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Anthropologie als „Erste Philosophie”

Date post: 27-Jan-2017
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DZPhil, Berlin 55 (2007) 1,5-16 Anthropologie als „Erste Philosophie" Von ERNST TUGENDHAT (Tübingen) Ich möchte in diesem Beitrag eine These präzisieren und vertiefen, die ich schon in einem früheren Aufsatz aufgestellt habe: dass die philosophische Anthropologie heute an die Stelle der Metaphysik als philosophia prima treten sollte 1 , dass die Frage „Was sind wir als Men- schen?" diejenige Frage ist, in der alle anderen philosophischen Fragen und Disziplinen ihren Grund haben. Diese These stellt uns vor mehrere Fragen: Erstens: Was ist Philosophie? Zweitens: Was ist Metaphysik, und inwiefern konnte man in ihr die Grundlage der verschiedenen philosophi- schen Disziplinen sehen? Drittens: Ist es denn überhaupt ausgemacht, dass die verschiede- nen philosophischen Disziplinen irgendeine einheitliche Grundlage brauchen? Viertens: Was bedeutet es, wenn diese Grundlage statt in der Metaphysik in der Anthropologie gesehen wird? Fünftens, und das wird die wichtigste Frage sein: Wie ist die philosophische Anthropologie selbst zu verstehen? Hat sie ihrerseits eine Grundfrage? Und wie muss man ihre Methode verstehen? Wie unterscheidet sie sich von der empirischen Anthropologie, also der Ethnolo- gie? Eine weitere wichtige Frage wird sein, wie sich der anthropologische Zugang zu dem, was wir sind, von dem historischen unterscheidet. Denn wie die Metaphysik, so scheint auch die Anthropologie zunächst einen zeitlosen, ahistorischen Zugang zum Menschsein zu haben. Wir werden also fragen müssen: Inwiefern ist die Anthropologie unhistorisch und inwiefern nicht? Gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie man das Historische verstehen kann? Ich beginne mit der Frage, ob die philosophischen Disziplinen überhaupt im Zusammen- hang einer einheitlichen Frage stehen müssen. Wie steht es mit der Vorstellung, so etwas wie die Metaphysik sei die Grundlage aller philosophischen Disziplinen? Man spricht jetzt und schon seit längerem vom Ende der Metaphysik. Aber es ist nicht immer klar, was man mit diesem Wort meint. Schon Aristoteles, der dieses Wort noch nicht verwendete, sondern von einer „Ersten Philosophie" sprach, schwankte zwischen zwei Vorstellungen, ob er die- se Erste Philosophie im Sinn der Frage nach dem Sein verstehen soll, als Ontologie, oder als Frage nach dem Übersinnlichen und Göttlichen, als Theologie. Aber ob man es nun so oder so sieht, diese Perspektive der Metaphysik enthält in Wirklichkeit gar keinen Gesichts- punkt, der irgendeine Einheitlichkeit zwischen den philosophischen Disziplinen hergeben könnte. Bei Aristoteles jedenfalls bestand ein solcher vereinheitlichender Gesichtspunkt nicht, und er machte vielmehr eine scharfe Trennung zwischen praktischer und theoreti- scher Philosophie, eine Unterscheidung, die man, wenn auch in anderem Sinn, bei Kant wiederfindet und die auch heute noch üblich ist, die Unterscheidung zwischen der Frage, was ist, und der Frage, was sein soll. Brought to you by | Bibliotheque de l'Universite Laval Authenticated | 132.203.227.63 Download Date | 7/4/14 8:34 AM
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Page 1: Anthropologie als „Erste Philosophie”

DZPhil, Berlin 55 (2007) 1,5-16

Anthropologie als „Erste Philosophie"

Von ERNST TUGENDHAT (Tübingen)

Ich möchte in diesem Beitrag eine These präzisieren und vertiefen, die ich schon in einem früheren Aufsatz aufgestellt habe: dass die philosophische Anthropologie heute an die Stelle der Metaphysik als philosophia prima treten sollte1, dass die Frage „Was sind wir als Men-schen?" diejenige Frage ist, in der alle anderen philosophischen Fragen und Disziplinen ihren Grund haben.

Diese These stellt uns vor mehrere Fragen: Erstens: Was ist Philosophie? Zweitens: Was ist Metaphysik, und inwiefern konnte man in ihr die Grundlage der verschiedenen philosophi-schen Disziplinen sehen? Drittens: Ist es denn überhaupt ausgemacht, dass die verschiede-nen philosophischen Disziplinen irgendeine einheitliche Grundlage brauchen? Viertens: Was bedeutet es, wenn diese Grundlage statt in der Metaphysik in der Anthropologie gesehen wird? Fünftens, und das wird die wichtigste Frage sein: Wie ist die philosophische Anthropologie selbst zu verstehen? Hat sie ihrerseits eine Grundfrage? Und wie muss man ihre Methode verstehen? Wie unterscheidet sie sich von der empirischen Anthropologie, also der Ethnolo-gie? Eine weitere wichtige Frage wird sein, wie sich der anthropologische Zugang zu dem, was wir sind, von dem historischen unterscheidet. Denn wie die Metaphysik, so scheint auch die Anthropologie zunächst einen zeitlosen, ahistorischen Zugang zum Menschsein zu haben. Wir werden also fragen müssen: Inwiefern ist die Anthropologie unhistorisch und inwiefern nicht? Gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie man das Historische verstehen kann?

Ich beginne mit der Frage, ob die philosophischen Disziplinen überhaupt im Zusammen-hang einer einheitlichen Frage stehen müssen. Wie steht es mit der Vorstellung, so etwas wie die Metaphysik sei die Grundlage aller philosophischen Disziplinen? Man spricht jetzt und schon seit längerem vom Ende der Metaphysik. Aber es ist nicht immer klar, was man mit diesem Wort meint. Schon Aristoteles, der dieses Wort noch nicht verwendete, sondern von einer „Ersten Philosophie" sprach, schwankte zwischen zwei Vorstellungen, ob er die-se Erste Philosophie im Sinn der Frage nach dem Sein verstehen soll, als Ontologie, oder als Frage nach dem Übersinnlichen und Göttlichen, als Theologie. Aber ob man es nun so oder so sieht, diese Perspektive der Metaphysik enthält in Wirklichkeit gar keinen Gesichts-punkt, der irgendeine Einheitlichkeit zwischen den philosophischen Disziplinen hergeben könnte. Bei Aristoteles jedenfalls bestand ein solcher vereinheitlichender Gesichtspunkt nicht, und er machte vielmehr eine scharfe Trennung zwischen praktischer und theoreti-scher Philosophie, eine Unterscheidung, die man, wenn auch in anderem Sinn, bei Kant wiederfindet und die auch heute noch üblich ist, die Unterscheidung zwischen der Frage, was ist, und der Frage, was sein soll.

