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ANNE GOLON Angélique Die junge Marquise
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ANNE GOLON

AngéliqueDie junge Marquise

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Buch

Frankreich 1646. Angélique, die Tochter des verarmten BaronsArmand de Sancé de Monteloup, wächst auf dem Schlossihres Vaters zu einer selbstbewussten jungen Frau heran. Vonden Gräueln der Fronde wird jedoch auch Angélique nichtverschont. Heimlich belauscht sie zwei Verschwörer, die KönigLudwig XIV. töten wollen. Sie nutzt ihr Wissen, um ihrem Vaterzu helfen, der von Geldnöten niedergedrückt wird, und erwirkteinen Aufschub, der es ihr und ihren Geschwistern gestattet, dieSchule zu besuchen. Als Angélique nach Hause gerufen wird,hat die finanzielle Situation des Barons ihn in die Hände seinesGläubigers gespielt. Und dieser fordert seinen Preis – Angé-lique. Er hat ihre Hochzeit mit einem der reichsten Grafen im

Süden Frankreichs bereits arrangiert ...

Autorin

Anne Golon, geboren 1921 unter dem Namen Simone Chan-geux, musste, kaum zwanzig Jahre alt, vor der einmarschie-renden deutschen Armee aus Paris flüchten. Sie schlug sich bisSpanien durch. Unter Pseudonym schrieb sie nach dem Kriegfür verschiedene Zeitschriften. Zu Recherchezwecken reistesie in den Kongo und lernte dort ihren späteren Mann Sergekennen, einen russischen Aristokraten, der sein Land währendder Revolution verlassen musste. Sie kehrten nach Frankreichzurück und begannen gemeinsam Bücher zu verfassen, die je-doch kein Erfolg wurden. Dann reifte in Anne Golon die Ideezu einem historischen Roman über eine Frau zur Zeit LudwigsXIV. 1952 entstand die Idee zu Angélique, 1956 erschien dererste Band als Weltpremiere in Deutschland bei Blanvalet. Miteiner Gesamtauflage von 150 Millionen Exemplaren wurdedie Serie zu einem der größten Bucherfolge des 20. Jahrhun-derts. Nach einem jahrzehntelangen Rechtsstreit hat AnneGolon jetzt alle Rechte an ihren Romanen zurückerhalten undveröffentlicht diese nun endlich ungekürzt. Sie lebt heute in

Lausanne.

Weitere Romane von Anne Golon sind bei Blanvaletin Vorbereitung.

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Anne Golon

AngéliqueDie junge Marquise

Aus dem Französischenvon Nathalie Lemmens

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Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel»Angélique. Marquise des Anges«bei Éditions du Refuge, Lausanne.

Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100Das fsc®-zertifizierte Papier Holmen Book Cream

für dieses Buch liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden

1. AuflageTaschenbuchausgabe Juni 2011 bei Blanvalet, einem Unternehmen

der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.Copyright © der Originalausgabe 2006 by Éditions du RefugeCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by BlanvaletVerlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: bürosüd°, MünchenUmschlagillustration: bürosüd°, München

Redaktion: Ilse WagnerED · Herstellung: sam

Druck und Einband: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN: 978-3-442-37699-5

www.blanvalet.de

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Erster Teil

Monteloup

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Kapitel 1

1646

N ounou«, fragte Angélique, »warum hat Gilles de Retzso viele kleine Kinder umgebracht?«

»Für den Satan, mein Kind. Gilles de Retz, der Menschen-fresser von Machecoul, wollte der mächtigste Herr seiner Zeitsein. In seinem Schloss stand alles voller Destillierkolben, Phi-olen und großen Kesseln mit roter Brühe, aus denen abscheu-liche Dämpfe aufstiegen. Der Teufel verlangte als Opfergabedas Herz eines kleinen Kindes. Damit begannen die Verbre-chen. Und die verzweifelten Mütter deuteten mit dem Fin-ger auf den schwarzen Turm von Machecoul, um den ständigRaben kreisten, weil so viele Leichen unschuldiger Kinder inden Verliesen lagen.«

»Hat er die alle gefressen?«, fragte Angéliques jüngereSchwester Madelon mit zitternder Stimme.

»Nicht alle, das hätte er gar nicht geschafft«, antwortetedie Amme.

Sie beugte sich über den Kessel, in dem Speck und Kohl vorsich hin köchelten, und rührte eine Weile schweigend in derSuppe. Hortense, Angélique und Madelon, die drei Töchterdes Barons de Sancé de Monteloup, warteten, den Löffel ne-ben ihren Suppenschalen erhoben, gespannt darauf, dass sieweitererzählte.

