsicht in der digitalen Arbeitswelt

Aktuelle Herausforderungen in Stichworten - 1

• Arbeit 4.0 Steuerung der Arbeitsprozesse durch Information und Kommunikation – „Internet der Dinge“

• Chancen der Verringerung körperlicher Belastungen und einer menschengerechten Arbeitszeitgestaltung

• Herausforderungen durch Verdichtung und Intensivierung der Arbeit, z.B. durch Multitasking und Informationsüberfluss oder auch eine genaue Messung, Taktung und Überwachung einzelner Arbeitsschritte

• Trend zur räumlichen und zeitlichen Entgrenzung der Arbeit, mobile Arbeiten, ständige Erreichbarkeit

ABER: Zugleich Polarisierung der Arbeit, Zunahme prekärer Beschäftigung –„Arbeit 04“ vorsichtige Hinweise im Grünbuch S. 17 Beispiel: Arbeitsbedingungen in der Fleischwirtschaft, Jahresbericht NRW 2013 S. 21 ff

Aktuelle Herausforderungen in Stichworten - 2

• Herausforderungen für die Arbeitssicherheit – Höhere Anforderungen an die menschliche

Informationsverarbeitung und die Datensicherheit – Gefahr eines Sektors monotoner und dequalifizierender

Aufgaben – Verlust angemessener Zeit-und Dispositionsspielräume möglich – Schlüsselrolle der Gestaltung von Arbeitszeit und

Arbeitsrhythmen – Gefahr der inneren und äußeren Entgrenzung der Arbeitszeit– Zunahme von arbeitnehmerähnlichen und selbstständigen

Personen• Rothe, Digitalisierung der Arbeitswelt in BAuA:aktuell 2/2015, S. 12f;

Kohte NZA 2015, 1417-1424

Spezifische Herausforderung: Status von Crowdworkern und Werkvertragsbeschäftigten

• 1. Variante: Arbeitnehmer, enge zeitliche Gestaltung durch Informations-und Arbeitssysteme

• 2. Variante: Arbeitnehmerähnliche Personen nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 ArbSchG wegen organisationeller Abhängigkeit

• Verbesserung der Informationsmöglichkeiten der Aufsicht

• Bessere Nutzung von § 8 ArbSchG

Gliederung

I. Aktuelle Herausforderungen

II. Digitale Betriebssicherheit

III. Digitale Ergonomie

IV. Arbeitszeit in der digitalen Arbeitswelt

V. Aufsicht in der digitalen Arbeitswelt

Digitale Betriebssicherheit – Bsp. Kollaborierende Roboter - 1

• Grundaufgabe: Schutz vor Unfällen

• Aktuelles Beispiel: tödlicher Unfall mit einem Montageroboter, Gute Arbeit 8-9/2015, S. 43

• Inzwischen Anklage gegen einen Werkvertragsbeschäftigten – HNA 20.06.2017

• Erstes Ziel: Vermeidung von Kollisionen

• Zweites Ziel: Verringerung der Folge von Kollisionen

Digitale Betriebssicherheit – Bsp. Kollaborierende Roboter - 2

• Erste Vorrausetzung: Risikoanalyse des Herstellers nach der 9. ProdSV

– Dazu inzwischen EN ISO 10218

– ISO TS 15066

– ABER: Unvollständigkeit der allgemeinen Risikoanalyse, konkrete Einsatzbedingungen müssen berücksichtigt werden, Gefährdungsbeurteilung nach § 3 BetrSichV muss mit der Risikoanalyse verzahnt werden

Digitale Betriebssicherheit – Bsp. Kollaborierende Roboter - 3

• Verzahnung bereits heute empfohlen:

– „Hersteller von Robotern sollten bereits der Risikobeurteilung eng mit dem künftigen Betreiber, dessen Sicherheitsbeauftragten und externen Experten zusammen arbeiten. Dabei sind beispielsweise die Stromversorgung, die Platzbedingungen oder mögliche Erschütterungen wichtige Punkte, die den Aufstellort betreffen.“

– Dazu Gärtner, Geballte Kraft maßvoll einsetzen, Sonderheft Arbeitssicherheit 4.0, 2016/2017, S. 18ff.

