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Als Ich Vom Himmel Fiel

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Für meine Mutter,die ihr kurzes Leben der Vogelwelt Perus widmete undviel zu früh von meiner Seite gerissen wurde

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenenBuchausgabe1.Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95282-8© Piper Verlag GmbH, München 2011Textfassung: Juliane Koepcke in Zusammenarbeit mit Beate RygiertKonzeption und Realisation: Ariadne-Buch, Christine Proske, MünchenRedaktion: Gabriele Ernst, IckingUmschlag: Birgit Kohlhaas, EglingUmschlagmotive: Remi Benali/Corbis (oben); Erich Diller (unten)Karte: Eckehard Radehose, SchlierseeDatenkonvertierung E-Book: Fotosatz Amann, Aichstetten

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Viele Menschen wundern sich, wie ich es schaffe, noch immerin Flugzeuge zu steigen. Denn ich gehöre zu den wenigen, dieeinen Flugzeugabsturz aus großer Höhe überlebt haben. EineKatastrophe, die sich 3000 Meter über dem peruanischenRegenwald ereignete. Doch damit nicht genug: Danach schlugich mich elf Tage lang auf mich allein gestellt durch denDschungel. Damals, als ich vom Himmel fiel, war ich gerademal 17 Jahre alt.

Heute bin ich 56. Ein gutes Alter, um sich zu erinnern. Einguter Zeitpunkt, um sich alten, nie verheilten Wunden zu stellenund die Erinnerungen, die nach all den Jahren genauso frischund lebendig sind, mit anderen Menschen zu teilen. DerAbsturz, den ich als Einzige überlebte, hat mein weiteresLeben geprägt, ihm eine neue Richtung gewiesen und michdahin geführt, wo ich heute bin. Damals waren die Zeitungen inaller Welt voll mit meiner Geschichte. Darunter waren aberauch viele Halbwahrheiten und Berichte, die mit dentatsächlichen Begebenheiten wenig zu tun hatten. Sie sorgtendafür, dass mich auch heute noch ständig Menschen auf denAbsturz ansprechen. Jeder scheint meine Geschichte zukennen, und doch hat kaum jemand eine echte Vorstellungdavon, was damals wirklich geschah.

Natürlich ist es nicht so einfach zu verstehen, dass ich nachelf Tagen Überlebenskampf in der »Grünen Hölle desDschungels« den Regenwald immer noch liebe. Die Wahrheitist: Für mich war er niemals eine »Grüne Hölle«. Damals, alsich aus so großer Höhe auf die Erde stürzte, rettete mir derWald das Leben. Ohne die abmildernde Wirkung der Blätter

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Wald das Leben. Ohne die abmildernde Wirkung der Blättervon Bäumen und Büschen hätte ich den Aufprall auf denBoden niemals überleben können. Während meiner Ohnmachthat er mich vor der tropischen Sonne beschirmt. Und späterhalf er mir, aus der unberührten Wildnis meinen Weg zurück indie Zivilisation zu finden.

Wäre ich ein reines Stadtkind gewesen, die Rückkehr insLeben wäre mir nicht gelungen. Mein Glück war es, dass ichbereits einige Jahre meines jungen Lebens im Urwaldverbracht hatte. Meine Eltern hatten 1968 ihren Traum in dieTat umgesetzt und mitten im peruanischen Regenwald einebiologische Forschungsstation gegründet. Damals war ich14 Jahre alt und nicht sonderlich begeistert davon, meineFreundinnen in Lima zurückzulassen und mit Eltern, Sack undPack und Hund und Wellensittich in die »Einöde« zu ziehen.Jedenfalls stellte ich es mir damals so vor, obwohl mich meineEltern schon von Kindesbeinen an auf ihre Expeditionenmitgenommen hatten.

Der Umzug in den Urwald war ein echtes Abenteuer. Dortangekommen, verliebte ich mich sofort in dieses Leben, soeinfach und bescheiden es auch sein mochte. Fast zwei Jahrelang lebte ich in Panguana, wie meine Eltern dieForschungsstation nach einem einheimischen Vogel getaufthatten. Ich wurde von ihnen unterrichtet und ging ansonsten indie Schule des Urwalds. Dort lernte ich seine Regeln, seineGesetze und Bewohner kennen. Ich machte mich mit derPflanzenwelt vertraut, erschloss mir die Welt der Tiere. Nichtumsonst war ich die Tochter zweier bekannter Zoologen:Meine Mutter, Maria Koepcke, war die führende OrnithologinPerus. Und mein Vater, Hans-Wilhelm Koepcke, ist der

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Perus. Und mein Vater, Hans-Wilhelm Koepcke, ist derVerfasser eines wichtigen Gesamtwerks über dieLebensformen der Tier- und Pflanzenwelt. In Panguana wurdeder Urwald zu meinem Zuhause, und dort lernte ich, welcheGefahren in ihm drohen und welche nicht. Ich war vertraut mitden Verhaltensregeln, mit denen ein Mensch in dieserextremen Umgebung überleben kann. Bereits als kleines Kindwurden meine Sinne geschärft für die unglaublichen Wunder,die dieser Lebensraum in sich birgt, der im Hinblick auf diebiologische Vielfalt, die Biodiversität, weltweit eineSpitzenposition einnimmt. Ja, schon damals lernte ich, denUrwald zu lieben.

Jene elf Tage fernab von Siedlungen mitten im TropischenRegenwald, elf Tage, während deren ich keine menschlicheStimme hörte und nicht wusste, wo ich mich befand, jene ganzbesonderen Tage haben meine Verbundenheit noch vertieft.Damals bildete sich ein Band zwischen mir und dem Urwald,das mein späteres Leben entscheidend beeinflusst hat und esauch heute noch tut. Früh lernte ich, dass man nur vor DingenAngst hat, die man nicht kennt. Der Mensch hat die Tendenz,alles zu vernichten, wovor er sich fürchtet, selbst wenn erdessen Wert noch gar nicht ermessen kann. Während meineseinsamen Wegs zurück in die Zivilisation habe ich mich oftgefürchtet, aber niemals vor dem Urwald. Er konnte nichtsdafür, dass ich in ihm gelandet war. Die Natur ist immer gleich,ob wir da sind oder nicht, es kümmert sie nicht. Wir aber –auch das habe ich während jener elf Tage am eigenen Leiberfahren – können ohne sie nicht überleben.

Das alles ist für mich Grund genug, die Erhaltung dieses

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Das alles ist für mich Grund genug, die Erhaltung dieseseinzigartigen Ökosystems zu meiner zentralen Lebensaufgabezu machen. Meine Eltern hinterließen mir mit Panguana einErbe, das ich aus ganzem Herzen angenommen habe. Undheute führe ich dort ihr Werk in eine entscheidende Phase:Panguana, größer denn je, soll zum Naturschutzgebiet erklärtwerden. Damit erfüllt sich nicht nur der Lebenstraum meinesVaters, für den er jahrzehntelang gekämpft hat, sondern wirleisten so auch einen wertvollen Beitrag zur Erhaltung desAmazonas-Regenwalds, nicht zuletzt, um der globalenKlimakatastrophe entgegenzuwirken. Der Regenwald stecktnicht nur voller Wunder, von denen wir die meisten noch nichteinmal kennen. Seine Erhaltung als grüne Lunge der Erde istauch entscheidend für den Fortbestand einer äußerst jungenSpezies auf diesem Planeten: des Menschen.

2011 jährt sich die Flugzeugkatastrophe von 1971 zumvierzigsten Mal. In all diesen Jahren wurde viel über meinen»Unfall«, wie ich den Absturz nenne, geschrieben. UnzähligeZeitungsseiten wurden mit dem gefüllt, was die Menschen für»Julianes Geschichte« halten. Darunter waren mitunter guteBeiträge, aber leider auch viele, die wenig mit der Wahrheit zutun hatten. Es gab eine Zeit, als mich die Aufmerksamkeit derMedien fast erdrückte. Um mich zu schützen, habe ichjahrelang geschwiegen, habe ich jedes Interview abgelehnt undmich ganz zurückgezogen. Nun aber ist es an der Zeit, meinSchweigen zu brechen und zu erzählen, wie es wirklich war.Deshalb sitze ich jetzt am Flughafen München auf gepacktenKoffern, um eine Reise anzutreten, die für mich aus zweiGründen wichtig sein wird: um das Ziel zu erreichen, dasNaturschutzgebiet Panguana zu errichten. Und um mich meiner

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Naturschutzgebiet Panguana zu errichten. Und um mich meinerVergangenheit zu stellen. Vergangenheit, Gegenwart undZukunft werden so sinnvoll zusammengeführt. Das, was mirdamals zustieß, und die Frage, warum ausgerechnet ich alsEinzige die Katastrophe der LANSA überleben durfte – alldas erhält nun endlich eine tiefere Bedeutung.

Und dann sitze ich im Flugzeug. Ja, die Menschen wundernsich sehr, wie ich es schaffe, immer wieder in Flugzeuge zusteigen. Ich schaffe es durch Willenskraft und Disziplin. Ichschaffe es, weil ich es schaffen muss, will ich in den Dschungelzurückkehren. Doch es ist schwer. Das Flugzeug rollt an, wirheben ab, wir steigen auf, wir tauchen tief ein in die dichteWolkendecke am Himmel über München. Ich sehe aus demFenster, und auf einmal sehe ich…

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…diese schwarzen, undurchdringlichen Wolken und zuckendeBlitze. Wir sind in ein schweres Gewitter geraten, und der Pilotfliegt geradewegs in diesen Hexenkessel hinein. Das Flugzeugwird zum Spielball des Orkans. Aus Ablagen fallenGepäckstücke und weihnachtlich verpackte Geschenke aufuns herab, Blumen und Spielsachen. Das Flugzeug stürztunvermittelt in tiefe Luftlöcher und steigt dann rasant wiederan. Die Menschen kreischen vor Angst. Und plötzlich ist dadieser grelle Blitz über dem rechten Flugzeugflügel…

Ich atme tief durch. Über mir erlischt das Zeichen, ich kannmeinen Gurt lösen. Wir sind kurz hinter München, und unserFlugzeug hat seine reguläre Flughöhe erreicht. Nach einerZwischenlandung in Madrid werden mein Mann und ich dieMaschine nach Lima besteigen. Zwölf Stunden liegen dannnoch vor mir, zwölf Stunden höchster Anspannung rund zehnKilometer über der Erde. Über Portugal werden wir dann dasFestland hinter uns lassen und den Atlantik überqueren.

Will ich zurück in das Land, in dem ich geboren wurde,bleibt mir keine andere Wahl. Auch im Zeitalter des Billigflugsist eine Reise um den halben Globus kein Kinderspiel. Ichwechsle nicht nur den Kontinent, ich wechsle auch dieZeitzone, das Klima und die Jahreszeit. Ist bei uns Frühling,bricht in Peru der Herbst an. Und selbst innerhalb Perus erlebeich zwei verschiedene Klimazonen: die gemäßigte in Lima unddie tropische im Regenwald. Vor allem aber ist es jedes Malfür mich eine Reise in die Vergangenheit, denn in Peru kam ichzur Welt, in Peru wuchs ich auf, und in Peru geschah jenes

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zur Welt, in Peru wuchs ich auf, und in Peru geschah jenesEreignis, das mein Leben von Grund auf ändern sollte: Ichstürzte mit einem Flugzeug ab, überlebte wie durch einWunder sogar noch viele Tage ganz allein auf mich gestelltinmitten des Dschungels und fand den Weg zurück zu denMenschen. Damals wurde mir mein Leben ein zweites Malgeschenkt, es war wie eine zweite Geburt. Nur dass diesmalmeine Mutter ihr Leben verlor.

Meine Mutter erzählte mir oft, wie glücklich sie war,damals, als sie mit mir schwanger wurde. Meine Elternbetrieben ihre intensiven Forschungen gemeinsam und liebtenihre Arbeit über alles. Sie hatten sich in Kiel während desStudiums kennengelernt, und da es im Nachkriegsdeutschlandfür promovierte und leidenschaftliche Biologen schwierig war,eine angemessene Stelle zu finden, hatte mein Vater sich dazuentschlossen, in ein Land mit einer hohen, noch nichterforschten Biodiversität auszuwandern. Seine damaligeVerlobte, Maria von Mikulicz-Radecki, war begeistert vondem Plan und kam nach ihrer Promotion nach, was damals einunerhörtes Unterfangen für eine unverheiratete junge Damewar. Meinem Großvater war es gar nicht recht, dass meineMutter die weite Reise ganz allein antrat. Doch wenn sie sicheinmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte man esihr nicht mehr ausreden. Mein Mann behauptet übrigens, dashätte ich von ihr geerbt.

In der Kathedrale des Stadtteils Miraflores in Limaheirateten sie bald nach ihrer Ankunft in der Neuen Welt.Enttäuscht war meine Mutter darüber, dass sie als Katholikinmeinem Vater, der evangelisch war, nicht am Hauptaltar,sondern in einer kleinen Nebenkapelle angetraut wurde.

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sondern in einer kleinen Nebenkapelle angetraut wurde.Damals waren ökumenische Heiraten in der Minderzahl, undder katholische Pfarrer versuchte in der Folge, sehr auf meineMutter einzuwirken, dass sie meinen Vater »zum rechtenGlauben führen möge«. Dieses Insistieren verärgerte meineMutter derart, dass sie aufhörte, den katholischen Gottesdienstzu besuchen, und sich nach meiner Geburt auch entschloss,mich nicht katholisch, sondern evangelisch taufen zu lassen.

Damals, als meine Eltern getraut wurden, sprach meineMutter noch kein Spanisch, und darum konnte sie derTrauungszeremonie nicht folgen. Irgendwann wurde es seltsamstill in der Kirche, und dann sagte der Priester: »Señora, Siemüssen jetzt sí sagen.«

Und »Sí« – also »Ja« – haben beide aus vollem Herzengesagt. Nicht nur zueinander, sondern auch zu der Art vonLeben, das sie gemeinsam führen wollten. Aus ihrer kleinenWohnung zogen sie bald in ein größeres Haus, das Freundengehörte, und hier kam ich zur Welt. Später gründeten sie einpaar Straßen weiter das damals in Forscherkreisen bekannte»Humboldt-Haus«, in dem sie Zimmer an durchreisendeWissenschaftler aus aller Welt untervermieteten. Ihren privatenTeil trennten sie einfach mit Vorhängen ab. Das »Humboldt-Haus« in Miraflores sollte als Treffpunkt und Basisstationnamhafter Wissenschaftler in die Geschichte eingehen.

Obwohl also beide mit Leib und Seele an ihrer Arbeithingen, war ich ein absolutes Wunschkind. Mein Vater freutesich auf ein Mädchen, und als ich an einem Sonntag im Jahr1954 abends um sieben in der Clínica Delgado im StadtteilMiraflores von Lima zur Welt kam, ging sein Wunsch inErfüllung. Ich war ein Achtmonatskind, kam viel zu früh und

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Erfüllung. Ich war ein Achtmonatskind, kam viel zu früh undmusste erst in den Brutkasten. Vielleicht war es ein gutesOmen, dass meine Eltern beschlossen, mir den Namen Julianezu geben. Es bedeutet »die Heitere« – ich finde, der Namepasst gut zu mir.

Zu jener Zeit lebten auch die Mutter meines Vaters undseine Schwester Cordula bei uns in Peru. Meine Großmutterwollte einige Jahre in jenem Land verbringen, in das zwei ihrerSöhne ausgewandert waren. Denn nachdem mein Vater hierFuß gefasst hatte, entschied sich auch sein jüngerer BruderJoachim im Jahr 1951 dafür, sich hier eine Existenzaufzubauen. Er arbeitete als Verwalter auf verschiedenengroßen Haciendas im Norden des Landes, eine war sogar sogroß wie ganz Belgien. Meine Eltern besuchten Onkel Joachimmehrere Male dort in Taulís, das für sie als Zoologen einungemein interessantes Gebiet war. Da nämlich hier die Andenmit 2000 Metern Höhe relativ niedrig sind, findet einungewöhnlicher Floren- und Faunen-Austausch zwischen derOst- und Westseite dieses Gebirges statt, und meine Elternentdeckten dort einige neue Tierarten. Doch völlig unerwartetund während der Abreiseplanungen meiner Großmutter undTante in Deutschland verunglückte mein Onkel Joachim inTaulís tödlich. Eben noch kerngesund, verstarb er innerhalbvon weniger als zwei Stunden unter Krämpfen, und bis heuteist nicht geklärt, ob er an Tetanus erkrankte odermöglicherweise einer Vergiftung durch Schlafmohnbauern,denen er auf die Schliche gekommen war, zum Opfer fiel.

Mutter und Schwester hatten aber zuhause bereits allesaufgelöst und beschlossen nun, trotzdem zu kommen. So hatteich das Glück, in den ersten Jahren meiner Kindheit nicht nur

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ich das Glück, in den ersten Jahren meiner Kindheit nicht nurVater und Mutter, sondern auch Großmutter und Tante ummich zu haben. Die beiden blieben sechs Jahre in Peru, meineTante arbeitete zeitweise als Chefredakteurin der»Peruanischen Post«, einer deutschen Zeitung in Lima. Dannkehrten sie wieder in ihre Heimat zurück, meine Tante wegenbesserer beruflicher Möglichkeiten und meine Großmutter ausgesundheitlichen Gründen und wohl auch, weil sie Heimwehnach Deutschland hatte.

Ich wuchs mit beiden Sprachen auf, mit Spanisch undDeutsch. Letzteres sprach man zuhause, und meine Elternlegten großen Wert darauf, dass ich ihre Mutterspracheperfekt lernte. Das war gar nicht selbstverständlich, einigemeiner deutschstämmigen Schulfreundinnen beherrschten dieSprache ihrer Vorväter nur fehlerhaft. Spanisch sprach ich mitmeinen peruanischen Freundinnen, mit unserem Hausmädchenund später auch in der Schule. Meine Eltern hatten dieseSprache erst richtig in Peru gelernt, und obwohl sie geschicktdamit umgingen, schlichen sich immer wieder ein paar Fehlerein. Doch die Peruaner sind höfliche Menschen. Als meineMutter einmal erzählen wollte, wie ein Auto »mit Karacho umdie Ecke bog«, und es ziemlich wörtlich übersetzte, da wurdesie sanft darauf hingewiesen: »Natürlich können Sie das sosagen, Señora, aber vielleicht sollten Sie es nicht«, denn»carajo« ist im Spanischen ein ziemlich vulgärer Ausdruck, deneine Dame eigentlich nicht in den Mund nehmen darf. EinesTages, da war ich schon fast erwachsen, fiel mir auf, dass michmein Vater auf Spanisch siezte. Da sagte ich zu ihm: »Daskannst du doch nicht machen, ich bin doch deine Tochter!« Eraber wurde ganz verlegen und gestand mir, dass er die »Du-

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aber wurde ganz verlegen und gestand mir, dass er die »Du-Form« nie richtig gelernt habe. Er war ein sehr förmlicherMensch, hatte wenige Duzfreunde und gebrauchte daherausnahmslos die Höflichkeitsform.

In Lima besuchte ich die deutsch-peruanische Alexander-von-Humboldt-Schule. Eigentlich fand der Unterricht meist aufDeutsch statt, doch die damalige Militärregierung legte Wertdarauf, dass Fächer wie Geschichte und Länderkunde aufSpanisch gehalten wurden. Ich habe meine Schulzeit als sehrangenehm in Erinnerung, auch wenn die peruanischenMitschüler aus sehr viel besseren Kreisen stammten. KeinWunder, denn man musste eine Schulgebühr bezahlen, die sichärmere Familien nicht leisten konnten. Am Ende der Schulzeitschloss sich eine obligatorische Reise an, die in Peru »Viaje dePromoción« genannt wird. Die machte ich mit, doch dasAbitur fiel für mich aus. Dabei wäre extra eine deutscheAbordnung angereist, um uns darin zu prüfen. Doch ein Flugüber die Anden sollte alles ändern.

Kam ich von der Schule nach Hause, war ich umgeben vonTieren. Meine Mutter brachte als Ornithologin ständig Vögelins Haus, die sich verletzt hatten oder angeschossen wordenwaren und die wir wieder aufpäppelten. Eine Zeit lang warenSteißhühner, auch Tinamus genannt, ihr hauptsächlichesStudienobjekt. Das ist eine Vogelordnung, die äußerlichÄhnlichkeiten mit Rebhühnern aufweist, mit diesen aber nichtnäher verwandt ist und nur in Süd- und Mittelamerikavorkommt. Lustig ist, wenn man ihr Gebaren mit demsüdamerikanischen Machismo vergleicht. Bei denSteißhühnern haben nämlich die Weibchen das Sagen: Sie

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Steißhühnern haben nämlich die Weibchen das Sagen: Siehaben gleich mehrere Männchen, und die müssen ganz schönran. Sie bauen das Nest, haben die Eier auszubrüten und dieJungen aufzuziehen, während das Weibchen das Revierverteidigt. Das brachte Probleme in der Zucht mit sich: Wollteein Männchen vom Nest, um etwas zu fressen, wurde es vomWeibchen prompt wieder auf die Eier gejagt. Die warenübrigens braun wie Schokolade und glänzend wie Porzellan.Manchmal zogen wir auch geschlüpfte Küken auf. Wirfütterten sie vorsichtig mit der Pipette. Am liebsten mochten sieeine Mischung aus hart gekochtem Ei, Hackfleisch undVitaminpräparaten. Meine Mutter hatte dafür ein echtesHändchen: Kein einziges Mal ist ihr ein Küken bei derAufzucht gestorben. Ich war damals für die Namensgebungzuständig. Da fielen mir die tollsten Sachen ein: Eine großeEidechse taufte ich Krokodeckchen, und meine dreiSteißhühner nannte ich Piups, Polsterchen undKastanienäuglein. Ursprünglich stammen diese Tiere aus einermagischen Landschaft. Sie heißt Lomas de Lachay und ist einFeuchtluftwüstengebiet an der Pazifikküste. Durch Teile vonPeru zieht sich eine äußerst trockene Wüste, die Atacama.Weil draußen im Meer der kalte Humboldtstrom vorbeifließt,bildet sich eine dichte Nebeldecke, Garúa genannt, die anbestimmten Stellen, an denen sie an die Andenabhänge stößt,für eine erstaunlich üppige Vegetation sorgt. Mitten in derWüste trifft man deshalb an diesen Orten auf farbenprächtigePflanzeninseln. Meine Eltern haben mich ein paar Mal dorthinmitgenommen. Diese blühende Oase mitten im Einerlei derbraunen Wüste erschien mir bei jedem Besuch als ein echtesWunder. Und dort kamen unsere Steißhühner her.

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Wunder. Und dort kamen unsere Steißhühner her.Außerdem lebte ein bunter Papagei namens Tobias bei uns,

den ich, noch ehe ich sprechen lernte, »Bio« nannte. Bio warschon vor meiner Geburt im Haus und konnte mich anfangsnicht leiden, denn er war eifersüchtig. Näherte ich mich ihm alsKleinkind, voller Begeisterung »Bio, Bio« rufend, dann hackteer nach mir, bis er mich schließlich notgedrungen akzeptierte.Tobias war ein sehr kluger Papagei, der es gar nicht mochte,wenn sein Käfig verschmutzt war. Musste er mal, gab er einbestimmtes Geräusch von sich. Das war für uns das Zeichen,Tobias aus dem Käfig zu nehmen und zur Toilette zu bringen.Ja, zur richtigen Menschentoilette! Wir hielten ihn über dieSchüssel, und – plumps – machte er sein Geschäft. Als Tobiaseines Tages einen Herzanfall erlitt, kurierte ihn meine Muttermit italienischem Cinzano. Der kurbelte seinen Kreislauf an,und wen wundert’s: Von diesem Tag an war er Fan diesesAperitifs. Wann immer Gäste kamen, watschelte Tobias daherund wollte ebenfalls sein Schlückchen haben.

In einem Brief an eine Freundin in Deutschland schriebmeine Mutter von meiner großen Begeisterung für den Urwald,als sie mich zum ersten Mal an den Río Pachitea, der späterfür mein Leben so wichtig werden sollte, mitnahmen. Damalswar ich erst fünf Jahre alt:

»Sie findet sich erstaunlich gut mit jeder Situation zurecht,zum Beispiel im Zelt oder im Schlafsack auf derGummimatratze am Strand oder auf einem Boot schlafen, dassind für sie alles interessante Dinge. Und Du musst Dir dieStimmung auf dem Río Pachitea vorstellen: der dämmerigeMorgen oder Abend mit dichtem Nebel, mit den Rufen derBrüllaffen, der Fluss silbrig-grün, dicht am Boot die hohe

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Brüllaffen, der Fluss silbrig-grün, dicht am Boot die hoheMauer des dunklen Urwalds, aus dem das vielstimmigeKonzert der Grillen und Zikaden heraustönt, man hat dasGefühl, sich wirklich noch in der Urnatur zu befinden. Julianewar wohl am meisten von den blühenden Bäumen begeistertund von der Vielfalt und Formenschönheit der Blätter, sie hatsich schon ein Herbar angelegt…«

Als ich neun Jahre alt war, besuchte uns der belgischeTierfänger Charles Cordier mit Frau und Menagerie. Cordierwurde von bekannten zoologischen Gärten auf der ganzenWelt beauftragt, Exemplare bestimmter Tierarten einzufangen.Er besaß einen überaus intelligenten Graupapagei namensKazuco, der konnte so hervorragend sprechen, wie ich esdanach nie wieder bei einem Papagei erlebte. Es gab auchnoch die Boxerhündin Böcki und die Eule Skadi, die nachts imBadezimmer herumfliegen durfte. Monsieur Cordier ließ dafürextra Mäuse frei, damit die Eule sie fangen konnte. Manchmalschlug sie auch Papis Rasierpinsel, weil der so ähnlich aussah.Kazuco, der Graupapagei aus dem Kongo, begrüßte einenmorgens mit »Good morning« und abends mit »Goodevening«. Ich war überaus fasziniert von dem schlauenKerlchen, der auch »Böcki, sitz!« sagen konnte, worauf sichdie Boxerhündin tatsächlich hinsetzte. Kazuco fassteGeräusche und Sätze unglaublich schnell auf, und während derTage im Humboldt-Haus lernte er zu sagen: »Lima has twomillion people.« Ich streichelte so gerne sein prächtiges grauschattiertes Federkleid, da biss er mich einmal kräftig in denFinger – ich habe noch heute eine Narbe davon. Leider starbunser Tobias im selben Jahr an einer Lungenentzündung.

Ich selbst wurde im Jahr darauf schwer krank – und das

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Ich selbst wurde im Jahr darauf schwer krank – und dasausgerechnet in den großen Ferien! Ich bekam Scharlach, wasmeine Eltern sehr alarmierte, denn die jüngste Schwestermeines Vaters war im selben Alter an dieser Krankheitgestorben. Ich war ja immer so klein, dünn und schwächlich,und darum atmete die ganze Familie auf, als ich nach vielenWochen wieder auf den Beinen war und mich um meine Tierekümmern konnte.

Auch von Hunden war ich von klein auf restlos begeistert.Bereits im Alter von drei Jahren bekam ich einenWachtelhund. Ich liebte Ajax heiß und innig. Leider musstenwir ihn wieder weggeben, weil er mehr Auslauf brauchte, alses in der Großstadt möglich war, und er ständig unserenGarten verwüstete. Was war ich da traurig!

Umso seliger war ich, als sich mir im Alter von neun Jahrenendlich ein lange gehegter Wunsch erfüllte: Wir gingen insTierheim, wo schon Lobo auf mich wartete. Lobo war einwunderschöner Schäferhundmischling, der später auch denUmzug von Lima in den Dschungel nach Panguana mitmachteund stolze 18 Jahre alt wurde.

Manche Vögel kamen sogar ganz von selbst zu uns, geradeso, als hätte es sich herumgesprochen, dass es ihnen bei unsgut gehen würde. Eines Tages flatterte eine riesige Andenamselherein, und natürlich blieb auch sie. Meine Eltern hatten geradeBesuch von amerikanischen Ornithologen der UniversitätBerkeley, die ihr gleich den richtigen Namen verpassten. Sienannten die Amsel »Professor«, wegen ihrer gelb umrandetenAugen, die ihr einen bebrillten, intelligenten Touch gaben.Neben dem Professor – den ich allerdings Franziska nannte –hatten wir noch eine Gelbstirn-Amazone sowie eine

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hatten wir noch eine Gelbstirn-Amazone sowie eineSonnenralle. Das sind unbeschreiblich schöne Vögel, breitensie ihre Flügel aus, entfaltet sich ein bunter Fächer imSpektrum leuchtender Erdfarben. Später, im Urwald vonPanguana, profitierte ich von meinen frühen Erfahrungen. Alsmir Indianer Zwergpapageien brachten, die sie ganz klein ausden Nestern geholt hatten, gelang es mir, sie aufzuziehen.Nach Ureinwohnerart kaute ich Bananen vor und steckteihnen den Brei in den Schnabel. Auf diese Weise wurden sieerstaunlich zahm.

Seltene Vögel gab es auch in der Nähe von Lima, in einerunzugänglichen Bucht direkt am Meer. Dort fuhren meineEltern gerne hin, und während sie ihren Beobachtungennachgingen, spielte ich am Strand und holte mir dabei häufigeinen Sonnenbrand. Was kein Wunder ist, schließlich liegtLima nur wenige Breitengrade vom Äquator entfernt. MeinHautarzt sagt jedenfalls heute noch: »Also Ihr Rücken, der hatwirklich schon zu viel Sonne gesehen.« Wie recht er damit hat!Damals war man noch sorglos beim Sonnenbaden. Ähnlichwar es auch mit Flöhen. Wir führten immer eine Druckdosemit DDT mit – an so etwas wäre heute nicht mehr zu denken!

An diesem Strand lebten winzige Krebse, die Muymuyheißen. »Muy« ist das spanische Wort für viele – dieWortdoppelung sagt einiges über die Art ihres Auftretens aus.Manchmal bedeckten sie den ganzen Strand am Wellensaumentlang, und wenn man ins Wasser wollte, musste man barfußüber sie drüberlaufen. Das fühlte sich wirklich komisch an!Doch ich war ein Mädchen, das keine Furcht und keinen Ekelvor den Auswüchsen der Natur kannte, und rannte so schnellich konnte über sie hinweg und stürzte mich dann ins Wasser.

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ich konnte über sie hinweg und stürzte mich dann ins Wasser.Mein Vater hatte damals, als er nach jahrelanger Odyssee

endlich nach Lima kam, ein Empfehlungsschreiben an dieTochter eines Admirals, der mit meinem Großvatermütterlicherseits bekannt war, in der Tasche. Als er völligabgerissen vor jener Haustür auftauchte, da wollte man ihnzunächst nicht einmal hereinlassen. Das Empfehlungsschreibenallerdings öffnete ihm nicht nur die Tür, sondern auch dieHerzen dieser Menschen, die später meine Paten wurden. Sokam es, dass neben unserem Zuhause – dem Humboldt-Haus – das Haus meines Patenonkels einer meiner liebstenAufenthaltsorte in Lima wurde. Mein Patenonkel und seineFamilie waren ebenfalls Deutsche und machten in Peru einVermögen durch den Handel mit Baumwolle und Papier. Alsmeine Mutter nach Lima kam, richteten diese treuen Freundesogar die Hochzeit meiner Eltern aus. Bis zu meinem14.Lebensjahr verbrachte ich oft die Ferien dort. Ich liebtedas Haus, im Bauhausstil errichtet, mit seinem zauberhaftenGarten, Swimmingpool und Goldfischteich, in dem ichschwimmen lernte. In diesem Garten ließ ich auch manchmalmeine Steißhühner frei herumlaufen, die ich stets in einemKäfig mitbrachte. Noch heute sehe ich mich die Straße vomHumboldt-Haus hinunter zur Küste entlanggehen, in der einenHand den Käfig mit Polsterchen und Kastanienäuglein, in deranderen meine Tasche. Das Haus steht in bevorzugter Lage ander Steilküste, die von der Stadt zum Pazifik hin abfällt.Damals standen in dieser Gegend lauter solche Villen. Werdort wohnte, konnte sich viel Personal leisten. Meine Elternaber lebten viel einfacher und wollten es auch so haben, für siewar es wichtig, »dass man bodenständig« blieb. Doch viele

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war es wichtig, »dass man bodenständig« blieb. Doch vielemeiner Schulkameradinnen wuchsen mit Dienstboten auf.Mussten sie mal niesen, riefen manche gleich nach ihremMädchen, damit es ihnen ein Taschentuch und ein GlasWasser brachte.

Was war das für ein Schock, als ich bei einem meinerspäteren Besuche einmal wieder in die Gegend kam und rundum das Haus meines Paten lauter Hochhäuser wie Riesenpilzeaus dem Boden geschossen waren! Wie winzig duckt sich jetztdas eigentlich großzügige und geräumige Haus in den Schattendieser architektonischen Giganten! Alle anderen Villen sindinzwischen abgerissen worden, ihre früheren Besitzerverkauften sie für teures Geld. Nur die Tochter meines Patenweigert sich standhaft, es ihnen gleichzutun. Sie änderte nichteinmal ihre Meinung, als in unmittelbarer Nachbarschaft einVergnügungspark errichtet wurde. Und so ist ihr Haus einbeständiger Zeuge aus den Jahren meiner Kindheit, einKontinuum im Wandel der Zeiten.

Auch das Haus meiner Eltern, das Humboldt-Haus, stehtheute nicht mehr. Wie in jeder Metropole dieser Weltverändern sich die Viertel auch in Lima schneller, als man essich manchmal wünscht. Die Straßen meiner Kindheit sindzwar heute noch ruhig und sicher – doch als ich das erste Malentdeckte, dass das Haus verschwunden war, überkam micheine große Traurigkeit. Wenn zur Gewissheit wird, dass einemab jetzt nur noch die Erinnerung bleibt: wie das Humboldt-Haus häufig bis unters Dach mit Wissenschaftlern wieOrnithologen, Geologen und Kakteenforschern angefüllt war.Sie kamen von überall her, aus der Schweiz, aus Deutschland,Amerika, Australien. Jedes der drei Gästezimmer hatte ein

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Amerika, Australien. Jedes der drei Gästezimmer hatte eineigenes Bad, und für alle Gastforscher zusammen gab es einriesiges Arbeitszimmer, eine Bibliothek und eineGemeinschaftsküche. Unterstützung erhielten dieForschungsreisenden durch das Deutsche Auswärtige Amtund die 1955 gegründete Deutsche Ibero-Amerika-Stiftung,und mein Vater vermittelte in der Regel eine Art Stipendiumdurch das peruanische Ackerbauministerium für die Kostenvor Ort. Gingen die Wissenschaftler dann auf ihreExpeditionen, konnten sie ihre Sachen bei uns einlagern.Kamen sie zurück, hatten sie immer viel zu erzählen und zuzeigen. Für mich war das eine herrliche Zeit.

Wie zerbrechlich dieses Glück jedoch war, das erlebtenmeine Eltern, als sie kein halbes Jahr nach meiner Geburtbereits eine zweimonatige Reise in den Urwald planten. Ichblieb wohlversorgt bei Tante und Großmutter zurück. Dochbereits acht Tage nach ihrer Abreise ereignete sich einUnglück im Bergregenwald am östlichen Andenabhang. EinLKW schleuderte ein abgerissenes Überlandtelefonkabel mitrasender Geschwindigkeit durch die Luft, undunglücklicherweise riss es meine beiden Eltern um undverletzte sie schwer. Mein Vater erlitt zahlreicheSchnittwunden und eine Gehirnerschütterung, brach sichaußerdem ein Schlüsselbein und eine Rippe. Meine Mutter lagzunächst bewusstlos da und blutete stark. Es stellte sichheraus, dass sie eine Schädelfraktur erlitten hatte. Sie mussteviele Wochen lang liegen und erholte sich nur langsam. An denUnfall und die Zeit danach hatte sie später keine Erinnerungmehr, auch hatte sie ihren Geruchs- und teilweise denGeschmackssinn eingebüßt. Ihr Leben lang plagte sie häufiges

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Geschmackssinn eingebüßt. Ihr Leben lang plagte sie häufigesKopfweh. Das hielt sie aber nicht davon ab, einmal genesen,ihren Forschungsarbeiten wieder nachzugehen. »Vielschlimmer wäre«, pflegte sie zu sagen, »wenn ich nichts mehrsehen könnte.«

Sobald es möglich war, nahmen mich meine Eltern mit aufihre Expeditionen. Oft fuhren wir in den lichten Bergwald vonZárate auf der Westseite der Anden, das war ein sehrabgelegener, noch vollkommen unerforschter Wald mitzahlreichen neuen Tierarten. Hier entdeckte meine Mutter einevöllig neue Vogelgattung und nannte sie »Zaratornis«. Da essich um eine bislang unbekannte Vegetationszone handelte,fanden meine Eltern hier auch eine Menge neuer Pflanzen undsogar Bäume, die in Fachkreisen großes Aufsehen erregten.Ich kann mich noch gut an diese Ausflüge erinnern: Zunächstfuhr man weit mit dem Auto, dann ging es zu Fuß den Berghinauf – ich fühle heute noch das Gewicht meines kleinenRucksacks. Den Aufstieg schaffte man nicht in einem Tag, wirmussten eine Nacht am Berghang unter freiem Himmelverbringen. Oben im Wald angekommen, zelteten wir dannmeistens ungefähr eine Woche lang. Meine Eltern hielten denEinstieg in diesen Wald geheim, um ihn vor Plünderern zuschützen. Ich liebte diese Ausflüge und konnte michstundenlang in der Natur beschäftigen, so klein ich auch nochwar.

Ich war gerade mal zwei Jahre alt, da brach mein Vater aufeine noch viel weitere Reise auf: Er musste zurück nach Kiel,um sich zu habilitieren und einige Pflichtvorlesungen zu halten.Er reiste am 27.Dezember 1956 mit dem Schiff »Bärenstein«ab und erreichte Bremen am 25.Januar 1957. Wegen formaler

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ab und erreichte Bremen am 25.Januar 1957. Wegen formalerSchwierigkeiten in Kiel – vor allem weil er nicht inDeutschland lebte – hielt er seinen Habilitationsvortragschließlich im Juli an der Universität in Hamburg, wurde hiersofort für einige Jahre beurlaubt mit der Auflage, nach seinerRückkehr dort Vorlesungen zu halten. SeineHabilitationsschrift hatte er über die Ökologie undBiogeografie der Wälder auf der Westseite der peruanischenAnden verfasst.