»Er tat Schlimmeres«, fuhr die Amme mit bitterer Stimmeschließlich fort. »Zuerst ließ er das verschreckte, laut nach

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seiner Mutter rufende arme Ding zu sich bringen, währender selbst auf einem Bett lag und sich an seiner Angst weidete.Dann befahl er, das Kind an einer Art Halterung an der Wandaufzuhängen, die ihm die Brust und den Hals zuschnürte, so-dass es kaum noch Luft bekam. Das Kind wehrte sich wie einaufgehängtes Hühnchen, seine Schreie erstarben, die Augentraten ihm aus den Höhlen, es lief blau an. Und im großen Saalhörte man bloß das Lachen der grausamen Männer und dasStöhnen des kleinen Opfers. Dann ließ Gilles de Retz es wie-der abnehmen. Er hob das Kleine auf seinen Schoß, drückteden Kopf des armen Engelchens an seine Brust und beruhigtees mit sanfter Stimme.

›Das war doch gar nicht so schlimm‹, sagte er. Sie hät-ten nur ein wenig Spaß haben wollen, aber jetzt wäre al-les vorbei. Das Kind würde bunte Zuckermandeln bekom-men, ein schönes Federbett und einen seidenen Anzug wieein kleiner Page. Das Kind beruhigte sich. Freude glomm inseinen tränennassen Augen auf. Und in diesem Moment stießihm der Herr mit aller Kraft seinen Dolch in den Hals. Aberdas Allerfurchtbarste geschah, wenn er junge Mädchen ent-führte.«

»Was machte er denn mit ihnen?«, fragte Hortense.Da mischte sich der alte Guillaume ein, der neben dem Ka-

min saß und eine Tabakkarotte rieb.»Seid doch still, verrückte Alte!«, brummte er in seinen

gelblichen Bart. »Bei Eurem albernen Geschwätz wird sogareinem alten Soldaten wie mir ganz anders.«

Hitzig schwang die dralle Fantine Lozier zu ihm herum.»Albernes Geschwätz…? Man merkt, dass Ihr nicht aus

dem Poitou stammt, Guillaume Lützen, ganz gewiss nicht.Geht nur hoch Richtung Nantes, dann seht Ihr schon bald dasverfluchte Schloss von Machecoul. Es ist jetzt zweihundertJahre her, seit die Verbrechen begangen wurden, und die Men-

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schen bekreuzigen sich immer noch, wenn sie in seine Nähekommen. Aber Ihr seid ja nicht von hier, Ihr wisst nichts überdie Ahnen dieser Gegend.«

»Schöne Ahnen, wenn sie alle so sind wie Euer Gilles deRetz!«

»Gilles de Retz war ein so großer Sünder, dass kein Land-strich außer dem Poitou sich rühmen kann, je einen solchenVerbrecher gekannt zu haben! Und als er starb, nachdem erin Nantes vor Gericht gestellt und verurteilt worden war, unddabei seine Sünden bekannte und Gott um Verzeihung an-flehte, da legten all die Mütter, deren Kinder er gequält undgefressen hatte, Trauerkleidung an.«

»Das ist ja allerhand!«, rief der alte Guillaume.»Ja, so sind wir hier im Poitou. Groß in der Sünde und groß

im Vergeben!«Unwirsch rückte die Amme ein paar Töpfe auf dem Tisch

zurecht und küsste ungestüm den kleinen Denis.»Sicher«, fuhr sie fort, »ich bin nicht lange zur Schule ge-

gangen, aber ich kenne den Unterschied zwischen Ammen-märchen und Geschichten aus vergangenen Zeiten. Gilles deRetz hat wirklich gelebt. Vielleicht irrt seine Seele immer nochin der Nähe von Machecoul herum, aber sein Körper ist hierin dieser Erde verfault. Darum darf man auch nicht so leich-fertig über ihn reden wie über die Feen und Kobolde, die umdie großen, aufrecht stehenden Steine in den Feldern herum-streifen. Obschon man auch über diese bösen Geister nichtallzu sehr spotten sollte…«

»Und was ist mit Gespenstern, Nounou, darf man über diespotten?«, wollte Angélique wissen.

»Besser nicht, Liebes. Gespenster sind zwar nicht böse, aberdie meisten von ihnen sind traurig und verletzbar, und warumsollte man die Qualen dieser armen Geschöpfe durch Spottnoch vergrößern?«

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»Wieso weint denn die alte Dame, die hier im Schlossspukt?«

»Wer weiß? Als ich sie vor sechs Jahren zwischen dem al-ten Gardesaal und dem großen Flur zum letzten Mal gesehenhabe, da hat sie nicht mehr geweint, glaube ich. Vielleicht we-gen der Gebete, die euer Großvater für sie in der Kapelle hatsprechen lassen.«

»Ich habe ihre Schritte auf der Turmtreppe gehört«, be-hauptete Babette, die Dienerin.