Digitale Betriebssicherheit – Bsp. Kollaborierende Roboter - 4

• Zweite Vorausetzung: rechtzeitige Gefährdungsbeurteilung nach §§ 3, 5 BetrSichV – § 5 Abs. 3: Übereinstimmung mit Rechtsvorschriften,

vor allem 9. ProdSV

– § 5 Abs. 1: Beurteilung der Sicherheit unter Berücksichtigung der vorgesehenen Einsatzbedingungen

– § 3 Abs. 2 S. 2: Beachtung ergonomischer, alters-und alternsgerechter Gestaltung

– Beachtung von § 8 ArbSchG – Schnittstellen zwischen verschiedenen Beteiligten

Gliederung

I. Aktuelle Herausforderungen

II. Digitale Betriebssicherheit

III. Digitale Ergonomie

IV. Arbeitszeit in der digitalen Arbeitswelt

V. Aufsicht in der digitalen Arbeitswelt

Rechtzeitige Strukturierung – Bsp. Komplexe Systeme - 1

• Komplexe Systeme sind typisch für Arbeit 4.0 – menschliche Arbeit verlagert sich tendenziell auf überwachende Tätigkeiten

• Arbeitswissenschaftliche Konsequenz: Zunahme psychischer Belastungen, die daher bei der Risikoanalyse, der Gefährdungsbeurteilung und der Gestaltung der Arbeitsplätze zu beachten sind

Rechtzeitige Strukturierung – Bsp. Komplexe Systeme - 2

• Risikoanalyse. Maßstäbe im Anhang zur 9. ProdSV

• Z.B. 1.1.6 des Anhangs:

„Bei bestimmungsgemäßer Verwendung müssen Belästigungen, Ermüdung, sowie körperliche und psychische Fehlbeanspruchung des Bedienungspersonals auf das mögliche Mindestmaß reduziert sein.“

Rechtzeitige Strukturierung – Bsp. Komplexe Systeme - 3

• Bereits die Risikoanalyse kann nicht ohne Klärung der betrieblichen Einsatzbedingungen erfolgen, weil nur so Vorkehrungen gegen Ermüdung und Monotonie getroffen werden können; wiederum Verzahnung mit Gefährdungsbeurteilung des Anwenders erforderlich

• Mögliche Methode: virtuelle Inbetriebnahme automatisierter Anlagen, dazu Fraunhofer, IFF, digitales Engineering zum Planen, Testen und Betreiben technischer Systeme, Magdeburg 2015 S. 145ff.

Rechtzeitige Strukturierung – Bsp. Komplexe Systeme - 4

• Digitalisierung führt zur Universalisierung der Bildschirmarbeit, die auch in Produktion und Distribution von wachsender Bedeutung ist

• Beachtung gesicherter arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse zur Gestaltung von Hardware und Software erforderlich, dazu auch § 5 BetrSichV 2015 und Anhang 6 ArbStättV

Mobile Arbeit im Betrieb

• Mobile Arbeit ist in der neuen ArbStättV nur lückenhaft geregelt –ABER:

• Anhang 6 Nr. 4 enthält Anforderungen an tragbare Bildschirmgeräte für mobile Arbeit:

• „6.4 Anforderungen an tragbare Bildschirmgeräte für die ortsveränderliche Verwendung an Arbeitsplätzen(1) Größe, Form und Gewicht tragbarer Bildschirmgeräte müssen der Arbeitsaufgabe entsprechend angemessen sein.

(2) Tragbare Bildschirmgeräte müssen 1.über Bildschirme mit reflexionsarmen Oberflächen verfügen und 2.so betrieben werden, dass der Bildschirm frei von störenden Reflexionen und Blendungen ist.“

Digitale Ergonomie – 1

Digitale Ergonomie – 2

• Ausnutzung der Chancen der neuen Systeme • Kombination mit Assistenzsystemen als Mittel der

alters-und alternsgerechten Arbeitsgestaltung • Bsp. Bächler u.a., Entwicklung von Assistenzsystemen

für manuelle Industrieprozesse, DeLFI Workshop München 2015, S. 56ff.

