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Amerika

Date post: 17-Feb-2016
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Ethnologie
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Preprint Erscheint in: Die Wahrnehmung des Neuen in Antike und Renaissance, hg. von Achatz von Müller und Jürgen von Ungern-Sternberg, Leipzig (Colloquia Augusta Raurica 8) (2004) Alt, neu oder jung? Zur Neuheit der ‚Neuen Welt’ von Susanna Burghartz Universität Basel „Auch ist es nicht gering einzuschätzen, daß durch die weltweiten Fahrten zu Wasser und zu Lande, die in unserer Zeit so zugenommen haben, sehr vieles in der Natur entdeckt und aufgefunden worden ist, was über die Philosophie ein neues Licht ausbreiten kann. Es wäre ja auch eine Schande, wenn die Verhältnisse der materiellen Welt, nämlich die der Länder, Meere, Gestirne zu unserer Zeit bis ins Äußerste eröffnet und beschrieben worden sind, die Grenzen der geistigen Welt indes auf die Enge der alten Entdeckungen beschränkt bleiben sollten.“, Francis Bacon, Neues Organon, Aphorismus 84 1 Vielen ist die Entdeckung Amerikas das Paradigma für die Entdeckung des bis anhin völlig Unbekannten. Sie gilt als Signum des neuzeitlichen, modernen Verhältnisses zur Welt schlechthin, Kolumbus wird in dieser Sicht zum (Er-)Finder eines neuen, unbekannten Kontinents, der in der bisherigen Kosmologie der „alten Welt“ keinen Platz hatte, ja geradezu undenkbar schien. Ganz in diesem Sinne setzte schon Francis Bacon im „Novum Organum“ von 1629, seinen programmatischen Überlegungen zur Begründung der neu(zeitlich)en Naturwissenschaft, Wissenschaft als Entdeckungsprozess mit den Entdeckungsreisen in die Neuen Welten gleich. Für Für Kritik und Hinweise danke ich Valentin Groebner, den Teilnehmern und Teilnehmerinnen des „Colloquium Rauricum octavum“ und Dorothea Nolde und Maike Christadler, meinen Mitarbeiterinnen im SNF- Forschungsprojekt „Translating Seen into Scene. Identitäskonstruktion und Selbstrepräsentation in Erobergeschichten über die Neue Welt, in dessen Rahmen der vorliegende Beitrag entstanden ist. 1 Francis Bacon, Neues Organon, herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Krohn, Teilband 1, Lateinisch-Deutsch, Hamburg 1990, S.180/181: „Neque pro nihilo aestimandum, quod per longinquas navigationes et peregrinationes (quae saeculis nostris increbuerunt) plurima in natura patuerint, et reperta sint, quae novam philosophiae lucem immittere possint. Quin et turpe hominibus foret, si globi materialis tractus, terrarum videlicet, marium, astrorum, nostris temporibus immensum aperti et illustrati sint; globi autem intellecutalis finis inter veterum inventa et angustias cohibeantur.“ 1
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Preprint

Erscheint in: Die Wahrnehmung des Neuen in Antike und Renaissance, hg. von

Achatz von Müller und Jürgen von Ungern-Sternberg, Leipzig (Colloquia Augusta

Raurica 8) (2004)

Alt, neu oder jung? Zur Neuheit der ‚Neuen Welt’

von Susanna Burghartz

Universität Basel

„Auch ist es nicht gering einzuschätzen, daß durch die weltweiten Fahrten zu Wasser und zu Lande, die in unserer Zeit so zugenommen haben, sehr vieles in der Natur entdeckt und aufgefunden worden ist, was über die Philosophie ein neues Licht ausbreiten kann. Es wäre ja auch eine Schande, wenn die Verhältnisse der materiellen Welt, nämlich die der Länder, Meere, Gestirne zu unserer Zeit bis ins Äußerste eröffnet und beschrieben worden sind, die Grenzen der geistigen Welt indes auf die Enge der alten Entdeckungen beschränkt bleiben sollten.“, Francis Bacon, Neues Organon, Aphorismus 841

Vielen ist die Entdeckung Amerikas das Paradigma für die Entdeckung des bis anhin

völlig Unbekannten. Sie gilt als Signum des neuzeitlichen, modernen Verhältnisses

zur Welt schlechthin, Kolumbus wird in dieser Sicht zum (Er-)Finder eines neuen,

unbekannten Kontinents, der in der bisherigen Kosmologie der „alten Welt“ keinen

Platz hatte, ja geradezu undenkbar schien. Ganz in diesem Sinne setzte schon

Francis Bacon im „Novum Organum“ von 1629, seinen programmatischen

Überlegungen zur Begründung der neu(zeitlich)en Naturwissenschaft, Wissenschaft

als Entdeckungsprozess mit den Entdeckungsreisen in die Neuen Welten gleich. Für

Für Kritik und Hinweise danke ich Valentin Groebner, den Teilnehmern und Teilnehmerinnen des „Colloquium Rauricum octavum“ und Dorothea Nolde und Maike Christadler, meinen Mitarbeiterinnen im SNF-Forschungsprojekt „Translating Seen into Scene. Identitäskonstruktion und Selbstrepräsentation in Erobergeschichten über die Neue Welt, in dessen Rahmen der vorliegende Beitrag entstanden ist. 1 Francis Bacon, Neues Organon, herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Krohn, Teilband 1, Lateinisch-Deutsch, Hamburg 1990, S.180/181: „Neque pro nihilo aestimandum, quod per longinquas navigationes et peregrinationes (quae saeculis nostris increbuerunt) plurima in natura patuerint, et reperta sint, quae novam philosophiae lucem immittere possint. Quin et turpe hominibus foret, si globi materialis tractus, terrarum videlicet, marium, astrorum, nostris temporibus immensum aperti et illustrati sint; globi autem intellecutalis finis inter veterum inventa et angustias cohibeantur.“

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Bacon, wie für viele nach ihm, ist damit eine Denkbewegung impliziert, die tradierte

Wahrnehmungs-, Argumentations- und Darstellungsmuster aufgibt und in einem Akt

fortgesetzter „Erstbegegnungen“ auf immer neue „terrae incognitae“ trifft: „Denn neue

Entdeckungen muß man vom Licht der Natur, nicht aber von der Finsterniß der alten

Zeit erwarten.“2 Die Entdeckung der Neuen Welten wird so zum Musterfall für die

Herausforderung durch das Fremde und Unbekannte. Die Frage, wie dieses

grundlegend Neue und Unbekannte, wenn nicht sogar bislang Undenkbare

wahrgenommen und damit im eigentlichen Sinne überhaupt erst „entdeckt“, wie es in

die bisherige Wissensordnung integriert werden konnte und welche Konsequenzen

diese Entdeckung für die „alte“ Ordnung hatte, ist immer wieder diskutiert worden.

Schien lange ein einfaches Fortschrittsmodell der Erkenntnis ganz im Sinne Bacons

und seiner Betonung der Erfahrung und Empirie zur Erklärung ausreichend, so

versuchen neuere Studien, die komplexen Wechselwirkungen zwischen Tradition

und Innovation in den Blick zu nehmen, die beide die Handlungen, Wahrnehmungen

und Erkenntnis- wie Darstellungsmöglichkeiten der Entdecker-Eroberer prägten.3

Neuerdings gilt die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus informationstheoretisch

sogar als geradezu exemplarischer Fall für die Gleichzeitigkeit prinzipiell

unterschiedlicher Formen des Entdeckens:4 dem Entdecken als Gewinnung

zusätzlicher Informationen innerhalb der bestehenden Wissensordnung steht das

Entdecken durch Einsatz neuer Programme gegenüber; ein Entdecken, das zu

Umstrukturierungen des Informationssystems selbst führt und zumindest partiell

immer auf dem Vergessen oder Zerstören etablierten Wissens und etablierter

Verfahren beruht.