Als wollte ihn Europa auch dieses Mal nicht aus seinenFängen lassen, gestaltete sich seine Rückreise nach Peruäußerst schwierig: Zunächst wollte er von La Rochelle mit der»Reina del Pacífico« reisen, die sich allerdings verspätete.Nach längerer Wartezeit erfuhr er, dass das Schiff auf einKorallenriff gelaufen war und in England repariert werdenmusste. Also reiste er zurück nach Paris, um eine neueSchiffspassage zu buchen, nur um zu seinem Schrecken zuerfahren, dass bis zum Ende des Jahres alle Schiffe bereitsausgebucht waren. Durch Zufall konnte er gerade noch einenPlatz auf der »Lucania« ergattern, die von Cannes ablegte.Doch die »Lucania« kam nur bis zu den Kanaren, sie hatteunterwegs einen schweren Maschinenschaden erlitten. Alsomusste er nach einer neuen Passage Ausschau halten und fandsie auf einem Schiff namens »Ascania«, das ihn bis Venezuelabrachte, wo er erst am 7.September ankam. Und von dortmusste er die restlichen 5000 Kilometer nach Lima auf demLandweg über Bogotá und Quito bewältigen. Meinem Vatermuss diese Odyssee wie ein Déjà-vu seiner ersten Reise nachPeru erschienen sein! Doch davon später.

Ich hatte meinen Vater neun Monate nicht gesehen – kein

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Ich hatte meinen Vater neun Monate nicht gesehen – keinWunder sagte ich nach seiner Rückkehr anfangs »Onkel Papi«zu ihm!

Wer außerdem noch untrennbar mit meiner Kindheitverbunden ist, das ist unser ehemaliges Mädchen Alida. Siegehört zu der schwarzen Minderheit in Peru und war 18 Jahrealt, als sie zu uns kam, ich zählte damals fünf Jahre. Zu jenerZeit war ich sehr dünn und wollte nie essen. Noch spät amNachmittag konnte man mich mit irgendetwas im Mund durchden Garten spazieren sehen, und das war dann meistens derRest vom Mittagessen. Heute geht Alida auf die 70 zu, undwann immer ich in Lima bin, sehen wir uns. Wir haben jedesMal viel miteinander zu reden, tauschen Kochrezepte aus, undirgendwann kommen wir dann auf die Vergangenheit zusprechen.

»Weißt du noch«, frage ich sie, »als diesem deutschenForscher eine giftige Schlange ausbüchste? Du wusstest zumGlück nicht, dass die giftig war.«

»Ja«, antwortet sie und rollt die Augen, »aber ich war es,die ihre Spuren im Garten entdeckt hat! Im letzten Moment hatdein Vater sie eingefangen und dem verrückten Kerl noch aufsSchiff bringen lassen.«

Wir erinnern uns, wie sie erlaubte, dass ich mit meinenMitschülerinnen Marshmallows über Kerzenflammen röstete,und wie mich niemand anderes als der Freund unserer FamilieAlwin Rahmel im Restaurant dazu überredete, ein Quadril zubestellen.

»Du hattest keine Ahnung, dass es sich um ein Riesensteakhandelt«, lacht Alida, »dann wurde es gebracht, und es wargrößer als du selbst.«

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größer als du selbst.«Wenn ich nicht schlafen konnte, weil ich mich vor dem

Tunshi fürchtete, einem peruanischen Sagenvogel aus demUrwald, dann tröstete mich Alida.

»Tunshis leben nur im Dschungel«, sagte sie. »Hier in Limagibt’s weit und breit keinen Tunshi.«

Sie konnte ja nicht ahnen, dass wir ein paar Jahre spätertatsächlich in diesen Urwald ziehen würden. Tunshis habe ichaber niemals gesehen, dafür, und da war ich noch keine fünfJahre alt, einen wütenden Stier.

Damals unternahmen wir mal wieder eine Exkursion in denRegenwald. Dort lebte Peter Wyrwich, ein deutscherViehzüchter, der meinen Eltern zur Hand ging und im Auftragdes Naturhistorischen Museums hin und wieder gezielt Vögelund Säugetiere fing. Waren wir zu Besuch, dann machte ichgemeinsam mit seinem Sohn Peter jr. die Gegend unsicher.Wir mussten unsere kleinen Nasen überall hineinstecken, ob esnun Maschinen waren oder die Tiere in ihren Ställen. MitPuppen spielte ich ohnehin nie, alles Technische fand ich schonimmer viel interessanter.

»Komm«, sagte Peter eines Tages selbstbewusst und zogmich in den Stall, »jetzt zeig ich dir, wie man die Kuh melkt.«

Bei dieser »Kuh« handelte es sich allerdings um einenJungstier, aber weder Peter noch ich hatten eine Ahnungdavon, dass es einen kleinen, aber wichtigen Unterschiedzwischen weiblichen und männlichen Tieren gibt. Als Peter denStier kräftig an dem Ding zog, das er für das Euter hielt,reagierte der äußerst empört, schlug aus und traf mich so amKopf, dass ich quer durch den Stall segelte. So ist das eben:Wer mit Tieren aufwächst, muss manchmal auch was

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Wer mit Tieren aufwächst, muss manchmal auch waseinstecken können.

Hat man Zoologen als Eltern, dann ist es auch besser, mangruselt sich nicht zu schnell: Einmal kauften meine Eltern aufdem Markt einen riesigen Hai, in dessen Magen sich eineMenschenhand befand! Möglicherweise stammte die voneinem Opfer der Gefangeneninsel draußen im Meer, dieähnlich wie Alcatraz vor San Francisco für ihreAusbruchsicherheit berüchtigt war. Wer es dennoch versuchte,geriet in eine starke Strömung, die ihn unaufhaltsam ins offeneMeer hinauszog; es hieß, noch nie habe es jemand ansFestland geschafft. Dieser Hai ist allerdings keinMenschenfresser, und die Hand war sicher erst nach demTode des Mannes verspeist worden. Später konnte der Hai –ohne seinen Inhalt – im Museum bewundert werden.

Solange ich noch nicht zur Schule ging, nahmen mich meineEltern nachmittags meistens mit ins Museum. Dort, in denriesigen Hallen mit ihren hohen Flügeltüren und den vielenPräparaten peruanischer Tiere und Pflanzen, wanderte ichumher, fürchtete mich manchmal ein bisschen, vor allem vorden ausgestellten Mumien, bis diese seltsamen Dinge zumeinem Leben gehörten wie alles andere auch.

Doch dann hieß es auf einmal: Wir fahren nachDeutschland. Das war im Sommer 1960, ich war fünf Jahrealt, und nun sollte ich zum ersten Mal ins Land meinerVorfahren. Eigentlich wollten wir alle drei über den Atlantikreisen, doch jemand musste sich um das Humboldt-Haus undseine Gäste kümmern. Meine Mutter wollte bekannteForscherkollegen in Europa treffen und sich mit ihnen über ihreErgebnisse austauschen, und da ich nicht fünf Monate mit

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Ergebnisse austauschen, und da ich nicht fünf Monate mitmeinem Vater allein bleiben konnte, nahm sie mich einfach mit.Ich war sehr aufgeregt, denn die Reise versprach spannend zuwerden. Zuerst ging es in einer dröhnenden Propellermaschinenach Guayaquil in Ecuador. Von dort auf einemBananenfrachter namens »Penthelicon« durch denPanamakanal Richtung Hamburg. Ich sah zu, wie im Hafen dieBananen eingeladen wurden – riesige, noch grüne Stauden.Hatte eine von ihnen auch nur die kleinste gelbe Stelle, wurdensie einfach ins Wasser geworfen und von Einheimischen, diemit ihren Einbäumen um den Dampfer kreisten, wiederherausgefischt. Mich hat das sehr beeindruckt, denn bei unszuhause wurden Lebensmittel nie einfach so weggeworfen. Mitden Früchten kamen auch Tiere an Bord: Eidechsen, gewaltigeSpinnen und Schlangen. Ich glaube, ich war die Einzige, diedas so richtig toll fand. Die Mannschaft war davon gar nichtbegeistert! Während meine Mutter in der Kabine noch anihrem Vortrag feilte, erkundete ich das Schiff und fiel somanchem Seemann auf die Nerven. Im Atlantik sahen wirWale und fliegende Fische, und ich stand an der Reling undwar sehr beeindruckt. Allerdings auch später, nach unsererAnkunft in Berlin. Da lebten meine Großeltern mütterlicherseitsund meine Tanten und Onkel. Und dort gab es Schnee! Unddoppelstöckige Busse! Und Krähen, von denen ich, zurBelustigung unserer Mitreisenden sagte: »Mami, schau nur, dieGeier! Die sind hier aber klein!« All diese Dinge waren neu fürmich, und ich war fasziniert.

Meine Mutter unternahm in jenen Wochen Fahrten nachParis, Basel und nach Warschau, um sich mit den Kollegen zutreffen und an den dortigen berühmten Museen zu arbeiten,

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treffen und an den dortigen berühmten Museen zu arbeiten,denn die besaßen einige interessante Vogelbälge – alsopräparierte, ausgestopfte Vögel – aus Peru in ihrenSammlungen. Während dieser Ausflüge ließ sie mich bei denVerwandten. Und dann stand Weihnachten vor der Tür, undzu meinem großen Schrecken musste ich in einem Singspiel alsEngel mitwirken, obwohl ich mich mit Händen und Füßendagegen wehrte. Ich war ein schüchternes Kind, und dannstand ich auf einmal mit goldenen Flügeln auf einer Bühne, undalle fanden mich »süß«!

Ich sah meine Tante Cordula wieder, die inzwischen alsSchriftstellerin in Kiel arbeitete – und die entsetzt darüber war,dass ich alle Tiere nur mit lateinischem Namen kannte. Sah icheine Eule in einem Bilderbuch, sagte ich: »Oh, ein Otus«,sodass sich meine Tante entrüstet zu meiner Mutter wandteund sagte: »Also wirklich, Maria. Das könnt ihr mit derKleinen doch nicht machen.« Aber das waren die Zeiten,bevor die Tiere deutsche Namen erhielten, von denen meineEltern die meisten ohnehin nicht mochten, weil sie sieunpassend oder irreführend fanden.

Dies war für meine Mutter das letzte Mal, dass sie ihrenVater sah. Er verstarb völlig überraschend sechs Jahre später,da war ich gerade elf Jahre alt. Ich werde niemals vergessen,wie aufgewühlt ich war, als sich meine Mutter stundenlang inihr Zimmer einschloss und herzzerreißend weinte. Erst als siemir erklärte, warum sie so traurig war, beruhigte ich michwieder. In meinem jungen Leben gab es nichts Schlimmeres,als meine Mutter weinen zu sehen.

Sie war ein liebenswürdiger und sanfter Mensch und musstehäufig den aufbrausenden Charakter meines Vaters

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häufig den aufbrausenden Charakter meines Vatersausgleichen. Obwohl sie nicht nur mit ihm, sondern auch mitder Wissenschaft verheiratet war, interessierte sie sich für vieleandere Themen. Sie gehörte, wie bereits erwähnt, zu denführenden Ornithologen in Südamerika, und um das zuwerden, braucht es viel Einsatz und eine gewisseOpferbereitschaft. Meine Mutter brachte das mit. Einmalerlebte ich etwas mit ihr zusammen, was ich nie vergessenhabe. Wir waren im Urwald und beobachteten eineSonnenralle an ihrem Nest, während uns Myriaden vonMoskitos umschwärmten. Ich wollte nach ihnen schlagen, aberdann wäre dieser so seltene und scheue Vogel sicherweggeflogen. Da flüsterte meine Mutter mir ganz leise zu: »Dudarfst dich jetzt nicht rühren, auch wenn du gestochen wirst.«Und so verharrten wir in der Wolke von Stechmückenmucksmäuschenstill eine Viertelstunde lang. Meine Muttersagte auch: »Wenn du Biologin sein willst, muss du verzichtenlernen.« Dieser Satz fasst sehr gut zusammen, was unsereForschungsarbeit ausmacht. Sie und mein Vater ergänzten sichperfekt – als sie starb, war er nicht mehr derselbe. Da war ernur noch halb. Auch für mich war es unsagbar schwer. Weilmeine Mutter einfach viel zu früh von uns gerissen wurde. Weilwir noch so viele Gespräche zu führen hatten, zu denen esdann nicht mehr kam.

Unversehens geraten wir in Turbulenzen. Das ist nicht gut fürmich, überhaupt nicht gut. Denn obwohl ich meine Angst voreinem erneuten Flugzeugunglück ziemlich im Griff habe, dasSchütteln und Rütteln, das unser Flugzeug jetzt, hoch über demAtlantik, erfasst, ruft sofort wieder jene Erinnerungen in mir

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wach. Der Alptraum jedes Flugzeuginsassen: das Dröhnen derTurbinen, das ich heute noch in meinen Träumen höre. Unddieses grelle Licht über einem der Flügel. Die Stimme meinerMutter, die sagt…

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…»Jetzt ist alles aus!« Meine Mutter sagt das ganz ruhig, fasttonlos.

Ich taste nach der Hand meines Mannes neben mir undzwinge mich, in die Gegenwart zurückzukehren. Das ist nieleicht, wenn die Erinnerung mich überfällt. Ist es tatsächlich dieHand meines Mannes, die ich halte? Oder ist es doch noch dieHand meiner Mutter?

»Reg dich nicht auf«, sage ich zu meinem Mann. »Das sindnur ein paar Turbulenzen, weiter nichts.«

Dann sehen wir uns an und müssen beide lachen. Denn unsist natürlich klar: Ich bin es, die sich mehr fürchtet als er. Aberes fällt mir leichter, ihm den Mut zuzusprechen, der mir füreinen Moment lang abhandengekommen ist. »Gut, dass dumich tröstest«, sagt mein Mann und drückt meine Hand. Vonallem, was ich an ihm so sehr liebe, ist sein wunderbarerHumor manchmal das Wichtigste.

Und dann beruhigen sich die Turbulenzen, das Flugzeugbewegt sich ganz friedlich durch die Lüfte, und ich atmemehrmals tief durch.

Puh, diese Berg- und Talfahrt fuhr mir ganz schön in dieEingeweide.

»Schau mal«, sagt mein Mann und deutet aus dem Fenster.»Die Küste Brasiliens! Wir erreichen den südamerikanischenKontinent!«

Und schon bin ich abgelenkt, blicke hinaus, immer will icham Fenster sitzen, daran hat sich auch durch den Absturznichts geändert. Im Gegenteil, wenn ich sehen kann, was untermir liegt, dann bin ich etwas ruhiger. Und jetzt komme ich aus

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mir liegt, dann bin ich etwas ruhiger. Und jetzt komme ich ausdem Staunen nicht mehr heraus, obwohl ich diesen Flug schonso oft erlebte. Die scheinbare Unendlichkeit des Atlantiksmacht derselben scheinbaren Unendlichkeit des Amazonas-Waldgebietes Platz. Und heute ist die Sicht so klar, dass mandeutlich verschiedene Flussmäander in der Sonne glitzernsehen kann. Ansonsten gleicht das Einerlei des Urwalds demEinerlei der Wellen, sogar die Farbe ist fast dieselbe, einverwaschenes Grün aus dieser Höhe. Damals, als ich vomHimmel fiel, da sahen die sich nähernden Baumkronen aus wieBrokkoliköpfe, einer dicht neben dem anderen. Doch daranwill ich jetzt nicht denken, stattdessen erzähle ich meinemMann, wie viel Mühen es meinen Vater nach dem Ende desZweiten Weltkriegs kostete, nach Peru zu gelangen. Wenn wirnämlich stöhnen, weil uns nach zwölf Stunden Flug der Rückenwehtut und die Beine schwer werden, so ist das rein gar nichtsim Vergleich damit, was mein Vater damals auf sich nahm.Und wäre er damals nicht aufgebrochen in eine neue Welt,dann wäre auch mein Leben mit Sicherheit völlig andersverlaufen.

Alles begann im Jahr 1947. Mein Vater war ein junger,ehrgeiziger Biologe, wollte Pionierarbeit auf dem Feld derÖkologie und Tiergeografie leisten, und deshalb interessierteer sich für Länder mit einer möglichst hohen Biodiversität. Dakam Südamerika infrage, aber auch Sri Lanka. Praktischveranlagt, wie er war, schrieb er einen Brief an die Universitätin Lima. Auf Deutsch, denn Spanisch beherrschte er nochnicht. Ob man Verwendung habe für einen jungen,promovierten Zoologen? Einen ähnlichen Brief schrieb er auchnach Ecuador. Das war zwei Jahre nach Kriegsende. Ein

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nach Ecuador. Das war zwei Jahre nach Kriegsende. Eingeschlagenes Jahr später erhielt er tatsächlich Antwort vomNaturhistorischen Museum in Lima, wohin sein Briefweitergeleitet worden war. Die Antwort war so einfach, wie esseine Frage gewesen war: Ja, er könne kommen. Man habeeine Stelle für ihn.

Es war ein Brief mit Folgen. Das Reisen imNachkriegseuropa war eine schwierige Sache, vor allem fürDeutsche. Es gab keine Pässe, also war es unmöglich, einVisum zu erhalten. Mein Vater hatte zwar die ersehnte Stelle inLima, aber keine Ahnung, wie er dort hinkommen sollte. SeineStudienfreundin Maria, die später meine Mutter werden sollte,teilte seine Begeisterung für die Forschung und wollte ihn aufjeden Fall begleiten. Zu meiner Großmutter sagte sieentschlossen: »Diesen Mann heirate ich. Diesen oder keinen!«Zur Jahreswende 1947/48 verlobten sich die beiden. Als meinVater die Einladung nach Peru erhielt, war es für beideausgemachte Sache, dass er das Angebot annehmen sollte.Maria würde einfach nachkommen, sobald sie ihre Promotionabgeschlossen hatte.

Mit dem Schreiben aus Lima in der Tasche begab sich meinVater in die deutsche Niederlassung einer südamerikanischenBank. Dort riet man ihm, nach Genua zu reisen, um sich daeinzuschiffen. Es gäbe Schiffseigner, die deutscheAuswanderer umsonst mitnehmen würden. Also beschlossmein Vater, diese Möglichkeit zu versuchen. Mitten im Winterfuhr er nach Mittenwald, wo er schnell herausfand, dass erallenfalls illegal nach Italien einreisen konnte. Beim erstenVersuch, den österreichischen Grenzzaun zu übersteigen,stürzte er unglücklich und musste nach Innsbruck ins

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stürzte er unglücklich und musste nach Innsbruck insKrankenhaus gebracht werden. Wieder genesen, ließ er sichnicht von einem zweiten Versuch abhalten. Dieses Mal krocher praktischerweise unter dem Zaun hindurch. Dannüberquerte er zu Fuß und per Anhalter die Alpen und gelangteauf abenteuerliche Weise nach Genua. Wie groß war seineEnttäuschung, als er im Hafen erfuhr, dass gerade eben einDampfer nach Südamerika abgelegt hatte. Niemand wusste,wann der nächste eintreffen würde. Mein Vater gehörte abernicht zu jenen, die sich mit Warten begnügen. Er reiste weiternach Rom, wo es ihm gelang, vom Vatikan einenRotkreuzpass ausgestellt zu bekommen. Dieser, sagte manihm, würde seine Reise erheblich vereinfachen. Aber Rom warvoller Deutscher, die bereits Wochen und Monate auf eineGelegenheit warteten, nach Südamerika zu gelangen. Vatererfuhr, dass die Chancen in Neapel besser standen. Alsowandte er sich zu Fuß nach Süden. Doch unterwegs nahmman ihn gefangen und steckte ihn in ein berüchtigtesGefangenenlager. Unter dem Vorwand, seine Papiere zuüberprüfen, hielten ihn die Italiener über viele Monate dortfest. Eine Gruppe Mitgefangener wollten ihn schließlich zurFlucht überreden, besonders ein nordafrikanischer jungerMann schwärmte ihm von seiner Heimat vor und drängte ihnmitzukommen. Aber obwohl mein Vater ein Mann der Tatwar, ließ er sich nicht darauf ein. Und das war auch gut so:Alle Ausbrecher wurden rasch wieder eingefangen und hartbestraft. Doch dann geschah ein Wunder – von dem er mirgern und häufig erzählte. Immer wieder betete er darum, dassder Herr die Mauern, die ihn umgaben, einstürzen lassen sollte.Und genau das passierte auch: In einer starken Regennacht

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Und genau das passierte auch: In einer starken Regennachtbrach neben ihm die Mauer des Lagers einfach zusammen,und er konnte flüchten. Natürlich waren ihm die Verfolgergleich auf den Fersen, aber er war schlauer als sie: Anstatt soweit wie möglich weg zu laufen, versteckte er sich ganz in derNähe des Lagers in einem Gebüsch. Er deckte sich mit Farnenzu und blieb dort eine Nacht und einen Tag. Erst als die Suchenach ihm als ergebnislos abgebrochen wurde, setzte er dieFlucht fort. Natürlich war er nun um einiges vorsichtiger undwanderte hauptsächlich in der Nacht. Tagsüber versteckte ersich oder klopfte immer wieder an einem Bauernhaus an, woer meistens gastfreundlich aufgenommen wurde. Einmal jedochkam er zum Haus eines Vogelfängers. Er und seine Frauwaren besonders freundlich zu ihm und teilten mit ihm ihrMahl. Deshalb schenkte er der Signora seinen letztenGegenstand von Wert, eine Brosche. Als er allerdingsweiterziehen wollte, meinte der Vogelfänger, alleine würde erden Weg niemals finden, es wäre besser, er käme mit ihm.Unterwegs merkte mein Vater aber, dass der Mann Verrat imSinn hatte, und konnte sich gerade noch in Sicherheit bringen.

Doch dieses Abenteuer beendete seine Odyssee noch langenicht. Auch von Neapel fuhr kein Schiff, und so zog er weiterbis nach Sizilien. Tatsächlich lagen in Trapani Fischkutter vorAnker. Mein Vater zögerte nicht und sprach mit allenBesitzern, doch keiner war bereit, ihn nach Afrikaüberzusetzen.

Ich glaube, dass viele Menschen jetzt allen Mut verlorenhätten. Doch mein Vater war aus anderem Holz geschnitzt. Ersagte sich, wenn er in Italien kein Schiff fand, das ihn nachSüdamerika brachte, dann würde er eben eines in Spanien

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Südamerika brachte, dann würde er eben eines in Spanienfinden. Also wanderte er den gesamten italienischen Stiefelwieder hoch und wandte sich nördlich von Genua RichtungFrankreich. Als er endlich die Grenzstadt San Remo erreichte,ließ man ihn wissen, dass es völlig unmöglich sei, die Grenze zuüberqueren: Sie war noch immer ein einziges Minenfeld. Dochmein Vater war viel zu entschlossen, um sich von diesenGefahren abhalten zu lassen. In einer finsteren Nachtüberquerte er das Grenzgebirge und wanderte zu Fuß weiterbis nach Nizza. Dort nahm ihn zum ersten Mal seit Langemwieder ein Auto mit. In Aix-en-Provence stieg er aus undfragte gleich an der nächsten Tankstelle den Fahrer einesteuren Wagens, ob er ihn mitnehmen könnte. Der lehnterigoros ab, als er hörte, dass Vater Deutscher war. Erst als dieKassiererin ein gutes Wort für ihn einlegte, erbarmte er sichund nahm ihn doch noch mit. Es stellte sich heraus, dass derFahrer jüdischen Glaubens war, was seine anfänglicheAblehnung in ein anderes Licht rückte. Als er VatersGeschichte hörte, schenkte er ihm sogar 150 Francs. Das warsehr großherzig, weil damals jeder, den man bei einerKontrolle mit weniger als 100 Francs antraf, als Vagabundverhaftet wurde. »Wer so weit gekommen ist wie Sie«, sagteder Mann beim Abschied, »der schafft es auch nachSüdamerika.«

Danach sah es aber gar nicht aus. Als Vater in Marseilleeintraf, fand er auch dort kein Schiff. Gerüchte wollten wissen,dass von Portbou alle vier, fünf Monate einSüdamerikadampfer ablegte. So lange wollte mein Vater abernicht warten. Er entschied sich, seinem ursprünglichen Plan zufolgen und nach Spanien zu marschieren.

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folgen und nach Spanien zu marschieren.Wieder hieß es, das sei unmöglich: Dieses Mal sollten die

Pyrenäen Endstation sein. Gegen dieses Gebirge, sagten dieLeute, seien die Alpen ein Spazierweg. Mein Vater ließ sichwieder nicht beeindrucken. Er folgte einem steinigen Bachlaufhöher und höher, bis er am Wind spürte, dass ihn mediterranesGebirgsklima umgab. Er hatte es geschafft! Er war in Spanien.

Dort jedoch musste er besonders umsichtig sein. DieAnhänger von Diktator Franco fackelten nicht lange undsteckten illegale Ausländer sofort in ihre berüchtigten Lager.Wieder versteckte sich Vater tagsüber und wanderte nurnachts.

Doch auch von Barcelona legten keine Schiffe nachSüdamerika ab, und so wandte Vater sich Zentralspanien zu,immer fern von den Städten, möglichst nahe an den Bergen.Als er sich einmal in einer völlig abgelegenen Gegend untereinem Johannisbrotbaum ausruhte, zog ein Gewitter heran. Inder Ferne heulten Hunde, und immer mehr von ihnen fielen ein.Es dauerte einige Zeit, bis mein Vater merkte, dass es sich umWölfe handelte. Doch mehr Gefahr als von wilden Tierendrohte ihm von Menschen. In Córdoba wurde ihm das wenigeGepäck gestohlen, das ihm geblieben war. Er zog gleich weiternach Sevilla. Dort erhielt er zum ersten Mal einen Hinweis,dass sein Traum, nach Peru zu gelangen, vielleicht doch nochRealität werden könnte. Kurz vor seiner Abreise hatte Vatervon der Familie meiner Mutter einen Rat erhalten: In Lima gabes Kontakte zur Tochter eines befreundeten Admirals – an diesolle er sich wenden, träfe er jemals in der Stadt ein. Nunbekam er in Sevilla von einer deutschen Familie einEmpfehlungsschreiben, das sich ebenfalls auf die Tochter des

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Empfehlungsschreiben, das sich ebenfalls auf die Tochter desAdmirals bezog. Gleich zwei Empfehlungen an ein unddieselbe Person – daraus musste doch etwas werden!

Angesichts der enormen Entfernungen, die mein Vaterbisher zurückgelegt hatte, war der Weg von Sevilla nach Cádiznur noch ein Katzensprung. Von dort sollten Schiffe nach Perugehen. Doch wieder kam er um nur wenige Tage zu spät.Eben war ein Schiff Richtung Lima ausgelaufen, das Deutschemitgenommen hatte. In seiner Verzweiflung erzählte meinVater jedem von seiner Situation. Ein Anhänger GeneralFrancos vermittelte ihn daraufhin an einen Verein, welcherDeutschen, die Europa aus politischen Gründen den Rückenkehrten, zur Ausreise verhalf. Das war bei meinem Vater nunwirklich nicht der Fall. Doch vielleicht hätte er nach diesemStrohhalm gegriffen, wenn es nicht schnell geheißen hätte:Außer Spesen nichts gewesen – es gab viele leereVersprechungen, aber keine Taten. Und immer wieder neueGerüchte. In einem Ort namens San Fernandez, so hieß esjetzt, sollte in Kürze ein Schiff nach Uruguay ablegen. Daswäre zumindest einmal Südamerika. Also eilte mein Vater indie kleine Hafenstadt. Dort traf er einen Maurer, der ebenfallsübersetzen wollte. Zusammen fanden sie das Schiff. Es war einSalztransporter, und er war tatsächlich gerade am Ablegen.Da fackelten die beiden nicht lange und schmuggelten sichheimlich an Bord. Sie schlugen sich zum Laderaum durch,banden sich Taschentücher vors Gesicht, sprangen ins Salzund gruben sich so gut wie möglich ein. Nach seinerunendlichen Odyssee war mein Vater also an Bord einesSchiffes, das Kurs auf Südamerika nahm– als illegalerPassagier, eingegraben in einigen Tonnen Salz.

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Passagier, eingegraben in einigen Tonnen Salz.Vier Tage lang hielten sie durch. Schwere See brachte das

Schiff zum Rollen, die Sonne brannte herab, das Salz drangihnen in alle Poren, unerträglicher Durst quälte sie – undschließlich drehte der Maurer durch. Er wollte nur noch eines:raus! Mein Vater rechnete aus, dass sich das Schiff wohlgerade erst auf Höhe der Kanarischen Inseln befinden müsste,und beschwor seinen Mitreisenden, sich noch ein wenigzusammenzureißen. Nur noch einen weiteren Tag! Doch seinReisekamerad hatte nicht mehr die Kraft dazu. Also machtensie sich bemerkbar, wurden prompt verhaftet und, als dasSchiff Teneriffa erreichte, in der Hauptstadt Santa Cruz insGefängnis gesteckt. Nun drohte meinem Vater derRücktransport nach Spanien und dort eine lange Lagerhaft.Aber er sollte Glück haben. Nach 14 Tagen Haft wurde er aufeinmal entlassen und fand prompt eine Schiffspassage nachRecife in Brasilien. Dort ging er einige Wochen später anLand.

Endlich war er in Südamerika – wenn auch noch auf derfalschen Seite der breitesten Stelle des Kontinents. Abertrotzdem: »Kolumbus kann sich beim Betreten Amerikas nichtmehr gefreut haben als ich«, sagte mein Vater. Inzwischen warer schon über ein Jahr unterwegs. Wie konnte er ahnen, dasses fast noch einmal so lange dauern würde, bis er dieHauptstadt Perus erreichte?

Dabei war sein Plan ganz einfach: Die 5000 Kilometer nachPeru, so seine Überlegung, müsste er als geübter Fußgängerdoch bewältigen können. Und einen Teil könnte er sogar mitdem Zug zurücklegen. Natürlich sagten ihm alle mal wieder,dass es ganz und gar unmöglich sei, Brasilien auf diese Art und

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dass es ganz und gar unmöglich sei, Brasilien auf diese Art undWeise zu durchqueren. Und genauso natürlich ließ sich meinVater davon überhaupt nicht beirren. Er fuhr los, zuerst durchunendliche Plantagenlandschaften voller Zuckerrohr undBananen. Dann kam die Caatinga, eine 700 Kilometer breiteDornbuschsavanne, die er zu Fuß durchqueren musste. Wannimmer er in Dörfer kam, war er die Attraktion. Und meinVater infizierte sich gleich an der Lebensfreude der Brasilianer.»Es war immer lustig«, erzählte er später. Nach weiteren800 Kilometern Fußmarsch erreichte er endlichZentralbrasilien. Als er später auf diese enormeWanderleistung zurückblickte, meinte er: »An guten Tagenging ich 40 Kilometer. An schlechteren waren es um die 30.«

Blicke ich heute auf diese Weite hinab, kann ich es mirkaum vorstellen, wie es meinem Vater möglich war, dieseStrecke zu Fuß zurückzulegen. Jetzt überfliegen wir beiManaus den Amazonas, der mit seinem weitverzweigtenFlussgeäder majestätisch in der Sonne schimmert. Deutlicherkennen wir sein schokoladebraunes Wasser, während wirkurze Zeit darauf über Schwarzwasserflüsse hinwegfliegen,von denen einer, der größte, der Río Negro sein muss.

Mein Vater ging, unbeirrbar auf sein Ziel eingestellt, und dashieß Lima. Und Vater wanderte nicht nur – er marschierte undbeobachtete gleichzeitig! Er kannte die Tierwelt Südamerikasschon aus dem Studium. Doch hier, auf abgelegenen Pfadendurch Savanne und Dschungel, konnte er die Lebensweisevieler ihm unbekannter Spezies beobachten. Er studierte ihrRäuber-Beute-Verhalten, entdeckte konkurrierende Arten undfand sogar Zeit, darüber Tagebuch zu führen. Die Hitzesteckte er dabei locker weg. Mittlerweile war er tief gebräunt,

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steckte er dabei locker weg. Mittlerweile war er tief gebräunt,und mit dem großen Strohhut auf dem Kopf fiel er in manchenDörfern kaum mehr auf. Nur wenn er einsame Gehöfteerreichte, löste er meistens Panik aus. Waren ihre Männernicht zuhause, ließen die Frauen alles stehen und liegen undflüchteten in den Urwald. Trotzdem wurde er meistensfreundlich aufgenommen. Und Vater genoss seine neugewonnene Freiheit: Im Gegensatz zu den kriegsgeschädigtenLändern Europas musste er sich hier nicht ständig verstecken.»Ich spannte meine Hängematte auf, wo immer ich wollte«,schwärmte er später von seinem langen Marsch. Häufig dranger in Wälder vor, die nie ein Mensch zuvor betreten hatte. Daüberkamen selbst ihn mitunter so etwas wie Zweifel, ob estatsächlich richtig war, sich diesen Gefahren auszusetzen. AberVater verlor nie das Vertrauen in sich. Fragten ihn Leute,wohin er wolle, antwortete er: »Nach Peru.« Die meistenhatten von so einem Land noch nie etwas gehört.

Und doch war es eines Tages so weit: Am 15.Mai 1950,genau am Geburtstag seiner Verlobten Maria von Mikulicz-Radecki, erreichte er die Grenze von Peru. Und als ob dieserZufall nicht ausreichte: Es waren exakt eineinhalb Jahrevergangen, seit er am 15.November 1948 von meiner MutterAbschied genommen hatte. Von der Grenze aus durfte er ineiner Militärmaschine nach Lima mitfliegen. Doch bin ich mirsicher, mein Vater hätte sich auch nicht davon abschreckenlassen, den Rest des Dschungels sowie das ewige Eis derAnden zu Fuß zu durchqueren.

Drei Jahre nachdem er um eine Stelle angefragt hatte, zweiJahre nachdem die Antwort des Naturhistorischen MuseumsLima bei ihm eingetroffen war, betrat mein Vater dort das

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Lima bei ihm eingetroffen war, betrat mein Vater dort dasBüro des verblüfften Direktors. Dessen Antwort war kurz undbündig: Die Stelle stand leider nicht mehr zur Verfügung. Undso begann für meinen Vater eine neue Odyssee, nämlich die,im gelobten Land auch eine Arbeit zu finden. Die Guano-Gesellschaft, die mit dem Düngemittel aus Vogelkot vonTölpeln, Kormoranen, Pelikanen und Pinguinen viel Geldverdiente, war als Arbeitgeber im Gespräch. Doch als meinVater sich dort vorstellte, hatte man für ihn keine Verwendung.Da lernte er den Dekan der Universität von San Marcoskennen, der meinem Vater nach einigem Hin und Hervorschlug, die Fischsektion des Naturhistorischen Museums zubetreuen, und sich erkundigte, was mein Vater denn verdienenwollte. Wahrscheinlich hat mein Vater in all den Jahren seinerlangen Wanderung darüber nie nachgedacht, denn er nannteeine geradezu lächerlich kleine Summe. Und während meineMutter gerade auf dem Südseedampfer »Amerigo Vespucci«nach Lima übersetzte, trat mein Vater für ein geringes Gehaltseine erste Stelle in Peru an. Kaum traf Mutter ein, konnte sieebenfalls in diesem Museum mitarbeiten und später dieOrnithologische Abteilung übernehmen. Kurz darauf wurdegeheiratet: In Miraflores, einem besonders schönen StadtteilLimas, gaben sie einander am 24.Juni 1950, am Tag derSonnenwende, einen Tag nach dem 36.Geburtstag meinesVaters, das Jawort.

An diese lange, mühevolle Odyssee meines Vaters denkeich oft, wenn ich selbst in Gefahr gerate, ein wenig mutlos zuwerden. Oder wenn mich die alten Ängste aus der Zeit meinesAbsturzes überfallen wollen. Dann ist mir seine Geschichte einBeispiel, dass es sich lohnt, sich nicht unterkriegen zu lassen.

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Beispiel, dass es sich lohnt, sich nicht unterkriegen zu lassen.Nicht von Militärposten, nicht von bereits abgefahrenenSchiffen, nicht von Gebirgen, die es zu überqueren gilt, nichtvon Tausenden von zu Fuß zurückzulegenden Kilometern.»Wenn wir uns wirklich dazu entschlossen haben, etwas zuerreichen«, sagte mein Vater einmal, »dann gelingt es uns auch.Wir müssen nur wollen, Juliane.«

Er hatte recht. Damals, nach dem Absturz, wollte ichüberleben, und ich schaffte das kaum Mögliche. Kann einemdanach noch irgendetwas Schlimmeres begegnen?

Oh ja, es kann. Jede Herausforderung stellt sich einemvöllig neu. Genau wie jeden anderen Menschen kostet es michimmer wieder enorme Kraft, das, was ich will, auch in die Tatumzusetzen. Heute will ich mit ganzer Kraft, dass Panguananicht nur weiterbesteht, sondern in eine neue Form übergeführtwird. Ich will, dass der Wunsch meines Vaters in Erfüllunggeht und dieses Fleckchen Erde in erweiterter Form zumNaturschutzgebiet erklärt wird. Deshalb sitze ich in diesemFlugzeug, deshalb überwinde ich meine Ängste. Und nun, nachvielen Stunden, ist es bald so weit. Das Land meiner Kindheitliegt bereits unter mir, eben überflogen wir die Grenzezwischen Brasilien und Peru. Mein Herz schlägt heftiger. Nurnoch eine knappe Stunde. Schon weicht der Urwald denersten Ausläufern der Anden. Liegen die hinter uns, geht dasFlugzeug in den Landeanflug auf Lima. Dann findet auch dieserlange Flug Gott sei Dank ein gutes Ende.

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Ich atme auf. Wieder einmal geschafft. Nun noch durch diePasskontrollen, zur Gepäckausgabe, dann blicke ich inwohlvertraute Gesichter und werde stürmisch umarmt. Derlangjährige Freund unserer Familie Alwin Rahmel lässt es sichauch diesmal nicht nehmen, mich und meinen Mann amFlughafen persönlich abzuholen.