• Grundlegend BT-Drs.16/13860 Ausschuss für Technologiefolgenabschätzung zu behinderungskompensierenden Technologien

• Jetzt BMAS Forschungsbericht 467 – Chancen und Risiken der Digitalisierung der Arbeitswelt für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung

Gliederung

I. Aktuelle Herausforderungen

II. Digitale Betriebssicherheit

III. Digitale Ergonomie

IV. Arbeitszeit in der digitalen Arbeitswelt

V. Aufsicht in der digitalen Arbeitswelt

RL 2003/88/EG - Arbeitsrhythmus und Gesundheitsschutz

• Erwägungsgrund 11: Die Gestaltung der Arbeit nach einem bestimmten Rhythmus muss dem allgemeinen Grundsatz Rechnung tragen, dass die Arbeitsgestaltung dem Menschen angepasst sein muss.

• Art.13: Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit ein Arbeitgeber, der beabsichtigt, die Arbeit nach einem bestimmten Rhythmus zu gestalten, dem allgemeinen Grundsatz Rechnung trägt, dass die Arbeitsgestaltung dem Menschen angepasst sein muss, insbesondere im Hinblick auf die Verringerung der eintönigen Arbeit

Arbeitszeitfragen – 1

• Berücksichtigung der Pausengestaltung bereits bei der Konzeption der Systeme und der Software

• Bedienungspersonal hat das Recht auf Pausen nach § 4 ArbZG

• Bedienungspersonal hat das Recht auf „Pinkelpausen“ nach § 4 ArbSchG

• Für den kollaborierenden Roboter gilt daher: „das ist der Rhythmus, wo ich mit muss“

Arbeitszeitfragen – 2

• Umsetzung von Art.13 der Richtlinie? Fehlanzeige im ArbZG, erste Hinweise jetzt in § 6 Abs. 1 S. 4 Nr. 3 + 4 BetrSichV 2015

• Unionsrechtliche Konsequenz: Unionsrechtskonforme Auslegung des gesamten nationalen Rechts, daher

• Ermittlung gesundheitsgefährdender Arbeitszeitgestaltungen nach § 5 ArbSchG und Treffen der erforderlichen Maßnahmen nach § 3 ArbSchG näher dazu Blume/Faber HaKo – ArbSchR, 2. Aufl. 2018§ 5 ArbSchG Rn.28

Entgrenzung der Arbeitszeit als Problem des Arbeitsschutzrechts – 1

• IAG 1/2012: 39 % der Beschäftigten waren auch im Urlaub und in der Freizeit oft bzw. immer erreichbar, von diesen sahen sich 15 % stark oder sehr stark belastet

• IAG 1/1012: 37 % der Beschäftigten sahen „ständige Erreichbarkeit“ während der Arbeitszeit als deutliche Belastung – zBUnterbrechung konzentrierter Arbeit, Multitasking, keine hinreichenden Pausen

Entgrenzung der Arbeitszeit als Problem des Arbeitsschutzrechts – 2

• IGA Report 23 – 2 (2016), www.iga-info.de

• Häufig Erreichbare haben nach einiger Zeit mehr Schlafstörungen und Konzentrationsprobleme sowie Bluthochdruck als die Kontrollgruppe („Normalos“)

• Personen der Kontrollgruppe haben mehr Möglichkeiten, Teiltätigkeiten an Kolleginnen und Kollegen abzugeben, was insbesondere bei Zeitmangel entlastend sein kann. In der Kontrollgruppe kann man sich auch während der Arbeit eher einmal unterhalten (auch über nicht arbeitsbezogene Inhalte)

Entgrenzung der Arbeitszeit als Problem des Arbeitsschutzrechts – 3

• Ständige Erreichbarkeit steht daher im Zusammenhang mit der Arbeitsorganisation sowie der Verdichtung der Arbeit

• Vermeidung bzw. Verringerung dieser Folgen durch Pflicht nach § 3 Abs. 1 ArbSchG zur Gestaltung der Arbeitsorganisation, Kommunikations- und Vertretungsregeln, Regeln der Nicht-Erreichbarkeit, dazu Kohte NZA 2015, 1417, 1423 und Wiebauer NZA 2016, 1430 ff.