»Das war bestimmt eine Ratte. Die alte Dame von Monte-loup ist sehr diskret und will niemanden stören. Vielleichtwar sie ja blind, weil sie immer eine Hand vorstreckt. Odersie sucht etwas. Manchmal tritt sie an die Betten der Kinder,wenn sie schlafen, und streicht ihnen übers Gesicht.«

Fantines Stimme wurde leiser, düsterer.»Vielleicht sucht sie ja nach einem toten Kind.«»Gute Frau, Eure Fantasie ist grausiger als der Anblick einer

Leichengrube«, protestierte der alte Guillaume erneut. »Magja sein, dass Euer Seigneur de Retz ein großer Mann gewesenist und Ihr es nach zweihundert Jahren als eine Ehre betrach-tet, seine Landsmännin zu sein… und womöglich ist auch diealte Dame von Monteloup eine höchst ehrenwerte Frau, aberich sage Euch, es ist nicht gut, diese Herzchen hier in Angstund Schrecken zu versetzen, sodass sie vor lauter Furcht ver-gessen, ihre kleinen Mägen zu füllen.«

»Ach, Euch steht es gut an, den Empfindsamen zu spie-len, Ihr unverschämter Soldat, Ihr gottloser Kriegsknecht!Wie viele Mägen solcher Herzchen habt Ihr denn mit EurerPike durchbohrt, als Ihr dem Kaiser von Österreich auf denSchlachtfeldern in Deutschland, dem Elsass und der Picardiegedient habt? Wie viele Hütten habt Ihr angezündet, nach-dem Ihr die Tür hinter der ganzen Familie zugeschlagen hat-tet, damit sie darin verbrennen? Habt Ihr nie Bauern aufge-

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knüpft? So viele, dass die Äste unter ihrem Gewicht brachen?Und habt Ihr etwa keine Frauen und Mädchen geschändet,dass sie vor Scham zugrunde gingen?«

»Wie alle anderen auch, gute Frau, wie alle anderen auch.So ist nun mal das Soldatenleben. So ist der Krieg. Aber dasLeben dieser kleinen Mädchen hier besteht aus Spielen undfröhlichen Geschichten.«

»Bis zu dem Tag, an dem Soldaten und Raubgesindel wieein Heuschreckenschwarm übers Land kommen. Dann wirdes ein Leben sein voller Soldaten, Krieg, Elend und Angst…«

Verbittert öffnete die Amme einen großen Steinguttopf mitHasenpastete und bestrich damit Brote, die sie ringsum ver-teilte, ohne dabei den alten Guillaume zu vergessen.

»Ich, Fantine Lozier, ich will euch etwas erzählen, meineKinder… hört gut zu.«

Hortense, Angélique und Madelon, die ihr kleines Wortge-fecht genutzt hatten, um ihre Suppenschalen zu leeren, hobenerneut den Kopf, und Gontran, ihr zehnjähriger Bruder, ver-ließ die dunkle Ecke, in der er bis dahin geschmollt hatte, undkam näher. Jetzt war die Stunde des Krieges und der Plün-derungen, der alten Haudegen und der Räuber, umhüllt vonrotem Feuerschein, Schwerterklirren und den Schreien derFrauen…

»Guillaume Lützen, kennt Ihr meinen Sohn, den Fuhr-knecht unseres Herrn, des Barons de Sancé de Monteloup,hier im Schloss?«

»Den kenne ich, ein sehr hübscher Junge.«»Nun denn! Alles, was ich Euch über seinen Vater sagen

kann, ist, dass er zu den Truppen seiner Exzellenz des Kar-dinals Richelieu gehörte, als dieser sich auf den Weg nach LaRochelle machte, um die Protestanten auszurotten. Ich warkeine Hugenottin, und ich hatte immer zur Jungfrau Mariagebetet, dass ich bis zu meiner Hochzeit unschuldig bleiben

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möge. Aber nachdem die Truppen unseres allerchristlichs-ten Königs Ludwig XIII. durch unsere Gegend gezogen wa-ren, war das Mindeste, was man sagen konnte, dass ich keineJungfrau mehr war. Und ich habe meinen Sohn Jean-la-Cui-rasse genannt zur Erinnerung an all diese Teufel, von deneneiner sein Vater ist und deren mit Nägeln beschlagene Kürassedas einzige Hemd zerrissen haben, das ich damals besaß.

Und was die Räuber und Banditen angeht, die der Hun-ger so oft auf die Straßen getrieben hat, da könnte ich Eucheine ganze Nacht lang wach halten und Euch erzählen, wassie im Stroh mit mir angestellt haben, während sie die Füßemeines Mannes ins Herdfeuer hielten, damit er ihnen verriet,wo er sein Geld versteckt hatte. Und ich dachte bei dem Ge-ruch noch, sie würden das Schwein braten.«

Daraufhin brach Fantine in Gelächter aus und schenktesich einen Apfeltresterwein ein, um ihre Zunge anzufeuchten,die vom vielen Reden ganz trocken geworden war.