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Nun scheint aber doch sowohl die Rede vom Sein als auch die Rede vom Sollen auf unser Verstehen zu verweisen. Man könnte dann fragen (und wir werden fragen müssen), wieso zu unserem Verstehen diese zwei Dimensionen gehören; und wenn man nun fragt, was mit die-ser Rede von „unserem" Verstehen gemeint ist, so ist es jedenfalls sehr nahe liegend zu sagen, es handelt sich um uns als Menschen. Auf dieses selbe Verstehen von uns als Men-schen werden wir aber auch durch die Ontologie verwiesen - denn das Sein ist etwas, was wir nur in unserem Verstehen finden - , und wenn man die Theologie aus dem Blickwinkel sieht, dass sie sich um ein menschliches Bedürfnis handelt, so verweist auch sie auf das menschliche Sein und Verstehen. Statt die Anthropologie erst gegen die Metaphysik ausspie-len zu müssen, ergibt sich also sofort der Rekurs aufs menschliche Verstehen als natürlicher Ausgangspunkt, und das gilt für alle einzelnen philosophischen Disziplinen, wie zum Bei-spiel Logik, Ästhetik oder Handlungstheorie. Es fallt geradezu schwer, sich eine philosophi-sche Disziplin denken zu sollen, die nicht auf das menschliche Verstehen zurückweist.

Es gibt eine berühmte Stelle in Kants Logik (WW, Bd. IX, 25), an der er erklärt, dass die drei Fragen, die er als die grundsätzlichen der Philosophie ansieht, die erkenntnistheoretische „Was kann ich wissen?", die ethische „Was soll ich tun?" und die religiöse „Was kann ich hof-fen?", alle auf die Anthropologie verweisen, auf die Frage „Was ist der Mensch?". Diese Stelle enthält zugleich einen wichtigen Hinweis auf die Methode der Anthropologie. Wie ist es zu verstehen, dass Kant die vorangestellten drei Fragen subjektiv, in der Ersten Person, formuliert und die Frage, die ihnen zu Grunde liegen soll, objektiv? Ich meine, dass beide Aspekte, der subjektive und der objektive, zusammengesehen werden müssen. Kant wäre gewiss einverstanden, wenn wir die subjektive Seite nicht, wie er es tut, in „ich"-Form, son-dern in „wir"-Form formulieren würden. Die Verwendung der Ersten Person war nicht eine Idiosynkrasie Kants, sondern auch in vielen zeitgenössischen philosophischen Schriften -und gerade auch in Disziplinen, die nicht explizit anthropologisch sind, wie in der Handlungs-theorie oder Ethik - ist diese „wir"-Rede üblich. Dadurch unterscheidet sich die Anthropolo-gie grundsätzlich von analogen Fragen, die andere Spezies betreffen würden, wie es eine Hip-pologie wäre oder auch die Frage nach dem Sein der Primaten. Nur in der Anthropologie geht es um die Frage nach der Art, wie man sich selbst und seine Welt versteht. Bei den anderen Spezies fanden wir es merkwürdig, von einem Sich-so-oder-so-verstehen zu sprechen, und selbst wenn wir uns darunter etwas vorstellen könnten, hätten wir keinen Zugang dazu; wir können die anderen Spezies nur von außen beschreiben. Zwar können wir auch die Men-schen von außen beschreiben, aber insofern die Anthropologie eine Grundlagendisziplin für die übrigen philosophischen Disziplinen ist, handelt es sich offenbar ausschließlich um das Verstehen.

Nun kommt derjenige reflexive Aspekt, der in der Anthropologie gemeint ist, nach meiner Meinung im „wir" besser zum Ausdruck als im „ich". Wenn ich einfach auf mich reflektiere, könnte das auch in einem autobiographischen Sinn verstanden werden, wie wenn ich mich zum Beispiel in einer Psychoanalyse befinde. Auch das „wir" ist freilich missverständlich. Es stellt sich hier sofort die Frage, wie umfassend es gemeint ist. Wen alles meine ich mit „wir"? Vielleicht alle Deutschen, oder zum Beispiel alle Christen, alle, die sozial oder natio-nal irgendwie zusammengehören oder die in einer bestimmten Tradition stehen? Wieder scheint klar: Wenn das „wir" so verstanden wird, dass das, worauf reflektiert wird, das ist, was auch den anderen philosophischen Disziplinen zu Grunde liegt, kann es nur ganz weit verstanden werden, und das heißt: im Sinn von „wir als Menschen".

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Es ist genau das, was Kant dadurch zum Ausdruck bringt, dass er die zu Grunde liegende Frage nicht mehr in der Ersten Person formuliert - nicht sagt: Wer sind wir, wie verstehen wir uns? - , sondern in der Form „Was ist der Mensch?". Man kann diesen objektiven, umfassen-den Sinn der Fragen auch so zum Ausdruck bringen, dass man ihn in die subjektive Formu-lierung mit aufnimmt, indem man sagt: Wie verstehen wir uns als Menschen? Das heißt: Kant versteht in Wirklichkeit seine drei vorausgehenden Fragen, die er als „ich"-Fragen formu-liert, schon in diesem weitest denkbaren Sinn, er versteht die Frage „Was sollen wir tun?" von vornherein so, dass sie nicht besagt „Was sollen wir tun, insofern wir in der und der Tradition stehen, zum Beispiel in der christlichen?". Das heißt nun aber: Kant versteht die Anthropologie nicht nur, wie die philosophische Anthropologie der zwanziger Jahre des vori-gen Jahrhunderts es getan hat, als eine formale Disziplin, die sich quasi oberhalb der verschie-denen kulturellen Traditionen befände, sondern er stellt sie an die Stelle der traditions-verstandenen Fragen. Er versteht sich als Aufklärer: Wir sollen, so scheint seine Fragestellung zu implizieren, unsere Maßstäbe nicht aus einer speziellen kulturellen Tradition nehmen, sondern aus dem, was wir als Menschen sind. Ich habe schon vorhin erwähnt, dass im Kon-zept einer Anthropologie eine unhistorische Position impliziert zu sein scheint, und inwie-fern das nicht einfach eine Leugnung des Historischen ist, werden wir noch sehen müssen.