Gliederung

I. Aktuelle Herausforderungen

II. Digitale Betriebssicherheit

III. Digitale Ergonomie

IV. Arbeitszeit in der digitalen Arbeitswelt

V. Aufsicht in der digitalen Arbeitswelt

Neue Anforderungen an die Aufsicht - 1

• Bisherige Arbeitsteilung zwischen Überwachung der Risikoanalyse und der Gefährdungsbeurteilung muss überdacht werden

• Verzahnung beider Analysen zwischen Hersteller und Anwender verlangt vergleichbare Verzahnung der Aufsicht

• Neue Methoden wie z.B. die virtuelle Inbetriebnahme erfordern auch für die Aufsicht entsprechende informationstechnische Fachkenntnisse

Neue Anforderungen an die Aufsicht - 2

• Schlüsselrolle der Gefährdungsbeurteilung ist in der BetrSichV 2015 aufgenommen worden:

• § 4 Abs. 1: Arbeitsmittel dürfen erst verwendet werden, nachdem der Arbeitgeber eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt hat, die Schutzmaßnahmen getroffen hat und die Sicherheit nach dem Stand der Technik festgestellt hat

• Konsequenz: Bei vorheriger Verwendung Stilllegungsanordnung nach § 22 Abs. 3 ArbSchG und Bußgeldverfahren nach § 22 Abs. 1 Nr. 7 BetrSichV

Kooperative Betriebssicherheit –Kooperation mit Betriebsräten 1

• Aufsicht ist auch zur Kooperation mit Betriebsräten verpflichtet, dazu § 89 BetrVG und die grundlegende Anforderung in Art. 11 Abs. 6 der RL 89/391/EWG: „Die Vertreter der Arbeitnehmer müssen die Möglichkeit haben bei Besuchen und Kontrollen der zuständigen Behörde ihre Bemerkungen vorzubringen können.“

Kooperative Betriebssicherheit –Kooperation mit Betriebsräten 2

• Rechtzeitige Beteiligung der Betriebsräte nach § 90 BetrVG bereits zum Zeitpunkt der Planung, solange noch Alternativen entwickelt und genutzt werden können

• Mögliche Ziele: Beachtung der digitalen Ergonomie und der entsprechenden technischen Regeln, Nutzung von Assistenzsystemen, Kooperation mit der Aufsicht

Produktion und Transparenz gesicherter arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse

• Ausschüsse nach § 18 Abs. 2 Nr. 5 ArbSchG sind punktuell erfolgreich- z.B. TRBS 1151, aber lückenhaft

• Schwerwiegendes Defizit: keine systematische Sammlung gesicherter arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse zur Arbeitszeit und zum Arbeitsrhythmus, insbesondere Gestaltung der Erreichbarkeit

• Keine systematische Fortschreibung der Erkenntnisse und Anforderungen zur Bildschirmarbeit, anders möglicherweise nach der Neufassung der ArbStättV

Menschengerechte Arbeitsgestaltung

• „Die Digitalisierung der Arbeitswelt wird sich auf die Arbeitsqualität, die Arbeitsinhalte und -strukturen sowie die damit verbundenen Voraussetzungen zum Erhalt der physischen und psychischen Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten auswirken. Entsprechend der Schutzziele und des Vorsorgeprinzips des Arbeitsschutzes sind bei der Gestaltung der Arbeitswelt 4.0 die Kriterien menschengerechter Arbeitsgestaltung anzuwenden bzw. zu konkretisieren oder anzupassen“

→ 93. ASMK – TOP 6.1

Zum guten Ende: Verbesserung und Verdeutlichung des RechtsrahmensBundesrat Drucksache 315/13 vom 24.04.13

Verordnungsantrag der Länder Hamburg, Brandenburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein

Entwurf einer Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastung bei der Arbeit


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