Auf der Fahrt zu unserem Hotel lasse ich die Stadt auf michwirken: Lima ist quirlig, bunt und jedes Jahr noch ein bisschenlauter. Das war schon früher der Fall, und doch ist Lima heuteim Vergleich mit damals kaum wiederzuerkennen. Zugegeben,schon mein Vater schrieb Jahre vor meiner Geburt an meineMutter, ehe sie nach Lima kam, »schön kann man diese Stadtganz gewiss nicht nennen«, und doch hatte sie in meinerKindheit einen ganz eigenen Charme. Damals gab es in derganzen Stadt kaum ein Gebäude, das höher war als vierStockwerke, im spanischen Kolonialstil erbaut reihten sie sich,umgeben von Bäumen, eines an das andere. Heute entdeckeich jedes Mal, wenn ich ankomme, neue überdimensioniertePrachtbauten mit den Insignien von Banken, Autohäusern,Casinos und Hotels entlang der Straße in die Innenstadt. Siekontrastieren heftig mit den gemütlichen Vierteln der Stadtmeiner Kindheit. Es gibt Plätze und Gegenden, die erkenne ichkaum wieder. Hier wurde die Verkehrsführung verändert, dorteine neue Schnellstraße gebaut. Nicht alles, was neu ist, findeich schlecht. Zum Beispiel die eigene Busspur in der Mittezwischen zwei Autotrassen finde ich sehr praktisch, sogarBäume hat man ihr entlang gepflanzt, wenn sie auch jetzt nochklein sind und die spätere Pracht erst erahnen lassen.

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klein sind und die spätere Pracht erst erahnen lassen.Ja, es ist viel los auf Limas Straßen, eine »hora punta«, wie

man hier die Verkehrsstoßzeiten nennt, geht nahtlos in dienächste über. Obwohl sich so viel verändert hat, habe ich dasGefühl, nach Hause zu kommen. Ich schaue um mich, löchereunseren Freund mit meinen Fragen. Was habe ich verpasst,solange ich in Deutschland war?

Noch immer ist Peru ein Land voller Gegensätze. So war esfrüher, und daran hat sich in den Jahren bis heute weniggeändert. Damals gehörte ich zu den privilegierten Kindern,ohne dass mir das bewusst war. Hätte man mich gefragt, ob esin Lima Armenviertel gibt, hätte ich das entrüstet verneint.Heute ist mir bewusst, dass ich mit meinen Eltern, auch wennsie immer viel Wert darauf legten, bescheiden zu leben, zu denReichen gehörte, meine Welt war Miraflores, hier lebten meinePaten, und das ist heute noch eine der besseren Gegenden vonLima. Inzwischen weiß ich auch, dass in den am weitestenvom Meer entfernten Vierteln, jenen, die sich die Berghängezu der Cordillera Negra emporziehen, viele Menschen inSlums leben. Darum kommt es mir immer ein weniganachronistisch vor, wenn einige meiner alten Schulfreundinnenin Lima sagen: »Wie kannst du es nur in Deutschlandaushalten, da hast du ja nicht einmal Personal.« Die Kehrseitein Peru ist nämlich: Dieser Wohlstand existiert neben extremerArmut. Auch davon berichtet mir Alwin Rahmel und von denFortschritten seines karitativen Engagements in denElendsvierteln von Lima, wo Kinder oft nicht einmal eineeinzige Mahlzeit am Tag bekommen, haben sie nicht dasGlück, bei einer der Schulspeisungen des Kinderwerks Limadabei zu sein. Ja, Peru ist ein Land voller Gegensätze. Und ich

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dabei zu sein. Ja, Peru ist ein Land voller Gegensätze. Und ichliebe es so, wie es ist. Ich bin stolz darauf, als Deutsche undPeruanerin beide Welten miteinander vereinen zu können.Deutschland ist das Land, in dem ich lebe – und auch wirklichgerne bin. Doch mit Peru bin ich mit dem Herzen verbunden.An Deutschland liebe ich, dass die Dinge in der Regel besserfunktionieren. In Peru mag ich die Musik, die Warmherzigkeitund den Humor der Menschen. Und ich liebe die peruanischeKüche.

An diesem ersten Abend besuchen wir meinLieblingsrestaurant. Wir werden herzlich begrüßt, so als seienwir erst letzte Woche hier gewesen, und für einen Momentstelle ich es mir auch so vor. Alles ist wie immer, mein Lebenin Deutschland geht nahtlos über in mein peruanisches Dasein,so wie eine Hälfte eines Reißverschlusses in die andere. Ichbestelle »Papa a la Huancaína«, die ich für mein Leben gerneesse, Kartoffeln mit scharfer Käsesauce. Wie oft schon habeich in München probiert, dies nachzukochen, aber da derrichtige Frischkäse und die gelben Ají-Schoten für die Saucein Deutschland einfach nicht zu bekommen sind, will es nichtso gut gelingen. »Hier schmeckt es einfach besser«, gesteheich mir seufzend ein und lasse die Sauce auf der Zungezergehen. In Peru sind rund 4000 unterschiedlicheKartoffelsorten bekannt, es gibt sie in Weiß, Gelb, Rot, Braunund Violett und allen Schattierungen dazwischen. Mein Mannwählt einen Chupe, einen der köstlichen Eintöpfe, das wärmttüchtig auf, denn in Lima ist es auch an diesem Abendempfindlich frisch. Einmal, vor vielen Jahren, las ich einenArtikel in einer deutschen Illustrierten, der mit »Prima Klima inLima« überschrieben war, aber ich fürchte, der Redakteur

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Lima« überschrieben war, aber ich fürchte, der Redakteurverfiel dem Zauber des dreifachen Reims, denn das Klima inLima ist alles andere als prima. Die meisten Tage des Jahres istder Himmel bedeckt, oft herrscht Nebel, und die feuchteKühle kriecht einem mitunter in die Knochen. Das liegt am nahvorüberfließenden Humboldtstrom, der kalt aus der Antarktiskommend auf die ansonsten warme See trifft und so fürordentlich »Dampf« sorgt.

Extrem sind in diesem Land auch die unterschiedlichenLandschaftsformen: An der Küste entlang zieht sich die Wüstevon Norden nach Süden, dann folgen die Anden mit ihrenmächtigen Gebirgszügen und Hochplateaus und schließlich aufihrer Ostseite der Amazonas-Regenwald. Der großeUnterschied zwischen Küste und Regenwald bringt es mit sich,dass unsere Koffer immer doppelte Kleidung enthalten:wärmere Sachen für Lima und Hochsommerliches für denRegenwald.

Die unterschiedlichen Lebensräume Küste, Gebirge undRegenwald bergen jeweils auch eine ganz eigene Flora undFauna, die ich auf meinen Fahrten in den Urwald gemeinsammit meinen Eltern oft bestaunen konnte. Ja, und diesemehrtägigen Reisen von Lima über die Anden in denRegenwald gehören zu den schönsten und reichstenErinnerungen meiner Kindheit:

In Lima nahmen wir meistens einen Bus des Unternehmens»La Perla de los Andes«. Oben auf das Dach wurde dasGepäck gebunden, dann kletterten ein paar Jungs hinauf,deren Aufgabe es war, auf der ganzen Fahrt über die Bergedafür zu sorgen, dass nichts herabfiel oder gar gestohlenwurde. Vielleicht waren die Gepäckwächter des

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wurde. Vielleicht waren die Gepäckwächter desKonkurrenzunternehmens »León de Huánuco« besser, denndas war eine Buslinie, die berühmt für ihre Zuverlässigkeit war.Ich war aber noch nicht in einem Alter, in dem mich daskümmerte. Ich schaute aus dem Fenster, denn schon kurznach Lima gewinnt man rasch an Höhe. Trotzdem dauert dieFahrt über acht Stunden, bis man den Höhenzug des Ticlioerreicht hat. Der liegt auf 4800 Meter, und dabei ist er nochder niedrigste Pass der mittleren und südlichen Anden! Für diemeisten Passagiere war das hoch genug – wer nicht gutbeieinander war, litt furchtbar unter der Höhenkrankheit. Ganzin meiner Nähe saß einmal eine hochschwangere Frau, die sichlaufend übergeben musste. Je höher man kommt, umsospärlicher wird auch die ohnehin schüttere Vegetation.Trotzdem gibt es immer wieder Dörfer, zu denen sich dieStraße in endlosen Serpentinen emporschlängelt. Auf demTiclio liegt das ganze Jahr über Schnee, und ganz in der Nähedes Passes, man will es kaum glauben, ist tatsächlich ein Ort.Er heißt La Oroya und wird von Minenarbeitern bewohnt.Eine trostlose Gegend, eine Ansammlung armseliger Hütten mitbunten Wellblechdächern. Tagsüber ist es kalt, und nachts istes noch kälter, auf eine Art, die einem direkt in die Knochengeht. Kein Wunder sind die Indios der Hochanden immer dickangezogen. Wenn es möglich ist, schlafen sie mit Kind undKegel und dem gesamten Vieh in einem Raum. Und trotzdemfinden Ornithologen da oben sogar Kolibris, die nachts in eineStarre verfallen, in eine Art nächtlichen Winterschlaf, indem sieihren Stoffwechsel senken und sich so vor der eisigen Kälteschützen. Etwas tiefer gelegen stößt man hier und da auf wildwachsende Molle-Bäume, an denen der auch bei uns

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wachsende Molle-Bäume, an denen der auch bei unsbekannte rosa Pfeffer gedeiht, und anderen lichtenBaumbestand. Erst wenn man den Ticlio überquert hat, kehrtlangsam die Vegetation zurück. Die Blicke fallen hinab in dieFlusstäler, die grün sind und fruchtbar.

Es ist eine lange Fahrt: Erst geht es über die CordilleraNegra, die von Flechten und Algen bewachsen ist, welche dieBerge dunkel färben. Dann kommt die nächste Gebirgskette,die Cordillera Blanca, aus der weiter im Norden Perusherrliche schneebedeckte Sechstausender aufragen und an diesich der Altiplano anschließt, eine weitläufige Hochebene mitdem Puna-Grasland, bedeckt mit einer stacheligen, gelbenPflanze. Hier gibt es einige wunderschöne Seen, die zugewissen Zeiten von Flamingos bevölkert werden. Die Farbendieses Vogels gingen in die peruanische Nationalflagge ein.Der Legende nach, die mir meine Mutter erzählte, lag José deSan Martín, als er die Republik Peru ausgerufen hatte, einmalam Strand und ruhte sich aus. Da sah er einen Flamingo übersich, und das Rot und Weiß des Vogels inspirierten ihn zu denFarben der Fahne. Im Wappen ist auch das Vikunjadargestellt, eine Kamel-Wildform. Seine Wolle ist noch feinerund weicher als Baby-Alpaka und war früher den Inka-Königen vorbehalten. Neben dem Vikunja ist ein Quinoa-Baum abgebildet, der Perus Pflanzenreichtum symbolisiert.Außerdem ist ein Füllhorn zu sehen, welches Münzenausschüttet. Schließlich gehört Peru mit all seinenBodenschätzen eigentlich zu den reichsten Ländern der Welt.

Nach dem Ticlio erreichen wir bald den Altiplano, und danngeht es stundenlang in einer Höhe zwischen 4000 und5000 Metern dahin. Auch hier begegnet man höchstens mal

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5000 Metern dahin. Auch hier begegnet man höchstens maleiner Minenstadt, wo Kupfer, Wolfram, Wismut und Silberabgebaut werden. Endlich fahren wir wieder bergab undmachen bald darauf Station in Huánuco, einer alten spanischenKolonialstadt in einem der fruchtbaren Flusstäler. Sie liegt1800 Meter hoch, für die Verhältnisse der Anden also ehertief. Auf meinen ersten Fahrten haben wir immer hier in derNähe übernachtet, denn die Straße Richtung Tingo Maríawurde so schmal, dass sie nur im Einbahnverkehr benutztwerden konnte. Übernachten hieß, man blieb im Bus, sonstkonnte es sein, er fuhr ohne einen weiter. Danach kommt einLandstrich, der Cordillera Azul genannt wird. Er ist dichtbewaldet und schimmert daher bläulich aus der Ferne. Wennman dann endlich Tingo María erreicht – nun, dann liegennochmals acht Stunden Busfahrt bis Pucallpa vor einem.Unterwegs erzählte mir meine Mutter immer, welche Vögel wozu finden waren: Im Nebelwald der Cordillera Azul, gleich beider Wasserscheide La Divisoria, gab es die herrlichenorangeroten Klippenvögel oder Felsenhähne. Auf einerAnhöhe vor Tingo María, in der Höhle Cueva de lasLechuzas, leben Fettschwalme, in Peru Guácharos genannt.Das sind Nachtschwalben, brachte sie mir bei, die sich miteiner primitiven Echoortung im Dunkeln orientieren und derenKörperfett als Lampenöl Verwendung findet – daher ihrdeutscher Name. Für die nächsten paar Hundert Kilometerhatte ich dann wieder etwas zum Nachdenken.

Zwei Tage und eine Nacht nach unserem Aufbruch in Limaerreichten wir endlich Pucallpa, damals eine richtige kleinePionierstadt. Sie war von Farmland umgeben und dasFarmland wiederum vom Urwald. Hier konnten wir uns mit

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Farmland wiederum vom Urwald. Hier konnten wir uns mitallem eindecken, was wir im Urwald brauchten:Grundnahrungsmittel wie Zucker, Schmalz, Öl und Mehl. Umanschließend nach Tournavista, unserer nächsten Etappe, zugelangen, gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder mit demBoot oder mit einem geländegängigen Fahrzeug über wildePfade durch den Wald. Das ging aber auch nur während derTrockenzeit, ansonsten verwandelten sich die Pisten inSchlammlöcher. Wir nahmen meistens das Boot. Es brachteuns auf dem Ucayali bis zur Mündung des Río Pachitea. Aufdem ging es flussaufwärts nach Tournavista. Die texanischeFamilie Le Tourneau gab diesem Urwalddorf den Namen.Hier übernachteten wir bei Bekannten auf dem Fußboden undsuchten uns dann ein neues Boot für die Weiterfahrt. Nochheute wird im Urwald alles über die Flüsse transportiert –Menschen, Tiere, Gepäck, alle Arten von Ladung. Zweiweitere Tage tuckerten wir flussaufwärts. Nachts schliefen wirin Wolldecken gehüllt auf einer Sandbank, am nächstenMorgen ging es weiter. Erst am Abend des zweiten Tageskamen wir an die Mündung des Yuyapichis, an dem Panguanaliegt. Der Name kommt aus der alten Inkasprache Quetschuaund bedeutet »Lügender Fluss«, weil er manchmal sotrügerisch sein kann. Scheint er gerade noch ein behäbiges,ruhiges Flüsslein zu sein, so kann er sich binnen wenigerStunden in einen reißenden Strom verwandeln – je nach denNiederschlägen im nahen Sira-Gebirge, wo der Yuyapichisseinen Ursprung nimmt.

Während unserer Fahrt dorthin passierten wir berüchtigteStromschnellen, an denen man kentern konnte, war derBootsführer nicht erfahren. Während der ganzen Fahrt machte

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Bootsführer nicht erfahren. Während der ganzen Fahrt machtemeine Mutter nie auch nur ein Auge zu. Sie wollte nichtsverpassen, und zu sehen gab es auch wirklich genug: Einmalschwamm ein Spießhirsch durch den Fluss, dann wiederKaimane und Schlangen. Immer wieder wies sie ins Wasserund sagte zum Beispiel: »Schau, Juliane. Das ist einBuschmeister – eine der giftigsten Schlangen der Welt. Siesind sehr aggressiv. Vor ihnen musst du dich in Acht nehmen.«

Endlich kam dann die Mündung des Yuyapichis in Sicht.Hier gingen wir an Land und mussten uns noch weitere fünfKilometer durch unberührten Primärregenwald durchschlagen.Es war ein scheußlicher Weg, voller Schlingpflanzen, die fastso hoch waren wie ich groß. Der Boden bestand aus tiefemSchlamm oder glitschigem Laterit, der bei starkem Regen glattund rutschig wie Eis wurde. Hatten wir dieses Gebiet hinteruns – eine Woche nach der Abreise in Lima –, gelangten wirendlich wieder an den Yuyapichis, auf dessen anderer SeitePanguana lag. Meine Mutter pfiff mit einer Polizeitrillerpfeife,und mein Vater kam mit dem Einbaum herüber, um unsabzuholen. Willkommen zuhause!

Doch ich greife vor. Meine Gedanken hüpfen wieder einmalmeiner Erzählung voraus. Denn die kreisen ständig umPanguana, die Forschungsstation, die meine Eltern 1968gründen sollten und die für viele Jahre meine Heimat wurde.Während ich müde, satt und glücklich über den Park vonMiraflores blicke, froh, endlich hier zu sein, während ich mitAlwin und meinem Mann unseren Zeitplan für die nächstenbeiden Tage durchgehe, der straffer nicht sein könnte –zahlreiche Behördengänge stehen auf dem Programm, einBesuch bei unserem Anwalt, um endlich unsere Sache ein

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Besuch bei unserem Anwalt, um endlich unsere Sache einentscheidendes Stück voranzubringen –, während wir unsnoch ein Dessert, ein Geschenk des Hauses, schmeckenlassen, kreisen meine Gedanken um Panguana. Und ich gebezu: So sehr ich es genieße, in Lima zu sein, so wenig kann iches erwarten, endlich wieder in meinen geliebten Urwald zudürfen.

Nein. Für mich war und ist er keine grüne Hölle. Er gehörtzu mir wie die Liebe zu meinem Mann, wie die Rhythmen derCumbia, die mir im Blut stecken, wie die Narben, die mir vondem Flugzeugabsturz geblieben sind. Der Dschungel ist derGrund, warum ich mich immer wieder in ein Flugzeug setze,und für ihn bin ich sogar bereit, mich mit den Behördenherumzuschlagen.

Das peruanische Wort für Bürokratie lautet Burocracia,und viele sagen schmunzelnd: Burrocracia – darin steckt derspanische Burro, also der Esel. Und das ist kein Zufall. Hier imAndenstaat herrscht zeitweise ein Phlegma, das so manchenEuropäer auf die Palme bringen kann. Ich befürchte fast, auchauf dieser Reise werde ich wohl damit konfrontiert werden.Schließlich habe ich mit meinem Ziel, Panguana zumNaturschutzgebiet erklären zu lassen, eine ganze Menge aufÄmtern und Behörden zu regeln. Auch darüber spreche ich mitunserem Freund Alwin Rahmel. Wie immer hilft er mir dabei,mich durch den einzigen »Dschungel« durchzukämpfen, vordem ich mich wirklich manchmal fürchte: dem derBurrocracia.

Schließlich brechen wir auf. Wir sind müde von der langenReise, müssen uns erst an die Zeitumstellung gewöhnen. Alswir beim Hotel ankommen, hält Alwin auf einmal inne.

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wir beim Hotel ankommen, hält Alwin auf einmal inne.»Hast du das bemerkt?«, fragt er mich.Mein Mann und ich sehen uns fragend an. Was Alwin wohl

meint?»Das war ein kleiner Erdstoß.«Richtig. Ein fast unmerklicher Ruck. Dann ist alles wieder

wie vorher. Es war, als sei für einen winzigen Moment die Zeitgerissen.

»Aber das war ja gar nichts«, beruhigt mich Alwin gleichwieder.

Dabei bin ich das von Kindesbeinen an gewöhnt. An derperuanischen Küste schieben sich nämlich zwei tektonischePlatten übereinander, und die Folge davon sind immerwiederkehrende Erdbeben. So ein Beben ist einbeängstigendes Erlebnis. Zuerst hört man ein Geräusch, dassich nicht in unseren Erfahrungsschatz einordnen lässt. »DieErde grummelt«, sagen wir, und besser lässt es sich kaumausdrücken. Wenn sie dann erzittert, wird manorientierungslos. Das liegt daran, dass unsere Sinne mit dieserAufhebung geltender physikalischer Regeln nichtzurechtkommen. Auch andere Staaten Südamerikas werdenimmer wieder von Erd- und Seebeben heimgesucht. Erstkürzlich traf es Perus Nachbarstaat Chile schwer.

An zwei besonders heftige Beben erinnere ich mich gut. Daseine fand 1967 statt, da war ich 13 Jahre alt. Ich war alleinzuhause und säuberte gerade meinen Tuschkasten, als esbegann. Zuerst war da eine starke vertikale Bewegung, derBoden hob und senkte sich, ja vibrierte unter meinen Füßen.Das war schon beunruhigend genug. Doch dann geriet dieErde in schlingernde Bewegungen, der Boden schwang quasi

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Erde in schlingernde Bewegungen, der Boden schwang quasiseitwärts, und das war ganz besonders fürchterlich. DieMenschen gerieten in Panik, ich hörte sie schreiend auf dieStraße laufen, und auch ich war versucht, es ihnen gleichzutun.Mir wurde bewusst, dass ich allein war, und so mit dieserNaturgewalt konfrontiert zu sein, ganz auf mich gestellt, daswar schon ein spezielles Erlebnis. Statt auf die Straße zulaufen, erinnerte ich mich jedoch daran, was meine Eltern mirfür solche Fälle eingeschärft hatten, dass es nämlich besser sei,im Haus zu bleiben und sich unter einen Türsturz zu stellen.Dort, wo die Decke verstärkt wurde, ist man viel sicherer alsauf offener Straße, wo einen möglicherweise ein Dachziegeloder eine einstürzende Mauer erschlagen kann. Jenes Bebenhatte die Stärke 6,8 und dauerte ziemlich lange. Zum Glückpassierte in unserer Gegend nicht viel, und ich kam mit demSchrecken davon.

In der Zeit zwischen meinem achten und zwölftenLebensjahr machten meine Eltern mehrere Expeditionen nachYungay, einem Städtchen in einer der schönsten Gegenden derCordillera Blanca, und dabei nahmen sie mich oft mit. Wirzelteten in einem berühmten Tal namens Callejón de Huaylas,und ich kann mich noch gut an das eiskalte Wasser desGletschersees erinnern, in dem ich mich waschen musste, undan die herrlichen Farben des Sonnenuntergangs auf denSchneehängen der nahen Sechstausender. Dort gab es riesigeSteine in bizarren Formen, und darunter war einer, der mirbesonders gut gefiel. Er sah aus wie eine gigantische,aufgerichtete Streichholzschachtel, und darum nannte ich ihnden Streichholzschachtelstein. Ganz oben wuchsen Pflanzen,und das beeindruckte mich tief.

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und das beeindruckte mich tief.1970 wurde diese Gegend von einer mächtigen

Naturkatastrophe heimgesucht. Ein Beben der Stärke 7 sorgtedafür, dass ein großes Stück des Gletschers abbrach, talwärtsin den See stürzte und ihn zum Durchbrechen brachte. RiesigeSchlammlawinen verschütteten daraufhin mehrere Ortschaftenvollständig. Nur die Spitzen der Palmen auf der Plaza deArmas des Städtchens Yungay ragten aus der Schlammwüstenoch heraus. Alle Bewohner wurden unter den Lawinenbegraben, bis auf eine Schulklasse und deren Lehrerin, die zurUnglückszeit gerade einen Ausflug auf den höher gelegenenFriedhof machten. Als das Beben stattfand, lebten meineEltern und ich schon in Panguana, weit entfernt im Urwald, undselbst dort war es noch so deutlich zu spüren, dass die Vögelerschreckt von den Bäumen aufflogen. Zehn Jahre später sollteich mit Kommilitonen in diese Gegend fahren, und noch immerwar einer der Orte vollständig verschüttet.

Wir verabschieden uns von Alwin, der es offensichtlich bereut,mich an die Gefahren eines Bebens in Lima erinnert zu haben.Kurze Zeit später sehe ich im Hotel die vertrautenHinweisschilder, die die Stellen angeben, wo man sich im Falleeines Erdstoßes aufhalten sollte. Wer in Peru lebt, für den wirdauch dieses Phänomen zu einem Teil des Alltags.

Auch ich bin mit der Tatsache aufgewachsen, dass nichtswirklich sicher ist, auch nicht der feste Boden unter deneigenen Füßen. Und ich finde, dieses Wissen hilft mir immerwieder, selbst in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf zubewahren. Vielleicht habe ich auch deswegen diesen Alptraumnach dem Flugzeugabsturz überlebt, weil ich es von klein auf

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nach dem Flugzeugabsturz überlebt, weil ich es von klein aufgewöhnt war, dass ungewöhnliche Dinge geschehen können.Sei es, dass in der Großstadt Lima eine giftige Schlange durchden Garten kriecht oder man mitten in der Nacht aufwacht unddas Bett wackelt, als rüttelten böse Geister an ihm.

Das ist heute Nacht zum Glück nicht der Fall. Müde fallenwir in unsere Kissen. Wie glücklich bin ich, wieder hier zu sein.Und dennoch möchte ich nicht immer hier leben. Ich genießees, in beiden Welten zuhause zu sein, auch wenn es mitunteranstrengend ist und mich die Sehnsucht nach dem Land, indem ich gerade nicht bin, manchmal fast zerreißt.

Doch all das wird durch die Möglichkeit aufgewogen,ständig den eigenen Horizont zu erweitern. Damit meine ichnicht nur den Erfahrungsschatz. Nein, ich spreche vom inneren,emotionalen Horizont. Ich war schon immer ein Mensch, derlieber aus erster Hand seine Informationen sammelt. Und dasgeht nur vor Ort, im engen Kontakt mit Menschen, die dortleben. Ich glaube, das kommt auch meiner Arbeit inDeutschland zugute. Ich fühle mich privilegiert, in derZoologischen Staatssammlung arbeiten zu dürfen. Ich schätzemeine Kollegen – wir sind mehr als eine Gemeinschaft vonWissenschaftlern, wir sind wie eine Familie. Ich kann mit Fugund Recht sagen: Ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben. Istdas nicht seltsam? Nach allem, was passiert ist? Wo ich docheigentlich gar nicht mehr hier sein dürfte? Noch klingen mir dieletzten Worte meiner Mutter im Ohr. Die Erinnerung überfälltmich überall, ohne Vorwarnung, im Flugzeug, im Aufzug, imTraum. Dann höre ich meine Mutter sagen: »Jetzt…

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…ist alles aus!« Ruckartig fällt die Spitze des Flugzeugs steilnach unten. Obwohl ich ganz hinten auf einem Fensterplatzsitze, kann ich den gesamten Gang bis vor zum Cockpit sehen,er liegt unter mir, die physikalischen Gesetze sind aufgehoben,es ist wie ein Erdbeben, nein, schlimmer. Denn jetzt rasen wirnach unten, wir fallen, die Menschen schreien in Panik,gellende Hilferufe, das Dröhnen der stürzenden Turbinen, dasich in meinen Träumen wieder und wieder hören werde, undda, über allem, klar wie Glas, die Stimme meiner Mutter:»Jetzt ist alles aus!«

Alles wäre anders gekommen, hätten meine Eltern nichtbeschlossen, ihren Arbeitsplatz von der Großstadt Lima mittenin den Urwald zu verlegen. Sie wollten vor Ort die Vielfalt derTier- und Pflanzenwelt im Amazonas-Regenwald, die damalsnoch so gut wie unbekannt war, studieren. Fünf Jahre langwollten sie in unmittelbarer Nähe zu ihrem Forschungsfeldleben. Und irgendwann wollten sie danach wieder nachDeutschland zurückkehren.

Ich war 14, als meine Eltern diesen Plan in die Tatumsetzten. Damals war ich gar nicht begeistert von der Idee,von nun an im Dschungel zu leben. Ich stellte mir vor, wie ichda den ganzen Tag in der Düsternis unter hohen Bäumen sitzenwürde, deren dichtes Blätterdach keinen Sonnenstrahldurchließ. Wehmütig dachte ich daran, all meineSchulkameradinnen in Lima zurückzulassen. Die betrachtetenmich mit mitleidigen Blicken, denn keine von ihnen konnte essich vorstellen, mitten im Urwald zu leben. Die meisten hatten

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sich vorstellen, mitten im Urwald zu leben. Die meisten hattennoch niemals einen Fuß dorthin gesetzt. Nicht, dass ich michfürchtete, ich kannte den Dschungel bereits von Exkursionen,zu denen mich meine Eltern mitgenommen hatten. Doch Reisendorthin zu unternehmen oder gleich mit Sack und Pack dorthinzuziehen, ist nicht dasselbe. Mit 14 Jahren hat man andereDinge im Kopf, als in der Wildnis zu leben.

Unsere Abreise zog sich hin. Mein Vater arbeitete seitvielen Jahren an einem groß angelegten und ehrgeizigenProjekt, einem mehrbändigen Werk über die Lebensformender Tiere und Pflanzen, das er unbedingt vor dem Umzug inden Urwald abschließen wollte. Meine Mutter, die einefantastische Zeichnerin war und das Skizzieren von Tieren injeglicher Bewegung perfekt beherrschte, sollte die mehr als600 Illustrationen dazu beisteuern. Beide arbeiteten fieberhaft.Mir war es recht, ich hatte es nicht eilig mit der Abreise. Aberwir hatten bereits das Humboldt-Haus aufgegeben undmussten sogar noch für einige Monate in eine kleine, teureÜbergangswohnung direkt über einer lauten Durchgangsstraßeziehen, bis wir endlich aufbrechen konnten.

Es wurde dadurch zu einem langen Abschied aus der Stadt,der meine Eltern viele Nerven kostete. Vor allem mein Vaterwar völlig fertig und die Stimmung oft angespannt.

Die Auflösung des Humboldt-Hauses, in dem meine Elternalles in allem rund 20 Jahre gelebt hatten, war eine langwierigeAktion. Was hatte sich im Laufe der Zeit nicht allesangesammelt! Im großen Arbeitszimmer meiner Eltern wurdewochen-, nein monatelang alles Mögliche aussortiert, zum Teilweggeworfen und das, was man behalten wollte, verpackt.Nicht weniger als 200 Kisten wurden auf diese Weise gefüllt.

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Nicht weniger als 200 Kisten wurden auf diese Weise gefüllt.Aber natürlich konnten und wollten meine Eltern bei Weitemnicht alles mit in den Urwald nehmen. Und so wurde einausgeklügeltes System erarbeitet, wo was untergestellt oderausgeliehen werden sollte.

Ich erinnere mich noch gut an diese Wochen vollerfieberhafter Tätigkeit. Neben ihrer üblichen Arbeit packtenmeine Eltern Kartons, mein Vater zimmerte eine Kiste nachder anderen, meine Mutter legte detaillierte Listen über derenInhalt an. »Ohne diese Listen«, sagte sie oft zu mir, »sind wirverloren, Juliane. Nur so werden wir jemals irgendetwaswiederfinden.«

Der erste Umzugswagen fuhr im Dezember 1967 zumMuseum, dem meine Eltern Möbel für ein Gästezimmer liehenund wo sie eine Menge Kisten unterstellen konnten. Unserletztes Weihnachten feierten wir auf meinen Wunsch imHumboldt-Haus in einer fast leeren Wohnung; nur dasWohnzimmer war uns geblieben, wo wir unter einembesonders schönen Christbaum Bescherung hielten. Wir fülltenden Keller meines Patenonkels mit einigen unserer Kisten, undeine andere befreundete Familie bot ebenfalls an, rund50 Kartons für uns aufzubewahren. Und dennoch stand in derkleinen Übergangswohnung alles voll.

Und wie es oft so ist bei einem großen Schritt, sollte sichunsere tatsächliche Abreise noch ein halbes Jahr hinziehen. Soviele Dinge gab es für meine Eltern noch zu klären, so vieleProjekte abzuschließen. Schließlich wurde all unserverbliebenes Gepäck samt Lobo und meinem WellensittichFlorian auf die Ladefläche eines gemieteten LKW gepackt,und am 9.Juli 1968 ging es los.

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und am 9.Juli 1968 ging es los.Ich saß mit meinem Schäferhund auf der Ladefläche unter

einer Plane und sah zu, wie wir an Höhe gewannen und Lima,meine Freundinnen, meine Klasse, Alida und meine Paten samtall meinen Kindheitserinnerungen endgültig hinter unszurückblieben. Ich spürte, dass dies ein entscheidenderEinschnitt in meinem Leben sein würde, doch ich war zu jung,um zu ermessen, was es tatsächlich bedeutete. In meinenAdern floss dasselbe Abenteurerblut wie in meinen Eltern, undnachdem nun all der Trubel ums Ausräumen und Einpackenendlich vorüber war, freute ich mich auf das, was vor mir lag:zunächst auf die Fahrt, von der ich schon wusste, dass sie vieleTage lang währen sollte.

Aufwärts ging es auf geschwungenen Straßen, die mitunterso schmal waren, dass wir mehr als einmal fürchten mussten,der LKW mitsamt seiner schweren Ladung würde über denAbgrund rutschen. Als es Abend wurde, befanden wir unsbereits in den Hochanden nicht weit vom Ticlio-Pass, und hierübernachteten wir alle auf rund 4000 Meter Höhe auf demLastwagen. In einem Brief an meine Großmutter und meineTante schrieb ich später: »Es war ziemlich kalt. Lobo saß obenauf dem Lastwagen und war ganz verängstigt. Florian (meinemWellensittich) ging es nicht besonders gut. Durch dasSchaukeln des Autos wurde er seekrank, und manchmaldachte ich, er würde sterben.« Wahrscheinlich war er nicht nursee-, sondern auch höhenkrank geworden.

Am zweiten Tag überquerten wir den Ticlio-Pass, undweiter ging die Fahrt über mehrere Pässe bis Tingo María.Hier wurde der Zustand der Straße immer erbärmlicher, unddas besserte sich auch nicht, als es anfing, wie aus Kübeln zu

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das besserte sich auch nicht, als es anfing, wie aus Kübeln zuregnen. Irgendwann war dann Schluss mit der Weiterfahrt,denn eine im Schlamm eingesunkene Straßenbaumaschineversperrte den Weg. Wir waren nicht die Einzigen, hinter unsstauten sich noch mehr Lastwagen, und es blieb uns allennichts anderes übrig, als einfach stehen zu bleiben und an Ortund Stelle die Nacht zu verbringen. Ich erinnere mich noch gut,wie besorgt meine Eltern waren, denn durch den anhaltendenRegen konnte es leicht zu Erdrutschen kommen, sodass wirbefürchten mussten, entweder selbst mitsamt der Straße denBerg hinabzurutschen oder eine Erdlawine aufs Dach zubekommen. Zum Glück geschah weder das eine noch dasandere, und am nächsten Morgen gelang es, dieStraßenbaumaschine aus dem Schlamm zu ziehen – der Wegwar wieder frei. Wir schafften es an diesem Tag bis kurz vorPucallpa und befanden uns somit schon mitten im Regenwald.Von hier nach Tournavista war es eine weitere Tagesetappe,und hier hatte unsere Reise ein vorläufiges Ende.

In Tournavista, einem Dorf, das wie schon erwähnt zu einergroßen Viehzucht gehörte, wurde uns von der freundlichenGemeinde ein großer Raum in einer ehemaligen Schule zurVerfügung gestellt, an dessen Wand wir unsere Kisten bis zurDecke aufstapelten. Hier blieben wir rund einen Monat, meineEltern erledigten noch letzte Arbeiten an ihren Büchern undplanten dann, wie es weitergehen sollte.

Denn wo genau wir im Urwald wohnen wollten, das warnoch gar nicht klar. Meine Eltern hatten von einem Fleck amUfer des Yuyapichis gehört, wo ein paar verfallene Hüttenstehen sollten, und die wollte sich mein Vater mal ansehen.Meine Mutter und ich blieben in Tournavista zurück, während

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Meine Mutter und ich blieben in Tournavista zurück, währender zu seiner wichtigen Mission aufbrach, nämlich denpassenden Ort für unser neues Zuhause zu finden.

Am Ufer des Río Pachitea auf der Höhe der Mündung deskleineren Flusses Yuyapichis fragte er nach einem Boot undzwei tüchtigen Männern, die ihn die Flüsse hinauf und hinunterrudern könnten. Und so fand er Moro.

Moro heißt eigentlich Carlos Aquiles Vásquez Módena,aber keiner nennt ihn so, alle sagten schon immer Moro zuihm. Es sollte sich als eine glückliche Fügung erweisen, dass erso früh schon die Wege meines Vaters kreuzte, denninzwischen ist Moro der Herzschlag von Panguana, ohne denes die Forschungsstation heute nicht mehr gäbe. Damals fuhrenMoro, gerade mal 20 Jahre alt, und sein Freund Nelsonmeinen Vater in einem Boot auf mehreren Flüssen herum, diezum Einzugsgebiet des Amazonas gehören. Es sind kleine undgroße Wasserläufe, die sich in weiten Bögen durch denDschungel ziehen. Wer sich nicht auskennt, ist in kurzer Zeithoffnungslos verloren. Zu jener Zeit gab es auf den schmälerenFlüssen noch keine Boote mit Außenbordmotor, und man warauf Stakstange und Paddel angewiesen, um flussaufwärts undüber die Stromschnellen zu gelangen. Moro und sein Freundbrachten meinen Vater bis zur Mündung des Río Negro amOberlauf des Yuyapichis. Sie hielten Ausschau nach einerunberührten Gegend, die per Boot zu erreichen war. BeiPurma Alta gingen sie an Land und marschierten flussabwärts,bis sie auf ein paar Indianerhütten stießen – es waren dieGebäude, von denen meine Eltern schon gehört hatten.Abgesehen von vier Panguana-Steißhühnern, die im Schattender Hütten im Staub badeten, schien der Platz verlassen zu

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der Hütten im Staub badeten, schien der Platz verlassen zusein. Da sagte mein Vater: »Das ist der richtige Ort!« EinName war auch schnell zur Hand: Panguana – nach denSteißhühnern. Vater und Moro erkundeten den Wald, undwas sie fanden, gefiel ihnen: Das Habitat wimmelte nur so vonTieren, vor allem Vögeln, Schmetterlingen und anderenInsekten. Man kann sagen, es war ein wahr gewordenerTraum für jeden ernsthaften Forscher. Aufgrund der Strapazendes langen Marsches nach Peru litt mein Vater zu dieser Zeitständig an Rückenschmerzen. Als Moro es bemerkte, bot ersich an, dabei zu helfen, das Gepäck von Tournavistahierherzubringen. Natürlich war mein Vater damiteinverstanden. So kam es, dass Moro und seine Familie einenwichtigen Platz in unserem Leben einnehmen sollten.