So begann das Leben von Angélique de Sancé de Monteloupim Zeichen des Menschenfressers, der Gespenster und derRäuber.

Sie alle riefen Fantine Lozier bei ihrem beruhigenden Kosena-men Nounou. Man mochte sich fragen, wo denn die Kinder vonFantine Lozier steckten, während sie selbst der Baronin de Sancébei ihren zahlreichen Sprösslingen zur Hand ging, für die diesekeine Milch hatte… Wahrscheinlich ebenfalls in der großen Kü-che, in der es von Geschichten summte und aus riesigen Kesselnnach köstlichen Suppen und Schmortöpfen duftete.

Und wo war dieser Mann, »ihr« Mann, dessen Füße so oftvon den Räubern gebraten worden waren? Vielleicht auch inden Wirtschaftsgebäuden des Schlosses, wo ein paar Stallbur-schen die Pferde versorgten, Wasser und Holz heranschlepp-ten und die Ställe des herrschaftlichen Anwesens ausmisteten.

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In den Adern der Amme floss ein wenig von dem mau-rischen Blut, das die arabischen Eroberer, die Sarazenen, imachten Jahrhundert bis an die Grenzen des Poitou gebrachthatten.

Angélique war mit dieser Milch der Leidenschaft und Träumeaufgezogen worden, in der der alte Geist ihrer Provinz ver-dichtet war, ein Land der Sümpfe und Wälder, offen wie eineBucht zu den lauen Winden des Ozeans hin.

So hatte sie eine bunt gemischte Welt der Dramen und Mär-chen aufgesogen. Sie hatte Gefallen daran gefunden, und eshatte sie gegen die Angst gefeit. Mitleidig betrachtete sie diezitternde kleine Madelon oder ihre ältere Schwester Hortense,die mit verkniffener Miene dasaß, obwohl sie darauf brannte,die Amme zu fragen, was die Räuber denn im Stroh mit ihrangestellt hatten.

Die siebenjährige Angélique ahnte ziemlich genau, was inder Scheune passiert war. Oft genug hatte sie die Kuh zumStier oder die Ziege zum Bock geführt. Und ihr Freund, derjunge Hirte Nicolas, hatte ihr erklärt, dass Männer und Frauenes genauso machten, um Kleine zu bekommen. So war dieAmme zu Jean-la-Cuirasse gekommen. Was Angélique jedochverwirrte, war die Tatsache, dass die Amme von diesen Din-gen manchmal in sehnsüchtigem, manchmal in verzücktem,manchmal aber auch in aufrichtig entsetztem Ton sprach.Doch man brauchte die Amme mit ihrem Schweigen und ih-ren Zornesausbrüchen gar nicht zu verstehen. Es genügte,dass sie da war, breit und wogend, mit ihren mächtigen Armenund dem unter dem Barchentkleid weit geöffneten Korb ihresSchoßes, in dem sie einen aufnahm wie ein kleines Vögelchen,um einem ein Wiegenlied zu singen oder von Gilles de Retz zuerzählen.

Einfacher war da der alte Guillaume Lützen, der mit lang-samer Stimme und einem holprigen Akzent sprach. Es hieß, er

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sei Schweizer oder Deutscher. Vor einiger Zeit war er hinkendund barfuß über die Römerstraße gekommen. Er hatte amSchloss von Monteloup angeklopft und um eine Schale Milchgebeten. Seitdem war er geblieben, packte überall mit an, re-parierte und werkelte herum. Der Baron de Sancé ließ ihnBriefe zu befreundeten Nachbarn bringen oder den Steuerein-nehmer in Empfang nehmen, wenn dieser kam, um die Abga-ben einzutreiben. Dann hörte der alte Guillaume den Einneh-mer geduldig an, ehe er ihm in seinem Schweizer Bergdialektoder hessischen Bauernplatt antwortete und sein Gegenüberentmutigt wieder abzog.

Auch er hatte seine Geschichten, mit denen er die Kinderverzauberte. Doch es war eher die Rückkehr des Sommers, dieseine Erzählungen hervorbrachte, denn in der schönen Jah-reszeit führen die Soldaten Krieg. Dann verlassen die hohenGeneräle die Königshöfe, wo sie getanzt und das gute Lebengenossen haben, und kehren zu ihren Armeen zurück, die ausihren Winterquartieren kommen. Man wusste nie, gegen wel-chen Feind man in die Schlacht ziehen würde.