Man könnte nun aber fragen: Was berechtigt denn diesen Sprung von einem engen „wir"-Verständnis zu einem so weiten „wir"-Verständnis? In den Formulierungen Kants haben wir eine Spannung zwischen subjektiver und objektiver Formulierung gefunden, und diese Span-nung ließ sich auflösen durch die einheitliche Formulierung „Was bin ich, was sind wir als Menschen?", aber wenn man das nur so sagt, oder auch wenn man sagt, wie ich es vorhin getan habe, Kant verstehe sich eben als Aufklärer, so erscheint das wie eine bloße These, und man möchte wissen, warum wir uns denn als Aufklärer verstehen sollen oder warum man die Frage nach dem Sichverstehen in diesem weitesten Sinn verstehen muss, als Frage, wie wir uns als Menschen verstehen, und diese Rückfrage fuhrt, glaube ich, dazu, dass die subjektive und die objektive Formulierung nicht nur zusammengesehen werden können (in-dem man eben sagt: „Wie verstehen wir uns als Menschen?"), sondern dass es eine Dynamik (früher hätte man vielleicht gesagt: eine Dialektik) zwischen diesen zwei Seiten gibt. Es war ja kein Zufall, dass es sofort nahe lag, vom „ich" zum „wir" überzugehen; auch das war ja bereits ein Schritt vom Subjektiven zum Objektiven. Schon wenn ein Kind eine Sprache lernt, aber auch bereits in der vorsprachlichen Kommunikation bemüht es sich, ein gemein-sames Verstehen zu beherrschen, im Gegensatz zu dem, was man seine Subjektivismen nen-nen könnte, seine subjektiven Perspektiven. Aber darin liegt eine Dynamik, die sich inner-halb des gemeinsamen Verständnisses wiederholt, etwa wenn wir uns mit anderen Sprachen und Kulturen konfrontiert sehen. Es zeigt sich hier etwas, was wir seinerseits als eine spe-zifisch anthropologische Eigenschaft ansehen müssen, dass man nämlich jedes Verstehen auf seine Objektivität hin hinterfragen kann, indem man nach seinen Gründen fragt, und es scheint diese Charakteristik zu sein, die uns noch wird beschäftigen müssen und die alles menschliche Erkennen und Verstehen charakterisiert, also eine Spannung zwischen subjek-tiver Perspektive und objektiver Begründung; sie ist es, die uns zur Aufklärung zwingt und die es unvermeidlich macht, alles Sichverstehen letztlich in diesem weitesten Horizont zu sehen, wie wir uns als Menschen verstehen. Durch diese Dynamik sieht sich alles „ich sehe es so und so" auf ein „wir" verwiesen und alles „wir" auf dieses weiteste Verständnis von uns als Menschen.

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Wir stoßen also auf die Anthropologie nicht nur als eine Disziplin, auf die uns alle philoso-phischen Disziplinen verweisen, sondern als eine Thematik, auf die alles beschränktere Sich-verstehen in einer eigentümlichen Dynamik der Hinterfragung verweist. Beide Perspektiven konvergieren insofern, als sie sich auf einen spezifischen Kernbereich des Menschseins be-ziehen, den des Verstehens, ein Bereich, der zugleich ein intersubjektiver ist, in dem wir nicht nur gleich sind wie andere (wie das auch bei anderen Spezies der Fall ist), sondern in dem wir ein gemeinsam geteiltes, ein intersubjektives und insofern objektives Verstehen in der beschriebenen Dynamik aktiv suchen können und müssen. Diesen Kernbereich des An-thropologischen, das Verstehen, können wir von anderen Aspekten unterscheiden, die wir in ähnlicher Weise von außen als charakteristisch für unsere Spezies beschreiben können, wie wir das auch bei anderen Spezies tun können, wie zum Beispiel, dass wir zweibeinig sind, kein Fell haben, dass das Gehirn so und so schwer ist und dergleichen, also die Aspekte, die man zur so genannten physischen Anthropologie zählen kann. Für diesen anthropologischen Kernbereich ist charakteristisch, dass was man hier das Objektive nennen kann, nicht einfach zu konstatieren ist, sondern dass man schrittweise darauf ausgerichtet ist.

Versteht man nun Anthropologie als die Disziplin, die diesen Kernbereich des Menschli-chen, das Verstehen, zum Thema hat, und soll die so verstandene Anthropologie als philoso-phische Grunddisziplin verstanden werden, so stellt sich die Frage, ob sie ihrerseits eine Grundfrage hat. Gewiss müsste, wenn die Anthropologie als philosophische Grunddisziplin fungieren soll, eine solche Grundfrage mit dem, was man als Grundfrage der Philosophie ansehen soll, entweder identisch oder mit ihr eng verbunden sein. Nach dem Gesagten er-scheint es jetzt nahe liegend, dass die Grundfrage der auf ihren Kernbereich reduzierten Anthropologie die Frage sein müsste, worin unser Verstehen oder die Struktur dieses mensch-lichen Verstehens besteht. In meinem Buch über sprachanalytische Philosophie2 habe ich zu zeigen versucht, dass die Grundfrage der Metaphysik, wenn man sie als Ontologie versteht, also die Frage nach dem Sein, in der Tat auf die Frage zurückweist „Worin besteht die Struk-tur des menschlichen Verstehens?". Man möchte aber die Frage, was man als Grundfrage der Philosophie ansehen soll, nicht nur relativ zu dem verstehen, was man bisher als „Erste Philo-sophie" verstanden hat, sondern der Begriff von Philosophie steht hier selbst auf dem Spiel, und man möchte von einer Frage ausgehen, die man ihrerseits als die menschliche Grundfra-ge ansehen kann.