In Tournavista wartete ich gemeinsam mit meiner Muttergespannt darauf, welche Neuigkeiten uns mein Vater vonseiner Erkundungstour durch den Dschungel bringen würde.Wo würde ich die nächsten Jahre verbringen? In welcheEinöde verschleppten mich meine Eltern? Und dann kam meinVater zurück und berichtete: »Ich habe den richtigen Ortgefunden. Ich hab ihm sogar schon einen Namen gegeben.«

»Und wie heißt er?«, wollte meine Mutter wissen.»Panguana. Wie findest du das?«Natürlich war meine Mutter begeistert. Sie löcherte meinen

Vater mit Fragen. Wo genau der Ort denn läge. In welchemZustand die Hütten seien. Welche Tierarten er gesehen habe.Schnell waren die beiden in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Ichseufzte. Sie waren sich mal wieder einig, wie immer. Nur ichmachte mir Sorgen. Einsam war der Ort, so viel hatte ichschon begriffen. Und es würde nochmals mehrere Tage

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schon begriffen. Und es würde nochmals mehrere Tagedauern, bis wir endlich dort ankämen. Ich versuchte mirauszurechnen, wie viele Tagesreisen mich dann von Limatrennen würden. Damals konnte ich mir noch nicht vorstellen,dass ich diese Reise in all den Jahren so viele Maleunternehmen würde.

Bald brachen wir auf. Drei Tage dauerte die Fahrt auf demRío Pachitea, eine Nacht schliefen wir auf einer Sandbank unddie zweite im Boot. Es gab mehrere Stromschnellen, und einehätte uns kurz vor unserem Ziel fast kentern lassen. Endlicherreichten wir die Mündung des Yuyapichis, wo wir beifreundlichen Viehzüchtern, den Großeltern von Moro,übernachten durften. Als wir am anderen Tag nach einemschweißtreibenden Fußmarsch durch dichten Primärwaldendlich bei den verfallenen Hütten ankamen, da schlug meineNiedergeschlagenheit sofort in Begeisterung um! Panguanawar überhaupt nicht finster! Es war wunderschön, eine Idylleam Fluss mit flammendrot blühenden Bäumen, Mango-,Guaven- und Zitrusfrüchten, und über allem ragte ein herrlicher50 Meter hoher Lupuna-Baum, der heute noch dasWahrzeichen der Forschungsstation ist. Von Anfang an gefieles mir richtig gut in Panguana. Gleich am ersten Tag lernte ichMoro kennen. Ich glaube, er war ziemlich überrascht überdiese ungeheuren Mengen an Kisten und Koffern, die wirdabeihatten. Es dauerte Monate, bis wir nach und nach allesaus Tournavista nachholen konnten. Nun erwiesen sich dieakribischen Listen als Segen, und als wir auspackten, stelltesich heraus, dass wir gerade das Nötigste an Kleidungdabeihatten, dafür umso mehr an Ausrüstung für dieForschung. Moro erzählte mir später, dass die Leute in der

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Forschung. Moro erzählte mir später, dass die Leute in derGegend schon ein bisschen befremdet waren, dass da ein paarGringos auftauchen, um einfach nur den Wald zu erforschen.Auch er war anfangs skeptisch. Doch nachdem ihm meineMutter ihre Bücher und Zeichnungen gezeigt und ihm diewissenschaftliche Bedeutung des Waldes erklärt hatte, war erFeuer und Flamme. Moro erzählte mir später immer wieder,wie ihn besonders das Wissen meines Vaters beeindruckte.

»Pfiff irgendwo ein Vogel«, sagte er, »wusste er besser alswir Einheimischen, zu welcher Art er gehörte.« Auch dieDisziplin meines Vaters beeindruckte ihn sehr.

»Wenn er sagte, er ist um acht Uhr morgens unten amFluss, war er um acht Uhr dort«, betonte Moro. »Nicht eineMinute früher und nicht eine Minute später. In jeder Hand truger einen Koffer, damit er beim Gehen über sumpfige Pfade dasGleichgewicht halten konnte. Aber einmal kam er tatsächlichfünf Minuten zu spät. Das hatte es noch nie gegeben, und erentschuldigte sich sogleich dafür. ›Señor‹, fragte ich, ›was istpassiert?‹, denn er kam nur mit einem Gummistiefel daher. Eshatte heftig geregnet, der Fluss führte viel Wasser, und da warihm ein Stiefel im schlammigen Flussbett stecken geblieben.Das hatte ihn nicht einkalkulierte Zeit gekostet. Der Stiefel warihm wichtig. Zum Glück konnte er später während derTrockenzeit gerettet werden.«

Wir lachen auch heute noch gerne über diese Anekdote.Neben Moro gab es noch andere Einheimische und auch

Deutsche, die uns halfen. Christian Stapelfeld aus Tournavistaund Lionel Díaz organisierten immer wieder ein Boot für unsund halfen, nach und nach unseren Hausstand nach Panguanazu holen. Auch Nicolás Lukasevich Lozano, genannt Cuto,

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zu holen. Auch Nicolás Lukasevich Lozano, genannt Cuto,dessen Mutter aus Iquitos kam und dessen Vater Russe war,hatte große Motorboote, die auf dem Fluss verkehrten. Er lebtnoch heute in Puerto Inca und transportierte damals unteranderem die Post. Meine Mutter fuhr häufig mit ihm nachPucallpa und zurück. Dann gab es noch Ricardo Dávila, vondem das Gerücht ging, dass er viele Frauen habe und schonLeute umgebracht hätte. Er war Goldsucher am Río Negro.Und natürlich lernten wir Großmutter Módena kennen undlieben, die Oma von Moro, Doña Josefa Schuler, die ausPozuzo stammte, einem Ort, der im 19.Jahrhundert vonRheinländern und Südtirolern gegründet worden war. IhrMann, Don Vittorio Módena, war in Trient geboren. Diebeiden bewirtschafteten mit ihrer Familie eine wunderschöneFarm direkt über der Mündung des Yuyapichis in den RíoPachitea. Dies war die Stelle, an der wir immer an Landgingen, um unseren beschwerlichen Fußmarsch nach Panguanaanzutreten.

Wie gerne kehrte ich bei Doña Josefa Schuler ein! Siemachte das beste Brot des ganzen Urwalds, das man aufgrundihrer Abstammung »Pan Alemán« nannte, obwohl mancheZutaten – Kochbananen und Mais – nicht gerade typischdeutsch waren. Frühmorgens um vier stand sie auf, um diesesleicht süße Brot zu backen, und ich liebte seinen Duft undseinen außergewöhnlichen Geschmack. Immer, wenn wirvorbeikamen, wurden wir herzlich eingeladen. Einmal schenkteDoña Josefa meinen Eltern sogar einen ganzen Laib, und zumeinem Entsetzen lehnten die ab, sagten, sie könnten dasunmöglich annehmen. Ängstlich verfolgte ich das Hin und Her,und als am Ende das Brot dann doch, in ein Tuch

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und als am Ende das Brot dann doch, in ein Tucheingeschlagen, in unserem Gepäck landete, atmete ich auf. BeiDoña Josefa gab es auch eine andere Kostbarkeit: süßenRahm, den sie von der Milch ihrer Kühe abschöpfte, eineSeltenheit bei diesen heißen Temperaturen. Ich sehe mich nochvor einem Teller mit gebratenen Bananen sitzen, eine HaubeRahm darüber! Später ließ sich meine Mutter vomBrotbackvirus anstecken. In der Dschungelmetropole Pucallpatrieb sie Sauerteig auf, der auf der Heimreise durch die starkeWärme die Plastiktüte sprengte, in die er eingepackt war. Inunserem Urwaldcamp pflegten wir ihn täglich, und so kamenwir zu Sauerteigbrot, das zunächst in einer Backhaube, danachauf einem Primuskocher und später, als wir noch bessereingerichtet waren, auf einem zweiflammigen Petroleumherdgebacken wurde.

Wenn ich heute mit Moro spreche, werden mir dieVeränderungen im Regenwald immer wieder deutlich. Damalswaren bestellte Felder weit von den Farmen und vonPanguana entfernt, heute sind sie schon gefährlich nahegerückt. Was mit ein Grund ist, Panguana zumNaturschutzgebiet erklären zu lassen. Aber auch das Klima hatsich geändert: Heute ist es viel heißer als früher. Moro lachtdann und meint, heute könnte ich nicht mehr wie damals alsJugendliche überall mitarbeiten. Dann erinnert er mich daran,wie ich bei der Maisernte half, beim Brechen der Kolben,beim Abreiben der Körner. Auch beim Schlachten war ichimmer mit dabei. Ich wurde schnell zum »Urwaldkind«, undich war dort genauso mit allem zufrieden wie meine Eltern.Freunde, die uns besuchen kamen, erinnerten mich späterimmer wieder daran: »Wir haben noch nie ein Ehepaar erlebt«,

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immer wieder daran: »Wir haben noch nie ein Ehepaar erlebt«,sagen sie dann, »das so vollkommen glücklich war wie deineEltern dort im Urwald.« Für viele war es gar nicht zu fassen,wie zwei Menschen so perfekt miteinander harmonierenkonnten und ihr Leben als derart erfüllt empfanden – und dasauch noch unter so beschränkten Bedingungen. Wir allerdingssahen es nicht so; was an Bequemlichkeit fehlte, machte derReichtum der Natur um uns herum längst wieder wett.Wahrscheinlich war es für meine Eltern wirklich das Shangri-La, das andere ein Leben lang suchen und niemals finden: derHimmel auf Erden, ein Ort des Friedens und der Eintracht,weltabgeschieden und überirdisch schön. Meine Eltern hattenes für sich entdeckt und dort ihr Glück gefunden: Panguana,das Paradies am Río Yuyapichis.

Und ich? Ich liebte die Selva, wie der Regenwald inSüdamerika genannt wird. Und dennoch freute ich mich auchauf jeden Besuch in der Stadt, wo es meinen Eltern immer vielzu laut und zu geschäftig war. Aber ich konnte mal wieder mitmeinen Freundinnen ins Kino gehen oder mit ihnen in meinerLieblingsbar einen Milkshake trinken – und kamen wir dannzurück, war ich wieder gerne das »Urwald-Mädchen«. Dazugehörte: mit den Vampirfledermäusen unter einem Dach zuleben, den Kaimanen im Yuyapichis aus dem Weg zu gehen,mit dem Einbaum über den Fluss zu staken, morgens sorgfältigdie Gummistiefel auszuschütteln, falls es sich eine giftige Spinnedarin bequem gemacht haben sollte, auf die vielen Schlangenzu achten, weil der Wald damals noch bis an die Häuserreichte. Was mir meine Eltern in jener Zeit über das Leben inder Wildnis beibrachten, rettete mir später das Leben.

Morgens um sechs Uhr gingen wir in den Wald, oft noch

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Morgens um sechs Uhr gingen wir in den Wald, oft nochvor dem Frühstück, denn da war für einen Ornithologen ammeisten los. Dies ist die Stunde der Ameisenvögel, die denWanderameisen auf ihren Zügen durch das Land folgen, weilsie die Insekten fressen, die die Ameisen aufschrecken. MeineEltern hatten überall Beobachtungspfade angelegt, die sie inmühevoller Sisyphusarbeit von Blättern frei hielten, damit wirgeräuschlos darauf gehen konnten. Dabei lernte ich auch, wieman mit Meterstab und Kompass ein Wegesystem anlegt, wieman sich auch im dichten Urwald orientiert, Wasserscheidenbestimmt und alte Indianerpfade als Abkürzungen benutzt. Wieeinst Theseus sich im Labyrinth mithilfe des Ariadnefadenszurechtfand, gewöhnte ich mir an, mit dem BuschmesserMarkierungen in Bäume zu ritzen, um aus dem Urwald wiederheraus zu finden. Außerdem lernte ich, jeden Vogel allein anseiner Stimme zu erkennen. Mit einem für heutige Begriffealtertümlichen, damals jedoch topmodernen Tonbandgerätmachten wir Aufnahmen, die später auf Tonkassettenübertragen wurden. Manchmal durfte ich den großenParabolspiegel halten, der die Töne für das Mikrofonreflektierte und verstärkte. Mit ihm nahmen wir auch Insektenauf oder Froschrufe. Überhaupt ist das Froschkonzert imUrwald ein Erlebnis für die Sinne: Manchmal ist es so laut,dass man seine eigenen Worte nicht mehr versteht. Das ist imNovember, Dezember der Fall, wenn all die Frösche ihrenLaich ablegen und Kaulquappen in riesigen Mengen schlüpfen.Die Tümpel schwellen an, scheinen ein eigenes Lebewesen zusein. Und wenn der südamerikanische Ochsenfrosch, derHualo, zu rufen beginnt, dann weiß jeder: Jetzt kommt dieRegenzeit. Egal, was die Meteorologen voraussagen, der

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Regenzeit. Egal, was die Meteorologen voraussagen, derHualo weiß es besser. Auf seinen Ruf kann man sichhundertprozentig verlassen. Natürlich gibt es auchTrockenzeitfrösche, die sich nur in dieser Jahreszeit vernehmenlassen. Diese Tiere haben ein Gespür für das, was kommt, undbrauchen keine Wetterkarte.

Hatte ich in Lima schon von klein auf meine eigenenHaustiere versorgt, so war es klar, dass wir auch im UrwaldZuwachs erhalten sollten. Gleich im ersten Jahr meinesAufenthalts in Panguana schenkten mir Nachbarn zwei ganzjunge Stärlinge, die aus dem Nest gefallen waren. Ich nanntesie Pinxi und Punki und ernährte sie mit der Pipette. Diebeiden lustigen Vögel wuchsen mir ans Herz, und ich war sehrtraurig, als Pinxi eines Tages starb. Umso mehr freute ich mich,als ich zum Weihnachtsfest 1970 eine »neue Pinxi« bekam,wie ich überglücklich an meine Großmutter in Deutschlandschrieb.

Moro schenkte mir in dieser Zeit außerdem ein kleinesAguti, ein dem Meerschweinchen verwandtes, neuweltlichesNagetier. Ich hielt es normalerweise in einem Käfig, abernatürlich ließ ich es auch hin und wieder draußen freiherumlaufen, es war zahm geworden und kehrte immer zu mirzurück. Bei einem seiner Freigänge erwischte es eines Abendsein Marder und verletzte es schwer. Ich konnte ihn zwarvertreiben und das arme Aguti in meine Obhut nehmen, aberbald merkten wir, dass die inneren Verletzungen zu starkwaren, als dass es überleben konnte. Ehe es zu viel leidenmusste, erlöste es meine Mutter. Sie machte dies, wenn esnötig wurde, mit der ihr eigenen einfühlsamen und zugleichprofessionellen Art, manchmal allerdings ging es auch ihr sehr

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professionellen Art, manchmal allerdings ging es auch ihr sehrnahe, und ich sah Tränen in ihren Augen.

Ja, der Urwald war genauso mein Lehrer wie meine Eltern,die mich jeden Morgen diszipliniert unterrichteten. Ich war jaimmer noch schulpflichtig und bekam den Unterrichtsstoff voneiner Freundin in Lima per Post geschickt – wenn die auchmanchmal erst nach Wochen oder Monaten eintraf. Danachrichteten sich meine Eltern. Sie waren sehr hinterher, dass ichetwas für die Schule tat und mich nicht die ganze Zeit in denWald verdrückte. Mein Vater war richtig gut in Mathematik,und ich war richtig schlecht. Da entschied er eines Tages:»Irgendwas muss da am Anfang schiefgelaufen sein, jetztfangen wir noch einmal ganz von vorne an.« Was war ichbegeistert! Aber er hatte recht, und da er wirklich gut erklärenkonnte, fiel bei mir bald der Groschen. Auf einmal schrieb ichkeine Fünfen mehr, sondern bekam eine glatte Eins. Viel lieberals Algebra war mir allerdings das Lesen. Ich verschlang jedenhalbwegs interessanten Lesestoff, sodass meine Eltern mirmeine Lektüre rationieren mussten. Schließlich legte jedeseinzelne Buch eine lange Reise zurück, bevor ich es in dieHand nehmen konnte. Ich erinnere mich noch gut an eineDünndruckausgabe von »Quo vadis?«, von der ich nur50 Seiten pro Tag lesen durfte. Das war hart!

Diese Urwaldschule, die Bücher, aber vor allem derUnterricht meiner Eltern haben mich auf das vorbereitet, wasich heute schaffen will: Panguana dauerhaft vor den Eingriffender Zivilisation zu retten. Das aber geht nur in Lima. ZumGlück kenne ich mich auch in der Stadt aus und habeinzwischen gelernt, mit der »Burrocracia« umzugehen.

Auch damals reichte der Arm der Behörden bis in unsere

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Auch damals reichte der Arm der Behörden bis in unsereUrwaldstation. Nach eineinhalb Jahren meldete dieSchulbehörde Bedenken an, dass ich zu denSchulabschlussprüfungen zugelassen werden könnte, ohne diedrei entscheidenden Jahre zuvor die reguläre Schulbankgedrückt zu haben. Auch wenn ich alle Tests problemlosabsolvieren konnte, es half nichts: Im März 1970 musste ichzurück nach Lima und dort wieder meine alte Schulebesuchen.

Ja, damals dachte ich, »ich muss«. So können sich dieZeiten ändern. Doch als es klar war, dass die Behördenunerbittlich dabei blieben, da freute ich mich darauf, wieder mitmeinen Freundinnen zusammen sein zu können. Panguana gingmir ja nicht verloren, hierher würde ich in allen meinen Ferienzurückkehren. Inzwischen gab es mehr und mehr Fluglinien,die Pucallpa anflogen, sodass die beschwerliche Reise überdie Anden unnötig wurde.

Alles schien ganz einfach. Keiner dachte damals daran, waseinmal geschehen würde…

Mein Mann und ich erwachen am nächsten Morgen und fühlenuns, trotz der großen Zeitumstellung, erfrischt undausgeschlafen. Ein Blick aus dem Fenster, und ich bin nochbesserer Laune als sonst, denn heute lässt sich sogar dieSonne an Limas Himmel erahnen, ein ungewöhnlichfreundlicher Empfang für diese Stadt. Wir genießen dasFrühstück, und dann geht es auch schon los. Vor dem Hotelhalten wir ein Taxi an und lassen uns zu unserem ersten Terminbei dem Anwalt fahren, den ich bei meinem letzten Besuchdarum gebeten hatte, die Formalitäten für den Erwerb neuer

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darum gebeten hatte, die Formalitäten für den Erwerb neuerGrundstücksparzellen für Panguana voranzutreiben. Imvergangenen Jahr hat sich nämlich herausgestellt, dass ich alsPeruanerin sehr wohl Grund in diesem Land erwerben kann.Aber da nach peruanischem Gesetz der Ehepartner denKaufvertrag ebenfalls unterschreiben muss und gleichermaßenins Grundbuch eingetragen wird, stellte sich – wieder einmal –ein völlig ungeahntes Problem. Da mein Mann die deutscheStaatsbürgerschaft hat, ist das nicht möglich. Und wenn dasnicht möglich ist, kann ich keinen Grund erwerben.

»Wie bitte?«, fragte ich konsterniert, aber auchkämpferisch. »Das kann ja wohl nicht sein. Irgendeine Lösungmuss es doch geben.«

Ja, es gibt sie. Aber der Weg dazu führt durch zahlreicheÄmter. Und heute, frisch und ausgeruht, schreiten wir langsam,aber beharrlich auf diesem Weg ein gutes Stück voran. VomAnwalt geht es weiter zu allen möglichen Behörden, wo wirvon einem Büro ins nächste geschickt werden. Jedes Malkönnen wir uns anhand der vor uns Wartenden ausrechnen,wie lange es diesmal wieder dauern wird. Aber ich bin zäh,dafür bin ich schließlich hierhergekommen, und Schreibtischum Schreibtisch arbeite ich mich weiter dem Ziel entgegen, dienötigen Papiere und Stempel darauf zusammenzukriegen, umaus Panguana ein Naturschutzgebiet zu machen. Dabei kannmich keiner aufhalten, auch nicht jene modisch bebrillte neueSachbearbeiterin, die vor einem halben Jahr noch nicht andiesem Schreibtisch saß und mir androht, die ganze Sacheganz neu aufrollen zu lassen, was mich um Jahre zurückwerfenwürde. Mit Geduld, der nötigen Bestimmtheit undSachkenntnis, mit Freundlichkeit und Beharrlichkeit gelingt es

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Sachkenntnis, mit Freundlichkeit und Beharrlichkeit gelingt esmir, auch diese junge Frau zu überzeugen. Und so vergehendieser Tag und der Morgen des nächsten, bis wir seufzend undzufrieden den Behörden fürs Erste den Rücken kehrenkönnen.

Eines unserer vergnüglicheren Ziele ist an diesem Tag dasNaturhistorische Museum, an dem meine Eltern so viele Jahrelang beschäftigt waren und wo ich noch immer alte Freundeaus jenen Zeiten habe. Kollegen meiner Eltern, die michherzlich empfangen und mir behilflich sind, wo sie nur können.Heute kommen mir die Säle gar nicht mehr so unheimlich vor,wie ich sie als Kind empfunden habe. Ist es nicht merkwürdig,dass Räume die Angewohnheit haben zu schrumpfen, wennwir älter werden?

Inzwischen ist die biologische Fakultät einer Universität inLima nach meiner Mutter benannt worden, noch immer sindmeine Eltern hier bekannte Größen und werden es wohlbleiben.

»Auch du bist eine Berühmtheit«, versucht Alwin mich aufdem Weg zu unserem letzten Abendessen vor unserer Abreisein die Selva zu foppen. »Wenn du es erlauben würdest, dannwäre der Flughafen morgen früh voll mit Journalisten.«

»Bloß nicht«, fahre ich ihn an. Von diesen Auftritten habeich ein für alle Mal genug. Es genügt, dass mich der Taxifahrerheute Morgen im Rückspiegel nicht aus den Augen ließ undschließlich sagte: »Ich kenne Sie irgendwoher, Señora. Erstdachte ich ja, Sie sind Evita Perón. Aber jetzt weiß ich es:Sind Sie nicht Juliana? Die das Flugzeugunglück überlebt hat?«

Ja, die Menschen erinnern sich heute noch an dieseGeschichte, die ich so viele Jahre zu vergessen versuchte.

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Geschichte, die ich so viele Jahre zu vergessen versuchte.Früher hätte ich das Gespräch vielleicht abgekürzt, doch heutegebe ich freundlich und geduldig Antwort. Ich habe lernenmüssen, mit dieser Art von Berühmtheit umzugehen. Heute binich bereit, mich meiner Geschichte zu stellen. Ohnehin holt siemich hier in Lima immer wieder ein. Nicht zuletzt, wenn ichmeine Freundinnen von damals wieder treffe, und mit Edithsind wir heute Abend zum Essen verabredet.

Jedes Mal, wenn wir uns sehen, kommt es mir so vor, alshätten wir uns gestern erst getrennt. So vieles verbindet uns,und doch führen wir zwei so grundsätzlich verschiedeneLeben. Ja, schon damals war es so, denn Edith hat mich nie inPanguana besucht, weder damals während unserer Schulzeitnoch in den Jahrzehnten danach. Aber das macht überhauptnichts, so wie ich auch in München Freunde habe, die noch niein Peru waren, oder so wie Moro, der selten aus seinemUrwald herauskommt. Treffe ich Edith, dann weiß mein Mann,dass er sich die nächsten zwei Stunden getrost mit ihrem Mannunterhalten kann, denn wir führen »Frauengespräche«, so wiewir es früher als Teenager schon taten. Auch meine engeFreundin Gaby, die mir während meiner ersten Zeit inPanguana regelmäßig mitteilte, wie weit sie in der Schule inLima gekommen waren, damit ich den Anschluss an meineKlasse nicht verpasste, besuchen wir in Lima immer wiedergerne.

Damals, nach meinen fast zwei Jahren im Urwald, konnte ichin Lima dank Gabys Hilfe problemlos in meine alte Klassezurückkehren. Zur Überraschung meiner Lehrer hatten sichmeine Noten eher verbessert, ganz besonders in Mathematik.

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Zunächst wohnte ich in einem Zimmer bei unseremlangjährigen Hausarzt, mit dem meine Eltern freundschaftlichverbunden waren. Doch als dessen Tochter von einemAuslandsaufenthalt zurückkam und das Zimmer gebrauchtwurde, zog ich in die Wohnung von Ediths Großeltern, die imHaus der Eltern meiner Freundin im ersten Stock lag. Amliebsten wäre ich natürlich wieder in das Humboldt-Hausgezogen, das ich als mein Zuhause betrachtete, doch das warleider nicht möglich. Das Humboldt-Haus als Einrichtung fürreisende Forscher existierte nicht mehr, und das Haus hattejetzt andere Bewohner.

Anfangs sagten meine Freundinnen: »Juliane, warum gehstdu denn so komisch?« Da wurde mir bewusst, dass ich mir imUrwald angewöhnt hatte, die Füße immer deutlich vom Bodenabzuheben, um nicht über eine Wurzel oder sonst etwas zustolpern. Wir lachten, und ich gewöhnte es mir wieder ab.Schon damals lernte ich, in verschiedenen Welten zu leben,und ich genoss es. Gegensätzlicher hätten diese beiden Weltennicht sein können. Zum Waschen gingen wir in Panguana anden Fluss, wir schliefen in offenen Indianerhütten, das Essenwurde auf einfachen Petroleumflammen gekocht. In Limahingegen erlebte ich alle Annehmlichkeiten eines städtischenLebens.

Meine verbleibenden eineinhalb Jahre in Lima waren eineschöne, unbeschwerte Zeit, die ich mit meinen Altersgenossenverlebte. Trotz meiner Urwalderfahrung war ich eine Schülerinwie alle anderen auch, ich gehörte dazu, und das gefiel mir. InPanguana war ich fast ausschließlich mit meinen Elternzusammen, hier mit Gleichaltrigen. Ich war ein ganz normaler

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Teenager, machte mir nicht allzu viele Gedanken, verbrachtemeine Ferien in Panguana und die Schulzeit mit meinenKlassenkameraden in Lima.

In den ersten Weihnachtsferien nach meiner Rückkehr nachLima flog ich zum allerersten Mal ganz allein mit einemFlugzeug von Lima nach Pucallpa. So war es auch für dasWeihnachtsfest 1971 geplant gewesen. Damals war ich 17und hatte gerade meinen peruanischen Schulabschluss hintermir. Das war nach der elften Klasse, vergleichbar mit derMittleren Reife in Deutschland, und natürlich wollte ich weiterzur Schule gehen und das deutsche Abitur machen.

Der Zufall wollte es, dass meine Mutter bereits imNovember nach Lima kam, weil sie einiges in der Hauptstadtzu besorgen hatte. Am liebsten wäre sie schon am Tag vordem Heiligen Abend zurück nach Pucallpa geflogen, ummöglichst bald wieder bei meinem Vater zu sein. Die Reisedauerte damals trotz des Fluges von Lima nach Pucallpa, deruns viel Zeit ersparte, mehrere Tage, je nach Wasserstand derFlüsse, je nach Zustand der Pisten und je nachdem, wieschnell man ein Boot fand.

»Wollen wir nicht schon früher fliegen?«, fragte sie mich.»Du hast doch keinen Unterricht mehr.«

Ich machte ein erschrockenes Gesicht. Denn am23.Dezember fand die feierliche Zeugnisübergabe statt und amAbend zuvor das erste richtig große und wichtige Fest meinesLebens: die »Fiesta de Promoción«, der Schulabschlussball.Wochenlang hatte ich mir mit Deutschnachhilfestunden dasGeld für mein erstes langes Kleid zusammengespart. Es hatteein elegantes blaues Muster, Puffärmel und war ein wenig

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ausgeschnitten. Auch einen Begleiter hatte ich schon, derVerwandte einer Schulfreundin, denn zu so einer Gelegenheitging man damals nicht ohne Tischherrn. Nicht alle meinerKlassenkameraden wollten das Abitur machen, und darumwar dieser festliche Schulabschluss unglaublich wichtig fürmich, es war ein Abschied von vielen meiner Freunde. Ich warein Mädchen, in dessen Jugend es nicht besonders vielegesellschaftliche Highlights gegeben hatte, und darum bat ichmeine Mutter inständig, an diesem Fest teilnehmen und auchdie Zeugnisübergabe am 23. miterleben zu dürfen. Natürlichverstand sie mich.

»Na gut«, meinte sie, »dann fliegen wir eben am 24.«Meine Mutter versuchte, einen Flug mit der zuverlässigen

Linie Faucett zu bekommen, doch die war ausgebucht. Dieeinzige andere Linie, die an jenem Tag nach Pucallpa flog, wardie LANSA, die Líneas Aéreas Nacionales S.A., eineFluggesellschaft, die bereits zwei Maschinen durch Abstürzeverloren hatte. Es gab ein geflügeltes Wort, das lautete:»LANSA se lanza de panza«, was so viel bedeutet wie:»LANSA landet auf dem Bauch«. Mein Vater hatte meinerMutter extra noch eingeschärft, nicht mit dieser Linie zufliegen. Doch die Alternative wäre gewesen, noch ein oder garzwei Tage länger zu warten. Und dazu hatte meine Mutterkeine Geduld.

»Ach«, sagte sie, »es wird ja nicht jede Maschineabstürzen.«

Und so buchte sie für uns zwei Plätze in dieser Maschine.Was wir nicht wussten: Es war das letzte Flugzeug, das dieLANSA überhaupt noch besaß. Alle anderen waren bereits

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abgestürzt, eine hatte sogar eine ganze Schulklasse an Bordgehabt. Nur ein Copilot hatte dieses Unglück schwer verletztüberlebt…

Am Abend unseres zweiten Tages in Lima packen mein Mannund ich schon wieder die Koffer. Ja, ich gebe zu, ich binaufgeregt. Voller Vorfreude auf Panguana, ich kann es kaumerwarten, endlich wieder dort zu sein. Ich freue mich auf denWald, die Tiere darin, die vertrauten Geräusche, den Geruch,das Klima. Auch wenn einem vom ersten bis zum letztenMoment die Bluse am Körper klebt und man einfach nurschwitzt, von morgens bis abends. Auch wenn der Wegdorthin noch immer mühsam ist, es ist aber kein Vergleich zudem, was wir damals auf uns nehmen mussten, um dorthin zugelangen. In meine Vorfreude mischt sich allerdings auch einanderes Gefühl, und ich weiß, dass es mich niemals verlassenwird, vor allem nicht vor einem Flug von Lima nach Pucallpa,jener einen Strecke, die mein Leben so entscheidendverändern sollte. Wenn es für mich ohnehin schon nicht leichtist, in ein Flugzeug zu steigen, dann fällt es mir am schwersten,gerade diesen Flug zu wiederholen. Doch ich werde michzusammenreißen. Kollegen, die uns nach Panguana begleitenund dort ihre Forschungsarbeiten vorantreiben, scherzenmitunter, dass es wohl kaum eine sicherere Art gibt, als mit mirgemeinsam zu fliegen. Gelte es doch als äußerstunwahrscheinlich, dass ein und derselbe Mensch zweimalabstürzt. Ich jedoch kenne Beispiele, bei denen das durchausder Fall war. Doch an die will ich heute nicht denken.

Am nächsten Morgen klingelt der Wecker früh. Wie damalsist unser Flug auf sieben Uhr angesetzt. Während wir uns eilig

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ist unser Flug auf sieben Uhr angesetzt. Während wir uns eiligfertig machen und uns zum Flughafen fahren lassen, ist alleswieder da. Es ist vier Uhr in der Frühe, und wie damals fühleich mich überhaupt nicht ausgeschlafen. Als wäre ich wieder17, döse ich vor mich hin, denke an die Schulfeiern, denAbschlussball. Ich hatte ja nicht die geringste Ahnung, wie sehrdieser Tag mein Leben verändern würde…

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Als wir früh am Morgen des 24.Dezember 1971 zumFlughafen kommen, ist alles voller Menschen. Am Tag zuvorwaren mehrere Flüge ausgefallen, und so drängen sich nunHunderte um die Schalter, alle bestrebt, unbedingt noch zuWeihnachten nach Hause zu kommen. Es herrscht Chaos inder Abfertigungshalle. Jetzt sind wir so früh aufgestanden, undnun heißt es auf einmal, wir müssen warten. Eine Zeit lang istes nicht mal sicher, ob unsere Maschine überhaupt nachPucallpa fliegen wird oder stattdessen in den Süden nachCuzco. Ich finde das sehr ärgerlich.

Im Gedränge um die Bordscheine ist auch der FilmemacherWerner Herzog, der bereits seit 24 Stunden empört versucht,für sich und seine Filmcrew Plätze in einer Maschine nachPucallpa zu bekommen, denn sein Flug am Vortag warebenfalls ausgefallen. Er muss in den Urwald, denn dort will erSzenen für seinen Film »Aguirre, der Zorn Gottes« aufnehmen.Er kämpft regelrecht darum, in unserer Maschine mitfliegen zukönnen, und ist sehr verärgert, als es ihm nicht gelingt. Damalsbemerke ich ihn in all dem Trubel nicht weiter, erst viele Jahrespäter wird er mir sagen, dass wir uns an jenem Tagwomöglich sogar direkt begegnet sind. Wer mir jedoch in derSchlange auffällt, das sind zwei gut aussehende, fröhlicheJungen in etwa meinem Alter, die amerikanisch sprechen undmit denen wir ein paar Worte wechseln. Sie erzählen, dass siein der Nähe von Pucallpa in Yarinacocha leben, wo eineGruppe von amerikanischen Linguisten seit Jahren dieSprachen der Urwaldindianer erforscht. Ihnen gelingt es wiemir und meiner Mutter, in der überfüllten Maschine Plätze zu

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mir und meiner Mutter, in der überfüllten Maschine Plätze zuergattern.

Endlich, es ist inzwischen schon nach elf Uhr vormittags,wird unser Flug aufgerufen. Und als wir die Maschineschließlich sehen, erscheint sie uns prächtig. Es ist eineTurboprop der Firma Lockheed, Typ L-188A Electra, und inmeinen Augen sieht sie aus wie neu. Was sie keineswegs ist,wie wir später erfahren werden. Dieser Flugzeugtyp wareigentlich für den Einsatz in Wüstenregionen entworfen wordenund in den USA schon seit Jahren ausgemustert. Weil sieTurbulenzen nicht gut standhalten kann, denn ihre Flügelwurden, anders als bei den übrigen Maschinen-Typen, fest mitdem Rumpf verankert, ist eine Turboprop für einen Flug überdie Anden denkbar schlecht geeignet. Nein, sie war nicht neu,sondern aus lauter Einzelteilen anderer Flugzeugezusammengesetzt worden. Aber das wussten wir damalsnatürlich nicht.

Ihr Name ist Mateo Pumacahua, und das kommt mirdenkwürdig vor, denn so heißt ein Nationalheld, der für dieUnabhängigkeit Perus kämpfte und schließlich von denSpaniern gevierteilt wurde. Die beiden jungen Amerikaner undich machen Scherze über diesen Namen, einer sagt: »Na, dannwollen wir mal hoffen, dass die Maschine nicht auch gevierteiltwird.«

Im Flugzeug nehmen wir unsere Plätze ein, alles ist ganznormal. Meine Mutter und ich sitzen in der vorletztenReihe 19, ich wie immer am Fenster, das ist der Sitz F. Vonhier aus kann ich den rechten Flugzeugflügel sehen. Es ist eine

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hier aus kann ich den rechten Flugzeugflügel sehen. Es ist eineDreiersitzbank, meine Mutter sitzt in der Mitte, und am Gangnimmt ein dicker Herr Platz, der auf der Stelle einschläft.

Meine Mutter fliegt nicht gern. Sie sagt oft: »Das istvollkommen unnatürlich, dass sich so ein Vogel aus Metall indie Luft erhebt.« Sie als Ornithologin sieht das von eineranderen Warte als andere Menschen. Auf einem ihrer Flüge inden USA hatte sie schon einmal ein Erlebnis, das ihr einengroßen Schrecken einjagte, damals war ein Triebwerkausgefallen. Obwohl nichts passierte und die Maschine auchmit einem Triebwerk sicher landen konnte, schwitzte sie Blutund Wasser.

Es gab noch ein anderes Ereignis, das ihr das Fliegenverdächtig machte. Wir hatten einen Bekannten in Cuzco, derflog grundsätzlich nicht. »Nein«, sagte er, »ich fliege nicht.Basta.« Jahrelang hat er darum immer den Landweggenommen, egal, wohin seine Reise ging. Das hat erdurchgehalten, bis er eines Tages aus irgendeinem Grund dochfliegen musste. Und genau diese Maschine stürzte ab. Fürmeine Mutter war das eine Art Omen.

Dennoch ist sie oft geflogen, besonders von Lima in denUrwald, sobald das möglich war, schließlich ersparte man sichso viele Stunden Fahrt. Früher, bevor es die regulärenFluglinien gab, nahmen wir sogar mitunter Propellerflugzeugeüber die Anden, und da diese Maschinen in geringer Höhefliegen, geht es da immer recht turbulent zu, selbst mir wurdedann manchmal schlecht. Einige Wochen vor jenem Flug amHeiligabend des Jahres 1971 hatte ich mit meiner ganzenJahrgangsstufe eine achttägige Reise unternommen, dertraditionelle »Viaje de Promoción«. Wir flogen nach Arequipa

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traditionelle »Viaje de Promoción«. Wir flogen nach Arequipaim Süden des Landes, und in einem Brief an meine Großmutterschrieb ich: »Der Flug war herrlich!« Wir besuchten unteranderem Puno, den Titicacasee und Machu Picchu, und vonCuzco aus ging es wieder mit dem Flugzeug zurück nach Lima.Dieser Flug war extrem turbulent, und viele meinerKlassenkameraden fühlten sich nicht wohl. Ich aber warüberhaupt nicht nervös, ich fand das Geschaukel damals sogarschön. Ich war so naiv, dass mir überhaupt nicht in den Sinnkam, dass etwas passieren könnte.

Heute ist am Flughafen alles ruhig. Ohne Probleme checkenmein Mann und ich bei der Linie Star Peru ein. Danachfrühstücken wir in aller Ruhe bei einem der neuenCoffeeshops. Ich versuche so zu tun, als wäre dieser Flugeiner von vielen. Und irgendwie ist er das ja auch. Dann ist esZeit, an Bord zu gehen. Wie immer sitze ich rechts am Fenster.Wer weiß, vielleicht haben wir ja heute schönes Wetter überden Anden. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, und derchronisch bedeckte Himmel von Lima lässt nicht ahnen, wie esüber den Kordilleren aussehen wird.