Lützen deutete nach Osten, in die Richtung der aufgehendenSonne. Er erzählte von einem unbekannten Gebilde: den Kai-serlichen. Dahinter gab es einen Kaiser wie zu Zeiten der Rö-mer, und noch weiter dahinter kamen die Türken. Er hatteeinen Krieg erlebt, der sommers wie winters geführt wurde,und dieser Krieg dauerte immer noch an. Manche Landstrichewaren so verwüstet, dass es dort inzwischen mehr Wölfe alsMenschen gab. Er war lange gelaufen, bis er endlich ein Landgefunden hatte, in dem kein Krieg mehr herrschte.

Kam er von den Schlachtfeldern des Nordens oder denendes Ostens? Und durch welchen Zufall schien dieser fremdeSöldner aus der Bretagne herabzukommen, als man ihn daserste Mal sah? Man wusste von ihm nur, dass er unter demFeldherrn Wallenstein in Lützen gekämpft hatte und ihm die

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Ehre beschieden gewesen war, den Wanst des dicken, glanz-vollen Schwedenkönigs Gustav Adolf zu durchbohren, als die-ser sich während der Schlacht im Nebel verirrt hatte und aufdie österreichischen Pikeniere gestoßen war.

Auf dem Speicher, wo er lebte, funkelten zwischen Spinnwe-ben sein alter Brustharnisch und der Helm in der Sonne, ausdem er immer noch seinen warmen Wein trank und manch-mal auch seine Suppe aß. Mit seiner riesigen Pike, die drei-mal so hoch war wie er selbst, schlug er im Herbst die Nüsseherunter. Aber mehr als alles andere beneidete ihn Angéliqueum seine kleine intarsiengeschmückte Tabakreibe aus Schild-patt, die er seine grivoise nannte nach Art der deutschen Sol-daten in französischen Diensten, die selbst als grivois bezeich-net wurden.

In der großen Schlossküche öffneten sich den ganzen Abendhindurch die Türen. Hinaus in die Dunkelheit, aus der, um-weht von strengem Stallgeruch, Knechte, Mägde und der Fuhr-knecht Jean-la-Cuirasse hereinkamen, der ebenso schweigsamwar wie seine Mutter redselig. Und auch die Hunde schlüpftenherein: die beiden Windhunde Mars und Marjolaine und diebis zu den Augen verdreckten Bassets.

Aus dem Inneren des Schlosses hingegen kam die aufge-weckte Nanette, die sich in den Aufgaben eines Kammermäd-chens übte, in der Hoffnung, genügend gute Manieren zu ler-nen, um irgendwann ihre armen Herrschaften verlassen undein paar Meilen entfernt beim Marquis du Plessis-Bellière inDienst treten zu können. Auch die beiden Kleinmägde, denendas wirre Haar in die Augen hing, liefen ein und aus, um Holzin den großen Saal und Wasser in die Schlafzimmer zu brin-gen. Schließlich erschien die Baronin mit ihrem sanften, vonder Landluft und den zahlreichen Niederkünften welk gewor-denen Gesicht. Sie trug ein Kleid aus grauer Serge und einschwarzwollenes Kopftuch, denn im großen Saal, wo sie zwi-

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schen dem Großvater und den beiden alten Tanten saß, war esfeuchter als in der Küche.

Sie wollte wissen, ob der Kräutertee für den Baron bald fer-tig sei und ob das Kleine brav getrunken habe. Im Vorüber-gehen streichelte sie die Wange von Angélique, die schon halbeingeschlafen war und deren langes goldbraunes Haar überden Tisch gebreitet im Feuerschein funkelte.

»Es wird Zeit, ins Bett zu gehen, meine Mädchen. Pulchériebringt euch nach oben.«

Und Pulchérie, eine der alten Tanten, kam gehorsam herein.Da sie mangels Mitgift weder einen Ehemann noch ein Klos-ter gefunden hatte, das bereit gewesen wäre, sie aufzunehmen,hatte sie die Rolle einer Gouvernante für ihre Nichten über-nommen, und weil sie sich nützlich machte, statt den liebenlangen Tag zu jammern und über ihrer Stickerei zu sitzen, be-handelte man sie mit leiser Herablassung und weniger für-sorglich als die zweite Tante, die dicke Jeanne.

Pulchérie sammelte ihre Nichten um sich. Die Dienstmägdewürden die Kleineren ins Bett bringen, und Gontran, derJunge ohne Hauslehrer, würde sich auf seinen Strohsack un-term Dach zurückziehen, wann es ihm beliebte.