Es gibt eine Stelle im ersten Buch von Piatons Staat (352d), an der Sokrates im Gespräch mit Thrasymachos sagt: Hier handeln wir offensichtlich nicht von etwas Beliebigem, son-dern davon, wie man leben soll. Dieses „soll" ist von Piaton nicht in einem speziell morali-schen Sinn gemeint; statt zu fragen, wie man leben soll, benützt Piaton sonst auch die Formu-lierung „Wie ist es gut zu leben?", und dabei ist ganz offen, wie dieses „gut" zu verstehen ist. Piaton glaubt lediglich voraussetzen zu dürfen (und ich meine, dass er darin Recht hat), dass jeder Mensch ein grundlegendes Interesse daran hat, gut zu leben (vgl. Staat, 505d). Diese Frage hängt mit dem zusammen, worauf ich vorhin hingewiesen habe, dass es zu allem mensch-lichen Verstehen gehört, dass es offen ist, hinterfragt werden kann. Wir sind, so wird das heutzutage auch erläutert, im Gegensatz zu anderen Spezies „nicht fest verdrahtet": Alles menschliche Verstehen ist von der Art , dass es sich selbst in Frage stellen kann, und daher auch die Frage, wie zu leben ist. Wenn also Piaton an dieser Stelle sagt, diese Frage sei keine beliebige, so ist das natürlich ein understatement·, was er meint, ist, dass sie für uns die grund-sätzlichste ist. Faktisch war es bei Piaton diese Frage nach dem Guten, die ihn zu einem über-

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sinnlichen, also metaphysischen Begriff des Guten geführt hat. Das ist eine einleuchtendere Antwort auf die Frage, wie Metaphysik zu verstehen ist, als die des Aristoteles. Die Metaphy-sik ruht, so lässt sich jetzt sagen, ihrerseits auf einer bestimmten Vorstellung davon, worauf uns die Frage, wie zu leben gut ist, verweist. Nun mag die Metaphysik, aber nicht diese Frage, die ihr zu Grunde lag, eine Besonderheit Piatons und der von ihm ausgehenden Philosophietradition gewesen sein. Vielmehr finden wir diese selbe Frage als Grundfrage in allen Kulturen, sei es, dass sie den mythologischen Antworten, die ihr gegeben wurden, im-plizit zu Grunde liegt, sei es, dass sie explizit gestellt wurde, wie in China, wo als einzig interessante Frage die nach dem Tao galt, und „Tao" heißt Weg. Diese Frage der Chinesen ist identisch mit der des platonischen Sokrates: Gefragt wird, wie der Weg aussieht, den wir in unserem Leben gehen sollen. Es ist auch klar, dass diese Grundfrage die zwei Seiten hat, die ich vorhin hervorgehoben habe, dass es eine Frage in der Ersten Person ist, es ist eine Frage, die sich jedem stellt, und es ist zugleich eine Frage, die wir uns wechselseitig stellen, es ist eine Frage, die einen Anspruch auf Objektivität im Sinn einer intersubjektiven Begründung erhebt. Ich meine, dass man sie mit Piaton zugleich als die philosophische Grundfrage anse-hen sollte, obwohl es wenig Sinn hat, diese These ihrerseits begründen oder widerlegen zu wollen, da dies ja davon abhängt, wie wir das Wort „Philosophie" seinerseits definieren. Die Philosophie so zu definieren, dass sie sich aus dieser Frage ergibt, hat den Vorteil, dass dann die motivationale Frage „Warum philosophieren?" beantwortet ist, denn der Frage, wie zu leben gut ist, liegt eine offensichtliche Motivation zu Grunde. Wenn sie es also ist, die (wie schon bei Piaton) die Frage nach der Struktur des Verstehens erfordert, dann ist auch diese Frage motivational begründet.

Unser nächster Schritt muss jetzt in der Frage bestehen, ob wir einen Leitfaden für die Frage nach der Struktur unseres Verstehens haben. Hier möchte ich noch einmal von einem Zitat aus einem klassischen Text ausgehen. (Solche Zitate sollen natürlich nicht Argumente ersetzen.) Aristoteles, im zweiten Kapitel seiner Politik, an der Stelle, wo es darum geht, die soziale Struktur der Menschen aufzuklären, geht von einem Vergleich der menschlichen Spra-che mit den primitiven Sprachen anderer sozialer Spezies, zum Beispiel der Bienen, aus. Dabei sieht er das Spezifische der menschlichen Sprache in dem, was er logos nennt und was man als die prädikative oder propositionale Struktur der menschlichen Sprache bezeichnen kann. Während die sozialen Beziehungen anderer Tiere durch, wie wir heute sagen würden, ihre Instinkte beziehungsweise ihr genetisches System bestimmt werden, gründet sich die Art, wie Menschen soziale Beziehungen eingehen, nach Aristoteles auf der Verständigung darüber, was sie als für sich gut halten, und das impliziert, wie er hinzufugt, zugleich eine Verständi-gung über Gerechtigkeit. Aristoteles macht hier eine Unterscheidung zwischen einer Ver-ständigung über Gefühle - diese sei auch den anderen Tieren möglich - und einer Verständi-gung über Gutes, die nur in prädikativen Sätzen möglich sei, denn das setzt voraus, dass man urteilt, dass etwas gut ist. Ein Bezug auf Gutes und daher auch die Verständigung über Gutes setzt also die propositionale Sprache voraus.

Ich meine, dass dieser Ansatz, der bei Aristoteles eher vereinzelt geblieben ist, genial war und sich weiter ausbauen lässt. Man kann sagen, wie ich in meinem Buch über sprach-analytische Philosophie3 gezeigt habe, dass die prädikativ-propositionale Sprache darin ihre Grundlage hat, dass sie es durch das Hinzukommen von so genannten singulären Termini möglich macht, sich auf Inhalte zu beziehen, die nicht gerade gegenwärtig sind; dadurch wird das Sprechen und Verstehen im Gegensatz zu den tierischen Sprachen situations-

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unabhängig. Statt nur zu reagieren, kann der Hörer auf das, was der Sprecher sagt, mit Ja oder Nein oder den dazwischenliegenden Einstellungen wie Fragen oder Bezweifeln antwor-ten, und auf diese Weise gewinnt die Sprache eine Funktion, die nicht nur situationsunabhängig ist, sondern auch unabhängig von der Kommunikation4; es entsteht jetzt das, was wir Denken nennen, und wenn man denkt, kann man selbst, was man denkt, in Zweifel ziehen. So entsteht das fur Menschen so charakteristische Phänomen der Überlegung. Die zwei Faktoren, die im Handeln der übrigen Tiere immer nur kombiniert enthalten sind, nämlich Meinen und Wün-schen, treten jetzt in den zwei linguistischen Gestalten der Aussage und der imperativisch-optativischen Formen auseinander, und das hat zur Folge, dass es einerseits eine theoretische Überlegung gibt, die sich auf das Wahre bezieht, und andererseits eine praktische Überle-gung, deren Ziel das ist, was gut beziehungsweise besser ist. Wer überlegt, fragt nach Grün-den, die fur oder gegen das sprechen, was er sagt oder denkt, und diese Fähigkeit, nach Gründen fradones] zu fragen und zu handeln, ist das, was man als Rationalität bezeichnet. Das Handeln hängt jetzt nicht mehr nur von dem ab, was man unmittelbar will, sondern von dem, was man für wahr und gut oder besser hält; das wiederum setzt voraus, dass man die unmittelbaren Wünsche aufschieben kann, eine Fähigkeit, die man als Verantwortlichkeit oder Willensfreiheit bezeichnet.