Wurde demnach lange das Jahr 1492 mit der Entdeckung Amerikas als Beginn der

Neuzeit und zugleich als Austritt aus dem geschlossenen, innovationsfeindlichen

Mittelalter stilisiert, so ist in den Diskussionen der letzten Jahre zunehmend von den

Kontinuitäten und allmählichen Transformationen im Übergang von Spätmittelalter 2 Bacon, Neues Organon (wie Anm. 1), Aphorismus 122, S. 254/255, „Rerum enim inventio a naturae luce petenda, non ab antiquitatis tenebris repetenda est.“ 3 Die umfangreiche Literatur kann hier nicht aufgeführt werden; exemplarisch lassen sich nach Suntrup/Veenstra die Wechselwirkungen von Tradition und Innovation anhand der geographischen Beschreibung der Alten und Neuen Welt thematisieren. Rudolf Suntrup/ Jan R. Veentsra (Hrsg.) Medieval to Early Modern Culture. Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, Bd. 1: Tradition und Innovation im Übergang zur frühen Neuzeit, Frankfurt/M. etc., 2001. Vgl. auch: The Classical Tradition And The Americas, vol. I: European Images of the Americas and the Classical Tradition, hg. von Wolfgang Haase, Reinhold Meyer, Berlin/New York 1994. 4 So Michael Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 109ff.

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und Früher Neuzeit die Rede.5 Kolumbus erscheint nun als ambivalente Figur

zwischen mittelalterlicher Traditionsgebundenheit und frühmoderner Neugier. Seine

Leistung als Seefahrer, der sich an empirischer Erfahrung und exakter Messung

orientierte, kontrastiert mit seinen Schilderungen einer wunderbaren, imaginären

Welt, die in erheblichem Umfang durch Bilder aus der europäischen Literatur geprägt

wurde. 6 Denn offensichtlich hatte Kolumbus etwa Plinius, Marco Polo und vor allem

die „Ymago mundi“ des Pierre d’Ailly gelesen. Entsprechend erwartete er Cathay

oder Cipangu und den Großen Khan zu finden und fern im Osten auf Zyklopen und

Sirenen, Amazonen, Einäugige, Hundsköpfige und Menschenfresser zu treffen.7 Das

Problem, wie fundamental Neues und Fremdes, wie also Alterität überhaupt

wahrgenommen und vermittelt werden könne, stellt sich der mittlerweile

weitverzweigten Forschung nicht mehr als Frage nach einem radikalen Bruch oder

Neuanfang, sondern vielmehr als Frage danach, wie bisherige Wissensbestände und

Darstellungsmuster mit neuen Erfahrungen verknüpft und durchdrungen werden

konnten.8

Modi des Entdeckens

Staunen: Das Wunderbare zwischen Faszination und Abwehr

Unmittelbar an antike und mittelalterliche Traditionen der Mirabilia knüpfte die

Rhetorik des Wunderbaren und Staunenswerten an, in der Stephen Greenblatt ein

primäres Charakteristikum der Wahrnehmung der frühen Entdeckungen sieht.

Staunen und Verwunderung konnten die Wahrnehmung in zweifacher – durchaus

widersprüchlicher Art und Weise modellieren: Staunen konnte Befremden auslösen

und damit Reaktionen, die dazu führten, das Gesehene als Verwunderlich-

Monströses jenseits der eigenen Grenzen, außerhalb der Kultur und Zivilisation zu

5 Vgl. bereits Horst Pietschmann, Die iberische Expansion im Atlantik und die kastilisch spanische Entdeckung und Eroberung Amerikas, in: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, hrsg. von Walther L. Bernecker et al., Stuttgart, Bd. 1 1994, S. 207-242. 6 Vgl. etwa Peter Hulme, Colonial Encounters: Europe and the native Carribean, 1492-1797, London 1986, Kap.1 7 Heinz Hofmann, Über die Langsamkeit des Wandels von Weltbildern. Die Verarbeitung der Entdeckungen in der neu-lateinischen Literatur und die Vorgaben der Antike, in: Suntrup/Veenstra, Tradition und Innovation (wie Anm. 3), S. 19-50, hier S. 24 ff.; Vgl. auch Peter Mason, Deconstructing America. Representations of the Other, London 1990, besonders Kap. 3 und 4. 8 Vgl. Sabine MacCormack, Limits of Understandig. Perceptions of Greco-Roman and Amerinidian Pagnism in Early Modern Europe, in: America in European consciousness, 1493-1750, ed. by Karen Ordahl Kupperman, Chapel Hill 1995, S. 79-129

3

verorten.9 Solche Zuschreibungsprozesse lassen sich etwa in frühen Bildern der

kannibalistischen Bewohner der „Neuen Welt“ festmachen. Schon 1505 stellte ein

Augsburger Vespucci- Flugblatt als Signum für die Bewohner der Neuen Welt

Federkostüm und Kannibalismus heraus und verband damit bekannte mit

unbekannten Merkmalen des Fremden.10 Als nackte Wilde – dem traditionellen

Merkmal für fehlende Zivilisation - wurden die Kannibalen in der Folge auf

zahlreichen Karten der (Neuen) Welt eindeutig in Brasilien positioniert.11

Abb. 1: Ausschnitt aus: Willem Jansz [Blaeu]/Henricus Hondius, Wandkarte von Amerika [1608/1626] (Herzogin Anna-Amalia-Bibliothek, Weimar) Während diese Form der Fixierung vor allem Abwehr des bedrohlichen Fremden

signalisierte, konnten Staunen und Verwunderung aber durchaus auch das Gegenteil

implizieren: Offenheit und Neugier gegenüber Unbekanntem, das zunächst ohne

eindeutig negative Wertung zur Kenntnis genommen wurde: diese Haltung prägte

über weite Strecken bereits den kolonialen „Urtext“ zur ‚Neuen Welt’, das Bordbuch

von Kolumbus.12 Ging es bei früheren Kulturkontakten zwischen Europäern und

Nicht-Europäern immer um Grenzen, die zumindest eine gewisse, wenn auch

9 Mary Campbell, The Witness and the Other World. Exotic European Travel Writing, 400-1600, Ithaca and London, 1988, S. 8. 10 Abgebildet in Hildegard Frübis, Die Wirklichkeit des Fremden. Die Darstellung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert, Berlin 1995, Abb. 26, S. 54. 11 Zum Brasilienbild allgemein vgl. Franz Obermeier, Brasilien in Illustrationen des 16. Jahrhunderts, Frankfurt 2000. 12 Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, dt. Berlin 1994, Kap.3

4

manchmal nur geringe Durchlässigkeit aufwiesen, so bedeutete die extrem lange

Überfahrt über den Atlantik in dieser Hinsicht einen absoluten Bruch.13 Ein noch nicht

differenziertes Staunen – das zwischen Faszination und Abwehr, Fixierung durch

bekannte Kategorien und Offenheit gegenüber dem vollständig Unbekannten

oszillierte – war die Voraussetzung für ein Unternehmen, das sich zugleich durch

traditionsgeleitete Erwartungen etwa aus den bekannten, klassischen

ethnographischen Schriften und Reiseberichten wie durch wirklich neuartige

Leistungen und Erfahrungen etwa im Bereich der Nautik auszeichnete, und lag in

dessen Konsequenz. Die radikale Neuartigkeit der Landung der Europäer in der

Karibik im Jahr 1492 allerdings konnte als Erfahrung fundamentaler Alterität erst

allmählich bewusst werden. Entsprechend bevölkerten Fabelwesen als Zeichen des

im doppelten Sinne Staunenswerten noch lange die Darstellungen und Karten der

‚Neuen Welt’. Walter Ralegh lokalisierte noch 1596 die „Blemmyae“ – die kopflosen

Brustfüssler des Plinius - als Volk der „Ewaipanoma“ im Goldland Guiana.14

Zusammen mit den Amazonen und der fremdartigen Fauna wurden sie in der

Darstellung von Hondius, die die de Bry in ihre America-Serie aufnahmen, zum

Kennzeichen für die Verheißungen des noch zu findenden El Dorado.