Hortense, Angélique und Madelon folgten der magerenTante in den großen Saal des Schlosses, wo es dem Feuer unddrei Talgkerzen kaum gelang, die Schatten zu zerstreuen, diesich im Laufe der Jahrhunderte unter dem hohen mittelalter-lichen Gewölbe angesammelt hatten. Einige vor die Mauerngehängte Wandteppiche versuchten, diese vor der Feuchtigkeitzu schützen, aber sie waren so alt und zerfressen, dass manvon den Szenen, die darauf abgebildet waren, nichts mehr er-kennen konnte außer den verstörten Augen fahler Gestalten,die einen vorwurfsvoll anblickten.

Die kleinen Mädchen verneigten sich vor ihrem Großva-ter. Er saß in seinem schwarzen, mit schäbigem Pelz besetz-

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ten weiten Umhang vor dem Feuer. Aber seine weißen Händeauf dem Knauf des Gehstocks waren königlich. Er trug einenbreitkrempigen schwarzen Filzhut, und sein nach dem Vorbilddes alten Königs Heinrich IV. rechteckig gestutzter Bart ruhteauf einer kleinen steifen Halskrause, die Hortense im Stillenfurchtbar altmodisch fand.

Dann eine zweite Verneigung vor Tante Jeanne, deren schmol-lend verzogene Lippen nicht zu lächeln geruhten, und schonwaren sie auf der großen Steintreppe, wo es so feucht war wiein einer Höhle. Die Schlafräume waren im Winter eisig, da-für aber im Sommer angenehm kühl. Man betrat sie nur, umsich hinzulegen. Das Bett der drei kleinen Mädchen throntewie ein Monument in der Ecke eines ausgeplünderten Zim-mers, dessen gesamtes Mobiliar über die vergangenen Ge-nerationen hinweg verkauft worden war. Der im Winter mitStroh bedeckte Steinfußboden war an vielen Stellen gebro-chen. Ins Bett gelangte man über eine dreistufige Trittleiter.Nachdem die drei Töchter des Barons de Sancé de Monteloupihre Nachtjacken und -hauben angezogen und Gott kniend fürseine Wohltaten gedankt hatten, kletterten sie hinauf zu ih-rem kuscheligen Federbett und schlüpften unter die löchrigenDecken. Sofort suchte Angélique nach dem Loch im Laken,das zu dem in der Decke passte, steckte ihren rosigen Fuß hin-durch und wackelte mit den Zehen, um Madelon zum Lachenzu bringen.

Die Kleine zitterte nach Nounous Geschichten stets schlim-mer als ein Hase. Hortense genauso, aber sie verriet es denanderen nicht, denn sie war die Älteste. Nur Angélique ge-noss diese Angst mit einer schwelgerischen Freude. Das Lebenbestand aus Geheimnissen und Entdeckungen. Sie hörten dieMäuse das Holz anknabbern und die Eulen und Fledermäusemit schrillen Rufen in den Dachstühlen der beiden Türme he-rumflattern. Sie hörten die Bassets in den Höfen jaulen und ein

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Maultier, das von der Weide kam, um sich am Fuß der Mau-ern den Grind abzuscheuern.

Manchmal hörten sie in Schneenächten auch das Heulender Wölfe, die aus dem wilden Forst von Monteloup in diebewohnten Gegenden herunterkamen. Und zuweilen drangenab den ersten Frühlingsnächten die Lieder der Bauern aus demDorf herüber, wo sie im Mondschein einen Rigaudon tanz-ten…

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Kapitel 2

M anchmal weinte Pulchérie, wenn sie an Angéliquedachte. In ihren Augen verkörperte ihre Nichte nicht

nur das Scheitern dessen, was sie für eine traditionelle Erzie-hung hielt, sondern auch den Niedergang ihrer Familie undihres Adels, der durch Armut und Elend seine ganze Würdeverlor.

Schon im Morgengrauen rannte die Kleine mit wehendemHaar davon, in Hemd, Mieder und einem ausgebleichten Rockkaum besser gekleidet als ein Bauernmädchen, und ihre klei-nen Füße, feingliedrig wie die einer Prinzessin, waren hart wieHorn, denn sie warf ihre Schuhe unbekümmert in den nächst-besten Busch, um ungehinderter laufen zu können. Wenn mansie zurückrief, drehte sie einem höchstens flüchtig das runde,von der Sonne golden gebräunte Gesicht zu, in dem zwei blau-grüne Augen von der gleichen Farbe funkelten wie die Ange-lika, jene Pflanze, die in den feuchten Sümpfen wuchs und ih-ren Namen trug.

»Sie gehört ins Kloster«, sagte Pulchérie oft.Aber der schweigsame, sorgengeplagte Baron de Sancé

zuckte nur mit den Schultern. Wie hätte er seine zweite Toch-ter ins Kloster geben sollen, wenn er nicht einmal die Ältestehinschicken konnte, weil er kaum viertausend Livres an jähr-lichen Einkünften hatte und fünfhundert davon bereits für dieErziehung seiner beiden älteren Söhne bezahlen musste, diebei den Augustinern in Poitiers die Schule besuchten?