Es stellt sich heraus, dass wir ein Traumwetter für diesenReisetag erwischt haben: Die Berge sind vollkommenwolkenlos, und in der aufgehenden Sonne erglänzen die Gipfelund Gletscher, die massiven Rücken und ausgedehntenHochebenen der Anden erst in pastellenen und dann inglühenden Farben. Rund 20 Minuten dauert dieses Spektakel,dann fallen die Berghänge im Osten zum endlos weiten Urwaldab, der bereits Teil des Amazonasgebietes ist. Bald kommt dieStelle, wo es damals passierte…

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Der Flug von Lima nach Pucallpa dauert nur eine knappeStunde. An jenem 24.Dezember 1971 verlaufen – ganz so wieheute – die ersten 30 Minuten vollkommen normal. DieMitreisenden sind aufgekratzt und fröhlich, alle freuen sich aufdas Weihnachtsfest zuhause. Nach rund 20 Minutenbekommen wir ein kleines Frühstück serviert mit einembelegten Brötchen und einem Getränk, gerade so wie heuteauch. Zehn Minuten später beginnen die Stewardessen schonwieder abzuräumen. Und da, ganz plötzlich, geraten wir in eineGewitterfront.

Und diesmal ist es vollkommen anders als alles, was ichzuvor erlebt habe. Der Pilot weicht dem Unwetter nicht aus,sondern fliegt geradewegs mitten in den Höllenkessel hinein.Es wird Nacht um uns, am helllichten Tage. Blitze zuckenunablässig aus allen Richtungen. Gleichzeitig beginnt eineunsichtbare Macht an unserem Flugzeug zu rütteln, als sei esein Spielzeug. Die Menschen schreien auf, als ihnenGegenstände aus den offenen Gepäckablagen auf die Köpfefallen. Ein wahrer Regen aus Taschen, Blumen, Paketen,Spielzeug, verpackten Geschenken, Jacken und Kleidernprasselt auf uns herab. Sandwich-Tabletts machen sichselbstständig, Tassen segeln durch die Luft, halbausgetrunkene Getränke ergießen sich auf Köpfe undSchultern. Die Menschen bekommen es mit der Angst zu tun,sie kreischen, weinen.

»Hoffentlich geht das gut«, sagt meine Mutter. Ich kann ihreNervosität fühlen, während ich selbst noch immer ziemlichruhig bin. Ja, auch ich beginne mir Sorgen zu machen, doch ichkann mir einfach nicht vorstellen, dass…

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kann mir einfach nicht vorstellen, dass…Da sehe ich auf einmal einen blendend weißen Schein über

der rechten Tragfläche. Ich weiß nicht, ist es ein Blitz, der dorteinschlägt, oder handelt es sich um eine Explosion? MeinGefühl für Zeit geht verloren, ich kann nicht sagen, ob das allesMinuten dauert oder nur den Bruchteil einer Sekunde: Ichwerde von diesem gleißenden Licht geblendet, während ichgleichzeitig meine Mutter ganz ruhig sagen höre: »Jetzt ist allesaus.«

Heute weiß ich, sie hat in diesem Moment bereits begriffen,was passieren würde. Ich dagegen begreife überhaupt nichts,in mir ist ein großes Staunen, denn jetzt sind nicht nur meineOhren, mein Kopf, nein, ich selbst bin vollkommen ausgefülltvon diesem tiefen Brausen der Maschine, während sich dieNase des Flugzeugs fast senkrecht nach unten neigt. Wirstürzen. Aber auch diesen Sturzflug erlebe ich, als währte ernicht länger als die Zeitspanne eines Wimpernschlags, dennvon einem Augenblick auf den anderen verstummen dieSchreie der Menschen, wie ausradiert ist das Dröhnen derTurbinen, meine Mutter ist nicht mehr an meiner Seite, und ichbin nicht mehr im Flugzeug. Ich befinde mich zwar immer nochangeschnallt auf meiner Sitzbank, aber ich bin allein.

Allein. In 3000 Metern Höhe allein. Und ich falle.Gegenüber dem Lärm, der eben noch herrschte, sind die

Geräusche meines freien Falles geradezu leise. Ich höre dasRauschen der Luft, das meine Ohren erfüllt. Ich bin mir heutenicht sicher, ob ich lückenlos bei Bewusstsein blieb,wahrscheinlich nicht. Vermutlich dauerte der Sturzflug in derMaschine viel länger, technischen Berechnungen zufolge sogarzehn Minuten. Überhaupt kann ich mich erst nach einigen

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zehn Minuten. Überhaupt kann ich mich erst nach einigenWochen an diese Tatsache des Sturzflugs erinnern, zunächsterlebe ich ihn in meinen Alpträumen, bis die Erinnerungwiederkehrt. Auch weiß ich bis heute nicht, wie ich auf einmalaußerhalb des Flugzeugs sein konnte.

Werner Herzog hat in seinem Text »Schwingen derHoffnung« in dem Buch »Höllenfahrten« geschrieben: »…nichtsie hat das Flugzeug verlassen, sondern das Flugzeug sie«, unddas trifft es genau. Ich hing mit meinem Gurt im Sitz, und ummich war nichts. Was damals genau passiert ist, darüber istviel spekuliert worden. Sehr wahrscheinlich ist das Flugzeugnach dem Einschlag des Blitzes einfach in viele Teilezerbrochen. Wir saßen vermutlich an einer der Bruchstellen,und unsichtbare Kräfte schleuderten mich auf dem Sitz hinaus,mitten in die tobenden Elemente. Wie genau das geschehen istund was dabei mit meiner Mutter passierte, das werde ichwohl niemals erfahren.

Aber ich erinnere mich daran, dass ich falle. Ich falle, undder Gurt schnürt mir den Bauch so stark ab, dass es wehtutund ich keine Luft bekomme. In diesem Moment wird mirglasklar bewusst, was gerade passiert. In meinen Ohren dasBrausen der Luft, durch die ich mich nach unten bewege.Noch ehe ich Angst empfinden kann, verliere ich erneut dasBewusstsein. Als Nächstes erinnere ich mich, mit dem Kopfnach unten zu hängen, während der Urwald in langsamkreiselnden Bewegungen auf mich zukommt. Nein, nicht erkommt auf mich zu, sondern ich auf ihn. Die Baumkronen,grasgrün, dicht an dicht, erinnern mich an Brokkoliköpfe. DieBilder sind verwischt, ich sehe alles wie durch einen Nebel.Dann umfängt mich wieder tiefe Nacht.

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Dann umfängt mich wieder tiefe Nacht.Ich träume…Es ist immer derselbe Traum, eigentlich sind es zwei, die

ineinander verwoben sind; wie in einem Kaleidoskop wechsleich während des Schlafens von einem in den anderen. Imersten dieser Träume rase ich in niedriger Höhe wie verrücktdurch einen dunklen Raum, immerzu rase ich an der Wandentlang, ohne an sie zu stoßen. Dabei habe ich ein brausendes,dröhnendes Geräusch in den Ohren, ganz so, als sei ich selbstmit einem Motor ausgestattet. Im zweiten Traum habe ich dasdringende Bedürfnis, mich zu waschen, weil ich michvollkommen schmutzig fühle. Ich habe das Gefühl, mein ganzerKörper klebt und ist voller Morast, und ich muss unbedingtbaden. Und dann denke ich in meinem Traum: »Das ist dochganz leicht. Du musst einfach nur aufstehen. Nur aufstehen undzur Badewanne gehen. Es ist ja gar nicht weit.« Und in demAugenblick, als ich im Traum den Entschluss fasseaufzustehen, da wache ich auf. Ich begreife, dass ich michunter meiner Sitzbank befinde. Mein Gurt ist gelöst, also mussich zwischendurch schon einmal wach gewesen sein, auch binich offenbar noch tiefer unter die schützenden Rückenlehnendes Dreiersitzes gekrochen. Fast wie ein Embryo lag ich dortden restlichen Tag und eine ganze Nacht bis zum nächstenMorgen, vollkommen durchweicht, voller Schlamm und Erde,denn es muss einen Tag und eine Nacht lang in Strömengeregnet haben.

Ich schlage die Augen auf, und mir ist sofort klar, wasgeschehen ist: Ich bin abgestürzt und befinde mich mitten imUrwald. Nie werde ich das Bild vergessen, das ich sah, als ichmeine Augen öffnete: die Wipfel der Urwaldriesen und

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meine Augen öffnete: die Wipfel der Urwaldriesen undgoldenes Licht, das alles Grün in vielen Farbnuancen zumLeuchten bringt. Für alle Zeiten wird dieser Anblick in meinerErinnerung eingebrannt bleiben wie ein Gemälde. Schon dieseersten Eindrücke zeigen mir einen Wald, wie ich ihn vonPanguana her kenne. Angst empfinde ich nicht. Aber eingrenzenloses Gefühl der Verlassenheit. Und mit übergroßerDeutlichkeit wird mir bewusst, dass ich allein bin. MeineMutter ist verschwunden, die doch eben noch neben mir saß.Ihr Platz ist leer. Auch von dem beleibten Herrn, der sofortnach dem Start eingeschlafen war, fehlt jede Spur.

Ich versuche mich aufzurichten, aber es gelingt mir nicht,sofort wird mir wieder schwarz vor Augen. Ich habe wohl eineschwere Gehirnerschütterung, fühle mich hilflos undmutterseelenallein.

Instinktiv schaue ich auf meine goldene Konfirmationsuhr,sie funktioniert noch, ich kann ihr feines Ticken hören, doch esfällt mir schwer, das Zifferblatt abzulesen. Ich kann nicht richtigsehen. Nach einer Weile stelle ich fest, dass mein linkes Augevollständig zugeschwollen ist. Und durch das andere sehe ichnur wie durch einen schmalen Schlitz. Außerdem ist meineBrille verschwunden. Seit ich 14 bin, trage ich die Brille, auchwenn ich sie nicht besonders mag. Jetzt ist sie weg. Dennochgelingt es mir endlich, die Zeit abzulesen. Es ist neun Uhr, demSonnenstand nach ist es Morgen. Wieder wird mirschwindelig, und ich lege mich erschöpft zurück auf denUrwaldboden.

Was ich nicht weiß: Inzwischen hat die größte Suchaktion inder Geschichte der peruanischen Luftfahrt begonnen. Schon

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der Geschichte der peruanischen Luftfahrt begonnen. Schonseit dem vergangenen Nachmittag ist ganz Pucallpa in höchsterAufregung. Die Innenstadt war am Nachmittag und Abend des24.Dezember vollkommen ausgestorben, weil die Menschenden Flughafen und sogar die Landebahnen belagerten.Nachdem die LANSA-Maschine von einem Augenblick aufden anderen vom Radarschirm verschwunden war, kurznachdem sie einen letzten Funkspruch bei Oyón, ungefähr15 Flugminuten von Pucallpa entfernt, gesendet hatte, fehltevon ihr jede Spur. Widersprüchliche Informationen verwirrenund ängstigen die Angehörigen, die Hoffnung, die Maschine seian einem anderen Ort notgelandet, wird jäh enttäuscht.Irgendwann kann keiner mehr die Augen davor verschließen,dass die Maschine verschollen ist, allem Anschein nachabgestürzt in dem schweren Unwetter, das bis nach Pucallpazu spüren war. Auch Heinrich Maulhardt, ein Freund unsererFamilie, der meine Mutter und mich vom Flughafen abholenwollte, ist unter den Wartenden. Er hat nun die schwereAufgabe, meinem Vater im fernen und unzugänglichen Urwalddie schlimme Nachricht zukommen zu lassen.

Nach einer Weile versuche ich erneut, mich aufzurichten,komme irgendwie auf die Knie, aber dann wird mir wiederschwarz vor Augen und derart schwindelig, dass ich michaugenblicklich wieder hinlege. Ich versuche es wieder undwieder, und irgendwann gelingt es mir. Nun entdecke ich dieVerletzungen, die ich mir zugezogen habe: Mein rechtesSchlüsselbein fühlt sich komisch an, ich taste es ab, offenbar istes gebrochen, aber die beiden Enden haben sichübereinandergeschoben und durchbohren die Haut nicht, es tut

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übereinandergeschoben und durchbohren die Haut nicht, es tutüberhaupt nicht weh. Dann entdecke ich an meiner linkenWade eine vielleicht vier Zentimeter lange und tief gezackteSchnittwunde, die wie ein Canyon aussieht, schartig an denRändern, als ob sie eine grobe Metallkante gerissen hat. Aberdas Seltsame ist, sie blutet überhaupt nicht.

Und dann, auf einmal, fühle ich erneut die Abwesenheit vonanderen Menschen. Da ist niemand, ich weiß es. Auch nichtmeine Mutter. Aber warum? Sie saß doch neben mir! Ichlasse mich auf alle viere nieder und krabble umher. Suche nachihr. Rufe ihren Namen. Aber nur die Stimmen des Urwaldsgeben mir Antwort.

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Später erzählten mir die Einwohner von Puerto Inca, einerUrwaldstadt, die von der Stelle, wo ich mich nach demUnglück am Boden wiederfand, in Luftlinie gemessen nur rund20 Kilometer entfernt ist, dass an jenem Tag ein fürchterlicherSturm mit extrem starken Winden geherrscht hatte. Es gibtMenschen, die wollen ein Flugzeug gehört haben, wie es überder Stadt kreiste und dann Richtung Urwald verschwand. Obder Pilot erwogen hatte, in Puerto Inca notzulanden? Ichbezweifle es. Denn die Trümmer wurden ziemlich genau aufder Route, die das Flugzeug normalerweise nahm, gefunden.Der Pilot wich also vom Kurs nicht ab.

Durch Werner Herzog erfuhr ich später von den kurz vordem Unglück im Cockpit aufgezeichneten Gesprächen, dennman fand irgendwann sogar die Blackbox unter denTrümmern. Die Piloten plauderten über das bevorstehendeWeihnachtsfest, über ihre Kinder und Familien und wie sehrsie hofften, so schnell wie möglich nach Lima zurückzukehren.Offenbar hatte sie das tödliche Unwetter genauso überraschtwie uns Passagiere. Das Flugzeug war bereits in denLandeanflug auf Pucallpa gegangen. Ich weiß natürlich nicht,ob die Piloten überhaupt eine andere Wahl hatten, auf alleFälle steuerten sie die Maschine mitten in das Unwetter hinein.

Da war auch ein Holzfäller, der sich während des Unglücksim Wald aufhielt und sagte, er habe einen lauten Knall gehört,wie eine Explosion. Später, als die Rettungstruppen nach demverunglückten Flugzeug suchen, wird er es dembefehlshabenden Kommandanten berichten. Doch man glaubtihm nicht. Zu viele Hinweise aus der Bevölkerung, die sich als

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ihm nicht. Zu viele Hinweise aus der Bevölkerung, die sich alsfalsch erwiesen, haben die Suchtruppen misstrauisch gemacht.Ist es Schicksal, dass ebenjener Holzfäller namens DonMarcio später bei meiner Rettung eine entscheidende Rollespielen wird?

Was mich seither am meisten beschäftigt und andereMenschen offenbar auch, das ist die Frage, wie um alles in derWelt ich meinen Sturz aus drei Kilometer Höhe mit sogeringen Verletzungen überstehen konnte. Denn wenn sichauch später herausstellen sollte, dass ich weit schwererverwundet war, als ich es nach meinem Erwachen wahrnahm,so waren meine Verletzungen lächerlich im Vergleich zu derSchwere meines Sturzes. Außer dem Schlüsselbein hatte ichnichts gebrochen, und auch meine Fleischwunden warenüberschaubar. Wie konnte das sein? War es ein Wunder?Oder gibt es eine rationale Erklärung dafür?

Im Gespräch mit Werner Herzog habe ich später über dreiErklärungstheorien nachgedacht, und wahrscheinlich verdankeich mein Überleben einer Kombination aus allen dreien:

Zum einen ist bekannt, dass in besonders ausgedehntenGewitterwolken heftige Aufwinde herrschen, die alles nachoben treiben und durchaus einen Menschen beim Herabfallenauffangen und möglicherweise sogar emporwirbeln könnten.Solche Aufwinde könnten meinen Sturz abgemildert haben.Dann war es ja so, dass ich während der kurzen Zeitspanne, inder ich bei Bewusstsein war, das Gefühl hatte, der Regenwaldkäme in Kreisen auf mich zu.

Also nehme ich an, dass ich einfach trudelte, so wie einAhornsamen beim Fallen kreiselt. Und so wie das Flügelchen

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Ahornsamen beim Fallen kreiselt. Und so wie das Flügelchenam Ahornsamen für dieses Kreiseln verantwortlich ist, könnteder Dreiersitz, an dessen einem Ende ich am Gurt festhing,über mir gewirkt und meinen Fall verlangsamt haben.Außerdem erzählte mir ein Mann, der bei der Bergung derLeichen dabei war, dass nur eine einzige sehr gut erhalteneSitzbank gefunden wurde, und zwar an einer Stelle im Wald,über der die Urwaldriesen durch ein dichtes Geflecht vonLianen miteinander verbunden waren. Vielleicht hatte es sichdabei um »meinen« Sitz gehandelt? Jedenfalls könnte diesesLianengewirr den Sturz abgefedert und verlangsamt haben,wahrscheinlich hat es sogar dafür gesorgt, dass der Dreiersitzwieder unter mich geriet und ich dann so wie in einem Bootdurch die Lianen und Baumäste hindurchfiel und relativ sanftauf dem Urwaldboden landete. Denn wäre ich ungeschützt aufeine der Baumkronen geschlagen, dann hätte ich den Aufprallmit Sicherheit nicht überlebt.

Das alles leuchtet ein. Und dennoch bleibt da ein Rest.Etwas Unerklärliches. Ein großes Staunen. Viele Menschenfragten mich seither, wie es kam, dass ich nicht aus lauterAngst gestorben bin während meines freien Falls. Aber dieWahrheit ist, merkwürdigerweise empfand ich überhaupt keineAngst. Noch während ich stürzte und bei vollem Bewusstseinden Urwald unter mir kreisen sah, war mir ja sogarvollkommen bewusst, was gerade mit mir passierte. Vielleichtwaren meine bewussten Momente zu kurz, um überhauptAngst bekommen zu können, aber ich glaube viel eher, dasswir eine Art eingebaute Sicherung in uns tragen, die uns insolchen extremen Augenblicken davor bewahrt, vor Angstverrückt zu werden oder gar zu sterben. Meine Erfahrung ist:

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verrückt zu werden oder gar zu sterben. Meine Erfahrung ist:Wenn man mittendrin ist in einem furchtbaren Geschehen –und je ungeheuerlicher es ist, desto mehr –, dann lässt maneinfach los. Der Schrecken kommt hinterher, so wie in derGeschichte des Reiters über den Bodensee, der erst amsicheren Ufer erkennt, über welch dünnes Eis er sein Pferdgejagt hat, und tot zu Boden sinkt.

An jenem 25.Dezember 1971, als ich mitten im Dschungel ausmeiner langen Ohnmacht erwache, stecke ich noch mittendrinim Geschehen. Obwohl ich genau weiß, dass ich aus demFlugzeug gestürzt bin, bewahren mich die schwereGehirnerschütterung und wahrscheinlich auch ein tiefer Schockdavor, einfach durchzudrehen. Außerdem lebten meine Elternmir von klein auf vor, dass man mit Ruhe und gründlichemNachdenken fast alle Situationen, in die man in der Naturgerät, meistern kann. Und so ist es auch jetzt.

Ich zweifle nicht daran, dass ich aus diesem Urwaldirgendwie herauskommen werde. Schon als Kind nahmenmich die Eltern mit in die Selva, und immer sind wir heilherausgekommen. Ich muss jetzt einfach meine Mutter finden.Doch wie? Fühle ich mich doch immer noch wie in Wattegepackt.

Wer noch nie im Regenwald war, für den kann er sichdurchaus bedrohlich präsentieren. Er erscheint dann wie eineMauer, durch die grün gefiltertes Licht einfällt, mit unendlichvielen Schatten in unterschiedlicher Dichte. Die Baumkronenbefinden sich in schwindelnder Höhe, und das bewirkt, dassman sich unten auf dem Grund des Urwalds vorkommt wie ein

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winziges Wesen. Alles ist erfüllt von Leben, und dochbekommt ein ungeübtes Auge nur selten ein größeres Tierwirklich zu Gesicht. Es huscht, es raschelt, es flattert, essummt, gluckert, schnalzt, pfeift und keckert – für viele dieserLaute gibt es gar keine Worte –, und das ist oft noch vielbeängstigender, als wenn man sehen kann, was da kreucht undfleucht. Frösche und Vögel machen die unglaublichstenGeräusche, und wenn man sie nicht kennt, kann man sie diesenTieren oft nicht zuordnen, sie erscheinen manchem Menschenvielleicht sogar hämisch und bedrohlich. Und dann ist da dieseenorme Feuchtigkeit. Selbst wenn es nicht regnet, tropft esbesonders in den frühen Morgenstunden beständig auf einenherab. Auch die Gerüche des Urwalds sind ungewöhnlich,häufig riecht es nach dumpfer Fäulnis, nach den Pflanzen, diesich ineinanderschlingen und ranken, wachsen und wiedervergehen. In diesem Geranke können Schlangen sitzen, giftigeund ungefährliche, perfekt getarnt, und oft hält man sie füreinen Ast, nimmt sie überhaupt nicht wahr. Tut man es danndoch, befällt viele Menschen ein kreatürlicher, instinktiverSchrecken, der sie lähmt oder zur wilden Flucht treibt.

Und natürlich gibt es eine ungeheure Fülle anverschiedensten Insekten. Sie sind die wahren Herrscher desUrwalds. Heuschrecken, Wanzen, Ameisen, Käfer undSchmetterlinge in den prächtigsten Farben. Und vieleStechmücken, die gerne Menschenblut saugen, sowie Fliegen,die ihre Eier unter die Haut oder in Wunden legen. StachelloseWildbienen, die einem zwar nichts tun, sich aber gerne inHorden auf schwitzende Menschenhaut setzen oder in denHaaren festkleben, wie mit Leim festgepappt.

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Aber mein Vorteil war: Ich hatte lange genug im Urwaldgelebt, um dies alles kennenzulernen, meine Eltern warenZoologen, und es gab fast nichts, was sie mir nicht gezeigthatten. Ich musste nur in meinem von der Gehirnerschütterungbenebelten Kopf Zugang zu all diesem Wissen finden. Dennnun war es nicht mehr nur etwas, was ich eben nebenbeimitbekommen hatte. Jetzt war dieses Wissenüberlebensnotwendig für mich.

Das ist auch der Grund, warum ich heute noch eingeladenwerde zu Gesprächen, Fernsehterminen, ja sogar Survival-Trainings. Die am häufigsten gestellte Frage lautet: »Was mussman tun, wenn man im Urwald verunglückt?«

Ich kenne mich zwar im peruanischen Regenwald aus,vielleicht auch im Amazonas-Regenwald, aber damit hört esauch schon auf. Was man im Urwald fürs Überleben tun soll –das kann man leider nicht pauschal sagen. Urwälder haben dieEigenart, ganz unterschiedlich zu sein, in jedem herrschenandere Gesetze. Wenn irgendwo ein Flugzeug abstürzt, dannsteht bei mir das Telefon nicht mehr still. Das Schicksal hatmich anscheinend zu einer Expertin fürs Überleben vonFlugzeugkatastrophen werden lassen, und darum muss ichimmer wieder Auskunft geben. Als vor einigen Jahren einejunge Frau im Dschungel des Kongo verschwand, da fragtemich eine Journalistin: »Was würden Sie ihr raten? Wie soll siesich verhalten?«

Da musste ich die enttäuschende Antwort geben: »Ich warnoch nie im Kongo, ich müsste erst vor Ort sehen, wie es daaussieht, welche Tiere es dort gibt, welche Pflanzen. JederUrwald ist anders.« Außerdem entspricht es ganz und gar nicht

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meinem Wesen, anderen Menschen zu sagen, wie sie sich zuverhalten haben. Ich wäre die Letzte, die dieser jungen Fraugesagt hätte, was sie zu tun hat, ich weiß viel zu gut aus meinereigenen Erfahrung, dass jede Situation neue Entscheidungenverlangt.

Jene Reporterin drehte mir dann meine Antwort im Mundherum und schrieb, ich hätte gesagt, wenn man sich im Urwaldim Kongo verirrt, ist man rettungslos verloren. Das ist es, wasmich an Journalisten oft so wütend macht.

Oder das zwölfjährige Mädchen, das in einer jemenitischenMaschine im Juli 2009 vor der komorischen Küste abstürzteund als Einzige überlebte. Sie konnte sich in den Wellen an einWrackteil klammern und musste die ganze Nacht im Meerausharren, was ich mir schrecklich vorstelle. Viele Menschensahen Parallelen zu meiner Geschichte, weil auch sie bei demUnglück ihre Mutter verlor. Aber damit hören dieGemeinsamkeiten auch schon auf. »Was würden Sie diesemMädchen für sein weiteres Leben raten?«, wurde ich gefragt.Da muss ich dann zugeben, dass ich trotz meines Schicksalsein ganz normaler Mensch bin und mich nicht berufen fühle,wildfremden Personen zu sagen, wie sie nun ihr Lebengestalten sollten, nur weil wir beide einen Flugzeugabsturzüberlebten. Mich stört diese Art Fragen, denn ich finde, essteht einem Menschen nicht zu, einem anderen klugeRatschläge zu erteilen. Man erlebt aber auch lustige Dinge.Zum Beispiel rief einmal ein Journalist von der »SüddeutschenZeitung« an und bat um ein Interview. Er sagte am Telefon:»Sie bekommen auch eine lilafarbene Orchidee von mirgeschenkt.«

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»Das ist sehr nett von Ihnen«, gab ich zurück, »aber dasmüssen Sie nicht. Wie kommen Sie überhaupt auf so etwas?«

Da antwortete er: »Na, Sie mögen doch lila Orchideen sogern, das hab ich im Internet gelesen.«

Und wirklich: Eine junge Journalistin hatte mich an meinemArbeitsplatz besucht, und da standen zufällig solche Pflanzen.In ihrem Artikel schrieb sie, ich würde mich hinter lilaOrchideen und anderen Pflanzen regelrecht verschanzen.Manchmal staune ich geradezu über die Phantasie derPresseleute.

Hin und wieder gibt es auch Interviewanfragen, die sich umandere Themen drehen, zum Beispiel um die Zukunft vonPanguana, was ich persönlich viel spannender finde. Dochmeistens geht es immer nur um »das eine«. Fast alles inmeinem Leben scheint mit dem Unfall zu tun zu haben, derarthat mich dieses Ereignis in bestimmte Bahnen gelenkt.

Mein Mann reißt mich aus meinen Gedanken.»Hier«, sagt er und schaut auf seine Armbanduhr, »hier

muss es passiert sein.«Ich blicke hinab auf das Meer aus Baumkronen. Da unten

irgendwo bin ich damals im Urwald gelandet. Hier habe ich elfTage lang unbeirrbar meinen Weg gesucht, heraus aus derWildnis. Immer wieder erfüllt es mich mit Staunen, dass ichnoch auf der Welt bin. Wo doch alle anderen ihr Leben lassenmussten…

Als ich endlich halbwegs sicher auf meinen beiden Beinenstehe, sehe ich mich um. Da ist nichts außer meiner Sitzbank.Ich rufe. Keine Antwort. Ich blicke auf. Dort oben, jenseits

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Ich rufe. Keine Antwort. Ich blicke auf. Dort oben, jenseitsder dichten Baumwipfel, scheint die Sonne. Das dichte grüneDach des Urwalds ist völlig unversehrt. Wenn hier vor ein paarStunden ein Flugzeug abstürzte, dann müsste es doch eineSchneise geschlagen haben! Aber davon ist weit und breitnichts zu sehen.

Ich stelle fest, ich habe nur noch einen Schuh an, eine weißeSandale, hinten offen, vorne geschlossen, ich trug sie auch amTag meiner Zeugnisübergabe. Diese Sandale behalte ich an,auch wenn später viele sagen werden, wie lächerlich das dochgewesen sei, und mich fragen werden, warum ich dieseeinzelne Sandale nicht weggeworfen habe, mit einem Schuhkönne man doch nicht gut gehen. Aber ich behalte sie an, dennohne Brille sehe ich nicht gut, und auf diese Weise istwenigstens einer meiner Füße ein bisschen geschützt. InPanguana trugen wir immer Gummistiefel, wenn wir in denWald gingen, wegen der Schlangen. Mein dünnes, mit buntemPatchworkmuster bedrucktes Minikleid, ärmellos und miteinem modischen doppelten Volant am Saum, ist auch nichtdie ideale Expeditionsbekleidung, außerdem ist der langeReißverschluss am Rücken ein Stück aufgeplatzt. Als ich daherumtaste, bemerke ich eine weitere Wunde am Oberarm,ganz hinten, wo es schwierig ist, hinzusehen. Sie hat die Größeeines Zehncentstücks und ist einige Zentimeter tief. Auch dieseWunde blutet nicht, ebenso wenig wie die an der Wade. Ichnehme meine offenen Wunden zur Kenntnis, aber sie machenmir keine Angst.

Viel später werden Ärzte feststellen, dass ich mir beim Sturzdie Halswirbelsäule stauchte, und von dieser Verletzung habeich bis heute regelmäßig wiederkehrende Kopfschmerzen

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ich bis heute regelmäßig wiederkehrende Kopfschmerzenzurückbehalten. Dies erklärt auch, warum ich mich derartlange wie in Watte gepackt fühlte, denn es sollte noch Tagedauern, bis das Gefühl der Benommenheit restlos wich.

Plötzlich überfällt mich großer Durst. Auf den Blättern ummich perlen dicke Wassertropfen, die lecke ich auf. Ich ziehekleine Kreise um die Sitzbank herum, mir ist sehr wohlbewusst, wie schnell man im Urwald die Orientierung verlierenkann. Alles sieht überall gleich aus, und ich wäre nicht dieErste, die sich nach wenigen Schritten hilflos verirrt. Zuhause inPanguana ging ich nie ohne eine Machete in den Wald, undwenn ich manchmal die von uns angelegtenBeobachtungspfade verließ, schnitt ich in regelmäßigenAbständen Zeichen in die Baumrinden, wie es mich meineEltern gelehrt hatten. Einmal ist es mir doch tatsächlichpassiert, dass ich trotzdem eine Zeit lang die Orientierungverloren hatte und am Ende feststellte, dass ich im Kreisgegangen war. Darum bin ich auf der Hut; in Ermangelungeines Buschmessers präge ich mir einen besonders auffälligenBaum ein und lasse ihn nicht aus den Augen.

Zunächst finde ich zu meinem grenzenlosen Erstaunen keineSpur von dem Unglück, nichts. Keine Trümmer, keineMenschen. Dann entdecke ich eine Tüte mit Bonbons undeinen typisch peruanischen Weihnachtsstollen, einen Panetón,wie ihn italienische Einwanderer ins Land brachten. Ich habegroßen Hunger und esse ein Stück davon, doch er schmecktscheußlich. Der stundenlange Regen hat ihn vollkommenaufgeweicht, außerdem ist er von Schlamm durchsetzt. Ichlasse ihn, wo ich ihn gefunden habe. Die Bonbons allerdingsnehme ich mit.

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nehme ich mit.Den ganzen Morgen und bis in den Nachmittag hinein bleibe

ich an meiner Absturzstelle, erkunde die nähere Umgebung,werde kräftiger. Ich suche nach anderen Überlebenden, vorallem nach meiner Mutter. Ich rufe so laut ich kann: »Hallo! Istda jemand?« Aber da ist nichts außer mannigfaltigenFroschstimmen, denn es ist Regenzeit.

Und dann höre ich auf einmal das Brummen von Motoren.Es sind Flugzeuge, die über mir ihre Kreise ziehen. Ich weißsofort, was sie suchen. Ich sehe hoch zum Himmel, doch dieUrwaldbäume stehen zu dicht, hier kann ich mich auf keinenFall bemerkbar machen. Ein Gefühl der Ohnmacht überkommtmich. Und der Gedanke: Du musst hier raus aus dem dichtenWald. Und dann entfernen sich die Flugzeuge, und nur dieStimmen des Urwalds bleiben zurück.

Später erfahre ich, dass ich mich nur rund 50 Kilometer vonPanguana entfernt befunden habe. Davon weiß ich nichts, abermir ist klar, diesen Wald kenne ich. Und auf einmal wird mirein ganz bestimmtes Geräusch bewusst, das schon immer dawar, von Anfang an, aber jetzt erst in mein Bewusstseinvordringt. Das Geräusch von tropfendem, klingendem Wasser,ein leises Plätschern.

Sofort versuche ich zu lokalisieren, woher diese Wasserlautekommen, und tatsächlich: Ganz in der Nähe finde ich eineQuelle, die ein winziges Rinnsal nährt.

Diese Entdeckung erfüllt mich mit großer Hoffnung. Nichtnur habe ich Wasser zum Trinken gefunden. Nein, ich bindavon überzeugt, dass mir dieses Bächlein den Weg in dieRettung weist. Denn ich erinnere mich auf einmal ganz deutlich

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Rettung weist. Denn ich erinnere mich auf einmal ganz deutlicheiner Begebenheit, die sich in der Zeit ereignete, als ich mitmeinen Eltern auf Panguana lebte.

Damals besuchte uns eine Gruppe von Wissenschaftlern dernordamerikanischen Universität Berkeley. Sie waren auf demWeg ins nahe Sira-Gebirge am Oberlauf des Yuyapichis, umdieses noch unerforschte Gebiet zu erkunden. Dortangekommen ereignete sich ein Unfall: Der Leiter derExpedition schoss sich aus Versehen eine Ladung Schrot insBein und musste dringend ärztlich versorgt werden. Da derMann über zwei Meter groß war und viel zu schwer, als dassman ihn direkt hätte hinuntertragen können, schickte man einenStudenten los, um Hilfe zu holen. Der junge Mann verirrte sichprompt im Urwald, doch er wusste sich zu helfen: Er suchtenach fließendem Wasser, folgte ihm, bis er auf einen Bachstieß, der ihn wiederum zu einem größeren Wasserlauf undschließlich zu einem Fluss brachte, der glücklicherweise derYuyapichis war, sodass er nach zwei Tagen und zwei NächtenPanguana erreichte.

Diese Episode beeindruckte mich sehr, und ich vergaß sienie. Und jetzt, nachdem ich an der Quelle meinen Durstgelöscht und mich ein wenig gewaschen habe, fasse ich einenEntschluss. Ich habe mich inzwischen davon überzeugenkönnen, dass sich hier in der Nähe keine Überlebenden desFlugzeugunglücks befinden. Es hat keinen Sinn, länger zuwarten. Hier werden mich die Suchflugzeuge niemals finden.Ich höre noch die Stimme meines Vaters, der mir immerwieder sagte: »Wenn du dich im Urwald verläufst, und dufindest einen Wasserlauf, dann bleib bei ihm, folge seinem

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findest einen Wasserlauf, dann bleib bei ihm, folge seinemLauf. Er wird dich zu Menschen bringen.«

Später wurde mir in der Presse vorgeworfen, ich sei ganzegoistisch einfach weggegangen, ohne mich um Verletzte zukümmern. In anderen Zeitungen stand gar, die Überlebendenseien schreiend und weinend im Wald herumgeirrt, und ichhätte mich allein aus dem Staub gemacht. Die Wahrheit ist, ichfand keine Überlebenden. Ich weiß nicht, was ich getan hätte,wenn ich tatsächlich verletzte Mitreisende und womöglichmeine Mutter gefunden hätte. Wahrscheinlich wäre ich beiihnen geblieben und gemeinsam mit ihnen zugrunde gegangen.Heute wissen wir, dass man die Wrackteile ohne meineAngaben niemals gefunden hätte.

Ich folge also dem Rinnsal, und das ist zunächst gar nicht soeinfach, denn immer wieder liegen Baumstämme kreuz undquer, oder dichtes Gestrüpp versperrt mir den Weg. Nach undnach wird das Rinnsal breiter und schließlich zu einem Bach ineinem richtigen Bett, das teilweise trocken ist, sodass ichrelativ bequem an dem inzwischen rund 50 Zentimeter breitenWasserlauf entlanggehen kann. Wie weit ich an diesem erstenNachmittag komme? Ich kann es nicht sagen. Gegen sechsUhr wird es dunkel, und ich suche mir am Bachbett einegeeignete, im Rücken geschützte Stelle, an der ich die Nachtverbringen kann. Ich esse ein weiteres Fruchtbonbon, dannschlafe ich erschöpft ein.

Inzwischen erreichte die Nachricht vom Absturz der LANSAdie Familie Módena an der Mündung des Río Yuyapichis.Don Elvio, Moros Onkel, macht sich auf den Weg zu meinem

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Don Elvio, Moros Onkel, macht sich auf den Weg zu meinemVater. Doch der schüttelt nur den Kopf: »Meine Frau undmeine Tochter können unmöglich an Bord dieser Maschinegewesen sein«, sagt er voller Überzeugung. »Ich habe ihnenextra noch eingeschärft, auf keinen Fall mit der LANSA zufliegen. Meine Frau hätte niemals dieses Flugzeug bestiegen!«

Don Elvio weiß nicht, was er sagen soll, er hofft, mein Vaterhabe recht.

Am anderen Tag schaltet mein Vater das Radio ein. In einerSondermeldung wird die Passagierliste der abgestürztenMaschine verlesen. Welch ein Schock muss es für meinenVater gewesen sein, als er die Namen seiner Frau und seinerTochter unter den Opfern vernahm. Bis heute kann ich mir nurschwer vorstellen, welche Hölle er durchgemacht haben muss,dort, ganz allein in Panguana.

Ich erwache am 26.Dezember und stelle fest, ich habe gutgeschlafen. Dennoch fühle ich mich apathisch, das macht wohlnoch immer die Gehirnerschütterung. Ich habe keine Angstund fühle keine Schmerzen, ich weiß nur eines: Ich muss hierraus.

Also folge ich weiter dem Bach. Ich komme langsam voran,immer wieder muss ich über Baumstämme klettern, außerdemmäandriert der Bach stark. Das kostet mich Zeit und Kraft.Doch da ich ohne Brille nicht gut in die Ferne sehe, wage iches nicht, ein paar Schlaufen abzukürzen. Das Risiko, mich zuverlaufen, ist einfach zu groß. Außerdem ist das Geländeextrem hügelig, ständig geht es bergauf und wieder bergab, ichkomme mitunter an Abhängen vorbei, die 30 oder gar40 Meter hoch aufsteigen, nur hier, wo ich gehe, hat sich das

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40 Meter hoch aufsteigen, nur hier, wo ich gehe, hat sich dasWasser den einfachsten, leicht abfallenden Weg gesucht, undich folge ihm, komme langsam aber stetig in seinem Laufvoran.