13 Ebd., S. 90 f. 14 Peter Mason, Deconstructing America. Representations of the Other, London 1990, S. 99f. diskutiert die Frage, ob und inwiefern Ralehgs Bericht über die Existenz monströser Rassen in Südamerika auf den Berichten indigener Informanden beruht. Vgl. auch S. 106f. wo er die antiken und mittelalterlichen Vorlagen der Blemmyae aufführt und die Rezeption durch Lafitau diskutiert.

5

Abb. 2: Theodor de Bry, America, Bd. 8, Frankfurt/M. 1599: Karte von Guiana

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts übernahmen die Niederländer diese Brustfüssler

zusammen mit stilisierten ethnographischen Darstellungen der Eingeborenen von

Virginia und Florida in die damals aktuellsten und modernsten Karten des neuen

Kontinents, Amerika.15 Selbst der aufgeklärte französische Jesuit Joseph-François

Lafitau führte noch 1724 den Kopffüßler unter den Amerikanischen Eingeborenen auf

und stützte so seine These, wonach die Bewohner Amerikas aus Asien eingewandert

seien.16 Staunen und Verwunderung konnten also durchaus auch im Rückgriff auf die

Stereotype und Mirabilia der Tradition eine gewisses Maß an Offenheit gegenüber

dem Neuen und dessen Konsequenzen für die bisherige Wissensordnung

ermöglichen.

Die Erfindung von Alterität

15 Vgl. Günter Schilder, Monumenta cartographica Neerlandica, Alphen aan den Rijn 1986ff. 16 Vgl. Mason, Deconstructing America (wie Anm. 14), S. 106f.

6

Staunen allein war allerdings keine hinreichende Bedingung, um die Wahrnehmung

prinzipiell neuer Qualitäten des Fremden zu ermöglichen. Am Beispiel der

spanischen Expansion in die „Neue Welt“ hat sich Hans Ulrich Gumbrecht mit den

Möglichkeiten spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Gesellschaften

auseinandergesetzt, Erfahrungen der Alterität zu machen.17 Ausgehend von der

Annahme, dass Erfahrungsbildung gar nicht anders als mit der „Deutung des Neuen

durch das Vertraute“ beginnen könne, sieht Gumbrecht die ‚Tatsache’, dass

Kolumbus so wenig Neues in der Neuen Welt habe wahrnehmen können, nicht

primär darin begründet, dass die Neue Welt von den Entdeckern und Eroberern „mit

Elementen des Wissens über die ihnen vertraute Welt“ interpretiert wurde - also mit

Wissensbeständen aus der bekannten antiken oder auch mittelalterlichen Literatur

und Kosmographie. Ausschlaggebend war nach seiner Interpretation vielmehr, dass

Kolumbus so genau wusste, was er finden wollte, nämlich Gold und Silber. Es war

demnach die Ausrichtung auf das unmittelbare Handeln und damit verbunden auf die

Herstellung von Dominanz, die es verunmöglichte, das Fremde am Fremden

angemessen wahrzunehmen. Die „markante Motivationsrichtung“ der

Konquistadoren und Kolonisatoren war nach Gumbrecht ursächlich für einen „enorm

reduktiven Habitus der Fremdinterpretation“ und zugleich Voraussetzung für ihren

machtpolitischen Erfolg. Erst bei größerer räumlicher Distanz und „geringerer

Prägnanz der Darstellungsintention“ wurde es möglich, auf bestimmte Fremdheits-

Merkmale der Neuen Welt einzugehen. Im Werk von Petrus Martyr de Anghiera, der

als einer der ersten versuchte, das Wissen über den neuen Kontinent zu

systematisieren, werden Bedingungen sichtbar, unter denen Neues als Neues zur

Kenntnis genommen werden konnte: Anghieras Ausführungen fehlt zwar der

Augenzeugen-Status, weswegen ihnen nach Gumbrecht ein geringer Quellenwert als

dem Gros der Reisetagebücher zukommt; gerade darin liegt aber nach seiner

Interpretation aufgrund der größeren Distanz zum direkten Geschehen eine Chance

zur innovativeren Wahrnehmung: Es war also nicht die unmittelbare Erfahrung des

„first encounter“, die die Wahrnehmung von Neuem ermöglichte. Vielmehr musste zu

dieser Erfahrung die „Entlastung von der Verpflichtung zu unmittelbarem Reagieren

und die Wertschätzung eines nicht schon im Blick auf spezifische

17 Hans Ulrich Gumbrecht, Wenig Neues in der Neuen Welt. Über Typen der Erfahrungsbildung in spanischen Kolonialchroniken des XVI. Jahrhunderts, in: Wolf-Dieter Stempel und Karheinz Stierle (Hg.), Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania, München 1987, S. 227-249.

7

Anwendungssituationen vollzogenen Wissenserwerbs“ hinzukommen.18 Gumbrecht

macht damit auf eine wichtige Verschiebung aufmerksam: Das Neue wird nicht

einfach in der Erstbegegnung entdeckt und dann dem bisherigen Wissen einverleibt.

Vielmehr muss das Neue als Neues überhaupt erst durch Reflexion zugänglich

gemacht – im eigentlichen Wortsinn „erfunden“ werden.19

Für diesen Akt der Einordnung und Bewertung wurde das bisherige Wissen auch in

seinen antiken und mittelalterlichen Beständen genutzt, ohne dass dadurch die

Wahrnehmung des Fremden und damit auch das Erkennen des Neuen als Neuem

prinzipiell verunmöglicht werden musste. So hat der bereits zitierte Petrus Martyr de

Anghiera antike Traditionen intensiv genutzt, um seinen Lesern das Neue und

spezifisch Eigentümliche der Neuen Welt deutlich zu machen. Antike Geographie,

Geschichte und Mythologie dienten ihm als Vergleichsmaterial und damit zugleich

auch als vornormierte Erzähl- und Wahrnehmungsstrukturen: Martyr identifizierte

etwa Hispaniola (Haiti) mit einer der sagenhaften Inseln im Ozean und war sich dabei

mit Kolumbus lediglich darüber uneins, ob es sich um das Goldland Ophir der Bibel

oder um Antilia, die Insel der Sieben Städte, handle. Er zog die Amazonen auf

Lesbos für das Verhalten der Frauen auf der sagenhaften „Insel der Frauen“ der

Insel Madannina bei oder verglich die Herrschaftsformen verschiedener Kaziken mit

der Situation in Latium zur Zeit der Ankunft des Aeneas.20 Er nutzte also ganz

bestimmte antike Beispiele und Bilder, um das Fremdartige des Entdeckten zu

benennen und durch den Vergleich zugänglich zu machen. Mit dieser Projektion

wurde aber die „Neue Welt“ nicht nur im Vergleich zur „Alten“ beschrieben. Vielmehr

wurde dadurch gleichzeitig eine neue, alte bzw. antike Welt konstruiert. Mit dieser