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Zu den Sümpfen hin hatte Angélique Valentin zum Freund,den Sohn des Müllers.

Auf der Waldseite hingegen war es Nicolas, eines der siebenKinder eines Landarbeiters, das schon jetzt als Hirte in Diens-ten von Monsieur de Sancé stand.

Mit Valentin glitt sie in einem flachen Kahn die von Vergiss-meinnicht, Minze und Angelika gesäumten Kanäle entlang.Valentin pflückte ganze Büschel dieser herrlich duftenden,hoch und dicht wachsenden Pflanze. Anschließend verkaufteer sie an die Mönche der Abtei von Nieul, die aus der Wurzelund den Blüten einen Kräuterlikör brauten und die Stängel insüße Naschereien verwandelten. Im Gegenzug erhielt er da-für Skapuliere und Rosenkränze, die er den Kindern aus denprotestantischen Dörfern an den Kopf warf, woraufhin dieselaut schreiend die Flucht ergriffen, als hätte ihnen der Teufelhöchstpersönlich ins Gesicht gespuckt. Seinen Vater, den Mül-ler, bekümmerte dieses seltsame Treiben. Er war zwar katho-lisch, plädierte aber für Toleranz. Und was musste sein Sohnüberhaupt mit Angelika-Büscheln handeln, da er doch irgend-wann das Amt des Müllers erben würde und sich bloß noch inder behaglichen Mühle niederzulassen brauchte, die auf Pfäh-len am Wasser errichtet worden war? Aber es war schwierig,Valentin zu verstehen. Er hatte eine kräftige Gesichtsfarbe undwar für seine zwölf Jahre schon von geradezu herkulischerGestalt. Darüber hinaus war er stumm wie ein Fisch und hatteeinen leeren Blick. Und die Leute, die neidisch auf den Müllerwaren, behaupteten, er sei ein halber Idiot.

Nicolas, der redselige, großspurige Hirte, sammelte mit An-gélique Pilze, Brombeeren und Heidelbeeren. Mit ihm suchte sieEsskastanien. Und er schnitzte ihr Flöten aus Nussbaumholz.

Die beiden Jungen waren sich spinnefeind und neideten ein-ander jede von Angéliques Gunstbezeugungen. Sie war bereitsso hübsch, dass sie bei der einfachen Bevölkerung als eine le-

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bende Verkörperung der Feen galt, die im großen Dolmen aufdem Hexenfeld lebten.

Und sie hatte große Träume.»Ich bin eine Marquise«, verkündete sie jedem, der es hö-

ren wollte.»Ach ja? Und wie kommt das?«»Weil ich einen Marquis geheiratet habe«, antwortete sie.Der »Marquis« war abwechselnd Valentin, Nicolas oder

einer der anderen friedfertigen kleinen Jungen, die sie durchWiesen und Wälder hinter sich herschleppte.

»Ich bin Angélique, die Engelsgleiche«, sagte sie dann nochauf ihre entzückende Art, »und ich führe meine kleinen Engelin die Schlacht.«

So war sie zu ihrem Spitznamen gekommen: die kleine Mar-quise der Engel.

Fast jedes Jahr durchbrach die Ankunft der Hausierer die et-was träge Beschaulichkeit der Heckenlandschaft. Sie brachtenden Menschen alles, was sie brauchten, um ihre Träume undgeheimen Leidenschaften wieder anzufachen.

Es gab zwei von ihnen.Der eine wurde der »Auvergner« genannt, da die Vertreter

dieses Gewerbes häufig aus den Bergen stammten. Mit seinemvon einem Esel oder Maultier gezogenen, abgedeckten Karren,auf dem er eine große Auswahl an Kurzwaren, Geschirr undStoffen transportierte, zog er von Haus zu Haus und nahmso die Aufmerksamkeit eines ganzen Dorfes für einen gutenTag in Anspruch. Er brachte die jährlichen Almanache, sodassman beinahe sicher sein konnte, sein Fuhrwerk gegen MitteDezember auftauchen zu sehen. Manche Kunden kannte ernicht einmal bei ihrem Namen, sondern er wusste die Orte,wo sie üblicherweise anzutreffen waren, oder die Treffpunkte,an denen sich gute Geschäfte machen ließen.

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Der andere, ebenfalls ein Mann aus den Bergen, ein Savo-yarde vielleicht, war weniger verlässlich. Wenn die Tage ver-strichen, griff allmählich eine gewisse Anspannung um sich.Doch irgendwann sah man schließlich ein Bauernmädchenüber die Wiesen rennen und hörte es schreien: »Er hat seineKiste dabei!«

Er war ein kleiner Mann mit kohlschwarzen Augenbrauenund dunkler Haut, und er kam immer zu Fuß.