Einmal begegnet mir eine imposante Vogelspinne, die michanspringen und beißen könnte. Doch sie ist auf der anderenSeite des Baches unterwegs, wir beäugen uns vorsichtig undziehen dann jede unseres Wegs.

Das Bachbett ist steinig und flach, der Wasserlauf wirdzunehmend breiter, schließlich füllt er sein gesamtes Bett aus.Ich beginne, im Wasser zu waten, immer den Fuß mit derSandale zuerst aufsetzend. Immer wieder höre ich dieSuchflugzeuge über mir kreisen. Ich rufe, obwohl ich weiß, wievergeblich das ist. Noch immer befinde ich mich in zu dichtemWald. Ich bin unsichtbar für die Retter, und es gibt keineMöglichkeit, das zu ändern. Meine einzige Chance ist es,weiterzugehen und irgendwann zu einem breiteren Fluss zugelangen, wo sich das geschlossene Kronendach derUrwaldbäume öffnen wird und ich mich den Flugzeugenbemerkbar machen kann. Vielleicht finden sie die anderen,denke ich, vielleicht ist meine Mutter unter den Geretteten. Ichklammere mich an diesen Gedanken. So wenig verletzt wie ichbin, scheint es mir unmöglich, dass nicht auch andere denAbsturz überlebt haben.

Was ich nicht weiß, ist, dass die Flugzeuge vergeblich suchen.Zwei Tage nach dem Unglück gibt es zahlreiche Hinweise ausder Bevölkerung, doch die meisten erweisen sich als falsch.Ein Jäger hat angeblich einen hellen Schein gesehen und danneine Explosion gehört. Ein Waldarbeiter berichtet, er habe das

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eine Explosion gehört. Ein Waldarbeiter berichtet, er habe dasFlugzeug am 24.Dezember gesichtet, wie es in geringer Höheentlang des Sira-Gebirges geflogen sei. Piloten deramerikanischen Linguisten am Ufer der Yarinacocha-Lagune,jener Missionare, die die Sprachen der Indianer erforschen,um die Bibel für sie übersetzen zu können, schließen sich derLuftwaffe FAP, der Fuerza Aérea del Perú, an. Mankonzentriert sich auf ein trapezförmiges Gebiet zwischenTournavista, einem Ort namens Aguas Calientes und PuertoInca, denn inzwischen gibt es drei Versionen, die alle auf dasrichtige Gebiet deuten, immerhin höre ich fast den ganzen Tagüber Suchflugzeuge. Dennoch bleibt die Aktion erfolglos. DerUrwald scheint das Flugzeug samt Passagieren einfachverschluckt zu haben.

Wegen der vielen Falschmeldungen wird eineNachrichtensperre verhängt, nur offizielle Verlautbarungenwerden zugelassen. Der Comandante der FAP, der die Sucheleitet, reagiert drastisch: Personen, die Alarm schlagen, sollenverhaftet und verhört werden, heißt es. Das verunsichert dieBevölkerung, noch mehr Gerüchte gehen um. Anonyme Briefetauchen auf, in denen die Rede von einer Strafe Gottes ist. DieVerunglückten wären ihrer vielen Sünden wegen gestraftworden.

Für viele Angehörige der Vermissten wird die Ungewissheitzu groß und das Warten unerträglich. Sie haben das Gefühl,etwas tun zu müssen, und schließen sich zu einer zivilenPatrouille zusammen, um endlich Antworten auf ihre vielenFragen zu bekommen. Von Puerto Inca aus schlagen sie sichin den Regenwald, doch die Suche wird durch sintflutartigeRegenfälle erschwert. Die Verzweiflung und Hilflosigkeit

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Regenfälle erschwert. Die Verzweiflung und Hilflosigkeitwächst, als ein Mann namens Adolfo Saldaña, dessen Sohnsich in der Maschine befand, bei dem Versuch, denRettungsmannschaften Lebensmittel zu bringen, auf derschlechten Piste der Carretera Central mit dem Wagenverunglückt. Er stirbt noch am Unfallort.

Von all dem nichts ahnend setze ich im Urwald einen Fuß vorden anderen, immer zuerst mit dem beschuhten Fußauftretend. Ich kämpfe mich durch totes Holz, das mir imBachbett den Weg versperrt, klettere unbeirrbar über jedesHindernis. Am dritten Tag nach dem Absturz finde ich imBachbett das erste Trümmerteil seit ich unterwegs bin, nämlicheine Turbine. Sie ist auf einer Seite ganz schwarz. Aha, denkeich, das ist also wohl die, in die ich den Blitz einschlagen sah.Der Anblick erfüllt mich lediglich mit Verwunderung, denn ichstehe noch immer unter einem schweren Schock und denNachwirkungen der Gehirnerschütterung. Es wird Jahredauern, bis ich die ganze Tragweite dieses Fundes erfassenwerde. Denn das Unwahrscheinliche tritt ein, 27 Jahre späterwerde ich an diesen Ort zurückkehren, und zwar mit demFilmemacher Werner Herzog. Was ich mir in den Tagen nachdem Absturz nicht vorstellen kann, das wird dann Wirklichkeit:Ich werde Teile dieses Wegs noch einmal gehen, ich werdenoch mehr Trümmerteile sehen und mich noch immer fragen,wie das alles möglich war. Und immer noch werde ich nureinige Antworten auf meine Fragen finden.

Fragen stelle ich mir in den ersten Tagen meiner Wanderschaftkeine, weiterhin bin ich wie benommen. Am 28.Dezember

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keine, weiterhin bin ich wie benommen. Am 28.Dezemberbleibt meine goldene Konfirmationsuhr, das Geschenk meinerGroßmutter, endgültig stehen. Die Uhr ist eigentlich gar nichtwasserdicht und machte jetzt einen extremen Härtetest durch.Kurz denke ich an meine Konfirmation, die erst imvergangenen Frühjahr in Lima stattfand, mein Vater war sogaranwesend und suchte meinen Konfirmationsspruch aus. Erlautet: »Wohl dem Menschen, der Weisheit erlangt, und demMenschen, der Einsicht gewinnt! Denn es ist besser, sie zuerwerben als Silber, und ihr Ertrag ist besser als Gold.« Eskommt mir nicht in den Sinn, wie treffend dieser Spruch aufmeine Situation passt, erst viel später wird mich dasnachdenklich machen. Denn ohne Wissen und Einsicht in dieGesetze des Urwalds wäre ich wahrscheinlich jetzt schon nichtmehr am Leben.

Und dann, während des vierten Tages meiner Wanderschaft,höre ich ein Geräusch, das mir das Blut in den Adern gefrierenlässt. Es ist das Rauschen von großen Flügeln,unverwechselbar, lauter und länger anhaltend als bei anderenVögeln. Natürlich kann ich das nur wissen, weil meine MutterOrnithologin ist und sie es mir erklärt hat, und ich hoffe undbete, dass nicht sie der Grund für die Anwesenheit desKönigsgeiers ist. Denn der Condor de la Selva tritt immerdann in Aktion, wenn wirklich großes Aas im Wald zu findenist. »Die Königsgeier dort, die fressen die Toten.« Es ist nichtmal ein Gedanke, eher eine Ahnung oder mehr noch eineGewissheit.

Und zum ersten Mal, seit ich allein im Urwald unterwegsbin, graust es mich. Ich komme um die nächste Flussbiegung,

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bin, graust es mich. Ich komme um die nächste Flussbiegung,und da sehe ich es. Eine Dreiersitzbank, genau wie meine, nurist diese hier kopfüber ungefähr einen Meter tief in die Erdegerammt. Auch die Köpfe der Passagiere – es sind zweiMänner und eine Frau – stecken dort im Urwaldboden, nurihre Beine ragen grotesk nach oben. Ein einziges Mal inmeinem Leben habe ich zuvor eine Leiche gesehen. Damalswar ich sechs Jahre alt und zu Besuch in Pucallpa. MeineMutter ging Vögel beobachten und ließ mich in der Obhut vonFreunden, die ein Sägewerk besaßen. Diese nahmen mich mitzu den Nachbarn, bei denen in der Nacht ein Kind gestorbenwar. Wir erschienen zum »Velorio«, so nennt man den Tag, andem man einen Toten aufbahrt und die Freunde undBekannten kommen, um ihm den letzten Gruß zu erweisen.Dort lag also das Kind mit aufgetriebenem Bauch. Damals sahich mir das alles interessiert an, so wie nur Kinder unbefangendem Tod gegenüberstehen können. Als meine Mutter amAbend heimkam, da erzählte ich: »Du, heute hab ich waserlebt! Ich hab ein totes Kind gesehen!« Meine Mutter aberwar ganz aufgeregt, ja, ich wurde sogar ausgeschimpft, dassich da überhaupt mitgegangen war, denn das Kind starbwomöglich an Gelbfieber oder Typhus, und ich hätte michanstecken können.

Damals als Kind habe ich das Ganze eher wie eineinteressante Neuigkeit bestaunt. Doch heute geht mir derAnblick der Toten durch und durch. Ein namenloses Grauenfasst mich an. Dennoch zwinge ich mich, zu bleiben und mir dieLeichen genauer anzusehen. Noch sind sie intakt, doch in denBäumen sitzen die Königsgeier. Sie warten. Es ist kein gutesGefühl. Ein schrecklicher Gedanke fährt mir durch den Kopf.

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Gefühl. Ein schrecklicher Gedanke fährt mir durch den Kopf.Was, wenn das meine Mutter ist? Ganz langsam, vorsichtiggehe ich zu den Leichen. Ich betrachte die Frauenfüße, alskönnte ich an ihnen erkennen, um wen es sich handelt. Sogarein Stöckchen ergreife ich, und mit ihm drehe ich vorsichtigden Fuß so, dass ich die Zehennägel erkennen kann. Sie sindlackiert, ich atme auf. Denn meine Mutter lackiert ihre Nägelnie.

Im selben Moment wird mir bewusst, wie dumm das vonmir ist. Diese Frau kann gar nicht meine Mutter sein, denn siesaß ja auf meiner Sitzbank direkt neben mir. Wieso bist du danicht gleich draufgekommen, denke ich. Und bin erleichtert.Später werde ich mich dafür schämen.

Ich sehe mich um, ob hier vielleicht noch mehr Tote odergar Verletzte sind. Ein paar Metallteile liegen verstreut herum,sonst nichts. Und so wende ich mich ab und gehe weiter.Wieder höre ich die Suchflugzeuge. Ich weiß, ich muss michbeeilen.

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Heute landen wir sicher auf dem kleinen Flugplatz, der damalsSchauplatz für so viele verzweifelte Szenen war. Moroerwartet uns, und wie jedes Mal fallen wir uns in die Arme.Wir sind beide nicht jünger geworden, sein einst so schwarzerVollbart ist nun von silbernen Fäden durchzogen. So vieleshaben wir miteinander erlebt! Und dennoch, gemäß der Sitte,nennt mich Moro selten bei meinem Vornamen. Vor anderenLeuten redet er mich stur und mit einer Prise Stolz mit »LaDoctora« an. Sind wir alleine mit seiner Familie, bin ich »LaVecina«, die Nachbarin, seine Frau Nery macht daraus einzärtliches »Vecinita«, mit dem ich auch sie tituliere.

An der Stelle, wo die Zufahrtsstraße zum Flughafen in dieCarretera mündet, liegt der Friedhof. Über der Mauer kannman die höheren Grabmonumente erkennen, darunter einbesonders großes. Es ist das Grabmal zum Gedächtnis derOpfer des Absturzes der LANSA, und hier sind 54 derVerunglückten in den traditionellen »nichos«, denBegräbnisnischen, beerdigt. Zwei Engel stehen ganz oben aufdem riesigen Quader, der die Särge birgt, einer weint, und derandere tröstet einen Trauernden. Zwischen ihnen befindet sicheine runde Tafel. Auf ihr ist eine stilisierte Landkarteabgebildet mit dem Relief eines abgestürzten Flugzeugs,gestrichelte Linien markieren den Weg, auf dem ich damalsunterwegs war. Am Rand steht: »Ruta que siguió Juliana parallegar a Tournavista« – die Route, der Juliane folgte, um nachTournavista zu gelangen. Und am Sockel dieserSkulpturengruppe ist in großen Buchstaben eingemeißelt:»Alas de Esperanza«, Schwingen der Hoffnung.

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»Alas de Esperanza«, Schwingen der Hoffnung.Werner Herzog hat den Dokumentarfilm, den wir

gemeinsam drehten, danach benannt. Oft grübelte ich überdiesen merkwürdigen Namen für ein Monument, das fürMenschen errichtet wurde, für die es keine Hoffnung mehrgab. Allenfalls könnte man mein Überleben als kurzzeitigesHoffnungszeichen werten, doch angesichts der zahlreichenOpfer fand ich das immer etwas vermessen. Erst vor Kurzemerfuhr ich, dass es damals eine Hilfsorganisation derMissionare mit Buschflugzeugen gab, die »Alas de Esperanza«hieß, was natürlich viel mehr Sinn macht. Auch dieseOrganisation beteiligte sich an der Suche nach derabgestürzten Maschine, und der Pilot Robert Wenninger solltederjenige sein, der das erste Trümmerteil aus dem Rumpf derMaschine endlich sichten konnte.

Es ist seltsam, aber viele Jahre lang wusste ich nichts vonder Existenz dieses Mahnmals, keiner erzählte mir davon. ErstWerner Herzog führte mich 1998 hierher. Schon damalserschütterte mich, wie jung doch die meisten Opfer gewesenwaren. Eine Familie verlor zwei Töchter, die eine war 15 Jahrealt, die andere 18. Eine andere hatte gar drei tote Töchter zubeklagen, alle waren noch Kinder. Mary Elaine López wollteam 22.Januar 1972 heiraten, sie starb gemeinsam mit ihrerSchwester. Eine Familie Sales verlor gleich drei Angehörige,darunter eine Mutter mit ihrem fünfjährigen Kind. Später erfuhrich aus einer Sonderausgabe der in Pucallpa erscheinendenZeitung »Impetu« vom 24.Januar 1972 noch mehr Detailsüber die Opfer: zum Beispiel, dass ein Mädchen gar nicht aufder Passagierliste stand, denn es übernahm das Ticket voneiner Freundin, die krank geworden war. Ein junger Mann

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einer Freundin, die krank geworden war. Ein junger Mannhatte einen Flug für den 26.Dezember 1971 gebucht, wollteaber unbedingt früher fliegen. Nachdem ein Passagierzurückgetreten war, erhielt er dessen Platz. Ein anderer Mannkonnte aus beruflichen Gründen nicht fliegen und gab seinerFreundin das Ticket. Und Rodolfo Villacorta gar gewann denFlug mit der LANSA in einem Preisausschreiben.

Bin ich in Pucallpa, dann besuche ich das Monument.Immer wieder betrachte ich die kleinen Fotos, die nachhiesigem Brauch in ovalen Medaillons an den Vorderseiten derNischen angebracht sind, hier sind die beiden Schwestern,dort das Mädchen, das den Platz ihrer Freundin einnahm.Doch einige der »nichos« sind seit meinem letzten Besuchoffenbar leer geräumt worden, von Hand wurden hier und dortnoch in schwarzer Farbe die Namen der Verunglücktenaufgemalt, störrische Versuche, das Erinnern festzubannen undden Verfall, der mit dem allmählichen Vergessen einhergeht,aufzuhalten. Als ich den Friedhof verlasse, spricht mich einbetagter Mann an, der die Wege säubert. Es sei sehr nett vonmir, sagt er, dass ich noch immer herkomme. Er weiß, wer ichbin. Auch wenn selbst hier in Pucallpa, wie er traurig hinzufügt,die Menschen allmählich vergessen.

Vom Friedhof aus fahren wir zu Tío Bepo, das ist ein OnkelMoros, und sein schattiger Hof, keine 100 Meter vom Uferdes Río Ucayali entfernt, wird heute unsere Basisstation seinzwischen unseren vielen Besorgungen. Denn auch hier müssenwir einiges erledigen. Auf Tío Bepos Gartentisch breitet Moromit sorgenvoll gerunzelter Stirn einige Dokumente vor mir aus,es sind die Unterlagen für den Erwerb eines der Grundstücke,

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es sind die Unterlagen für den Erwerb eines der Grundstücke,die die Fläche von Panguana erweitern sollen. Einer derVorbesitzer hat uns offenbar nicht ganz die Wahrheit gesagt,wie Moro nach der Begehung des Grundstücks feststellte. Dasich diese Ländereien mitten im Urwald befinden, ist es nichtimmer leicht, einwandfrei festzustellen, wie genau die Parzellenbeschaffen sind und wie die Grenzen zu denNachbargrundstücken verlaufen. Manche der älterenDokumente, die den Besitz belegen sollen, sind mitunterhistorisch wertvoll, aus brüchigem, weichem Papier,handgeschrieben und nicht selten mit dem Abdruck desDaumens legitimiert. Bei einigen der Grundstücke wurde derVerkauf nur durch Handschlag zwischen Vorbesitzer undNachbesitzer, im besten Fall durch handgeschriebene Briefebeglaubigt, die meisten der acht Grundstückseigentümervermieden den aufwändigen und mit Kosten verbundenenEintrag ins Grundbuch und ins Katasteramt, und das muss ichjetzt natürlich alles nachholen lassen. Denn wenn ich Panguanain erweiterter Form im Umweltministerium in Lima alsNaturschutzgebiet deklarieren lassen will, kann ich nicht mitsolchen Papieren auftauchen.

»Hier«, sagt Moro bedrückt, »schau dir das an.«Einer der Grundstücksbesitzer hat uns eine Parzelle als

Primärregenwald verkauft. Das trifft auch für den größten Teilder Fläche zu. Ein zum Glück kleiner Rest aber ist Viehweide,die noch dazu seit Jahren vom Nachbarn genutzt wird.

Das ist ärgerlich. Doch jetzt kommt es darauf an, wie genaudie Grenze verläuft und ob der Besitzer des angrenzendenGrundstücks bereit ist, sein Vieh woanders weiden zu lassen.Diese Sache zeigt, wie dringend notwendig es ist, den

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Diese Sache zeigt, wie dringend notwendig es ist, denverbliebenen Regenwald vor der Abholzung zu schützen. Hierwird man wohl Zäune ziehen müssen. Moro schaut nichtgerade begeistert drein, weiß er doch, dass diese Aufgabe anihm hängen bleiben wird. Schließlich ist er seit dem Jahr 2000offizieller Verwalter von Panguana.

Unser Weg führt uns an diesem Tag zu einem Anwalt, dersich nun um die Eintragungen ins Grundbuch kümmern wird.Jedenfalls hoffe ich das. Mein Besuch im letzten Jahr bei einemNotar in der für Panguana zuständigen ProvinzhauptstadtPuerto Inca hatte nämlich nicht den von mir gewünschtenErfolg. Außer einer Rechnung, die der Notar relativ flottausstellte, passierte nichts. Aus diesem Grund bin ich ein wenigskeptisch, wie sich wohl der neue Anwalt anstellen wird. Dochnach dem schweißtreibenden Besuch in seinem winzigen Bürodirekt neben einer sonnenbeschienenen Dachterrasse bin ichguter Dinge: Endlich scheine ich einen Juristen gefunden zuhaben, der weiß, was er tut. Da macht es mir auch nichts auszu erfahren, dass ich von Panguana aus nach Puerto Incamuss, um dort auf dem Rathaus eine längst überfällige Gebührfür alle acht Grundstücke zu bezahlen. Eventuell kann ichschon dort auf dem Rathaus eine der Eintragungen vornehmen.Ob das möglich sein wird, das kann mir hier in Pucallpaniemand sagen, das werden wir dort herausfinden. In PuertoInca wohnt außerdem der Vieh züchtende Nachbar des einenneuen Grundstücks, und ich hoffe, mit ihm gleich die Fragenach der Viehweidennutzung klären zu können.

Beschwingt nehmen Moro, seine Frau Nery, mein Mannund ich zwei der zahllosen, bunten und wie wildherumflitzenden Motocars; das sind lustige, durch Motorräder

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herumflitzenden Motocars; das sind lustige, durch Motorräderangetriebene Rikschas. Sie prägen seit einigen Jahren dasStraßenbild von Pucallpa, erfüllen die Stadt mit ihremHöllenlärm und stinkenden Abgasen und machen es einemeinfach, sich von einer Ecke der Stadt in die andere zubewegen. Mir macht es Spaß, mich in diesen überdachtenZweisitzern, in die man sich auch zur Not mal zu drittquetschen kann, durch die Gegend schaukeln zu lassen, mitden meist jungen Fahrern zu plaudern, die neuestenGeschichten aus der Stadt erzählt zu bekommen.

Unser Ziel ist der Markt, auf dem wir immer etwaseinzukaufen haben, sei es ein Paar neue Gummistiefel oder einLaken oder Badetücher für Panguana, einige luftdichtverschließbare Plastikbehälter für die erhoffteInsektenausbeute meines Mannes, der wie ich Zoologe ist undparasitische Schlupfwespen studiert. Oder denRegenwaldhonig, der flüssig ist und gar nicht sehr süß, sonderneher säuerlich-bitter schmeckt. Die wilden stachellosen Bienennisten in hohlen Bäumen, und um ihren Honig zu ernten, mussman den Baum von hinten vorsichtig aufsägen und dietopfförmigen Waben rasch entwenden. Nach Verschließendes Nestes produzieren die Bienen dann wieder neuen Honig.Da wir schon dabei sind, gehen wir auch an den Ständenvorbei, die Heilkräuter und -mittelchen aller Art verkaufen,und erstehen eine Creme aus der Pflanze Uña de Gato, demKrallendorn, die gegen alles Mögliche helfen soll, und eineWurzel gegen Zahnschmerzen, denn ausgerechnet wenigeTage vor meiner Abreise stellte der Zahnarzt fest, dass einermeiner Zähne eine Wurzelbehandlung benötigt.

Ich liebe diesen Markt, das farbenfrohe Angebot aus

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Ich liebe diesen Markt, das farbenfrohe Angebot ausFrüchten, Gemüse und Knollen, das Sammelsurium an Dingendes täglichen Lebens, wie man sie in einer Urwaldstadt ebenbraucht. Oft kam ich mit meiner Mutter auf unserer Durchreisezwischen Lima und Panguana hierher, und immer hatten wireine lange Einkaufsliste.

Die haben wir auch heute. Denn wir müssen unsereLebensmittel für Panguana, alles, vom Trinkwasser bis zumletzten Stückchen Klopapier, hier einkaufen und mitnehmen.Das tun wir in einem der großen Lebensmittelläden, wo es dieWaren im Dutzend billiger gibt. Man kennt uns hier bereits,denn vor jeder Exkursion an den Yuyapichis decken wir unshier mit Vorräten ein.

Als dann schließlich alle Pakete auf verschiedene Motocarsverladen sind und in Richtung Tío Bepo abdüsen, atmen wirauf. Es ist bereits später Nachmittag, und seit dem Frühstückhaben wir nur eine Kleinigkeit gegessen.

»Was meint ihr«, frage ich meine Begleiter, »sollen wir nachYarinacocha hinausfahren und in einem der schwimmendenRestaurants etwas essen?«

Ich höre keinen Widerspruch, und schon ist ein Taxiangehalten. Denn für ein Motocar ist es zu der Lagune, einemAltwasser des Río Ucayali, doch recht weit.

Wir bekommen einen Platz ganz außen am Wasser. Natürlichbestellen wir Fisch, der hier so frisch ist wie nirgendwo sonst.Ich blicke auf die Lagune hinaus, wo Fischer in ihren Bootendie Stellnetze auslegen. Genau so ein Boot war es damals,denke ich, das mich zurück ins Leben brachte. Und währenddie anderen miteinander plaudern, kehren die Erinnerungen

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die anderen miteinander plaudern, kehren die Erinnerungenzurück, an damals, als ich dem Wasserlauf folgte, in derHoffnung…

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…menschliche Siedlungen zu finden. Das Wasser fließt ummeine Füße. Beharrlich setze ich einen Fuß vor den anderen.Aus dem Bach wird ein größerer Bach, schließlich fast einkleiner Fluss. Die Tage ähneln sich, ich versuche mitzuzählen,nicht die zeitliche Orientierung zu verlieren. Die Intensität desTageslichts zeigt mir die ungefähre Uhrzeit an, in den Tropenwird es morgens um sechs Uhr hell, pünktlich um sechs Uhrabends dunkelt es. Die Sonne selbst jedoch sehe ich selten,das Kronendach der Urwaldriesen ist zu dicht.

Irgendwann lutsche ich das letzte Bonbon auf. Etwasanderes wage ich nicht zu essen. Da es Regenzeit ist, gibt esso gut wie keine Früchte. Ich habe kein Messer bei mir undkann mir keine Palmherzen aus den Stämmen schlagen. Ichkann auch keine Fische fangen oder Wurzeln garen. Ich weiß,dass vieles, was im Urwald wächst, giftig ist, also lasse ich dieFinger von dem, was ich nicht kenne. Dafür trinke ich jedeMenge Wasser aus dem Bach, das braun ist vonaufgeschwemmter Erde, vielleicht ist das der Grund, dass ichkeinen Hunger verspüre.

Trotz meines Zählens geraten mir die Tage durcheinander.Am 29. oder 30.Dezember, also am fünften oder sechstenTag meiner Wanderung, höre ich einen Vogelruf, und sofortschlägt meine apathische Stimmung in Euphorie um: Es ist dereindeutige, unverwechselbare Ruf von Zigeunerhühnern, eineMischung aus Schnarren und Stöhnen, und zuhause inPanguana hörte ich diesen Ruf oft. Diese Vögel nistenausschließlich an offenen Gewässern, an größeren Flüssen,und genau das ist meine Hoffnung, denn dort siedeln auch

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und genau das ist meine Hoffnung, denn dort siedeln auchMenschen!

Mit neuem Auftrieb versuche ich, rascher voranzukommenund gehe den Vogelstimmen nach. Und tatsächlich sehe ichmich bald der Mündung »meines« Baches in einen Flussgegenüber. Doch wenn ich gehofft habe, nun schnell dorthin zugelangen, so habe ich mich getäuscht. Die Mündung ist durcheine große Menge Schwemmholz versperrt und von dichtemGestrüpp überwuchert. Bald sehe ich ein, dass ich hier niemalsdurchdringen werde. Also entschließe ich mich, das Bachbettzu verlassen und die Barrieren zu umgehen. Es kostet michStunden, mich hier durch den Urwald zu kämpfen. DieMündung ist dicht zugewachsen mit über vier Meter hohemSchilf, der Caña Brava, und die scharfen Halme schneidenmich in Arme und Beine, wenn ich nicht achtgebe. Doch dieRufe des Zigeunerhuhns und das Dröhnen der Suchflugzeugemachen mir immer wieder Mut.

Meine Mutter hatte diese Schopfhühner oder Hoatzins, wiesie auch genannt werden, eingehend erforscht und wichtigeDetails über das Brutverhalten beobachtet und beschrieben.Die interessanten Tiere sehen nicht nur wunderschön aus,sondern gehören einer sehr ursprünglichen, nur in Südamerikabeheimateten Vogelordnung an und erinnern entfernt an denUrvogel Archaeopteryx, denn wie jener haben ihre JungenKrallen an den Flügeln. Da ihre Eltern die Nester nicht nuräußerst schlampig, sondern auch über dem Wasser bauen,können sie die Krallen gut gebrauchen, denn nicht selten fälltso ein Schopfhühnchen aus dem Nest, fängt sich mithilfe seinerFlügelkrallen am Geäst und klettert wieder zurück. Die Kükenkönnen außerdem hervorragend schwimmen.

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können außerdem hervorragend schwimmen.Endlich stehe ich am Ufer des großen Flusses. Ich schätze

seine Breite auf zehn Meter, ein schönes Gewässer, dochkeine Menschenseele ist zu sehen. Sofort erkenne ich, dass ernicht schiffbar sein kann, denn zahlreiche Baumstämme undanderes Treibholz machen das unmöglich. Ich sehe zumHimmel empor. Seit so vielen Tagen im Dämmerlicht desDschungels sehe ich ihn endlich wieder frei über mir. Wo sinddie Suchflugzeuge? Ich höre sie nur noch in der Ferne. Einmalschlägt eines noch einen halbherzigen Bogen über mir, ichwinke und rufe, doch vergebens. Es dreht ab undverschwindet, so wie die anderen. Stille. Sie werdenzurückkommen, sage ich mir, ganz bestimmt. Doch die Zeitvergeht, und das Motorengeräusch, das ich während dervergangenen Tage fast ständig hörte, kehrt nicht wieder.Endlich begreife ich: Sie haben die Suche offenbar aufgegeben.Wahrscheinlich sind alle anderen gerettet worden, nur nichtich. Nicht ich.

Eine grenzenlose Wut überkommt mich, ich hatte keineAhnung, dass ich noch die Kraft habe für solch heftigeGefühle. Wie können die einfach abdrehen, jetzt, wo ich nachall den Tagen endlich ein offenes Gewässer erreicht habe!Jetzt, wo ich mich bemerkbar machen kann! Doch so schnell,wie die Wut aufflammt, erlischt sie und macht einer ungeheurenVerzweiflung Raum. Hier stehe ich, am Ufer eines wirklichgroßen Flusses, und fühle mich mutterseelenallein. Die Weitedes Urwalds um mich wird mir erst jetzt, wo ich ein bisschenAbstand zu ihm habe, mit aller Deutlichkeit bewusst. Ichbefürchte, dass er über Tausende von Quadratkilometern

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befürchte, dass er über Tausende von Quadratkilometernhinweg unbewohnt ist. Ich weiß, dass es ein äußerst seltenerZufall ist, hier einem Menschen zu begegnen. Ich ahne, dassmeine Chancen gegen Null gehen. Doch ich gebe nicht auf.

Immerhin ist dies ein richtiger Fluss. Und wo ein Fluss ist,da sind Menschen nicht weit, das hat mein Vater immerwieder gesagt. Früher oder später, so mache ich mir jetztselbst Mut, wirst du sie erreichen, Juliane. Es gibt keinenGrund, gerade jetzt zu verzweifeln. Im Gegenteil. DeineRettung ist ganz nahe.

Ich reiße mich zusammen. Überlege, wie ich am bestenweiterkomme. Das Flussufer ist viel zu dicht bewachsen, alsdass ich daran entlang weiterwandern könnte. Außerdemfürchte ich, ohne Brille mit meinem nackten Fußmöglicherweise auf eine giftige Schlange oder Spinne zu treten.Ich beginne, im seichteren Uferwasser flussabwärts zu waten.Vorher aber suche ich mir einen Stock, zum einen, um nichtauszurutschen, aber auch, um den Grund vor mir abzutasten.Ich weiß, es gibt gefährliche Stachelrochen, die imUferschlamm der Flüsse ruhen oder in Stromschnellen liegenund nicht zu sehen sind. Tritt man auf sie, schlagen sie einemihren giftigen Stachel in den Fuß. Das Bein schwillt stark an,man bekommt hohes Fieber. Das Gift des Stechrochens istzwar nicht tödlich, aber häufig gelangt mit dem StachelSchmutz in die Wunde, und das kann zu Blutvergiftungenführen. In meiner Situation könnte eine solche Verletzung fatalenden. Das alles habe ich in Panguana von meinen Eltern undunseren Nachbarn gelernt. Ich kenne die Gefahren im Wasser,und darum gehe ich vorsichtig und sehe mich vor. Doch das

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und darum gehe ich vorsichtig und sehe mich vor. Doch dasVorankommen ist sehr mühsam, Geäst und viele Baumstämmeliegen im Wasser, der Grund besteht entweder aus glitschigenSteinen oder tiefem Morast, in den ich einsinke. Darumbeschließe ich bald, in der Mitte des Flusses zu schwimmen. Intiefem Wasser bin ich wenigstens vor den Stachelrochensicher. Dafür gibt es Piranhas, doch ich habe gelernt, dass dienur in stehenden Gewässern gefährlich werden. Sicherlich istmit Kaimanen zu rechnen, doch auch sie greifen in der RegelMenschen nicht an. Also überlasse ich mich der Strömung.Noch immer habe ich keine Angst. Und die Zuversicht, esirgendwie zu schaffen, ist wieder zurückgekehrt.

Es ist gut, dass ich nicht weiß, sondern nur ahne, dass sie dieSuche nach Überlebenden bald einstellen werden. Außerdemist es besser, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass niemandbislang gerettet wurde, ja dass die Suchenden nicht diegeringste Spur von dem Flugzeugwrack finden konnten. Aberam wichtigsten von allem ist, dass ich nicht weiß, dass außermir tatsächlich einige Menschen den Absturz überlebten, ohnein der glücklichen Lage zu sein, den Ort, an dem sie auf derErde aufprallten, verlassen zu können. Meine Mutter gehörtezu diesen Menschen. Und an meine Mutter denke ich in jedermeiner Nächte, in denen ich kaum schlafe. Denn seit meineGehirnerschütterung nachgelassen hat, falle ich nicht mehr injenen schlafähnlichen Zustand, der eher einer Betäubunggleicht. Meine Nächte sind lang, stockfinster, und ich findekeine Ruhe.

Wenn die Sonne sinkt und ich die Zeit auf etwa fünf Uhrschätze, dann suche ich mir einen halbwegs geschützten Platz

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am Ufer, an dem ich die Nacht verbringen kann. Ich versucheimmer eine Stelle zu finden, an der ich Schutz im Rücken habe,entweder durch eine leichte Böschung oder einen großenBaum. Dennoch ist an Schlaf kaum zu denken. Entwederhalten mich Moskitos wach oder winzige quälende Gnitzen,die ebenfalls zu den Mücken gehören und die mich beilebendigem Leibe geradezu aufzufressen scheinen. Um meinenKopf summt es, die lästigen Plagegeister versuchen, mir inOhren und Nase zu kriechen. Unerträglich sind dieseNachtstunden, wenn ich todmüde in einen Dämmerschlaf falleund immer wieder vom Brennen und Beißen neuer Sticheerwache. Oder, und das ist sogar noch schlimmer, es regnet.Dann lassen mich zwar die Moskitos in Ruhe, doch dereiskalte Regen prasselt unbarmherzig auf mich nieder. Ichfriere in meinem dünnen Sommerkleid, bin ständig bis auf dieHaut durchnässt. So heiß es tagsüber auch sein mag, währendder Regenzeit kühlt es nachts drastisch ab, und jeder derharten Tropfen quält mich wie ein eisiger Nadelstich. Unddann kommt der Wind und lässt mich bis ins Mark erschauern.Ich suche mir Plätze unter dichten Bäumen oder im Gebüsch,sammle große Blätter, versuche mich damit zu schützen. Eshilft alles nichts. In diesen schwarzen Nächten, die kein Endezu nehmen scheinen, wenn ich bis auf die Knochen durchnässtirgendwo kauere, mich nicht schützen kann, da steigt eingrenzenloses Gefühl der Verlassenheit in mir auf. Als sei ichirgendwo im Universum ganz allein unterwegs. Dies sindMomente, in denen ich verzweifle.

Ich denke viel an meine Mutter. Wie es ihr wohl gehenmag? Ob sie schon gerettet wurde? Ich wage nicht daran zu

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denken, sie könnte dasselbe Schicksal erlitten haben wie diedrei Menschen, die mitsamt ihrer Sitzbank in den Bodengerammt worden waren. Ich frage mich, was mein Vater jetztwohl tut? Wie es ihm geht? Wo er sich aufhält? Ob er vomAbsturz schon gehört hat?

Ich grüble viel darüber nach, wie es geschehen konnte, dassich allein im Urwald erwachte, wo all die anderen Passagieresind, wieso ich nirgendwo eine Schneise im Wald erkennenkonnte, wo denn um alles in der Welt das Flugzeug selbstabgeblieben ist. Ich denke über mein bisheriges Leben nach,das so völlig unspektakulär verlief, jedenfalls in meinen Augenhat sich bislang nicht wirklich etwas Aufregendes ereignet. Ichbin ein junges Mädchen wie alle anderen auch, liebe Tiere,lese für mein Leben gern, gehe mit meinen Freundinnen insKino, habe ein gutes Zeugnis, passe mich an, wo immer manmich hinschleppt, sei es im Urwald, sei es in Lima. Ich habemir nie viele Gedanken über den Sinn meines Lebens gemacht,ich bin zwar evangelisch getauft und wurde erst kürzlichkonfirmiert, aber meine Eltern, die mehr einer Artphilosophischer Naturreligion anhängen und als Grund allenLebens die Sonne ansehen, haben mich nicht ausdrücklichreligiös erzogen. Sie finden, ich solle mir selbst eine Meinungbilden; die Grundlagen für eine christliche Erziehung gaben siemir allemal, mehr war ihrer Meinung nach nicht nötig.

In jenen Nächten bete ich. In diesen Gebeten geht eshauptsächlich um meine Mutter. Ich hatte immer ein sehr engesVerhältnis zu ihr, sie ist meine Mutter und eine Art Freundin,wir sind inniger miteinander verbunden, als ich es mit meinemVater bin, der außer meiner Mutter kaum einen Menschen

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wirklich an sich heranlässt. Mir ist bewusst, dass es einWunder ist, dass ich noch lebe, und ich frage mich, warumgerade ich. Ich habe den Absturz überlebt, und ich finde, dassich jetzt auch dies hier durchstehen muss, ich bete darum, dassich Menschen finde, ich bete um meine Rettung. Ich will leben,mit allen Fasern meines langsam schwächer werdendenKörpers will ich leben, und dann überlege ich, was ichanfangen werde mit diesem Leben, wenn dies hier endlichvorbei sein wird.

Darüber denke ich lange nach.

Sicherlich, wie alle meine Freundinnen habe ich mir schonGedanken gemacht, was ich nach der Schule machen werde.Von klein auf wollte ich Biologie studieren, so wie meineEltern. Doch warum und wieso, das habe ich mich nie gefragt.Ich mochte Tiere, ich interessierte mich für Pflanzen, mir gefiel,was meine Eltern machten, das war bislang für mich Grundgenug. In diesen Regennächten denke ich nun, dass es schönwäre, mein Leben etwas Großem zu widmen, etwasWichtigem, etwas, von dem die Menschheit und die Naturprofitieren werden. Was das sein könnte, davon habe ichkeine Ahnung. Ich fühle nur, dass mein Weiterleben einen Sinnmachen soll im Gefüge der Welt. Denn es muss doch einenSinn haben, dass ich aus dem Flugzeug fiel und nur ein paarSchrammen davontrug.