Erfindung einer der Antike strukturell analogen „Neuen Welt“ verschob sich die

Verortung der eigenen Welt im Verhältnis zum neuentdeckten Kontinent, sie wurde

aber zugleich auch im Verhältnis zur eigenen Vergangenheit in einem sich

ändernden Zuschreibungsgeflecht von neu, unbekannt, jung und alt, neu positioniert,

das notwendig immer relational funktionierte: Das Neue – Amerika – wurde mit dieser

Analogiebildung zugleich das Alte und das bereits Bekannte, bislang im Vergleich zu

den Alten – den alten Autoritäten vor allem - als jung und neu empfundene, die

eigene Gegenwart nämlich, alterte. Diese durch die Einordnung der „Neuen Welt“

18 Ebd., S. 245. 19 Vgl. auch die von Giesecke, Mythen (wie Anm. 4), S. 113 beschriebene dritte Form des Entdeckens als reflexives Einpassen der veränderten Selbst- und Umweltbeschreibungen. 20 Hofmann, Über die Langsamkeit (wie Anm.7), S. 33f.

8

hervorgerufene Verschiebung korrespondierte mit Wahrnehmungsverschiebungen in

der humanistisch-intellektuellen Debatte, wie sie sich auch in anderen

Wissensfeldern abzeichnete.21

Das Beispiel von Kolumbus, der bis zu seinem Tod behauptete, den Westweg nach

Indien entdeckt zu haben, hat besonders handfest deutlich gemacht, welche

Schwierigkeiten um 1500 einer adäquaten Einordnung in das durch die Antike

determinierte kosmographische Wissen entgegenstanden. Kolumbus gelang es

offensichtlich, seine Erfahrungen/Beobachtungen und seine von der klassischen

Tradition geprägten imaginären Bilder zu vereinbaren.22 Erst mit den Fahrten

Vespuccis und dessen Erkenntnis, auf einen neuen Kontinent gestoßen zu sein, der

dann in St. Dié von humanistischen Gelehrten – allen voran Matthias Ringmann und

Martin Waldseemüller - als America bezeichnet werden sollte, stellte sich die antike

Kosmographie als definitiv falsch heraus. Wie schwierig und auch schmerzhaft es

sein konnte, die alten Erkenntnisraster aufzugeben oder doch zumindest

grundlegend zu überholen und damit die Autorität, die einen selbst als Humanisten

ermächtigte, zu hinterfragen, um die neuen Phänomen plausibel einordnen zu

können, die sich mit den alten Koordinaten nicht mehr fassen ließen, macht etwa der

Briefwechsel von Rudolf Agricola junior mit seinem früheren Lehrer Joachim Vadian,

dem Mediziner und späteren St. Galler Reformator klar. Am 25. August 1514 schrieb

Agricola an Vadian und bat ihn um Erläuterungen zur Frage, was es mit der Existenz

von Antipoden auf sich habe. Es falle ihm schwer, so klagte Agricola, sich in dieser

Frage „von unsern höchsten Gelehrten, nämlich den Kirchenvätern, loszusagen.“

Noch schwerer aber falle es ihm, „dem Plinius und den anderen benannten zu

mißtrauen“.23 Vadian antwortete ihm, er solle sich nicht von den alten Autoritäten -

etwa Augustinus oder Laktanz – verwirren lassen. „...daß es Antipoden gibt, steht

nach mathematischen Demonstrationen und den Reisen der Kosmographen, die dies

völlig überzeugend darlegen, außer Frage.“24 Um gültige geographische

Erkenntnisse zu gewinnen, so Vadian, sei die geeignete Methode nicht mehr die

21 Vgl. hierzu auch Anthony Grafton, "The rest versus the west", in: ders., Bring out your dead. the past as revelatioon, Harvard 2001, S. 77-93. 22 So Urs Bitterli, Die Entdeckung Amerikas. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt, Neuausgabe München 1999, S. 86f. 23 Klaus A. Vogel, Amerigo Vespucci und die Humanisten in Wien, in: Pirckheimer-Jahrbuch 7 (1992) (= Von den Folgen der Entdeckungsreisen für Europa, hg. von Stephan Füssel, Nürnberg 1992), S.53-104, Zitat S. 85. 24 Ebd. S. 86

9

Untersuchung durch Argumente, sondern das erfahrungsgeleitete Beobachten.

Weiter schrieb Vadian: „In dieser Sache sollst Du denen trauen, die sich in neuerer

Zeit um die Erkenntnis von Lage und Ausdehnung der Erde gekümmert haben“ und

verknüpfte so das Kriterium des Beobachtungswissens mit demjenigen der Aktualität

von Informationen; beide beruhten auf dem visuellen Prinzip der

Augenzeugenschaft.25 Erst die Akkumulation von Informationen über die Fahrten in

die Neue Welt ließen letztere auch auf der Ebene der Erkenntnis tatsächlich zu einer

neuen werden. Es entstand also eine interessante gegenläufige Bewegung: Durch

die Verdichtung von Informationen, die im Einzelnen keineswegs durch ihre

unbedingte Originalität ausgezeichnet waren, wurde der Zwang, das bisherige

Erklärungsschema zumindest in bestimmten Fragen der Kosmologie grundlegend zu

revidieren, unabweisbar. Erst in der Akkumulation führten die Informationen über die

neugewonnen Erfahrungen also zu derjenigen Form von Entdecken, die zu

Umstrukturierungen des Informationssystems selbst führt und zumindest partiell

immer auf dem Vergessen oder Zerstören etablierten Wissens und etablierter

Verfahren beruht.26

Modi des Neuen

Neuheit als relationale Qualität: Die „Historia natural y moral“ von José Acosta

Auf die Bedeutung der epistemologischen Ebene für den Status der Neuheit hat

schon im 16. Jahrhundert der Jesuit José de Acosta aufmerksam gemacht. In seiner

grundlegenden, systematischen Studie, der „Historia natural y moral de las Indias,

die 1590 erschien und ihm schon bei den Zeitgenossen den Ruf eintrug, ein „Plinius“

der „Neuen Welt“ zu sein, hielt er gleich zu Beginn fest, dass man, obwohl die Neue

Welt nun nicht mehr neu, sondern vielmehr bereits alt sei, seine Beschreibung

„wegen ihrer Eigenschaften“ für neu halten könne.27 Knapp hundert Jahre nach der

ersten Fahrt des Kolumbus machte Acosta damit deutlich, dass Neuheit keine dem

Objekt - der „Neuen Welt“ - inhärente Qualität sei, sondern vielmehr erst durch die 25 Zur Bedeutung dieses Prinzips im Entdeckungsdiskurs vgl. W. Neuber, Die frühen deutschen Reiseberichte aus der Neuen Welt. Fiktionalitätsverdacht und Beglaubigungsstrategien, in: Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung, hg. von Hans-Joachim König, Wolfgang Reinhard und Reinhard Wendt, (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 7), Berlin 1989, S. 43-64 26 Giesecke, Mythen (wie Anm. 4). 27 José de Acosta in der deutschen Übersetzung bei Theodor de Bry, America, Bd. 9, An den Gutwilligen Leser.

10

Beschreibungskategorien hergestellt werde. Er markierte damit zugleich eine

wesentliche Verschiebung in der Wahrnehmung der Entdeckungen: Ging es zu

Beginn des 16. Jahrhunderts darum, die Neuartigkeit des Entdeckten zu erkennen,

so sah Acosta bereits am Ende des 16. Jahrhunderts seine Aufgabe darin, das

Entdeckte als „Neue Welt“ zu sichern, eine Perspektive, die in vielerlei Ausprägungen

die Wahrnehmung der „Alten“ und „Neuen“ Welt bis in die Gegenwart prägt.