Um das eben Gesagte zusammenzufassen, kann man sagen, dass sich mit der propositionalen Sprachstruktur mehrere grundsätzliche anthropologische Strukturen ergeben, die in einem inneren Zusammenhang stehen: Frage, Überlegung, Rationalität, Verantwortlichkeit. Man hat den Menschen als rationales Tier bezeichnet; ebenso gut könnte man ihn als das Tier bezeich-nen, das überlegen kann. Die Vernunft ist nicht, wie das in einem Teil unserer Tradition gese-hen wurde (sowohl von Aristoteles als auch von Kant), ein eigenes Vermögen, sondern besteht einfach in der Fähigkeit, nach Gründen fragen zu können, und diese Fähigkeit ist eine unmit-telbare Folge der propositionalen Sprache. Eine weitere Folge ist, wie sich das an der Politik-Stelle ergeben hat, dass diese Spezies, wie Aristoteles sagte, das politische Tier ist, oder, wie man hinzufügen könnte, das Tier, das in kulturellen Traditionen steht. Mit der propositionalen Sprache und der Kultur hat die biologische Evolution einen neuen Transmissions-Mechanis-mus von Veränderungen gefunden, der, wie dies heute allgemein in der Soziobiologie aner-kannt wird, unvergleichlich schneller ist als die genetische Transmission, die natürlich weiterhin als Grundlage fungiert.

Einer der Vorteile, die dieser Ansatz bei der propositionalen Struktur der Sprache und der auf ihr gründenden Rationalität hat, ist, dass sie unmittelbar mit den Funktionen verbunden ist, die fur das Überleben geeignet sind und so verständlich machen, wieso sich diese Spezies biologisch entwickeln konnte. Die Fähigkeit, nach Gründen zu fragen, die eine unmittelbare Folge der propositionalen Sprachstruktur ist, impliziert ein neues kognitives Niveau; sowohl im instrumentellen Denken als auch im Sozialen bedeutet diese Fähigkeit eine größere An-passungsfähigkeit an eine sich verändernde Umwelt. Und außerdem ermöglichte die mensch-liche Sprache einen neuen Transmissionsmechanismus, der eine Akkumulation von Gelern-tem von Generation zu Generation erlaubt, die historische und kulturelle Transmission. Wollte man einen anderen zentralen anthropologischen Aspekt als Ausgangspunkt nehmen, wie das manchmal vorgeschlagen worden ist, wie zum Beispiel die Freiheit oder das Selbstbewusst-sein, ließe sich seine Überlebensfunktion nicht unmittelbar verstehen.

Wenn man nun aber so beginnt, wie ich es hier vorschlage, ergibt sich die Frage, ob und wie sich von daher andere Aspekte verstehen lassen, die wir ebenfalls als charakteristisch fur

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das menschliche Verhalten ansehen. Es gibt Strukturen des menschlichen Verstehens, die mit der Sprache eng zusammenzuhängen scheinen, wie zum Beispiel das Zeitbewusstsein und der spezifische Charakter der menschlichen Affekte, aber es gibt andere, wie zum Beispiel das Verstehen von Musik oder der bildenden Künste, bei denen das nicht so klar ist. Man denke auch an solche Phänomene wie Gestik, Lächeln, Lachen und Weinen. Auch wenn wir uns also innerhalb der Anthropologie nur an das halten, was ich den Kernbereich nannte, das Verstehen, lässt sich dieses offensichtlich nicht auf das Sprachverstehen reduzieren. Meine These ist lediglich, dass die propositionale Sprache für das menschliche Verstehen eine zen-trale Rolle spielt und dass es sich lohnt, der Frage nachzugehen, was alles innerhalb der Struktur des menschlichen S ich verstehens damit zusammenhängt, aber ich bin weit davon entfernt, ein systematisches Konzept des menschlichen Verstehens im Ganzen zu haben. Es ist merkwürdig, wie wenig in der heutigen Philosophie diesen Fragen nachgegangen wird.

Ich möchte nun auf das Verhältnis zwischen philosophischer und empirischer Anthropolo-gie zu sprechen kommen, bevor ich auf den schon mehrfach angesprochenen Aspekt des Unhistorischen im anthropologischen Ansatz eingehe. Mit empirischer Anthropologie meine ich das, was auf Englisch cultural anthropology genannt wird. Was man im Gegensatz zu dieser philosophische Anthropologie nennen kann, ist natürlich seinerseits empirisch, aber es geschieht nicht in der Dritten Person, man geht nicht von einer Beschreibung irgendwelcher Kulturen aus, sondern beginnt in der Ersten Person Plural über die Strukturen des eigenen Seins und Verstehens nachzudenken, und in dem Maße, in dem man andere Kulturen kennen lernt, geschieht das weiterhin in der Ersten und Zweiten Person, das heißt, man erweitert den eigenen Horizont. Die cultural anthropology, also die Ethnologie, beginnt gewissermaßen am anderen Ende, aber dass sie sich in erster Linie mit vorliterarischen Gesellschaften beschäf-tigt, ist eine zur philosophischen Anthropologie gegensätzliche Einseitigkeit, die wohl heute zunehmend abgebaut wird. Im Grunde kann man den Unterschied zwischen philosophischer und empirischer Anthropologie so beschreiben, dass sie jeweils einen anderen Schwerpunkt haben, aber sich, wenn sie sich selbst richtig verstehen, aufeinander zu bewegen müssen. Der Schwerpunkt der philosophischen Anthropologie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie in der Ersten Person geschieht und von einer Reflexion auf allgemeine Strukturen ausgeht; dadurch, dass man in ihr von sich ausgeht, ergeben sich Einseitigkeiten, über die man sich durch die breiteren Kenntnisse der empirischen Anthropologie belehren lassen muss, aber indem man auf bisher nicht gekannte strukturelle Aspekte aufmerksam gemacht wird, möchte man diese gleichwohl nicht in der Dritten Person lediglich beschreiben, sondern sieht sie in der Zweiten Person, also in einem imaginären Dialog, in dem die Strukturen anderer Kulturen als potenzielle eigene gesehen werden. Dadurch ergibt sich jene Dynamik, die ich eingangs beschrieben habe, zwischen subjektiver eigener Perspektive und einer Objektivität, die in ei-ner umfassenderen Intersubjektivität besteht. Die Lebensweise in anderen Kulturen wird als eine mögliche eigene gesehen. Das impliziert, dass man die fremden Kulturen ebenso wie die eigene Tradition einer rationalen Kritik unterwirft: Der imaginäre Dialog ist ein rationaler, nicht, wie das bei Gadamer erscheint, einfach ein Gespräch, und das bedeutet, dass wenn fremde Kulturen (oder auch meine eigene) Annahmen machen, die ich nicht als begründet anerkennen kann, wie zum Beispiel Götterglauben oder nur auf traditionellen Autoritäten beruhende Moral, dies zwar meine Kenntnis des Menschlichen in der Dritten und vielleicht in der Zweiten Person vergrößern kann, für die Erweiterung meines und unseres Selbstver-ständnisses in der Ersten Person aber verworfen wird.