Diese »paar Schrammen« allerdings machen mir in denfolgenden Tagen doch etwas Sorgen. Die Schnittwunde an derWade quillt auf mit wild wucherndem, weißlichem Fleisch.Noch immer spüre ich keine Schmerzen. Anders ist es mit derversteckten Wunde am hinteren rechten Oberarm, ich muss

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versteckten Wunde am hinteren rechten Oberarm, ich mussmeinen Kopf arg verdrehen, um zu sehen, was da los ist. Zumeinem Entsetzen entdecke ich weiße Maden, deren Leiberwie winzige Spargelköpfe aus der Wunde herauslugen!Offenbar haben Fliegen ihre Eierpakete in meine Wundegelegt, und die Brut ist jetzt bereits einen Zentimeter lang.Auch darüber weiß ich bestens Bescheid, und diesmal machtmir mein Wissen Sorgen.

Denn Lobo, mein Schäferhundmischling, war einmal vonFliegenmaden heimgesucht worden. Er hatte, von unsunbemerkt, einen kleinen Riss an der Schulter, und hier legtendie Fliegen ihre Eier hinein. Unter der Haut verborgenschlüpften die Maden und gruben sich immer tiefer ins Fleisch.Das machen sie sehr geschickt, vermeiden Blutgefäße, sodassdie Wunde nicht blutet, und damals fraßen sie sich unterLobos Fell einen tiefen Kanal seinen Lauf entlang bis hinunterzur Pfote. Nachts winselte Lobo, und wir fragten uns, was erwohl hatte, noch immer waren die Fliegenmaden völligunsichtbar. Dann schwoll das Bein irgendwann an und begannzu riechen, da war es bereits so schlimm, dass sich der Hundnicht mehr anfassen lassen wollte. Endlich entdeckten wir, wasgeschehen war. Normalerweise bekommt man die Maden mitAlkohol aus dem Körper, aber mein Vater sagte, das könnenwir nicht machen, da wird der Hund verrückt vor Schmerzen.Darum schütteten wir Petroleum in die Wunde, das nichtbrennt, bis die Maden eine nach der anderen herausgekrabbeltkamen und wir den armen Lobo verarzten konnten.Glücklicherweise heilte seine Wunde danach problemlos zu.

Also weiß ich, was ich zu tun habe: Die Maden müssenraus. Doch ich habe weder Alkohol noch Petroleum. Nur

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raus. Doch ich habe weder Alkohol noch Petroleum. Nureinen silbernen, spiralförmigen Ring, und den biege ich jetzt aufund versuche damit, die Maden herauszufischen. Doch sobaldich meine selbst gebastelte Pinzette nähere, verschwinden dieMaden in meinem Fleisch. Ich probiere es mit der Schnalle amVerschluss meiner Armbanduhr, aber auch das führt zu nichts.Da beschleicht mich ein ziemlich mulmiges Gefühl. Es ist keinschöner Gedanke, bei lebendigem Leib von innen heraufgefressen zu werden. Ich weiß zwar, dass mir die Madenselbst nichts Gefährliches zufügen werden, wie alle gutenParasiten schädigen sie den Wirt zunächst nicht, aber natürlichkann sich die Wunde infizieren, schließlich schwimme ich denganzen Tag in braunem, erdigem Flusswasser. Und sollte daseintreten, dann ist nicht ausgeschlossen, dass mir am Ende derArm abgenommen werden muss. Von solchen Fällen habe ichbereits gehört, ich wäre nicht die Erste, der das passierenwürde.

Da ich im Moment nichts dagegen machen kann, schwimmeich weiter. Mir ist längst aufgefallen, dass die wilden Tiere amFlussufer extrem zutraulich sind, ich sehe Marder undSpießhirsche, die sich vor mir keineswegs erschrecken, höreBrüllaffen ganz nah, und das gibt mir zu denken, dennnormalerweise sind diese Tiere äußerst scheu. Was dasbedeutet, das weiß ich, aber ich versuche, den Gedanken vonmir fernzuhalten: dass dieser Fluss und der umliegende Waldnämlich noch nie mit Menschen in Berührung kamen und dasses viele Kilometer dauern wird, bis sich das möglicherweiseändern wird.

Inzwischen werde ich immer schwächer. Hunger fühle ichzwar keinen, aber ich merke, wie alles mühsamer wird. Ich

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zwar keinen, aber ich merke, wie alles mühsamer wird. Ichtrinke viel von dem Flusswasser, das füllt meinen Magen, undich weiß, dass ich etwas essen sollte. Wie viele Tage bin ichjetzt schon unterwegs? Sieben? Oder acht? Ich zähle an denFingern ab, und mir wird bewusst, dass das neue Jahr 1972möglicherweise schon begonnen hat. Meine Mutter wollteunbedingt den Jahreswechsel zusammen mit meinem Vaterfeiern, das war ja der Grund, warum sie nicht noch länger aufeinen Flug warten wollte. Und jetzt frage ich mich, wo meinVater wohl sein mag?

Erst kürzlich fand ich im Nachlass meiner Tante Briefe, diemein Vater in jenen Tagen verfasste. So schreibt er am31.Dezember 1971: »…Nun ist schon eine Wochevergangen, und noch immer ist die Maschine nicht gefundenworden. Es herrschte zumeist gutes Wetter, sodassSuchaktionen in allen möglichen Richtungen gestartet werdenkonnten. Ich befinde mich auf der Hacienda von HerrnWyrwich, der einen Flugplatz hat und deshalb mit Sender undEmpfänger ausgerüstet ist. Wir können in Pucallpa anfragenund werden dann über den Stand der Suchaktion informiert.«Danach folgt eine Aufzählung der verschiedenen Theorien undAussagen von Zeugen, die alle das Flugzeug selbst oder eineDetonation gehört haben wollen. Es stellt sich aber heraus,dass im nahen Sira-Gebirge aufgrund der anhaltendenRegenfälle ein Erdrutsch niedergegangen war, der diesesGeräusch verursacht haben könnte. Während ich zum erstenMal diesen Brief in der typischen, ordentlichen Handschriftmeines Vaters las, versuchte ich mir vorzustellen, wie es in ihmausgesehen habe mochte. Erst der zweite Teil des Briefes,

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ausgesehen habe mochte. Erst der zweite Teil des Briefes,nach einer Unterbrechung geschrieben, zeugt von seinenEmotionen. Denn inzwischen war ein US-amerikanischerAdventist namens Clyde Peters mit seiner Maschine bei HerrnWyrwich gelandet und hatte ihm Mut zugesprochen. Einigesspräche für die Theorie, dass das Flugzeug der LANSAirgendwo notgelandet sein musste. Sogar an der Handschriftmeines Vaters konnte ich erkennen, wie die neu entflammteHoffnung ihn offenbar beflügelte.

Von all dem habe ich während meiner Odyssee natürlich nichtdie geringste Ahnung. Ich habe nur eines im Sinn: Ich mussMenschen finden. Tagsüber schwimme ich oder lasse michtreiben, und nachts habe ich nun ein paar Begegnungen mitgrößeren Tieren. Einmal, während ich mitten in einem Gebüschzu schlafen versuche, höre ich direkt neben mir ein Fauchenund Scharren. Ich weiß, dass das wohl kein Jaguar und auchkein Ozelot ist, wahrscheinlich rumpelt da neben mir einMajás, zu Deutsch ein Paka, ein Nagetier, so groß wie einmittlerer Hund, mit braunem Fell und weißen, in Bahnenangeordneten Flecken. Ich räuspere mich, da kriegt das Tiereinen furchtbaren Schreck und rennt in wilden Sätzen lautgrunzend davon.

Am nächsten Morgen fühle ich an meinem oberen Rückeneinen stechenden Schmerz, und wie ich mit der Hand dorthinfasse, ist sie blutig. Die Sonne hat, während ich im Wassergeschwommen bin, meine Haut verbrannt, sie löst sich bereitsin Fetzen ab. Es sind Verbrennungen zweiten Grades, wie ichspäter erfahren werde. Auch daran kann ich jetzt nichtsändern, ich lasse mich weiter im Wasser treiben. Zum Glück

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ändern, ich lasse mich weiter im Wasser treiben. Zum Glücknimmt die Strömung zu. Geschwächt, wie ich bin, muss ich nurachtgeben, dass ich nicht gegen einen im Fluss treibendenBaumstamm pralle oder mich an einem anderen Hindernisverletze.

Immer wieder narren mich meine schlechten Augen, oft binich davon überzeugt, das Dach eines Hauses am Ufer zusehen. Auch meine Ohren täuschen mich, und ich bin ganzsicher, Hühner gackern zu hören. Aber natürlich sind es keineHühner, es ist der Ruf eines ganz bestimmten Vogels, undobwohl ich den genau kenne, falle ich immer wieder auf dieseLaute herein. Dann ärgere ich mich, schimpfe mich selbst aus:»Wie kannst du nur so blöd sein, du weißt doch, dass daskeine Hühner sind.« Und doch passiert es mir immer wieder.Die Hoffnung, endlich, endlich Menschen zu finden, ist stärker.Und schließlich falle ich in eine Apathie, wie ich sie noch niezuvor an mir erlebt habe.

Ich bin müde. So entsetzlich müde. In den Nächtenphantasiere ich vom Essen. Von aufwändigen Gerichten undvon ganz einfachen Speisen. Morgen für Morgen fällt es mirschwerer, mich von meinem unbequemen Lager zu erhebenund ins kalte Wasser zu steigen. Hat es einen Sinn,weiterzumachen? Ja, sage ich mir unter Aufbietung allerKräfte, du musst weiter. Weiter. Weiter. Hier gehst duzugrunde.

Einmal sinke ich mitten am Tag unter der grellen Sonne aufeine Sandbank im Fluss, die mir ideal erscheint, um mich einbisschen auszuruhen. Ich bin schon fast eingedöst, beachte dieam Ufer allgegenwärtigen, mich ständig piesackendenKriebelmücken kaum noch, da höre ich ein Fiepen in meiner

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Kriebelmücken kaum noch, da höre ich ein Fiepen in meinerNähe, das ich kenne. Junge Krokodile machen dieseGeräusche, und als ich die Augen öffne, sehe ich Baby-Kaimane, nur 20 Zentimeter groß, ganz dicht neben mir. Ichfahre hoch. Denn ich weiß, dass ich mich in Gefahr befinde.Wenn die Mutter dieser Jungen erst meine Anwesenheitbemerkt, dann wird sie mich angreifen. Da ist sie auch schon,ganz nah, sie richtet sich auf und kommt drohend auf mich zu.

Und ich? Lasse mich wieder ins Wasser gleiten undweitertreiben. Ich hatte schon vorher Begegnungen mitBrillenkaimanen, die am Ufer dösten und, als sie michbemerkten, aufschreckten und ins Wasser auf mich zusprangen. Würde ich mich nicht so gut in diesem Urwaldauskennen, wäre ich sicherlich voller Panik an Land gegangenund in den Wald gerannt, wo ich dann bestimmt umgekommenwäre. So aber vertraue ich darauf, dass das, was ich inPanguana gelernt habe, stimmt: dass Kaimane immer insWasser flüchten, egal, aus welcher Richtung sie Gefahrvermuten, und dass sie an mir vorbei oder unter mir durchschwimmen, mich aber auf keinen Fall angreifen werden. Dochgerade die Anwesenheit so vieler Kaimane ist für mich einHinweis darauf, dass an diesem Fluss keine Menschen leben.Später werde ich erfahren, dass zu dieser Zeit der gesamteFluss unbesiedelt war. Wäre ich einfach irgendwo liegengeblieben, man hätte mich niemals gefunden.

Also weiter, immer weiter.

Ich werde schwächer, kann mich kaum noch aufraffen, weiß,dass ich etwas essen muss, will ich nicht sterben. Aber was?

Es ist Regenzeit, und überall springen Frösche umher. Und

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Es ist Regenzeit, und überall springen Frösche umher. Unddie fixe Idee erfasst mich, dass ich eines dieser Tiere fangenund essen muss, obwohl ich weiß, das sind Pfeilgiftfrösche, diewerden mir nicht gut bekommen. Die Indianer verwendeneinige Arten zum Vergiften ihrer Pfeile, doch die Wirkungdieser Frösche hier ist zu schwach, um einen Erwachsenen zutöten. Allerdings bin ich mir nicht sicher, wie gut ich sie inmeinem geschwächten Zustand vertragen würde. Trotzdemversuche ich wieder und wieder, einen der Frösche zu fangen.Doch es gelingt mir nicht. Einmal sitzt einer dieser Kerle keine15 Zentimeter von meinem Mund entfernt. In dem Moment, indem ich zugreife, ist er schon wieder weg. Und das deprimiertmich mehr als alles andere.

Und wieder höre ich die falschen Hühner gackern, undwieder falle ich auf sie herein. Einmal bin ich den Tränen nahe,als ich merke, dass ich mich wieder täuschen ließ.

Den zehnten Tag verbringe ich damit, mich im Wassertreiben zu lassen. Ständig stoße ich gegen Baumstämme, eskostet mich viel Kraft, über sie hinwegzuklettern, aufzupassen,dass ich mir bei diesen Zusammenstößen keinenKnochenbruch zuziehe. Am Abend finde ich eine Kiesbankund denke mir, das ist ein guter Schlafplatz. Ich lasse mich aufihr nieder, döse ein wenig vor mich hin, blinzle – und seheetwas, was da nicht hingehört. Ich glaube zu träumen, reiße dieAugen auf und tatsächlich: Dort am Ufer liegt ein Boot. Einrecht großes sogar, eines, wie die Einheimischen es benutzen.Ich sage mir, dass das nicht möglich ist, dass ich halluziniere,reibe mir die Augen, sehe dreimal hin, und immer noch ist esda. Ein Boot.

Ich schwimme hinüber, fasse es an. Da erst kann ich es

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Ich schwimme hinüber, fasse es an. Da erst kann ich eswirklich glauben. Es ist neu und voll funktionstüchtig. Jetztbemerke ich einen Trampelpfad, der vom Fluss die fünf, sechsMeter die Uferböschung hinaufführt. Es sind sogarfestgetretene Stufen erkennbar. Warum habe ich das vorhernicht gesehen? Dort hinauf muss ich, hier finde ich sicherlichMenschen! Aber ich bin so schwach. Ich brauche Stunden,um diese wenigen Meter zu überwinden.

Und dann bin ich endlich oben. Ich sehe einen Tambo,einen einfachen Unterstand, Pfähle mit einem Palmwedeldach,ein eingezogener Boden aus der Rinde der Pona-Palme, etwadrei auf vier Meter groß. Hier lagert der Außenbordmotor desBootes, 40 PS registriere ich, als sei das jetzt wichtig, und einFass mit Benzin. Menschen sind weit und breit keine zu sehen,aber ein Pfad führt in den Wald hinein, und ich bin mir ganzsicher, dass die Besitzer des Bootes jeden Moment aus ihmheraustreten werden. Als ich das Benzin betrachte, fallen mirmeine Fliegenmaden wieder ein, die mir manchmal entsetzlichwehtun und schon wieder ein Stück größer geworden sind. Ichwerde etwas von dem Benzin in meine Wunde träufeln, dannkommen sie heraus, so wie damals bei Lobo. Es dauertunendlich lange, bis ich den Schraubverschluss des Fassesaufbekomme. Mit einem Stückchen Schlauch, das ich danebenfinde, sauge ich das Benzin an und lasse es dann in meineWunde tropfen. Zunächst tut das höllisch weh, denn dieMaden im Innern meines Arms versuchen, nach unten zufliehen und beißen sich noch mehr in mein Fleisch. Dochschließlich kommen sie an die Oberfläche. Dreißig Stück holeich mit dem aufgebogenen Ring aus der Wunde, dann bin icherschöpft. Später wird sich herausstellen, dass das noch längst

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erschöpft. Später wird sich herausstellen, dass das noch längstnicht alle sind, doch fürs Erste bin ich ziemlich stolz auf meineLeistung.

Noch immer ist niemand gekommen. Es wird dunkel, undich beschließe, hier zu übernachten. Zunächst versuche ich esauf dem Boden der Hütte, doch die Pona-Rinde ist derarthart, dass ich mir lieber ein Plätzchen im Ufersand suche. Ichleihe mir eine Plane aus, die ebenfalls in der Hütte liegt, deckemich mit ihr zu und schlafe so vor den Mücken geschützt indieser Nacht göttlich, besser als in jedem Fünfsternehotel.

Am anderen Morgen wache ich auf, und noch immer istniemand erschienen. Ich überlege, was ich tun soll. Vielleichtkommt hier die nächsten Wochen niemand her. Ich weiß, dasses solche Unterstände im Urwald gibt, die Fallensteller oderHolzfäller nur sporadisch nutzen. Vielleicht sollte ich wirklichweitergehen? Kurz nur überlege ich, das Boot zu nehmen, umdamit flussabwärts zu fahren, doch erscheint es mir nichtrichtig. Wer weiß, denke ich, vielleicht ist der Besitzer dochhier irgendwo im Wald, und wenn er wiederkommt, braucht ersein Boot. Ich kann unmöglich mein eigenes Leben retten unddas eines anderen aufs Spiel setzen. Außerdem bin ich mirnicht sicher, ob ich in meinem geschwächten Zustandüberhaupt in der Lage bin, das Boot diesen Fluss entlang zumanövrieren. Während ich so überlege und mich nichtentschließen kann, wieder in den Fluss zu steigen, wird esMittag. Und dann beginnt es, in Strömen zu regnen. Ichverkrieche mich in dem Tambo, lege die Plane um meineSchultern, fühle nichts. Hin und wieder versuche ich, einenFrosch zu fangen, vergeblich.

Am Nachmittag hört der Regen auf, und mein Verstand sagt

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Am Nachmittag hört der Regen auf, und mein Verstand sagtmir, dass ich weiter muss. Wider alle Vernunft bleibe icheinfach sitzen. Ich habe keine Kraft mehr, mich aufzuraffen.Noch einen Tag ruhe ich mich aus, denke ich, morgen gehe ichweiter. Verzweiflung wechselt sich ab mit Hoffnung,Antriebslosigkeit mit neuem Mut.

Ich denke, dass alle anderen sicherlich längst gefunden sind,nur ich bin noch unterwegs. Mir kommt der Gedanke, wieseltsam das doch ist, dass man einfach so irgendwoverschwinden kann, und niemand weiß davon. Das ist einkomisches Gefühl, es füllt meine Brust aus, zieht in denEingeweiden. Dass ich jetzt hier womöglich sterbe, undniemals wird jemand wissen, was aus mir wurde. Keiner wirdje erfahren, welch beschwerlichen Weg ich auf mich nahm, wieweit ich gekommen bin. Ich bin mir darüber im Klaren, dassich langsam aber sicher verhungere, zu lange habe ich nichtsmehr gegessen. Ich dachte immer, wenn man verhungert, danntut das furchtbar weh. Aber ich habe keine Schmerzen. Nichteinmal Hunger spüre ich. Ich bin nur so entsetzlich matt undkraftlos. Wieder versuche ich, einen der Frösche zu fangen.Wieder und wieder. So vergeht der Tag.

Es dämmert bereits, da höre ich plötzlich Stimmen. Ich kanndas nicht glauben! Nach all der Zeit in Einsamkeit ist es fürmich unfassbar. Ich denke, das bildest du dir ein, wie schon sovieles. Doch es sind wirklich menschliche Stimmen. Siekommen näher. Und dann treten drei Männer aus dem Waldund bleiben erschrocken stehen, als sie mich erblicken, ja siezucken unwillkürlich zurück. Ich beginne, auf Spanisch mitihnen zu reden.

»Ich bin ein Mädchen, das mit der LANSA abgestürzt ist«,

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»Ich bin ein Mädchen, das mit der LANSA abgestürzt ist«,sage ich. »Mein Name ist Juliane.«

Da kommen sie näher und staunen mich an.

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Es ist der 3.Januar 1972. Einige der Angehörigen derLANSA-Passagiere haben resigniert. Die Hoffnung, zehnTage nach dem Unglück noch Überlebende zu finden, schmilztdahin. Die Suche nach dem vermissten Flugzeug wird offizielleingestellt, nur die Patrouille aus Zivilisten und Angehörigengibt noch nicht auf. Die zahlreichen Journalisten, die bereits anWeihnachten nach Pucallpa kamen und die Stadt seitherbelagert hielten, reisen ab – die Story scheint zu Ende. MeinVater hält sich auf der Farm seines Bekannten Peter Wyrwichauf. Ob auch er sich mit der Tatsache abfindet, Frau undTochter verloren zu haben?

Währenddessen kümmern sich Beltrán Paredes, CarlosVásquez und Nestor Amasifuén, denn das sind die Namen derdrei Waldarbeiter, die mich in ihrem Lager antreffen, rührendum mich. Sie geben mir Fariña zu essen, das ist ein Gemischaus geröstetem und geriebenem Maniok, Wasser und Zucker,die typische Nahrung der Waldarbeiter, Jäger undGoldwäscher, doch ich kriege fast nichts hinunter. So gut siekönnen, versorgen sie meine Wunden und holen noch mehrFliegenmaden aus meinem Arm.

»Bei allen Heiligen«, gesteht mir Don Beltrán, während ereine nach der anderen aus meiner Wunde pickt, »im erstenMoment, da hab ich geglaubt, du bist die WassergöttinYacumama.«

»Warum denn das?«, frage ich erstaunt. Ich weiß, wen ermeint. Yacumama nennen die Indios eine Naturgöttin, die imWasser lebt. Schwangere müssen unbedingt vermeiden, sie

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Wasser lebt. Schwangere müssen unbedingt vermeiden, sieanzusehen, weil sie sonst später kommt und das Kind holenwill. Aber warum hielten sie mich dafür?

»Na, weil du so blond bist. Und wegen deinen Augen. Undweil hier weit und breit niemand lebt. Schon gar keine Weißen.Gut, dass du uns gleich angesprochen hast.«

So erfahre ich, dass dieser Fluss tatsächlich vollkommenunbesiedelt ist.

»Was ist mit den anderen Passagieren?«, frage ich dieMänner. »Wurden sie gerettet?«

Die Männer schauen mich mit großen Augen sprachlos an.Endlich fasst sich einer. Es ist Don Nestor, und seine Stimmeklingt belegt.

»Nein, Mädchen«, sagt er, »man hat noch nicht einmal dasFlugzeug gefunden. Das ist einfach im Urwald verschwunden,gerade so, als habe der seine Faust über ihm geschlossen.Soviel ich weiß, bist du die Einzige, die überlebt hat.«

Die Einzige? Ich? Das erscheint mir unfassbar. Ich dieEinzige… das heißt… ich will diesen Gedanken nicht zu Endedenken, aber es hilft nichts: Auch meine Mutter wurde nichtgefunden?

»Niemand«, bestätigt Don Carlos, der bislang geschwiegenhat. Jetzt erst merke ich, dass ich meine Gedanken lautausgesprochen habe. »Es ist ein Wunder, dass du hieraufgetaucht bist. Dass du lebst, mit uns reden kannst. Unddass wir hergekommen sind. Denn eigentlich wollten wir dasgar nicht. Als heute der Regen kam, da haben wir nochüberlegt, sollen wir zum Unterstand gehen oder lieber nicht?Denn ehrlich gesagt schauen wir ziemlich selten nach demBoot. Es hätte gut sein können, wir wären gar nicht

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Boot. Es hätte gut sein können, wir wären gar nichtgekommen. Aber der Nestor, der sagte, ach komm, dasWetter ist trügerisch, lass uns zum Tambo gehen, da haben wirwenigstens ein Dach über dem Kopf. Ich kann es noch immerkaum glauben. Wie lange, sagst du, warst du unterwegs?«

Die Männer geben mir eine Hose und ein Hemd zumAnziehen. Ich esse ein, zwei Löffel von der säuerlichriechenden Fariña, dann bin ich schon satt. Offenbar ist meinMagen geschrumpft.

Auf einmal kommen noch zwei Männer aus der Dunkelheit,das schlechte Wetter – oder das Schicksal? – führt sie allegerade heute zu diesem Unterstand. Es sind Amado Pereiraund Marcio Rivera, und auch sie sind wie vom Donnergerührt, als sie mich sehen.

»Wen haben wir denn da?«, fragt Don Marcio überrascht.Und wieder muss ich erzählen, was passiert ist, wieder

ernte ich pures Staunen. Wir tauschen Informationen aus, undich erfahre Details von der groß angelegten, aber vergeblichenSuchaktion. An diesem Abend reden wir noch lange.

»Wir bringen dich hier raus«, sagt Don Marcio und berätsich mit den anderen Männern. Eigentlich möchten sie mich soschnell wie möglich zu einem Arzt bringen, als befürchteten sie,ich hätte doch schwerere Verletzungen und könnte ihnenwomöglich unter der Hand sterben. Doch dann kommen sieüberein, dass es sicherer ist, die Nacht hier zu verbringen. Diedrei Männer, die mich zuerst fanden, werden im Wald bleiben,so wie sie es ursprünglich vorhatten. Don Marcio und DonAmado bieten sich an, mich am nächsten Morgen in allerFrühe mit dem Boot nach Tournavista zu fahren.

In dieser Nacht wage ich nicht zu sagen, wie unbequem ich

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In dieser Nacht wage ich nicht zu sagen, wie unbequem ichden Palmenrindenboden in dem Unterstand finde und dass ichlieber im Sand schlafen möchte. Also übernachten wir allesechs in dem Tambo. Die Männer geben mir ihr einzigesMoskitonetz – dennoch schlafe ich schlecht, die Wunden, ausdenen wir inzwischen an die fünfzig Fliegenmaden herausgeholthaben, schmerzen unerträglich. In aller Frühe, es ist nochdunkel, brechen wir auf. Ich versuche zu gehen. Aber dasletzte Stück tragen sie mich, legen mich ins Boot und deckenmich mit einer Plane zu.

Und dann lasse ich einfach los. Ich bin so unendlich müde.Immer wieder nicke ich ein. Während meiner wachen Stundenbetrachte ich das Ufer, das an mir vorbeigleitet, und unterhaltemich mit den Männern. Ich erfahre den Namen des Flusses, esist der Río Shebonya, und er ist tatsächlich noch vollkommenunbesiedelt.

Es dauert nicht lange, und weltweit sind die Zeitungen voll vonden unglaublichsten Varianten der Geschichte meiner Rettung.Am tollsten ist jenes Märchen, ich hätte mir aus Zweigen undBlättern ein Floß gebaut, und damit sei ich den Río Shebonyahinuntergefahren. Indios hätten mich ohnmächtig auf ihmvorbeitreiben sehen und hätten das Floß an Land gezogen.Aus meiner Besinnungslosigkeit erwacht, hätte ich nur gesagt:»Es gibt Tote«, dann sei ich wieder in Ohnmacht gefallen.Einmal in die Welt gesetzt, schreiben Hunderte vonJournalisten diese Version ab, selbst heute noch kann man dasin Zeitungen oder im Internet lesen. Zu Recht erhielt ichZuschriften, vor allem von vernünftig denkenden Kindern wiedenen der ersten Klasse aus Warner Robins in den USA,

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denen der ersten Klasse aus Warner Robins in den USA,deren Schüler unbedingt wissen wollten, wie ich es schaffte,mir ohne jedes Werkzeug ein Floß zu bauen. Und wie es kam,dass mein Floß aus Ästen und Blättern nicht unterging?Andere Berichte beschreiben meine Reise im Boot mit DonMarcio und Don Amado so: »Dann fiel sie in eine tiefeOhnmacht.« Was nicht der Fall war, im Gegenteil, obwohl ichimmer wieder wegdämmerte, bekam ich viel von dereintönigen Fahrt mit.

Wir sind ewig unterwegs, und es dauert lange, bis wir endlichdie Mündung des Río Shebonya in den Río Pachitea erreichen,an dessen Ufer die Siedlung Tournavista liegt. Mir wird klar:Alleine hätte ich das nie und nimmer geschafft.

Gegen Mittag machen die Männer halt, um etwas zu essen.Wir gehen an Land zu einem Haus mitten auf einer Viehweide.Als ich komme, rennen einige Kinder schreiend davon, undeine Frau wendet sich entsetzt ab, die Hand vor den Mundgepresst: »Diese Augen! Ich kann das nicht sehen! Oh Gott,diese furchtbaren Augen!«

Ich frage meine Begleiter: »Was hat sie denn? Was ist dennlos mit meinen Augen?«

Und da erklären sie mir, dass meine Augen vollkommen rotseien, offenbar sind alle Äderchen geplatzt, da sei nichtsWeißes mehr, alles sei blutrot, auch die Iris habe sich rotverfärbt. Ich wundere mich, schließlich kann ich ganz gutsehen.

Später werde ich in einen Spiegel sehen und den Schreckender Frau durchaus verstehen. Es sieht tatsächlich so aus, alshätte ich gar keine Augen mehr, als seien da nur noch blutige

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Höhlen. Kein Wunder glauben diese Menschen hier, ich sei einUrwaldgeist. Dennoch bekomme ich einen Teller Suppe, dochwieder kriege ich fast nichts hinunter.

Gegen 16 Uhr legen wir in Tournavista an. Unsere Ankunftlöst große Aufregung aus. Sofort wird eine Liegeherangeschleppt, und das ist mir peinlich, schließlich kann ichdoch alleine gehen!

Die Krankenschwester, die mir entgegenkommt, kenne ichvon früher. Sie heißt Amanda del Pino und hat mir einmal eineTetanusspritze gegeben, damals, ehe ich nach Panguana kam.Jetzt will sie mir Penizillin verabreichen, aber ich wehre mich,denn mein Vater ist hochgradig allergisch gegen dieses Mittel,und ich weiß nicht, ob ich die Unverträglichkeit womöglich vonihm geerbt habe. Schwester Amanda lässt sich überzeugenund spritzt mir ein anderes Präparat.

Alle sind sehr behutsam mit mir, behandeln mich wie einrohes Ei. Irgendjemand macht ein Foto, das bald darauf in deramerikanischen Zeitschrift »Life« erscheinen wird, da stehe ichauf einer Veranda, man hat mir einen Bademantel über dieSchultern gelegt, die Krankenschwester hält mich am Arm undschaut sehr besorgt. Sie stellt mir kaum Fragen, dennoch stehtam anderen Tag ein Interview in der Zeitung, das ich jedenfallsnicht gegeben habe.

Nachdem meine Wunden gereinigt und desinfiziert sind undich die Spritze erhalten habe, erscheint eine amerikanischePilotin, Jerrie Cobb, und bietet mir an, mich mit ihremFlugzeug zum Instituto Linguístico de Verano nachYarinacocha zu bringen, zu jenen Missionaren, die dieSprachen der Indianer erforschen und die Bibel übersetzen.

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Dort, sagt sie, gibt es einige Ärzte, ich könnte besser versorgtwerden und mich in aller Ruhe erholen. Die Aussicht, schonwieder ein Flugzeug zu besteigen, macht mir zwar Angst, aberich bin zu schwach, um energisch zu protestieren. Undwahrscheinlich, so denke ich, hat sie ja recht.

Also befinde ich mich kurze Zeit später an Bord einerzweimotorigen »Islander«, und während mich Jerrie Cobb mitder Information zu beruhigen versucht, sie sei die erste Frauder Welt, die eine Ausbildung als Astronautin habe, und mit ihrwürde ich so sicher fliegen wie in den Armen eines Engels,finde ich nicht die Kraft, darauf zu bestehen, im Sitzen fliegenzu dürfen. Jerrie findet es sicherer, dass ich mich hinlege, unddamit wird der 20 Minuten dauernde Flug an dieYarinacocha-Lagune für mich zur Qual. Vor allem, als Jerrie,die meine Angst offenbar nicht bemerkt, das Flugzeug sorichtig in die Kurven legt.

Die »Linguisten«, wie die Missionare der »Wycliffe BibleTranslators« in Yarinacocha allgemein genannt werden,empfangen mich herzlich. Die Familie des Arztes Lindholmnimmt mich auf, und gleich werde ich erneut medizinischversorgt. Dr.Lindholm entfernt weitere Fliegenmaden ausmeinem Arm und auch aus dem Schnitt am Bein, in den sichdie Biester ebenfalls eingenistet haben. Das Loch im Arm isttief, wie tief weiß man nicht genau, und darum erhalte ich jetztdie erste von zahllosen Behandlungen, bei denen ich die Zähnefest zusammenbeißen muss, um nicht laut zu schreien:Dr.Lindholm tränkt einen 50 Zentimeter langen Gazestreifen inJodoform und stopft ihn tief in die Wunde. Dort muss erverbleiben, bis man ihn am nächsten Tag wieder herauszieht

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und durch einen neuen ersetzt. Nur so erreicht man, wird mirerklärt, dass die schlauchförmige Wunde sauber von innennach außen verheilt. Dann zieht er mir einen ziemlich langenHolzsplitter aus einer Fußsohle, den ich nicht einmalwahrgenommen hatte. Am ganzen Körper habe ichInsektenstiche, die entzündet und aufgequollen sind, diewerden jetzt ebenfalls behandelt.

Als ich das hinter mir habe, werde ich gefragt, was ichessen möchte. Ganz spontan sage ich: »Ein Hühnersandwich.«Zu meiner großen Freude macht man mir sofort eines, und ichverspeise es mit großem Appetit.

Ich bin in Sicherheit. Und mit dieser Gewissheit falle ich ineinen tiefen Schlaf.

Im Restaurant wird unser Essen aufgetragen. Es ist einwunderschöner Spätnachmittag, das Licht glitzert golden aufder vom Wind fein gekräuselten Dünung. Dort hinten, einStück weiter die Lagune hinauf, ruhte ich mich damals amlinken Ufer im Haus des Dr.Lindholm aus. Heute sind nurnoch wenige Linguisten da, schon als ich mit Werner Herzogherkam, hatten sie ihre Siedlung verkleinern müssen. Geradeerst vor wenigen Monaten, nachdem ein Interview mit mir vonCNN ausgestrahlt wurde, schickte mir die Witwe jenesanderen Arztes, zu dem ich damals nach einigen Tagen umzog,Mrs. Fran Holston, ein Foto, auf dem ich mit ihren beidenTöchtern im Garten abgebildet bin. Man sieht mir meine elfTage währende Odyssee auf diesem Bild kaum an; in Rockund Bluse, geliehenen Kleidern, lächle ich in die Kamera. Ichhabe mich darüber gewundert, wie wenig ich empfunden habebeim Anblick dieser Fotografie, so als sei das Mädchen darauf

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beim Anblick dieser Fotografie, so als sei das Mädchen daraufjemand ganz anderes. Ähnlich ging es mir während derDreharbeiten mit Werner Herzog zu dem Dokumentarfilm»Schwingen der Hoffnung«.

Noch heute erscheint es mir eine glückliche Fügung, dassdamals im Jahr 1998 unser Telefon zuhause in Münchenklingelte und sich ein Mann mit den Worten meldete: »MeinName ist Werner Herzog, ich bin Filmregisseur. Ich würdegerne einen Dokumentarfilm über Ihr Schicksal drehen.«

Der Unfall lag inzwischen 27 Jahre zurück. Ich hatte nurwenig gute Erfahrungen mit Journalisten und Filmemachern zuverzeichnen und mich deshalb seit Jahren von allemzurückgezogen. Interviewanfragen lehnte ich damalskategorisch ab, Auftritte in Talkshows natürlich erst recht. Ichwar es leid, mein Leben lang immer wieder dieselben Fragengestellt zu bekommen und ausschließlich als kurioseÜberlebende einer unglaublichen Geschichte wahrgenommenzu werden. Ich hatte inzwischen ein eigenes Leben, war seitneun Jahren verheiratet, und es gab meiner Meinung nach eineMenge Themen, die spannender waren, als wieder und wiederdie Details des Absturzes durchzukauen. Zumal ich dieErfahrung gemacht hatte, dass, was immer ich auch erzählte,die Journalisten nicht zuzuhören schienen und am Ende dochdas schrieben, was sie sich ohnehin schon gedacht hatten oderwas die Leser ihrer Meinung nach hören wollten. Aber dannhatte ich auf einmal Werner Herzog am Telefon, der mit mireinen Film drehen wollte!

Offenbar spürte er mein Zögern, denn er sagte: »Wenn Siesich über mich informieren möchten, dann können Sie imInternet über mich nachlesen. Gerne schicke ich Ihnen auch

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Internet über mich nachlesen. Gerne schicke ich Ihnen aucheinige meiner Filme.«

»Das ist nicht nötig«, sagte ich, nachdem ich meine ersteÜberraschung überwunden hatte, »natürlich weiß ich, wer Siesind, Herr Herzog.« Diesen außergewöhnlichen Regisseurhabe ich immer bewundert, ich kannte viele seiner Filme. Ichkonnte es kaum glauben, gerade ihn am Telefon zu haben.Auch sein Vorschlag kam mir zunächst unglaublich vor.

Werner Herzog wollte nämlich nicht einfach nur Interviewsmit mir machen wie so viele andere, er plante etwas ganzUnerhörtes: 27 Jahre nach dem Absturz wollte er mit mirdorthin zurückkehren, wo alles stattgefunden hatte. Außerdemplante er, meinen Weg zu den Menschen noch einmalnachzuvollziehen. Sollte ich das tatsächlich tun? Auf deranderen Seite: Kann man ein solches Angebot einfachablehnen?

Herzog schlug vor, dass ich mir das Ganze überlegte. Erschickte mir Bücher und einige seiner Filme, die ich noch nichtkannte, und ließ mir Zeit. Ich beriet mich mit meinem Mann,denn seine Meinung war mir schon immer sehr wichtig, erverfügt über eine unglaubliche Menschenkenntnis, und ichweiß, dass ich mich auf seinen Rat verlassen kann. Er sagte:»Vielleicht ist das gut für dich. Eine solche Gelegenheit erhältstdu wahrscheinlich nie wieder.«

Und so meldete ich mich bei Werner Herzog und teilte ihmmit, dass mich sein Projekt interessierte. Wir trafen uns ineinem schönen Münchener Restaurant, und schon bei dieserGelegenheit lernte ich den Kameramann Erik Söllner kennen,auf dessen Meinung Werner Herzog auch später während derDreharbeiten große Stücke hielt.