Zeigte sich in der einleitenden Bemerkung von Acosta bereits die

Perspektivengebundenheit und Relationalität der vermeintlich beschreibenden

Qualität „neu“, so wird in der weiteren Analyse seines Werks die Vielschichtigkeit

dieses Begriffs deutlich greifbar. Die damit verbundene Mehrdeutigkeit erlaubte ihm

zugleich ein Lavieren zwischen den beiden grundsätzlich verschiedenen

Wissenschaftskonzeptionen, die in dieser Zeit gegen einander standen: dem

Anspruch auf Wahrheit qua Autorität einerseits, der Abstützung des

Wahrheitsanspruches auf Empirie und Erfahrung andererseits. Als Jesuit kam Acosta

1571 nach Peru, um dort am Kolleg von Lima Theologie zu unterrichten. Seit 1573

lernte er das Land auf mehreren langen Reisen kennen. Schließlich kehrte er 1587

nach Spanien zurück, wo 1590 die „Historia natural y moral de las Indias“ erschien.28

Der Aristoteliker Acosta verfügte also nicht nur über eine umfangreiche klassische

wissenschaftliche Bildung, sondern auch über eine auf Erfahrung gegründete

Anschauung seines Untersuchungsgegenstandes.29

Mit der „Historia natural y moral“ hatte Acosta nach dem Urteil Anthony Pagdens

nicht nur eine absolut herausragende intellektuelle Syntheseleistung vollbracht;

durch die Art seiner Methode und seiner Argumentationsweise wurde er vielmehr

auch zum Begründer einer vergleichenden Ethnologie. Seine Beschreibung war

demnach tatsächlich „wegen ihrer Eigenschaften“ neuartig, wie er selbst in der

Vorrede angekündigt hatte. Sie zielte auf eine vollständige und systematisch

geordnete Geschichte der Neuen Welt: Ihr Autor lehnte sich zu diesem Zweck

konzeptuell an die großen antiken Vorbilder Plinius und Herodot an30 und

untergliederte seine Darstellung in zwei große Teile, die Analyse der natürlichen und 28 Vgl. Anthony Pagden, The Fall of Natural Man: the American Indian and the Origins of Comparative Ethnology, Cambridge 1982, Kap. 7, S. 146ff.; zur Einordnung in den Konflikt zwischen Altem und Neuem, antiken autoritären und neuen Erfahrungswissenschaften vgl. auch Anthony Grafton, New Worlds, Ancient Texts. The Power of Tradition and the Shock of Discovery, Cambridge/London 1992, passim, besonders 1-7. 29 Zu Acosta vgl. Claudio M. Burgaleta, José de Acosta, S.J. (1540-1600). His Life and Thought, Chicago 1999 30 Dies wurde sehr wohl von seinen Zeitgenossen wahrgenommen; so sprach bereits Robert Regnauld, der Acostas Werk im Jahr 1600 ins Französische übersetzte, von ihm als dem Herodot und Plinius dieser neu entdeckten Welt.

11

der menschlichen Welt. Entsprechend bezog er sich in seinen Ausführungen zur

Kosmologie und Geographie systematisch auf Positionen der antiken Autoren, die er

ebenso systematisch korrigierte. Sie lieferten ihm immer noch das intellektuell-

mentale Grundraster, mit dem er sich auseinander zu setzen hatte. Er betrachtete sie

allerdings nicht mehr als gültige Autorität, sondern kritisierte sie vielmehr

selbstbewusst und konstatierte bereits zu Beginn des ersten Buch, die Alten hätten

keinerlei Vorstellung davon gehabt, dass die Neue Welt bevölkert sein könnte.31

Anstelle der bisherigen Autoritäten traten für Acosta die Augenzeugen und deren

beobachtende Blicke: „die wir / so in diesen Ländern sind / klärer mit unsern Augen

sehen / dann wirs aus Philosophischen Argumenten jemals hätten lernen können“,

wie es in der zeitgenössischen deutschen Übersetzung bei de Bry hieß.32 Es waren

insbesondere die Erfahrungen beim Überfahren der Äquatorlinie (die im übrigen

Columbus ja keineswegs als erster gemacht hatte) und die Beobachtungen in der

„Zona torrida“, den Tropen, die fundamentale Korrekturen notwendig machten. Dabei

verwies der Gelehrte Acosta immer wieder auf die neuen Qualitäten der Praxis und

Erfahrung. Im know how der Seeleute sah er einen entscheidenden Unterschied zur

Antike.33 Er betonte, dass „die Alten“ grundlegende Technologien nicht gekannt

hätten. Als wichtigste technologische Neuerung führte er den Kompass als

Instrument an, das überhaupt erst die neuen Entdeckungen möglich gemacht habe.

„Magnetstein und der Magnetnadel“ räumte Acosta als göttlichen „Wunderding“ einen

zentralen Platz in seiner Argumentation ein, um zu beweisen, dass die antiken

Autoren kein Wissen vom neu entdeckten Kontinent haben konnten. In der gleichen

Argumentationslinie erklärte Francis Bacon eine Generation später im Neuen

Organon: „Weiter hilft es, die Kraft, den Einfluß und die Folgen der Erfindungen zu

beachten; dies tritt am klarsten bei jenen dreien hervor, die im Altertum unbekannt

waren und deren Anfänge, wenngleich sie in der neueren Zeit liegen, doch dunkel

und ruhmlos sind: die Buchdruckerkunst, das Schießpulver und der Kompaß. Diese

drei haben nämlich die Gestalt und das Antlitz der Dinge auf der Erde verändert, die

erste im Schrifttum, die zweite im Kriegswesen, die dritte in der Schifffahrt. Zahllose

Veränderungen der Dinge sind ihnen gefolgt, und es scheint, dass kein Weltreich,

keine Sekte, kein Gestirn eine größere Wirkung und größeren Einfluß auf die

31 José de Acosta, Historia natural y moral, 1. Buch, Kap.1. 32 Theodor de Bry, America Bd 9, Frankfurt/M. 1601, S.2. 33 José de Acosta, Historia natural y moral, 1. Buch, Kap.16 und 17.

12

menschlichen Belange ausgeübt haben als diese mechanischen Dinge.“34 Auch

Bacon sah also im Kompass eine der drei wesentlichen Voraussetzungen für die

frühneuzeitlichen Entdeckungen-Erfindungen mit ihrem neuen, Empirie geleiteten

Erkenntniszugang. Neuheit war in diesem Verständnis also durch technische

Innovation hervorgebracht und ließ sich prinzipiell, qualitativ-systematisch

bestimmen. Hier ging es darum, die antiken Autoritäten aufgrund qualitativ

grundsätzlich neuartiger Erkenntnisse – der Entdeckung eines neuen Kontinents und

der damit verbundenen weitreichenden kosmographischen Konsequenzen - zu

korrigieren.

Aber auch in weiteren Punkten führte die systematische Naturbeschreibung der

Neuen Welt durch Acosta zu Korrekturen, die in anderer Weise eine relationale

Neupositionierung aufgrund der neuen praktischen Erfahrungen notwendig machte.