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Weil also die philosophische Anthropologie zwar nicht einen apriorischen Charakter hat, aber wesentlich reflexiv ist, ist sie auf Belehrung durch die Ethnologie angewiesen; weil sie aber an ihrem reflexiven Charakter festhalten muss, ergibt sich fur sie eine für den in der Dritten Person forschenden Anthropologen überraschende Scheidung der menschlichen Struk-turen in solche, die für uns selbst noch wichtig sein können, und solche, die es nicht mehr sind. Das „wir" in dem „für uns" steht nicht für unsere Tradition, sondern für uns als rationale Reflektierer, die die eigene Tradition genauso kritisch betrachten werden wie die fremden Kulturen. Es handelt sich nicht um eine Konfrontation von Kulturen, sondern um eine Kon-frontation des sich rational verstehenden reflexiven Anthropologen mit sowohl der eigenen Kultur als auch mit den fremden Kulturen.

Diese Problematik muss an Schärfe noch zunehmen, wenn der philosophische Anthropo-loge sich nicht mehr nur mit Strukturen beschäftigt, sondern sich dem zuwendet, was für ihn die Ausgangsfrage war, nämlich die sokratische Frage, was zu tun oder wie zu sein für uns als Menschen gut ist, eine Frage, die natürlich nur in der Ersten Person Singular und Plural einen Sinn hat und daher für den sich in der Dritten Person verstehenden empirischen An-thropologen nur als solche existiert, die in den von ihm erforschten Kulturen gestellt wird. Man könnte dieser Frage ausweichen, indem man erklärt, dass die Anthropologie es nur mit Strukturen zu tun habe. Was man „Anthropologie" nennen will, ist natürlich letztlich eine Definitionsfrage. Ich meine aber: Vor dieser Frage, wie es gut ist zu leben, stehen wir wirk-lich, und sie stellt sich für uns heute, genauso wie einst für Sokrates und dann auch für Kant, auf eine Weise, in der sie nur noch Sinn hat, indem wir sie als bezogen auf uns als Menschen stellen und nicht auf uns als in einer bestimmten Tradition Stehende, und zwar deswegen nicht, weil das bloße Faktum, dass wir in der oder der Tradition stehen, als Begründung dafür, wie zu leben gut ist, nicht ausreicht. Der Rekurs auf das Menschsein und so auf das Anthropologische hatte ja sowohl in der griechischen als auch in der modernen Aufklärung gerade den Sinn, dass wir in der Frage, wie es gut ist zu leben, von ihren bloß traditionellen und das heißt autoritären Rechtfertigungen zurückverwiesen werden auf uns selbst und das heißt auf uns als Menschen.

Es genügt jetzt natürlich nicht mehr, die Anthropologie im Gegensatz zur Metaphysik zu sehen. Denn die Metaphysik ist ihrerseits ein erstes Konzept gewesen, das Piaton gerade entworfen hat, um sich bei der Beantwortung dieser praktischen Grundfrage von der Orien-tierung an Traditionen freimachen zu können. Der gewichtigere Gegner ist für den anthropo-logisch in der Ersten Person Reflektierenden also nicht die Metaphysik, sondern die Orien-tierung an der Tradition, am historisch Vorgegebenen. Es ist an dieser Stelle vielleicht sinnvoll, sich vor Augen zu halten, in welchem Ausmaß frühere Gesellschaften bei der Frage, wie man leben soll, autoritäts- und vergangenheitsorientiert waren: Man denke an das Mittelalter oder an den Islam oder an das alte China, ganz zu schweigen von vorliterarischen Gesellschaften. Das ist selbst ein anthropologischer Tatbestand, das heißt, man kann sich klar machen, warum Menschen im Unterschied zu anderen Tieren, da das Wie ihres Lebens nicht genetisch be-stimmt ist, sondern durch Gründe, diese Gründe, wo es um das richtige Leben geht, bei den Vorfahren, in den Traditionen und schließlich in göttlicher Offenbarung suchten, aber dieser Tatbestand kann für uns nur noch einer in der Dritten Person sein. Wir können verstehen, warum es allgemein so war, aber wir können uns auch klar machen, dass es für uns so nicht mehr sein kann, denn obwohl Menschliches außerhalb von Traditionen gar nicht denkbar ist, ist der Umstand, dass etwas so und so überliefert ist, kein Grund, es für richtig zu halten.

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Man kann sich leicht klar machen, dass sowohl eine sich auf eine Tradition beziehende Be-gründung als auch eine religiöse etwas Absurdes an sich haben. Sagt man, dass so und so zu leben gut ist, weil die Vorfahren so lebten, stellt sich sofort die Frage: Und warum haben die Vorfahren gedacht, dass so zu leben gut sei? Oder wenn man sagt, man soll so und so leben, weil Gott es so will, stehen wir vor der Frage: Ist es gut, weil Gott es will, oder will Gott es, weil es gut ist, sodass immer die Frage wiederkehrt, warum es gut ist. Eigentlich gelangen wir erst an dieser Stelle dahin zu verstehen, warum eine spezifisch anthropologische Reflexion unvermeidlich ist. Es ist das Unbefriedigende aller historisierenden oder religiösen Begrün-dungen, welches uns nötigt, auf Anthropologie zu rekurieren. Sich mit dem menschlichen Verstehen zu beschäftigen, ist nicht lediglich ein innerphilosophisches Bedürfnis, wie es am Anfang dieses Beitrages erscheinen konnte, sondern das Ergebnis des Unzureichenden der Begründung des Guten durch Tradition.