Auf dem Kopf trug er einen Turban aus verwaschener Seide,in den er eine durch die Unbilden der Witterung arg zerrupfteFeder gesteckt hatte, die dennoch jedes Jahr aufs Neue ihrstolzes Aussehen wiedergewann. Sein Umhang reichte ihm biszu den Knöcheln. Auf dem Rücken schleppte er einen Korb,der fast genauso hoch war wie er selbst und mit Nippes undein paar Stoffstücken gefüllt war. Und an einem Tragriemenhing, unter den linken Arm geklemmt, die berühmte Kiste.Er war noch nie ohne seine Kiste gekommen, aber jedes Malfürchtete man, er hätte durch irgendein Unglück, das einemfür ein ganzes Jahr die Seele bekümmern würde, den Inhaltdieser Kiste bereits verkauft, ehe er nach Monteloup ge-langte.

Mit der rechten Hand hielt der Hausierer die kleinen blauenBüchlein hoch, die er aus seiner Kiste zog, und ließ die Blätterim Wind flattern wie ein Aussätziger seine Klapper.

Doch statt die Menschen in die Flucht zu schlagen, lockteer sie damit in Scharen an. Und welches Glück er ihnen brach-te…! Unter den Strohdächern der Hütten und den Gewölbender großen Schlossküchen begann eine Zeit der Entdeckun-gen, die alle Bewohner gefangen nahm.

Nun schlug Hortenses große Stunde. Sie saß am Tisch undlas laut vor, während sich Angélique und Nanette zu beidenSeiten an sie drängten und stumm mitlasen. Und wie groß warder Beifall, wenn sie ein Buch öffnete, ein wenig darin herum-

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blätterte und schließlich allen verkünden konnte, dass sie dieFortsetzung einer Geschichte hören würden, deren Anfang siebereits gelesen hatte: Nicolette und Aucassin, das Heldenliedvom tapferen Roland und seinem Schwert Durendal, Karl derGroße, König Artus, die Ritter der Tafelrunde…

Der Einband bestand aus jenem blauen Packpapier, mit demdie Spezereihändler ihre weißen Zuckerhüte vor dem Verkaufeinwickelten. Vermutlich hatte ein ungenutzter Packen diesesPapiers, der vergessen in einem ihrer Läden herumlag, jenenBuchdrucker und -händler aus Troyes darauf gebracht, bil-lige Heftchen für das bäuerliche Publikum aufzulegen, dessenKindern Pfarrer und Lehrer jahrein, jahraus das Lesen beizu-bringen versuchten. Kindern, die, wenn sie älter wurden, nie-mals die Möglichkeit hatten, Zeitungen zu kaufen wie in denStädten oder gar gedruckte, in Leder gebundene Bücher, einunerschwinglicher Luxus für die unablässig auf den Feldernschuftende und von den zahllosen Steuern ausgeblutete Land-bevölkerung.

Anscheinend hatte der Drucker seinen Gehilfen die Wahlüberlassen, mit welcher intellektuellen Nahrung er die Bögenzwischen dem blauen Einband füllen sollte, der von durchzwei Löcher gefädelten Hanfschnüren zusammengehaltenwurde.

Was die Gehilfen in den Lagern der Buchhandlung ausge-sucht hatten, wo alte, aus der Mode gekommene Ausgabenverstaubten, erwies sich als ein voller Erfolg. Ständig kamendie Kolporteure zurück, um sich mit Nachschub einzudeckenund sich über Neuheiten zu informieren. Gleichzeitig brach-ten sie auch ganze Listen mit Lieblingsfiguren mit, die nachdem Willen der Leser wieder im Programm erscheinen soll-ten. So fanden sich darin all die alten Legenden und dazu, imfröhlichen Getöse riesiger gekreuzter Klingen, die Großtatenvon Helden, von denen man träumen konnte, ohne befürch-

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Anne Golon

Angélique. Die junge MarquiseRoman

ERSTMALS IM TASCHENBUCH

Taschenbuch, Broschur, 352 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-37699-5

Blanvalet

Erscheinungstermin: Mai 2011

Angélique: Eine Heldin, die das Herz von Generationen von Leserinnen erobert Frankreich 1646. Angélique, die Tochter des verarmten Barons Armand de Sancé, wächst aufdem Schloss ihres Vaters im Poitou zu einer schönen, selbstbewussten jungen Frau heran.Doch die finanziellen Nöte spielen den Baron in die Hände seines Gläubigers. Und dieserfordert seinen Preis – Angélique. Er hat ihre Hochzeit mit einem der reichsten Grafen im SüdenFrankreichs bereits arrangiert … Die von der Autorin überarbeitete vollständige und ergänzte Originalfassung in neuerÜbersetzung!


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