Im vierten Buch der Historia Natural y Morall behandelte Acosta die Naturschätze

Amerikas, Erz und Metall, Wurzeln und Tiere, darunter auch Gold, Silber und Perlen,

Reichtümer also, die von den Konquistadoren besonders begehrt wurden. Seine

Ausführungen zum Gold der Neuen Welt nutzte Acosta zunächst, um die universale

Gemeinsamkeit in der Wertschätzung der Edelmetalle zu betonen. Es gab aber auch

in diesem Bereich durchaus neue Entwicklungen: Neu war zunächst das quantitative

Ausmaß der Edelmetallgewinnung, die in der „Neuen Welt“ möglich war. Neu war auf

dem Gebiet der Technik auch die Erfindung der Silbergewinnung mittels Quecksilber,

die Acosta ausführlich für Potosí beschrieb. Hier handelte es sich zwar um eine

Technik, die nicht grundsätzlich Neues – nämlich Silber – hervorbrachte, dennoch

mussten diese Entwicklung in der „Alten Welt“ zur Kenntnis genommen werden,

veränderten sich doch mit ihr die proportionalen Mengenverhältnisse, was qualitative

Wirkungen in bezug auf die Wertschätzung der Naturschätze hatte und in direkter

Konsequenz die Frage nach dem Wert betraf, der den Dingen inhärent sei. Während

die Berichte über die frühen Tauschbeziehungen von Entdeckern/Eroberern und

Indigenen in der weitverbreiteten Rede vom europäischen Tand, der gegen das Gold

der Neuen Welt getauscht werde, die europäischen Tauschrelationen als absolute 34 Bacon, Neues Organon (wie Anm. 1), Aphorismus 129, S.270/271: „Rursus, vim et virtutem et consequentias rerum inventarum notare juvat; quae non in aliis manifestius occurrunt, quam in illis tribus quae antiquis incognitae, et quarum primordia, licet recentia, obscura et ingloria sunt: Artis nimirum Imprimendi, Pulveris Tormentarii, et Acus Nauticae. Haec enim tria rerum faciem et statum in orbe terrarum mutaverunt: primum, in re literaria; secundum, in re bellica; tertium, in navigationibus: unde innumerae rerum mutationes sequutae sunt; ut non imperium aliquod, non secta, non stella, majorem efficaciam et quasi influxum super res humanas exercuisse videatur, quam ista mechanica exercuerunt.”

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Wertrelationen unterstellten,35 wurde in den Überlegungen von Acosta zu den

Naturschätzen der „Neuen Welt“ die Markt- bzw. Angebotsabhängigkeit dieser

Tauschrelationen implizit deutlich. Das neuartige Ausmaß in der Aneignung dieser

Reichtümer als Folge der Entdeckung Amerikas musste die bisher gewohnte

Bewertung dieser „Schätze“ verändern, wandelte sich doch ihre Wertschätzung und

mit ihr deren Kaufkraft in Abhängigkeit von der Seltenheit des Vorkommens, wie

Acosta am Beispiel von Smaragd und Perlen zeigte: Früher waren, etwa nach den

Ausführungen von Plinius, Smaragde, Gold und Silber ähnlich hochgeschätzt und

teuer. Nun aber hatten Smaragd und Perlen, die im Überfluss aus „Indien“-Amerika

importiert wurden, drastisch an Wert verloren.36 Insbesondere am Beispiel der Perlen

wurde die Relativität des Wertes deutlich und es zeigten sich die Konsequenzen, die

die Aneignung der Neuen Welt und ihrer Reichtümer auch in der Praxis für die

eigenen Werthierarchien hatten, hielt man doch lange die Perlen für so wertvoll, dass

nur königliche Personen sie tragen durften, während sie nun so an Wert verloren

hätten, dass selbst die schwarzen Sklavinnen Perlenschnüre trügen. In diesem

Schreckbild der Werteverzerrung wird deutlich, wie sehr auch deren

Zeichencharakter davon tangiert war, schienen doch nun die Zeichen der

Privilegierung plötzlich den ökonomisch am meisten benachteiligten – den

„schwarzen leibeigenen Weibern“37 - offen zu stehen. Abschreckender konnte kaum

verdeutlicht werden, dass sich die Mechanismen auf dem neuen Weltmarkt ganz

unmittelbar auf bisher als gegeben angenommene, vermeintlich stabile

Wertrelationen in der Alten Welt auswirkten. Hier führte der Kontakt mit der ‚Neuen

Welt’ zu quantitativ-relational bestimmten Transformationen. Aber auch die bereits

genannten, qualitativ-systematischen Änderungen mit ihren grundlegenden

Auswirkungen auf die kosmographische Modellbildung zogen ihrerseits weitere

Folgen nach sich, wie Acostas systematische Diskussion der für ihn zentralen Frage

nach der Herkunft der Bewohner der Neuen Welt zeigte. Ausgehend von seiner

Überzeugung, dass auch die Indianer von Adam abstammten und seiner

beobachtungsgestützten Einschätzung, dass sie Menschen seien, machte er die

Annahme stark, die Bewohner der Neuen Welt seien nicht auf dem Seeweg nach

Amerika gelangt , sondern über eine Verbindung oder sogar Landbrücke zwischen

35 Vgl. hierzu James Axtell, Natives and Newcomers. The Cultural Origins of North America, Oxford 2001, Kap.3. 36 José de Acosta, Historia natural y moral, 4. Buch, Kap. 14 und 15. 37 Wie es in der deutschen Übersetzung de Bry, America, Bd.9 (wie Anm. 33), S. 142 hieß.

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Asien und dem neuen Kontinent.38 Die langen Wanderungen, die sie bis zu ihren

neuen Siedlungsgebieten benötigten, bedingten ihre rückständige Entwicklung und

erklärten zugleich die Unterschiede in dieser Entwicklung aufgrund des

unterschiedlichen Zeitpunktes, an dem die einzelnen Völker sesshaft geworden

waren. Er kam damit gestützt auf kulturvergleichende Beobachtungen39 und

geographische Argumente zu einer neuen Theorie, die ihrerseits wiederum in der

Notwendigkeit gründete, die neuen Beobachtungstatsachen mit der Bibel und hier

vor allem mit der Schöpfungsgeschichte in Übereinstimmung zu bringen. Diese

Argumentationskette führte nicht nur zu einer neuen geographisch-

kosmographischen und damit räumlichen Verortung der neugefundenen Inseln als

neuer Kontinent, sondern auch zu einer neuen temporalen Positionierung der

Bewohner dieses neuen Erdteils durch ihre Einordnung in die (Heils-)geschichte. Mit

seinen systematischen Erklärungsversuchen legte Acosta zum ersten Mal einen

Versuch vor, die Indigenen „Barbaren“ Amerikas und Asiens in einen

Zusammenhang zu bringen und damit so etwas wie eine universelle Ethnologie zu

entwickeln, eine ethnologische Theorie, die ihrerseits im Konzept einer

Universalgeschichte gründete. Diese Universalgeschichte beruhte zwar noch auf

Entwicklungszyklen, die in sich aber nicht mehr geschlossene zirkuläre historische

Entwicklungen waren. Vielmehr sah Acosta die Menschheitsgeschichte als Abfolge

verschiedener zivilisatorischer Stadien, an deren Ende die christliche Zivilisation

stand.40 Er verortete damit die Neue Welt nicht nur räumlich in einem

grundlegendend veränderten geographischen System, sondern positionierte sie neu

auch zeitlich in einem gemeinsamen Kontinuum mit der alten Welt. Die

geographische Kolonisierung der Neuen Welt wurde damit um eine temporale

Dimension ergänzt. Diese Unifizierung der ganzen Welt hatte ihrerseits

Rückwirkungen auf die eigene Positionierung, die zu Verschiebungen in der

Bewertung der Alten Welt führten.