Mir scheint, dass man heute im Allgemeinen kein richtiges Verhältnis zum Historischen hat. Natürlich leben wir immer in einer bestimmten historischen Situation und müssen uns auf diese einstellen, aber die Maßstäbe, nach denen wir handeln, sind so nicht zu begründen. Es ist sinnwidrig, dass etwas gut sei, damit begründen zu wollen, dass es zur Tradition ge-hört, und es ist ebenso sinnwidrig, dies so begründen zu wollen, dass es an der Zeit sei. Was man heute fur gut hält, und was man früher für gut hielt, sind beides bloße Fakten, und nun stellt sich die Frage: Ist es gut?, und dabei kommt kein Zeitindex vor.

Das war die Frage, vor die sich anthropologische Aufklärer wie Sokrates und Kant ge-stellt sahen, und hier lag es nun nahe, die Frage, da nicht traditionsbezogen, eben metaphy-sisch, durch Rückgriff auf etwas Übersinnliches zu beantworten. Das tat auch noch Kant, indem er meinte, dass im menschlichen Vernunftvermögen ein übersinnlicher Kern liege, der uns sagt, wie wir handeln sollen. Kant meinte also, aus der Reflexion auf ein anthropo-logisches Strukturmoment unmittelbar zu einer Antwort auf die Frage nach dem Guten gelangen zu können. Kant war also nicht einfachhin ein Metaphysiker, er war in erster Linie ein Anthropologe, aber er glaubte, die Anthropologie führe auf einen übernatürlichen Kern des Menschseins. Hält man eine solche Annahme eines übersinnlichen Kerns für unbegründbar und eine derartige Ableitung der Moral für undurchführbar, muss man die Art, wie die Frage nach dem guten Leben im Zusammenhang der Struktur des menschlichen Lebens verstan-den werden muss, anders sehen. Obwohl ich hier wieder keine systematisch befriedigende Antwort weiß, glaube ich, dass allemal zwei Schritte erforderlich sind.

Der erste besteht darin, dass man die Idee eines kategorischen Imperativs, das heißt die eines absoluten, nicht hypothetischen Müssens fallen lässt. Ich meine, man kann sich klar machen, dass ein solches unbedingtes „muss" erstens gar keinen Sinn hat und dass es sich zweitens nur als ein Derivat einer religiösen Vorstellung von einem Gebot Gottes erklären lässt. Wenn es aber kein absolutes „muss" gibt, dann kann die Frage nach dem guten Leben nicht als eine Frage nach einem Gebot verstanden werden, sondern nur als Frage nach einem Rat. Die Frage kann nicht auf etwas praktisch Notwendiges ausgehen, sondern sich nur auf Mögliches beziehen, für das gute Gründe sprechen.

Der zweite Schritt besteht darin, dass wir innerhalb der praktischen Frage einen engeren Be-reich von einem weiteren unterscheiden müssen. Der erste ist der der Moral, und er ist dadurch charakterisiert, dass es sich in ihm um wechselseitige Forderungen handelt und deshalb doch um eine Art von Notwendigkeit, die jedoch nur hypothetisch ist. Sich als Mitglied derjenigen moralischen Gemeinschaft zu sehen, die weder traditionell noch metaphysisch begründet ist,

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sondern in der Weise eines symmetrischen Kontraktualismus, ist seinerseits nur eine Mög-lichkeit, für die es gute Gründe gibt. Ich habe darüber geschrieben und kann es hier nicht weiter ausführen. Es ist aber eine Thematik, die sich uns unabhängig von allen Traditionen aufdrängt, einfach als Menschen, die zusammen leben können wollen. Die guten Gründe, eine solche Gemeinschaft einzugehen, die nur prudentiell sein können, ergeben sich also aus einer Reflexion auf unsere anthropologische Struktur.

Der andere Bereich innerhalb des praktisch Guten ist derjenige, in dem es nur um gute Gründe geht, wie zu leben gut oder besser ist, ohne den Faktor der wechselseitigen Forderun-gen, und man kann das im Gegensatz zum Moralischen als den weiteren Bereich des Ethi-schen bezeichnen. Das ist natürlich nur eine künstliche Terminologie und lehnt sich an eine Unterscheidung zwischen Ethik und Moral an, wie sie heute auch von anderen gemacht wird (zum Beispiel von Habermas). Ursprünglich war natürlich „Moral" einfach der lateinische Ausdruck für das, was die Griechen „Ethik" nannten. Es geht nicht um diese Worte, sondern darum, dass wir heute irgendwelche Worte für eine Unterscheidung brauchen, die in den tra-ditionellen Kulturen nicht gemacht werden musste, weil in ihnen alle Werte autoritär begrün-det wurden und so die gesamte Ethik in die Moral einging, eine Sache von Geboten wurde. Wenn wir hingegen die traditionalistischen Begründungen des Guten verwerfen, schrumpft die Moral, der Bereich der Forderungen, die jetzt nicht mehr autoritär noch metaphysisch, sondern nur noch intersubjektiv verstanden werden können, auf einen engeren Bereich zu-sammen, und wie jeder sein eigenes Leben gestaltet, das so genannte prudentiell Gute, ist seine Sache und eine Angelegenheit nur der guten Gründe, soweit sie ihm einleuchten. Es ist eine Sache des guten Rates (Rat ist dasselbe wie Überlegung, nur in der Zweiten Person). „Du wirst sehen", so würden wir jemandem sagen, „dass Du so besser leben würdest, aber es ist Deine Entscheidung."