Alt, neu oder jung? Zur Relationierung von Antike und Neuer Welt - Picten und

Indianer

38 José de Acosta, Historia natural y moral, 1. Buch, Kap. 16 bis 24. Vgl. hierzu ausführlicher Helga Gemegah, Die Theorie des spanischen Jesuiten José de Acosta (ca. 1540-1600) über den Ursprung der inidanischen Völker aus Asien, Frankfurt/M. et al. 1999. 39 Vgl. hierzu auch Wilfried Nippel, Altertum und Neue Welt, in: Griechen, Barbaren und „Wilde“. Alte Geschichte und Sozialanthropologie, Frankfurt/M. 1990, 30-55, hier v.a. 51ff. 40 Pagden, Fall of Natural Man (wie Anm. 28), S. 92ff.

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In der Parallelisierung von Antike und Neuer Welt lässt sich ein dritter, qualitativ-

relationaler Modus beobachten. Hier wird die Neue Welt über den Vergleich mit der

Antike im Spannungsfeld von alt und jung positioniert. Entwicklungsgeschichtlich wird

nun die Neue Welt mit der alten, antiken Welt gleichgesetzt und als jung oder

jugendlich charakterisiert, während die eigene Gegenwart die Position der Alten,

erfahrenen und gereiften einnehmen kann, deren Wissen zu Recht autoritative

Geltung beansprucht. Besonders anschaulich fassbar wird diese Verschiebung in der

bildlichen Parallelisierung der Einwohner Virginias mit den „Ureinwohnern

Britianniens“, den Picten. Der Maler John White, der an den ersten englischen

Kolonisierungsversuchen Virginias Ende des 16. Jahrhunderts beteiligt war und dem

wir die ersten europäischen Darstellungen von Algonkin-Indianern verdanken,41 die

noch heute als ethnographische Quelle gelten, hat seinen Aquarellen Indigener

einige Darstellungen der antiken Bewohner Britanniens, der Picten, hinzugefügt. Das

Thema war damals in Großbritannien hochaktuell, wie die Schriften von William

Camden und John Speed zeigen.42 Theodor de Bry hat diese Darstellungen, ergänzt

um das Bild einer pictischen Jungfrau nach einer Vorlage von Jacques Le Moines,

1590 als Kupferstiche in seinen Virginia-Band der America-Serie aufgenommen und

so dem Vergleich zwischen den Algonkin im kolonialen Virginia und den Picten als

Vorfahren der „heutigen“ Engländer weite Verbreitung verschafft. Theodor de Bry,

seine Söhne, Johann Israel und Johann Theodor, und deren Schwiegersohn,

Matthäus Merian, gaben in Frankfurt zwischen 1590 und 1630 insgesamt 14 Bände

zu den Reisen nach Amerika heraus. Der erste von Theodor de Bry edierte Band

enthielt einen kolonialen Werbetext zur aktuellen Lage der neu gegründeten

englischen Kolonie Virginia von Thomas Harriot und zweiundzwanzig Kupferstiche

zum „neugefundenen“ Land und seinen Einwohnern. Diesen Darstellungen fügte de

Bry fünf weitere Kupferstiche nach Vorlagen von White und Le Moine bei und erklärte

in einer kleinen Vorrede, es handle sich hier um „Contrafeyt der Völcker, genannt

Picten“, die vor Zeiten in England gelebt hätten.43

41 Paul Hulton and David Beers Quinn ,The American drawings of John White, 1577-1590, London 1964; vgl. auch Karen Kupperman, Indians & English. Facing off in Early America, Ithaca, New York 2000, Kap.2. 42 Juliet Feming, The Renaissance Tattoo, in: Written on the Body, ed. by Jane Caplan, London 2000, S. 61-82, hier S. 68ff. 43 Theodor de Bry, America, Bd.1, Frankfurt/M. 1590.

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Abb. 3 Theodor de Bry, America, Bd.1, Abb. 4 Theodor de Bry, America, Bd.1, Frankfurt/M. 1590: Ausschnitt Tafel II: Frankfurt/M. 1590: „Das I. Contrafeyt eines Manns „Der Fürsten und Herrn in Virginia der Picten“ Abcontrafeytung“ Die Parallelisierung zwischen den Bewohnern der Neuen Welt und den

ursprünglichen Einwohnern der Alten - den eigenen Vorfahren und Urahnen - fand

nicht nur auf der Ebene der Bilder statt, sondern wurde schon einleitend im Text

explizit gemacht, wo de Bry erklärte, es gehe ihm darum zu beweisen, daß die

Engländer vor Jahren eben so wild gewesen seien „als die Virginischen“.44 Auf die

mit dieser Parallelisierung verbundene Antikisierung der Körperdarstellungen

amerindischer Indigener hat die Literatur immer wieder hingewiesen und sie vor

allem als Idealisierung gedeutet, die zu einer nostrifizierenden Europäisierung und

damit zugleich zu einer Aufwertung der „Wilden“ führte.45

44 Ebd. 45 Vgl. Manfred Pfister, Any strange beast there makes a man: Shakespeare, die Elisabethaner und die Neue Welt als Tierkörperverwertungsanstalt, in: Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen, hg. von Kerstin Gernig, Berlin 2001, 59-93, hier bes. 66 ff.

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Abb. 5: Jacques Le Moyne de Morgues, Jungfrau der Picten

Eine genauere Analyse der Darstellung der „Jungfrau der Picten“ macht allerdings in

geradezu buchstäblicher Weise auf eine weitere zentrale Qualität der Parallelisierung

aufmerksam: den temporalen Aspekt des Vergleichs. Wie Paul Hulton nachweisen

konnte, hat Le Moyne für seine manieristische Darstellung der Körperbemalung eine

Vielfalt verschiedener Blumen benutzt, unter ihnen auch Arten aus der „Neuen Welt“,

wie die Wunderblume, den sogenannten „marvel of Peru“.46 So lässt sich eine

doppelte zeitliche Verschränkung feststellen: Mit der Angleichung der Indianer an die

Picten in Aussehen und Körperhaltung einerseits, der Bemalung der Pictin mit

Blumenmotiven aus der Neuen Welt andererseits wird eine spezifische temporale

Struktur in die Beziehungen zwischen „alter“ und „Neuer Welt“ eingeführt. Indem das

„damals“ der Picten und damit der „Alten Welt“ zum „jetzt“ der „Neuen Welt“ wird,

werden zeitliche und räumliche Distanz zum Äquivalent, Entwicklung wird zum

verbindenden Dritten zwischen Vergangenheit und Fremde - ein Aspekt, auf den

46 Paul Hulton, The Work of Jacques Le Moyne de Morgues, a Huguenot Artist in France, Florida and England, 2 vols. London, British Museum Publications, 1977, S. 164.