Wie sehen nun diese guten Gründe aus? Hier muss ich ein drittes Mal in diesem Beitrag passen und gestehen, dass ich dazu keine allgemeine Theorie habe. Nur in einem Fall, der mich besonders interessiert, dem der Religionen und der Mystik, habe ich das für mich durch-gespielt, und davon lässt sich vielleicht einiges verallgemeinern. Alles spezifisch Religiöse entfällt jetzt, weil an einen Gott zu glauben einen Existenzsatz impliziert, der nicht begründ-bar ist und vielleicht nicht einmal Sinn hat. Das entspricht der allgemeinen Zurückweisung von allem, sofern es nur durch Tradition oder Autorität vorgegeben ist. Das Mystische hinge-gen, in dem Sinn, in dem ich das Wort verstehe, ist eine menschliche Haltung ohne jeden Bezug auf etwas Supranaturales; sie besteht in einem Gesammeltsein, in dem ein Mensch zugleich auf die übrige Welt in ihrem Eigensein bezogen ist und sich der eigenen Insignifikanz bewusst wird. Diese Haltung lässt sich, wie ich in meinem Buch über Egozentrizität und Mystik5 zu zeigen versuchte, im Rückgang auf die anthropologische Struktur verständlich machen, wie sie sich vom Ansatz bei der propositionalen Sprache ergibt, aber natürlich nur als Möglichkeit, nicht als Notwendigkeit. Dass diese Möglichkeit nicht nur eine beliebige, son-dern eine begründete Möglichkeit des guten Lebens ist, zeigt sich daran, dass man sie erstens als besser als andere erlebt (man „fühlt" sich in ihr besser), und zweitens daran, dass sie eine zeitübergreifende ist, sie lässt sich unter den verschiedenen äußeren Umständen durchhalten, und sie ist von sich aus auf das Ganze des Lebens bezogen. Beide Gesichtspunkte sind in der anthropologischen Struktur begründet, in dem, wodurch wir uns von anderen Spezies unter-scheiden, sowohl der überlegende Vergleich im „besser" (auch wenn das Kriterium nur das Gefühl ist) als auch die Relevanz des Zeitübergreifenden.

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Nun ist aber eine solche Haltung so noch nicht eindeutig beschrieben. Die Mystik ist in verschiedenen Kulturen verschieden ausgedeutet worden. Das hat zur Folge, dass ich nicht einfach bei meiner ersten Vorstellung von Mystik stehen bleiben kann, ich muss mit den verschiedenen historischen Konzeptionen in einen imaginären Dialog zu treten versuchen. Ein solcher Dialog hinsichtlich dieser konkreten Möglichkeit, auf die Frage nach dem Guten zu antworten, verläuft ähnlich wie der imaginäre Dialog mit anderen Kulturen, auf den ich vorhin bei der Frage nach der Struktur des Verstehens hingewiesen habe. Die Mystiker der verschiedenen Kulturen fuhren mir exemplarisch Möglichkeiten vor, wie man Mystik (oder, allgemeiner gesprochen, das Gute im menschlichen Leben) auch anders verstehen kann, andererseits kann ich die Begründungen kritisieren, die sie geben und die meist einen viel stärkeren Anspruch erheben, als mir dies begründbar scheint (sie sagen zum Beispiel: Dies ist das einzig wahre Leben).

Daran zeigen sich für die Frage nach dem guten Leben zwei Aspekte, die sich verallgemei-nern lassen:

1. die Bedeutung, die bei der Frage nach dem guten Leben das Gefühl und exemplarische Beispiele haben: Man lässt sich in der Frage nach dem eigenen guten Leben davon bestim-men, welche von anderen verwirklichten Möglichkeiten man bewundert und für nachah-menswert hält. Insofern darf man die Rede von Begründung nicht immer zu wörtlich neh-men. Die Frage nach dem guten Leben ist, was die letzten Kriterien anlangt, gar nicht so verschieden von der Frage nach dem besten Wein oder nach dem besseren Musikstück.

2. In einem solchen Dialog erweist sich ein Bezug auf Historisches in einem Sinn als rele-vant, der ein ganz anderer ist als der, in dem ich das Historische vorhin zurückgewiesen habe: dass wir uns nämlich in der Frage nach dem guten Leben ebenso wie in der Frage nach der Struktur des menschlichen Verstehens einer Vielzahl von historischen Gestalten aussetzen müssen. Hier ist das Historische nicht mehr das, was wie in einer Tradition in einem diachronischen Zusammenhang steht, sondern es ist einfach die Vielzahl empiri-scher menschlicher und kultureller Möglichkeiten. Aus dieser Perspektive werden uns die Erscheinungen anderer Kulturen genauso wichtig sein wie die der eigenen, und die der eigenen werden uns nicht deswegen wichtig sein, weil sie in einen einheitlichen zeit-lichen und kausalen Zusammenhang gehören. Es scheint mir wichtig, diese Zweideutig-keit in der Rede vom Historischen zu beachten. Wo es auf die Erkenntnis von Geschichte im Sinn von kausalen Zusammenhängen ankommt, geht es nicht darum, ihren Wert zu begründen, sondern nur umgekehrt: Wir erweisen ihre Relativität als bloß historisch, das heißt kausal bedingte.

Wenn mich jemand fragen würde, warum ich meine, dass man sich in diesem imaginären Dialog als rational verstehen muss, und warum ich so schnell bei der Hand bin, kulturelle Möglichkeiten, die Annahmen implizieren, die mir unbegründbar erscheinen, zu verwerfen und sie nur noch in der Dritten Person sehe, so weiß ich nicht, ob man auf diese Frage viel mehr antworten kann als das, was Aristoteles gegenüber denjenigen meinte, die nach einer Begründung des Satzes vom Widerspruch fragten: dass sie in dieser Rückfrage das voraus-setzen, was sie bezweifeln. Umgekehrt kann ich freilich niemand anderem die Begründungs-frage aufdrängen. Niemand muss sich auf diesen Dialog einlassen. Ich wüsste nicht, was ein solches „muss" bedeuten würde. Es scheint mir aber, dass wenn man die praktische Frage,

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wie Sokrates sie verstanden hat, überhaupt stellt, sie diesen rationalen Sinn hat, in dem sie alle Begründung durch Autoritäten und Traditionen ausschließt, und dass sie es ist, die zu der Idee einer Anthropologie fuhrt, wie ich sie dargestellt habe, in der man sie nicht nur in einem Gegensatz zur Metaphysik sehen muss, sondern ebenso im Gegensatz zu Orientierungen am Geschichtlichen.

Prof. Dr. Ernst Tugendhat, Holzmarkt 2, 72070 Tübingen

Anmerkungen

1 Vgl. zu dieser Idee auch H. Fahrenbachs Veröffentlichungen zur philosophischen Anthropologie, vor allem seinen Beitrag: Philosophische Anthropologie - Ethik - Gesellschaftstheorie, in: R. Brunner/P. Kelbel (Hg.), Anthropologie, Ethik und Gesellschaft, Frankfiirt/M. 2000,182-234.

2 Vgl. E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1994.

3 Vgl. ebd. 4 Es gibt heute Autoren, die das Kommunikative als das Wesentliche der menschlichen Sprache betonen. Der

Kommunikation dienen alle tierischen Sprachen, und das Besondere der menschlichen Sprache besteht darin, dass sie nicht mehr nur kommunikativ ist.

5 E. Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003.

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