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Denise Albanese nachdrücklich hingewiesen hat.47. Dieser Effekt war zumindest

implizit schon bei der menschheitsgeschichtlichen Einordnung der Einwohner

Amerikas durch Acosta und seine Landnahmetheorie zu beobachten. Mit der

Einführung der Picten als Vergleichsgröße zu den Algonkin wird dieser Effekt

sinnfällig gemacht. Zugleich wird so die Modernität der eigenen Gegenwart

hervorgehoben, die als Überlegene konstruiert wird. Am Beispiel der Picten wird die

Verkehrung der Wertungen von alt und neu definiert, die in der

menschheitsgeschichtlichen Konstruktion Acostas bereits implizit thematisiert worden

war: Das frühneuzeitliche Europa beginnt sich gegen die Autorität der klassischen

Antike zu formieren. Den antiken Vorfahren wird nun nicht mehr länger die Rolle der

autoritativen Eltern, der Väter der gegenwärtigen Renaissancekultur zugesprochen,

sie werden vielmehr als Kindheitsstufe im Gang der Menschheitsentwicklung

gesehen, einer Entwicklung die in der Gegenwart des 16. Jahrhunderts zur Reife

kommt. Auf diese Weise positioniert sich die spätere Renaissance auch in diesem

Feld, aber wie Albanese betont keineswegs nur hier, selbst neu: Neuheit wird zu

Modernität, das Alte nicht mehr wie bei den frühen Humanisten zum Vorbild, sondern

zur Vorstufe, die auch als vergangene Last wahrgenommen wird.48 Bacon wird diese

Verschiebung einige Jahre später ganz generell für den Geltungsanspruch der

modernen Wissenschaft im Verhältnis zu den klassischen Autoritäten formulieren:

„Weiter nun hemmte und verzauberte die Menschen im Fortschritt in den

Wissenschaften die Ehrfurcht vor dem Alterum und vor den Männern, die in der

Philosophie großes Ansehen genossen, und denen die Menge zustimmte. [...] Die

Auffassung aber, die die Menschen von der Antike hegen, ist sorglos und entspricht

nicht einmal dem Wort. Denn für das Altertum ist doch in Wahrheit das Greisen- und

großväterliche Alter der Welt zu halten; und dies muß von unserer Zeit ausgesagt

werden und nicht von jenem jüngeren Zeitalter der Welt, in dem die Alten lebten.

Denn jenes ist zwar mit Rücksicht auf unsere Zeit älter und entfernter, in bezug auf

die Welt selbst aber neuer und jünger. Wie wir eine größere Kenntnis der

menschlichen Verhältnisse und ein reiferes Urteil mit Recht von einem Greis als von

einem Jüngling erwarten, wegen der Erfahrung und der Vielfalt und Menge der

Dinge, die er sah und hörte und bedachte, so kann man auch von unserer Zeit, wenn

47 Denise Albanese, New Science, New World, Durham and London 1996, v.a. Kap. 1: Making It New: History and Novelty in Early Modern Culture, S. 13-58; vgl. Auch Maike Christadler, Kleidung – Nacktheit – Haut. Die Haut als Membran zwischen “wild” und “zivilisiert”, erscheint 2004. 48 Vgl. auch Grafton, The Rest versus the West (wie Anm. 21), S. 79.

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sie nur ihre Kräfte erkennen, anwenden und anstrengen wollte, weit mehr als von

den alten Zeiten erwarten, ist sie doch für die Welt die ältere und um unzählige

Experimente und Beobachtungen vermehrt und bereichert.“49 Alt und jung werden so

in ein anderes Verhältnis zum Neuen gebracht: Nicht mehr die Qualität des

genealogischen Ursprungs oder der patriarchal-autoritär überhöhten Vorfahren,

sondern vielmehr die Qualität der akkumulierten Erfahrung zählt nun, sie ermöglicht

zugleich den Wechsel vom Wahrheitsanspruch qua Tradition zum

Wahrheitsanspruch qua Experiment – als Wahrheit des Neuen.

In diesem Punkt trifft sich diese Transformation mit einem weiteren Kennzeichen der

Repräsentation der Neuen Welten: Hier wird die vermeintliche oder tatsächliche

Aktualität der Informationen auf dem durch technologische Entwicklungen der frühen

Druckgeschichte und ihrer neuen Repräsentationsmöglichkeiten geprägten Markt

ganz explizit als Verkaufsargument eingesetzt.50 Acostas Aussage, wonach nicht der

Gegenstand seiner Beschreibung – die Neue Welt – neu sei, sondern vielmehr seine

Art der Darstellung, formuliert in besonders weitreichender und expliziter Form ein

Charakteristikum der kolonisierenden (alten) Welt im Umgang mit den zu

kolonisierenden (neuen) Welten: die anhaltende Herstellung von „Neuheit“, die nicht

nur über den Fortgang der europäischen Expansion informiert, sondern zugleich den

Prozess der Entdeckung permanent fortschreibt. Auf diese Weise können Leser in

immer neuen Geschichten und in immer neuen Auflagen am explorativen Habitus im

Umgang mit den bislang fremden Welten teilhaben und zugleich an einem Prozess

partizipieren, der die fortlaufende Konstruktion der „Neuen Welt“ trägt und diese Welt

damit zugleich als Welt expansiver Möglichkeiten und einer Dynamik des Neuen

festschreibt, die sich ihrerseits in den folgenden Jahrhunderten als permanentes

49 Bacon, Neues Organon (wie Anm. 1), Aphorismus 84, S. 178-181: „Rursus vero homines a progressu in scientiis detinuit et fere incantavit reverentia antiquitatis, et virorum qui in philosophia magni habiti sunt, authoritas, atque deinde consensus. Atque de consensu superius dictum est. De antiquitate autem, opinio quam homines de ipsa fovent, negligens omnino est, et vix verbo ispi congrua. Mundi enim senium et grandaevitas pro antiquitate vere habenda sunt; quae temporibus nostris tribui debent; non juniori aetati mundi, qualis apud antiquos fuit. Illa enim aetas, respectu nostri antiqua et major; respectu mundi ipsius nova et minor fuit. Atque revera quemadmodum majorem rerum humanarum notitiam et maturius judicium ab homine sene exspectamus quam a juvene, propter experientiam et rerum quas vidit et audivit et cogitavit varietatem et copiam; eodem modo et a nostra aetate (si vires suas nosset, et experiri et intendere vellet) majora multo quam a priscis temporibus expectari par est; utpote aetate mundi grandiore, et infnitis experimentis et observationibus aucta et cumulata.» 50 Hans-Jürgen, Bachorski, Das Erzählen neuer Welten. Medienwandel und Wahrheitsbeglaubigung, in: Gutenberg und die Neue Welt, hg. von Horst Wenzel, München 1995, S. 135-157 ; Peter Parshall, Prints as Objects of Consumption in Early Modern Europe, in: Journal of Medieval and Early Modern Sutdies 28/1 (1998), 19-36.

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Spiel mit der relationalen Positionierung zwischen neu, jung und alt erweisen wird. In

diesem Prozess kann „jung“ gleichbedeutend für unerfahren oder gar unzivilisiert

stehen, die junge Neue Welt wird dann zu derjenigen, die der Alten Welt an Autorität

unterlegen ist (und bleibt). Die nachhaltige Festschreibung Amerikas als „Neuer Welt“

kann aber auch die expansive Bewegung hervorheben, eine Bewegung die analog

der ständig fortschreitenden Wissenschaftsgeschichte mit dem immer wieder neu

Gefundenen den Anspruch auf Wahrheit verbindet, eine Welt die „immer noch“ neu

ist. Eine solche Welt konstruiert sich im „Akt kreativer Zerstörung“, wie Philip Fisher

in Abwandlung von Schumpeter hervorhebt, als Überlegene, in der nur das

Kommende zählt.51 Die wechselnde Positionierung im Spiel zwischen „alt“, „jung“ und

„neu“ und den mit ihnen legitimierten Ansprüchen erweist so ihre langanhaltende

Aktualität bis hinein in die Gegenwart. Auch und gerade in diesem Verhältnis erweist

sich die Aussage von Acosta, wonach die Neuheit keine der „Neuen Welt“ inhärente

Qualität, sondern vielmehr eine Frage der (Beschreibungs-)Kriterien sei, als nach wie

vor gültig.

51 Philip Fisher, Still the New World. American Literature in a Culture of Creative Destruction, Cambridge, Mass. 1999, 1-30.

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