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Dreharbeiten große Stücke hielt.An diesem Abend erläuterte uns Herzog sein Vorhaben:Er wollte die Stelle, an der die Trümmer der Lockheed L-

188A Electra im Dschungel noch immer verstreut lagen, durcheine Expedition ausfindig und begehbar machen, denn dieAbsturzstelle war bei den Einheimischen noch ungefährbekannt. Ich vermittelte Werner Herzog den Kontakt zuMoro, der all die Jahre, während deren ich nicht nachPanguana kommen konnte, auf der Forschungsstation nachdem Rechten gesehen hatte. Trotz seiner Hilfe und der vielerEinheimischer kamen drei Expeditionen, die Herzogausschickte, um die Trümmer der Lockheed Electra zulokalisieren, unverrichteter Dinge zurück. Erst die vierte warerfolgreich. Gemeinsam mit seinem damals achtjährigen Sohnbegab sich der Regisseur an Ort und Stelle, um dieWrackteile, die auf einer Strecke von rund 15 Kilometern imUrwald verteilt lagen, zu sichten. Wieder zurück in Münchenerzählte er mir, ich würde staunen, wie gut einige Trümmernoch erhalten seien. Aber er musste auch feststellen, dass dasGelände derart unwegsam war und dass erfahreneeinheimische Macheteros an manchen Tagen Stundenbrauchten, um auch nur 100 Meter voranzukommen.Unmöglich konnte das Filmteam samt Ausrüstung zu Fuß zurAbsturzstelle gelangen. Mehrmals sah es danach aus, alswürde die Sache scheitern. Doch nicht mit Werner Herzog.Der scheute keine Mittel und Anstrengung, um sein Vorhabenin die Tat umzusetzen. Wenn man nicht zu Fuß hinkommenkonnte, dann eben durch die Luft. Und so beschloss er, imUrwald nahe der größten Wrackteile eine kleine Schneiseschlagen zu lassen, gerade groß genug, damit ein

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schlagen zu lassen, gerade groß genug, damit einHubschrauber landen konnte.

Alle dachten, dass mich das alles fürchterlich aufwühlenwürde, doch zu meinem eigenen Erstaunen stellte ich fest, dassich dem Ganzen seltsam emotionslos gegenüberstand. Mehrals die Aussicht, jenen Ort wieder zu sehen, machte mich dieTatsache nervös, vor einer laufenden Filmkamera sprechen zumüssen, und ich fragte mich, ob ich das wohl gut genughinkriegen würde. Mein Mann sagt immer, ich sei einePerfektionistin, und ja, er hat sicherlich recht. Aber wenn manfür jemanden wie Werner Herzog vor der Kamera steht, dannwill man seine Sache schließlich gut machen. Und dann,Anfang August 1998, ging es los.

Wir flogen mit American Airlines über Dallas nach Peru,was nicht der nächste Weg war und die Reise noch länger undanstrengender machte, als ein Direktflug aus Europa esohnehin schon ist. Aber diese Fluglinie erlaubte wesentlichmehr Gepäck als jede andere, und natürlich hat so einFilmteam davon eine Menge. Ein Teil wurde sogar bereitsvorausgeschickt, und wieder einmal war es Alwin Rahmel, dersich darum kümmerte, dass alles gut durch den Zoll kam.

Mit dem Team verstanden wir uns von Anfang anausgezeichnet. Alles war perfekt organisiert, und ich genosses, mich einmal um nichts kümmern zu müssen. In Limabesuchten wir die Archive der beiden großen Zeitungen »LaPrensa« und »El Comercio«. Hier sah ich Fotos von einemanderen Absturz der LANSA, jenem bei Cuzco, Bilder vonLeichen auf einem Feld, die so entsetzlich waren, dass siedamals nicht veröffentlicht werden konnten. Durch denAufprall waren die Körper zerschmettert, verzogen und

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Aufprall waren die Körper zerschmettert, verzogen undverzerrt, und der Anblick schockierte mich außerordentlich,denn ich musste natürlich ständig an meinen eigenen Unfalldenken und daran, in welchem Zustand wohl die Menschengewesen waren, die nicht so viel Glück hatten wie ich.

Es war schon eine seltsame Reise, auf die mich derRegisseur mitnahm. Mich dazu zu überreden, 27 Jahre nachmeinem Unfall wieder ein Flugzeug zu besteigen, das exaktdieselbe Strecke flog wie die, auf der ich verunglückte, warnoch relativ einfach. Diesen Flug hatte ich inzwischen ja schonmehrfach unternehmen müssen, um zeitsparend in den Urwaldzu kommen. Doch sogar auf denselben Platz setzte er mich,Reihe 19, Sitz F, derselbe wie in der LANSA-Maschine, ausder ich damals vom Himmel fiel. Eigentlich wäre ich lieber überdie Anden gefahren, denn auch hier hatte sich viel verändertgegenüber meinen Jugendjahren, inzwischen brauchte man»nur noch« 20 Stunden von Lima bis Pucallpa. Aber WernerHerzog ist ein Mann mit großer Überzeugungskraft, und sosprang ich über meinen Schatten und stimmte zu, mit ihm zufliegen. Heute bin ich froh darüber. Denn hätte mich derFilmemacher damals nicht hautnah mit diesem Teil meinerVergangenheit konfrontiert und mich der Öffentlichkeit wiedernäher gebracht, wer weiß, ob ich heute in der Lage wäre, sofür Panguana einzustehen, vor allem auch vor größeremPublikum.

Also überwand ich meine Furcht. Und vor laufenderKamera überflogen wir die Stelle, an der es damals passierte.Werner Herzog nutzte diesen Moment natürlich und machtemit mir ein Interview: Ich erzählte genau an dieser Stelle, wieich den Absturz erlebt hatte. Und zum Glück gelang es auf

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ich den Absturz erlebt hatte. Und zum Glück gelang es aufAnhieb so gut, dass wir es nicht wiederholen mussten. MeinMann befand sich die ganze Zeit an meiner Seite, und das warfür mich ungeheuer wichtig. Ich glaube, man kann in diesemFilm erkennen, wie sehr wir einander eine Stütze sind, wie sehrwir füreinander da sind, wenn der andere es braucht.

Auf dem Weg von Pucallpa in den Urwald erlebte ich somanche Überraschung. Entlang der neuen Carretera Marginalde la Selva wurde überall der Wald gerodet, mit Säge undFeuer bahnte sich die Zivilisation ihren Weg in die Wildnis, undmir blutete das Herz, wusste ich doch ziemlich genau, wie vielLeben in den Flammen zugrunde ging. Inzwischen hatte manüber den Río Shebonya, jenen Fluss, dem ich folgte, eineeiserne Brücke gebaut, und wenige Kilometer davor hatte eineFrau aus den Anden einen Kiosk eröffnet, wo wirhaltmachten, um etwas zu trinken. Ich traute meinen Augennicht, als ich sah, was sie an die Außenwand des Hausesgelehnt hatte: Es war doch tatsächlich eine völlig intakteFlugzeugtür der LANSA-Maschine, die wohl irgendjemandhierhergeschleppt hatte. Darauf hatte die Indiofrau infehlerhaftem Spanisch geschrieben: »Julianas Tür«. Diesegeschäftstüchtige Frau hatte offenbar gleich erkannt, welchemagische Anziehungskraft dieses Relikt meiner Geschichtehaben würde, und tatsächlich, mit wem ich darüber spreche,alle nennen diesen Kiosk, der inzwischen zu einem kleinenLebensmittelladen mit Ausschank angewachsen ist, »Die Tür«.Natürlich filmte mich Werner Herzog dort, und wann immerich seither hier vorüberkomme, sagen die Menschen, die michbegleiten: »Juliane, stell dich doch bitte mal kurz dahin«, und

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begleiten: »Juliane, stell dich doch bitte mal kurz dahin«, undmachen ein Foto. Noch immer berührt mich das eigenartig, esist mir unangenehm, denn für mich ist das keineTouristenattraktion, sondern eine Tür, durch die 91 Menschenin den Tod schritten, einschließlich meiner Mutter. Nur ichhabe überlebt. Und das beschäftigt mich seither sehr.

Jene Tür verändert sich ständig; jedes Mal, wenn ichvorbeikomme, sieht sie anders aus. Da wird etwasdazugeschrieben, etwas übermalt. Zum Beispiel stand neulichdarauf: »Dies ist die Tür, durch die Jhuliana sich rettete.« Wasnatürlich so nicht stimmt. Als die Inhaberin des Kiosks einmalhörte, dass sie meinen Namen falsch geschrieben hatte unddas Datum nicht korrekt war, nahm sie mich beiseite undsagte: »Jetzt musst du mir mal aufschreiben, wie du wirklichheißt, damit ich das richtig machen kann.« Und das sind soMomente, da kommt alles in mir hoch. Ist es denn jetzt schonso weit, dass jemand derart direkt seine Geschäfte mit demSchrecken von damals macht? Und dann sind sie auch wiederda, die Gefühle jener Tage, wenn auch nur für kurzeAugenblicke.

Natürlich schlucke ich das alles schnell wieder runter. Denndie Menschen können nicht anders und meinen es natürlichnicht böse. Und ich merke, wie sehr ich doch inzwischen auchabgestumpft bin, vor lauter Rücksichtnahme, vor lauterVerständnis. Gab es eigentlich jemals eine Zeit, in der Raumwar für meine ursprünglichen, ungebremsten, von der Vernunftunzensierten Gefühle? Diese Fragen beschäftigten michdamals, während ich mit Werner Herzogs Filmteam weiterfuhrnach Panguana.

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In Panguana war ich 14 Jahre lang nicht mehr gewesen. DiePräsenz der Terrororganisation »Movimiento RevolucionarioTúpac Amaru« in der Gegend hatte bis vor Kurzem jede Reisezum lebensgefährlichen Risiko gemacht. Inzwischen waren dieursprünglichen Häuser, in denen ich mit meinen Eltern gelebthatte, verfallen. Im Auftrag meines Vaters hatte Moro einneues Gästehaus bauen lassen: eine Holzhütte auf Stelzen wiealle Häuser hier im Regenwald, mit drei kleinen Zimmern undeiner überdachten Terrasse. Jetzt konnte ich es zum erstenMal in Augenschein nehmen. Mein Mann und ich kamen beiMoros Familie unter, der inzwischen seine Farm an den Randdes Panguana-Gelände verlegt hatte, um sich besser darumkümmern zu können. Und das nicht gerade kleine Filmteamschaffte es, sich in die Zimmer des Gästehauses und auf dieVeranda zu schichten.

Wie viele Erinnerungen kamen wieder hoch! Der Fluss warimmer noch derselbe, auch der Wald hatte sichglücklicherweise kaum geändert. Die Rufe der Vögel, diemeine Mutter so eingehend studiert hatte, der wunderbareLupuna-Baum, der mit seinen 50 Metern Höhe alle anderenbei Weitem überragt, die Schmetterlinge und anderenInsekten, alles erinnerte mich an jene Jahre, als meine Weltnoch heil war. Damals wanderte ich wie im Traum durch dieseStätten meiner Kindheit, dankbar und erstaunt, dass ich michnoch immer genauso im Regenwald bewegen konnte, wie iches als Kind gelernt hatte. »Es ist wie Fahrradfahren«, lachtemein Mann, »das verlernt man auch nie.«

Wir fuhren nach Puerto Inca, und dort trafen wir DonMarcio, der mich damals nach Tournavista gebracht hatte. Es

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Marcio, der mich damals nach Tournavista gebracht hatte. Eswar eine sehr bewegende Begegnung nach all den Jahren. Wieviele andere hatte auch Don Marcio mitgeholfen, für denDokumentarfilm die Trümmer zu suchen. Einmal hatte er sichsogar allein auf den Weg gemacht. Dabei wurde erunglücklicherweise von einem Stechrochen verletzt. Der hiebseinen giftigen Stachel durch Don Marcios Gummistiefelhindurch und in die Ferse, sodass sein Fuß heftig anschwollund sich entzündete. Fast wäre er durch diesen Vorfall imUrwald umgekommen, wäre nicht ein Boot vorbeigefahren.Doch da Don Marcio fast kein Geld bei sich hatte, wollten ihndiese Menschen nicht einmal mitnehmen. So bot er ihnennotgedrungen sein Gewehr an, im Urwald ein kostbares Gut,und damit ließen sie sich erweichen, den Verletzten auf ihrBoot zu nehmen.

Ich hatte von seinem Pech gehört und mit Werner HerzogsHilfe das Gewehr zurückgekauft. Nun brachten wir es ihmwieder, als kleine Gegenleistung dafür, was er einst für michgetan hatte. Ich sagte bei dieser Begegnung: »Don Marcio, Siehaben mich damals gerettet!« Er aber schüttelte sein Hauptund meinte ernst: »Nicht ich, sondern Gott hat Sie gerettet,Juliana. Ich durfte nur seine Barke sein.«

Als wir mit dem Hubschrauber, der in Puerto Inca bereitsauf uns wartete, losfliegen wollten, gab es eine Verzögerung.Denn der Pilot hatte bei einem früheren Flug festgestellt, dassauf der Lichtung, auf der wir landen sollten, die Bäume nichtniedrig genug abgeschnitten worden waren. Die Stümpferagten immer noch rund einen Meter auf, und das warlebensgefährlich. Also musste nochmals nachgeschlagenwerden, dann erst konnten wir aufbrechen.

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werden, dann erst konnten wir aufbrechen.Ich war vorher noch nie mit einem Hubschrauber geflogen

und fand das hochinteressant. Wie man sich damit einfach sosenkrecht in die Höhe erheben und in der Luft quasi auf derStelle »stehen« kann, das war für mich, die ich mich schon alskleines Mädchen für technische Dinge mehr interessierte als fürPuppen, äußerst spannend.

Und dann landeten wir dort, mitten im Urwald, auf einerHügelkuppe. Wir waren ein großes Team mit Köchin undMacheteros, die uns halfen, den Weg frei zu schlagen. Einigewaren vorausgeflogen und hatten bereits ein provisorischesCamp aufgeschlagen mit Moskitonetzen unter großenPlastikplanen. Mein Mann und ich erhielten ein Zweimann-Zeltetwas abseits von den anderen, was in diesem UrwaldcampLuxus war. Die ganze Verpflegung, einschließlich desTrinkwassers, musste mitgebracht werden, denn es herrschteTrockenzeit. Mit deutscher Gründlichkeit wurde auch gleicheine Toilette ausgehoben, eine einfache Grube mit einemDonnerbalken darüber. Zu meiner Überraschung gab es hierauf dem Hügel extrem viele Schweißbienen, die zwar nichtstechen, aber zu Hunderten an einem festkleben, was sehrlästig ist; alle litten wir darunter. Das Team war beeindrucktdavon, wie stoisch ich dies ertrug, aber das lag einfach daran,dass ich mich extrem darauf konzentrierte, meine Textbeiträgemöglichst gut zu sprechen und sie nicht dauernd wiederholenzu müssen. Im Film gibt es einen Schwenk auf meinen Arm,wo sich diese Viecher nur so tummeln. Damals, währendmeines Wegs durch den Urwald, hatte ich darunter gar nichtzu leiden, unten am Bach gab es die Schweißbienen nämlichnicht.

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nicht.Es war ein eigenartiger Ort, unser Camp im Dschungel.

Rings um uns im Wald lagen die Teile des Flugzeugs verstreut.Zuerst waren sie überhaupt nicht zu sehen, der Urwald hattesie sich in all den Jahren einverleibt. Doch dann, auf einmal,gaben sie sich zu erkennen, und das war jedes Mal ein äußersterstaunlicher Anblick, vor allem, da sie immer noch in einemso guten Zustand waren.

Wir fanden Trümmer, die aussahen, als seien sie eben erstin den Urwald gefallen. Da die meisten Teile aus rostfreiemStahl oder Aluminium bestanden, waren all die Jahre in derFeuchtigkeit des Dschungels scheinbar spurlos an ihnenvorübergegangen. Der Regenwald hatte sie vereinnahmt,überwuchert, umwachsen, in seinen Grund gezogen, alsgehörten sie zu ihm. Oft konnte man fast nichts erkennen, biseiner der Macheteros, die geholfen hatten, die Unglücksstellezu finden, ein ziemlich langes Stück einer Seitenwand desFlugzeugs aufrichtete und Blätter, Moos und Flechtenbeiseitewischte: Lack und Beschriftung waren wie neu. Es warwie in einem Traum, ich sah all die Teile des Flugzeugs, in demich einmal gesessen, ja in dem ich die Anden überquert hatte,aus dem Grün des Regenwalds auftauchen. Und doch, esberührte mich kaum. Ich fand das äußerst interessant, auch diekleineren Funde wie das Bruchstück eines der Tabletts, vondem auch ich mein letztes Frühstück vor dem Unglück zu mirnahm, oder die Überreste eines Plastiklöffels, einesGeldbeutels, der noch zwei inzwischen ungültig gewordeneMünzen enthielt, Reste des Bodenteppichs, von dem sogarnoch die Farbe zu erkennen war, auch der Fund des Absatzeseines Frauenschuhs, der metallene Rahmen eines Koffers,

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eines Frauenschuhs, der metallene Rahmen eines Koffers,dessen Schlösser groteskerweise noch abgeschlossen waren,während der Stoff, der ihn ursprünglich umhüllt hatte,verschwunden war. All das faszinierte mich zutiefst, aber esregte keine Saite in meinem Innern an zu vibrieren. Als sei icheine Außenstehende und betrachte ein fernes Spektakel.

Was mich erstaunte, war: Die Flugzeugteile wirkten sounberührt. Wir fanden auch einen Propeller und jene Turbine,der ich auf meiner Wanderung damals schon begegnet war.Ebenso einen Dreiersitz, der besser erhalten war als alleanderen, die wir fanden, und wir nahmen an, dass es derjenigesein könnte, mit dem ich vom Himmel gefallen war.Faszinierend fand ich auch, dass über uns Flugzeugehinwegflogen, wir befanden uns exakt unter der FluglinieLima–Pucallpa, der Pilot hatte damals also gar nicht erstversucht, dem Gewitter auszuweichen.

Auch das Wiedersehen mit jenem Bach, der mich aus demWald herausführte und mir so das Leben rettete, war für micheigenartig unwirklich. Wasserläufe können sich im Laufe derJahre im Regenwald durchaus verändern, ebenso wie dieVegetation sich ständig wandelt, und doch hatte ich dasdeutliche Gefühl, an jener Stelle schon einmal gewesen zu sein.Als wir zum Río Shebonya kamen, trafen wir an einerbestimmten Stelle am Ufer viele Schmetterlinge an, undWerner Herzog kam auf den Gedanken, eine Szene zu filmen,in der ich durch eine bunte Wolke von Faltern gehe. Aber wiediesen Flattermännern erklären, dass sie sich auf WernerHerzogs Regieanweisung hin hier versammeln sollten? Da halfunser Wissen als Zoologen, denn mein Mann sagte: »Das istganz einfach! Da müssen wir jetzt alle hinpinkeln, dann

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ganz einfach! Da müssen wir jetzt alle hinpinkeln, dannkommen die Schmetterlinge in Scharen.«

Gesagt, getan. Das gesamte Filmteam pinkelte an dieseStelle, und so entstand die schöne Szene, in der ich durcheinen aufflatternden Schmetterlingsschwarm gehe – einetreffende Metapher für meinen Flug, den Absturz und meinenWeg zurück ins Leben.

Und schließlich fanden wir unter all den Trümmern etwas,was mich doch tief berührte. Wieder war es zunächst kaum zuerkennen, obwohl es riesige Ausmaße hatte. Es war ein Teildes Fahrgestells, das mit den Rädern nach oben im Wald lag.Wie es so dalag, erinnerte es mich fatal an die Überreste einestoten Vogels, eines wirklichen Lebewesens, das da mit denFüßen nach oben hilflos gestrandet war.

Ich weiß nicht, was die Menschen erwarteten. Ob sie damitrechneten, dass ich in Tränen ausbrechen oder einen großenemotionalen Ausbruch erleben würde. Dafür bin ich nie derTyp gewesen. Irgendein Überlebensinstinkt hatte wohlaußerdem im Laufe der Jahre einen Schutzschild um michgebildet, der es mir erlaubte, ein sogenanntes normales Lebenzu führen. Außerdem denke ich heute: Der Schock, den ichzweifelsohne während meines Sturzes aus 3000 Meter Höheerlitt, hielt bis damals während der Dreharbeiten an. Teilweiseist er heute noch nicht völlig aufgelöst. Und wahrscheinlich istdas auch in Ordnung so. Es ist ein Mechanismus, um mit demUngeheuerlichen zu leben, mit ihm umzugehen, als wäre es einMuttermal, das zu uns gehört, eine Narbe, ein Gebrechen.Oder manchmal auch ein Segen. Wer mag das schonentscheiden?

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entscheiden?Aber heute, als ich über die Lagune von Yarinacocha

blicke, spüre ich, dass die Zeit, in der ich diese Erinnerungenauf Abstand halten musste, nun vorbei ist. Jetzt wird es Zeit,darüber zu sprechen. All die Jahre war es nicht möglich. DieArbeit mit Werner Herzog, die ich sehr genoss und für die ichihm bis heute außerordentlich dankbar bin, hat mir ein großesStück weitergeholfen, meine Vergangenheit zu bewältigen. Fürmich, die ich nie zu einem Therapeuten ging, waren HerzogsFilmarbeit, sein einfühlsames Fragen und seine Fähigkeit,wirklich zuzuhören, sowie die Möglichkeit, mit ihm an den Ortdes Schreckens zurückzukehren, die beste Therapie. Seitherbin ich mehr zur Ruhe gekommen, mein innerer Pol hat sichgefestigt. Und dennoch mussten noch weitere 13 Jahrevergehen, ehe es mir möglich wurde, meine Geschichte sovollständig, wie ich es noch nie zuvor getan hatte, zu erzählen.Werner Herzogs behutsame Dokumentation hat damals dieWeichen dafür gestellt, dass es mir heute möglich ist, diesesBuch zu schreiben. Ich habe es lange vor mir hergeschoben.Heute bin ich dazu bereit.

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Während ich in der Nacht nach meiner Rettung im Haus desArztes Dr.Lindholm in tiefem Schlaf liege, bricht in Pucallpadie Hölle los. Was sage ich Pucallpa – die unglaublicheNeuigkeit von meiner wundersamen Rettung geht um die ganzeWelt! Ein Amateurfunker hat bereits um 16 Uhr, kaum warenwir in Tournavista angelangt, die Nachricht über den Ätherverbreitet. Die Angehörigen der anderen Passagiere, die sichgerade eben ins Unvermeidliche schickten und versuchen, sichmit dem Tod ihrer Lieben abzufinden, geraten nun wieder ineine irrsinnige Euphorie. Die Hoffnung, es könnten auchandere überlebt haben, flammt erneut auf. Am Abend läuftalles, was Beine hat, auf die Straßen und strömt zur Plaza deArmas. Zunächst können die Leute die gute Nachricht garnicht glauben. Noch in derselben Nacht beruft derComandante der Fuerza Aérea del Perú, kurz FAP, Manueldel Carpio, der die Suchaktion leitet, eine Pressekonferenzein. Er bestätigt meine Rettung, verbietet aber jeglichenKontakt zu mir mit dem Argument, ich stehe unter Schock undmüsse mich erholen. Er erwähnt, dass ich nur leicht verletztbin, was die Hoffnungen unter den Verwandten der Passagierenur vergrößert. Wenn Juliane nicht schwer verletzt ist, dannkönnten doch andere ebenfalls noch zu retten sein? Und wieein Lauffeuer verbreitet sich auch eine weitere wertvolleInformation. Während unserer Fahrt über den Río Shebonyahabe ich Don Marcio und Don Amado nämlich beschrieben,wie die Stelle aussah, an welcher der Bach, dem ich gefolgtwar, in den Río Shebonya mündete. Ich erzählte von der CañaBrava, und da sie die Gegend kannten, wussten sie, dass

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Brava, und da sie die Gegend kannten, wussten sie, dassdieses Riesenschilf in größerer Menge nur an einer einzigenMündung wächst: an derjenigen der Quebrada Raya, dem»Rochenbach«.

So kommt es, dass bereits in aller Frühe des nächstenMorgens der Pilot Robert Wenninger von der Missions-Hilfsorganisation »Alas de Esperanza« gemeinsam mit MarcioRivera und Amado Pereira sein Flugzeug besteigt und sich vonden beiden Waldläufern den Weg weisen lässt. Sie überfliegendie Mündung, folgen der Quebrada Raya und sichten bereitsgegen zehn Uhr vormittags als Erste ein größeres Wrackteilaus dem Rumpf der LANSA-Maschine.

Als ich an diesem Morgen erwache, habe ich von all demnatürlich keine Ahnung. Alles erscheint mir so unwirklich. Ichliege in einem ziemlich großen, himmlisch bequemen Bett.Dann erinnere ich mich: Ich bin zuhause, ich bin in die Welt derLebenden zurückgekehrt. Dennoch schwebe ich in einemZustand, den ich nicht beschreiben kann – auch heute, nach sovielen Jahren, fällt es mir schwer. Es ist wie nach einer ganzdringenden Terminsache, für die man zur Hochform aufläuft,und danach fällt man in eine Leere. Man fühlt weder Ärgernoch die Freude über das Erreichte. Man fühlt einfach nichts.

In dieser Art Schwebezustand befinde ich mich, da trittmein Vater durch die Tür. Er kommt einfach herein und fragt:»Na, wie geht es dir denn?«

Ich sage: »Gut.«Und dann nehmen wir uns in die Arme. Keiner von uns

beiden weint. Ich freue mich so sehr, ihn zu sehen. Aber es istmehr ein Wissen, kein Fühlen. In mir ist kein Raum für große

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mehr ein Wissen, kein Fühlen. In mir ist kein Raum für großeEmotionen. Ich bin einfach nur erleichtert. Für das, was icherlebt habe, gibt es in dem Moment keine Worte. Für das,was noch aussteht, auch nicht. Und für das, was ich empfinde,schon gar nicht. Denn im Augenblick bin ich von meineneigenen Gefühlen wie abgeschnitten.

Mein Vater setzt sich zu mir ans Bett, und wir sehen uns nuran, schweigend. Er war noch nie ein Mann der großen Worte.Und mir ist es lieber so.

Später werde ich mir Gedanken machen über dieseGefühlsleere, werde mich fragen, ob wohl etwas nicht inOrdnung ist mit mir, ob ich womöglich gefühlskalt bin. Dieseinnere Teilnahmslosigkeit wird mir mitunter Angst machen.Doch heute, 40 Jahre später, weiß ich, dass dies einSchutzmechanismus war, den ich damals entwickelte.Während meines Gangs durch den Urwald war erüberlebensnotwendig, und als ich gerettet war, konnte ich ihnnicht einfach so wieder abschalten, meine Psyche war aufAutopilot eingestellt, innerlich ging ich nach wie vor durch denRegenwald, meine Seele war noch nicht in der Zivilisationangekommen. Vielleicht ist sie das bis heute nicht vollständig.

Aber mein Körper, der begreift sehr wohl, dass er inSicherheit ist, und er lässt auf einmal los. Von einer Stunde aufdie andere bekomme ich sehr hohes Fieber, das einige Tageanhält und dann genauso plötzlich wieder verschwindet. DieÄrzte sind ratlos.

Außerdem schwillt mein linkes Knie dick an. Keiner weiß,warum. Einige Monate später wird man feststellen, dass ichmir beim Absturz einen Kreuzbandriss zugezogen habe. »Unddamit wollen Sie noch elf Tage durch den Urwald gelaufen

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damit wollen Sie noch elf Tage durch den Urwald gelaufensein?«, wird mich der Orthopäde konsterniert fragen.»Medizinisch ist das eigentlich völlig unmöglich!«

Ist es nicht unglaublich, wie mein Körper die natürlicheReaktion auf diese Verletzung so lange unterdrücken konnte,bis ich gerettet war? Weder hatte ich Schmerzen währendmeiner elftägigen Wanderung noch eine Schwellung. Hätte ichmich allerdings vom Unfallort nicht fortbewegen können, ichhätte nicht überlebt.

Ständig sind Menschen um mich, dauernd ist etwas los.Über der Siedlung kommen und gehen die kleinen Flugzeugeder Linguisten, die sich an der Suchaktion beteiligen. Als meinVater endlich das Schweigen bricht, fragt er nach meinerMutter. Wie enttäuscht ist er, als ich ihm so wenig berichtenkann! In einem Telegramm an seine Schwester schreibt er:»Leider können wir nichts über Maria sagen. Juliane hat sienach dem Unglück nicht mehr gesehen.« Und auch für mich istes unbegreiflich, wie sie, die eben noch an meiner Seite saß,von einem Moment zum anderen so vollständig aus meinemLeben verschwinden konnte.

An jenem ersten Tag nach meiner Ankunft in Yarinacochabesucht mich auch der Comandante der FAP, Manuel delCarpio, und fragt mich höflich nach Auskünften. Ich erzähle,was ich weiß. Danach bittet er mich, über den Hergang desAbsturzes gegenüber Presseleuten nichts Detailliertes zuberichten, bis alles genau aufgeklärt sein wird. Ich hielt mich anseine Bitte. Eine offizielle Stellungnahme zu der Absturzursachesollte allerdings nie erfolgen.

Über Pucallpa fällt an diesem Tag ein »wahrer Regen« – um

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Über Pucallpa fällt an diesem Tag ein »wahrer Regen« – umdie lokale Zeitung »Impetu« zu zitieren – an Journalisten her.Sie verwandeln die kleine Stadt in ein Chaos, und alle sind sieauf der Suche nach mir. Zum Glück gibt der Comandante dieMeldung heraus, ich befände mich in dem berühmten»Hospital Amazónico Albert Schweitzer« bei Dr.TheodorBinder, der in Peru nicht minder bekannt ist. Nicht nur dieJournalisten, auch viele Einheimische belagern daraufhin dasKrankenhaus. Alle wollen mich sehen.

Trotz der falschen Fährte beordert Comandante del Carpioeine Polizeiwache vor das Haus, in dem ich mich aufhalte.Auch das Absturzgebiet wird gesperrt und ist nur für diePolizei und das Militär zugänglich. Dennoch macht sich auchwieder eine Gruppe aus zehn Zivilisten und Angehörigen aufden Weg, aufs Äußerste motiviert durch meine glücklicheRettung und die Lokalisierung der Unglücksstelle. Unter ihnenist Marcio Rivera, der mit seinen guten Ortskenntnissen alsFührer fungiert.

Noch am selben Tag springt der Pilot Clyde Peters, jenerAdventist, der meinem Vater am Silvestertag 1971 so vielHoffnung brachte, mit dem Fallschirm über der Absturzstelleab. Sein Plan ist, eine Lichtung in den Urwald zu schlagen,damit Hubschrauber dort sicher landen können. Das würdedie Bergungsarbeiten gewaltig erleichtern. Gleichzeitig brichteine offizielle Abordnung aus drei Mitgliedern der GuardiaCivil und sechs Militärs, darunter ein Funker und zweiSanitäter, vom Río Súngaro bei Puerto Inca, ganze20 Kilometer vom Trümmerfeld entfernt, zu Fuß auf.Währenddessen misslingt Clyde Peters’ heroischer Versuch.Nicht nur verliert er seine Ausrüstung, vor allem die an seinem

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Nicht nur verliert er seine Ausrüstung, vor allem die an seinemBein festgebundene Motorsäge, er verletzt sich auch noch beider Landung. Ohne Funkgerät von derHubschrauberbesatzung abgeschnitten, folgt er demFluggeräusch, weil er denkt, es führe ihn zu der Absturzstelle.Dies ist aber nicht der Fall, und statt zum Retter wird er selbstzum Vermissten. Es soll drei Tage dauern, bis Clyde Peterswieder auftaucht.

Auch die Militärabordnung hat nicht viel Glück. Für die20 Kilometer braucht sie zwei Tage. Es stellt sich als äußerstbeschwerlich heraus, sich einen Weg durch diesen Teil desRegenwalds zu schlagen, denn das Gelände ist extrem hügeligund durch den ständigen Regen vollkommen verschlammt. Alsder Anführer sich bei einem Sturz auch noch verletzt, wird dasVorankommen noch schwieriger.

Am Nachmittag des nächsten Tages, es ist inzwischen der6.Januar, folgen einige Zivilisten Clyde Peters’ Beispiel.Allerdings springen sie nicht mit dem Fallschirm ab, sondernlassen sich, mit Motorsägen ausgerüstet, von Hubschraubernüber der Unfallstelle abseilen. Am selben Abend treffensowohl die Militärabordnung als auch die Patrouille derZivilisten dort ein und beschließen, gemeinsam vorzugehen.Auf diese Weise sind es nun insgesamt 20 Mann, darunterzwei Zeitungsredakteure, die sich der Absturzstelle nähern.

Währenddessen gehen mit meinem ansonsten so beherrschtenVater die Nerven durch: Er fängt mit dem Comandante einenRiesenkrach an und beschuldigt ihn, nicht genügend für dieRettung von etwaigen Überlebenden zu tun. Seiner Meinungnach kommen die Bergungsmannschaften viel zu langsam

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voran, viel Kraft und kostbare Zeit würden durch überflüssigesKompetenzgerangel verloren gehen. In einem Brief an seineSchwester und seine Mutter, den ich erst vor Kurzem imNachlass meiner Tante fand, schreibt er zwei Tage später:

»Leider wird von peruanischer Seite hier nicht alles getan,was getan werden kann. Wäre Juliane nicht gekommen undhätte gesagt, wo das Flugzeug zu suchen ist, so würde manwohl schon alles aufgegeben haben. Ich hatte vorgestern einesehr heftige Auseinandersetzung mit dem obersten Leitendender Suchaktion, Comandante del Carpio. Dasnordamerikanische Spezialflugzeug ist viel zu spät angefordertworden; die urwalderfahrenen Linguisten und Adventisten(alles keine Peruaner) werden nicht ausreichend herangeholtbzw. zugelassen. Man hätte schon längst etwa 30 bis50 Urwaldindianer der Linguisten anfordern können etc. Der›Señor Comandante‹ erklärte, dass er den Polizeischutz fürmeine Tochter aufheben würde. Die Polizisten, die unsbewachen, stehen nun nicht mehr vor dem Haus.«

Mein Vater ist nicht der Einzige, der del Carpio Vorwürfemacht, auch von der Presse und anderen Angehörigen wird erscharf angegriffen. Ich allerdings bekomme von all demüberhaupt nichts mit. Lediglich, dass nun viel mehr los ist umsHaus und unsere Gastgeber, seit der Polizeischutz aufgehobenwurde, alle Hände voll zu tun haben, um mich abzuschirmen.Von nun an belagert eine ganze Horde Journalisten dieSiedlung der Linguisten.

Da teilt mir mein Vater mit, dass er sich entschlossen habe,mit dem »Stern« einen Exklusiv-Vertrag abzuschließen. »Diesind seriös«, sagt er, »und dann haben wir unsere Ruhe vor

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den anderen.«Zwei Herren würden kommen und mit mir Gespräche

führen, ob ich mich schon kräftig genug dazu fühle?Ich nicke. Ich bin mit allem einverstanden, was mein Vater

beschließt. Er wird wissen, was er tut, und ich nehme das alleseinfach so hin.

Und so wird der nächste Tag, es ist der 7.Januar 1972,zum Besuchstag: Nicht nur Gerd Heidemann und Hero Bussvom »Stern« kommen an und stellen sich mir vor, auch derbritische Journalist Nicholas Asheshov, der meinen Vater vorJahren auf einer Expedition begleitete, findet Gnade vor seinenAugen. Er berichtet für die »Peruvian Times« und die ebenfallsperuanische Zeitung »La Prensa«. Mit den »Stern«-Journalisten werde ich von nun an täglich Gespräche führen.

In seinem Brief an die Schwester schreibt mein Vater am8.Januar: »Was da sonst noch war [er meint Journalisten],habe ich ›weggejagt‹ …ich habe die beiden vom Stern fürheute Vormittag bestellt; Juliane soll ihnen dann alles im Detailschildern, was sie weiß.«

Mein Vater ist bei den Gesprächen mit Gerd Heidemannund Hero Buss immer dabei, und ich bin froh darüber. JedenTag klopfen sie an meine Tür und bleiben eine, höchstens zweiStunden. Zunächst erscheint ein kurzer Vorbericht, dann vierausführliche Reportagen mit großen Bildstrecken. KeinWunder komme ich nicht so recht dazu, mich wirklichauszuruhen. Zumal sich auch noch anderer Besuch aus Limaansagt.

Die Tochter meines Patenonkels reist an und auch meineehemalige Englischlehrerin, die sofort mit mir beten möchte.

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Das ist mir dann aber doch zu viel. Durchaus gläubig, ziehe iches vor, allein zu beten, und das sage ich ihr dann auch.Außerdem kommen noch alte Freunde meiner Eltern,Hannelore und Heinrich Maulhardt, die an der LagunaYarinacocha das hübsche Bungalowhotel »La Cabaña«besitzen und meinen Vater beherbergen, sowie der Direktordes Naturhistorischen Museums in Lima, ein befreundeter Arztsamt Krankenschwester und viele andere. Viele meinerFreundinnen schreiben mir und schicken mir Süßigkeiten.

Inzwischen kämpfen sich die verschiedenen, nun mehr oderweniger reibungslos zusammenarbeitenden Rettungstruppenaus Zivilisten und Militärs weiter durch den Dschungel. Bereitsam Vormittag des 7.Januars erreichen sie die erstenFlugzeugtrümmer. Sechs Sunden braucht es, bis –hauptsächlich durch den unermüdlichen Einsatz derAngehörigen – ein Landeplatz freigelegt ist. Gegen 17 Uhrlandet der erste Hubschrauber der FAP.

In wenigen Hundert Metern Entfernung findet man dieBordküche der LANSA, den intakten Flugzeugschwanz undden völlig zerstörten Gepäckraum, dessen Inhalt weit über dasGelände verstreut wurde.

Außerdem landet an diesem Tag in Puerto Inca unter demgroßen Jubel der einheimischen Kinder ein Wasserflugzeug.Hier wird die Basis für die gesamte Operation errichtet, unddie kleine Urwaldsiedlung erlebt einen Boom, wie sie ihnvorher nur einmal hatte: Auch damals war ein Flugzeugabgestürzt, jedoch nicht über dem Tieflandregenwald, sondernim Sira-Gebirge – es wurde nie gefunden. Nun herrschtwieder großer Trubel im Städtchen, sofort sind die wenigen

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wieder großer Trubel im Städtchen, sofort sind die wenigenHotels, die ihre Preise auf der Stelle erhöhen, bis unters Dachausgebucht. Die Restaurants werden geradezu überrannt, undbald stellt sich heraus, dass nicht genügend Lebensmittelvorhanden sind – auf die Verköstigung von solchenMenschenmassen ist man in Puerto Inca nicht eingestellt. Auchin Pucallpa ist kein Hotelzimmer mehr zu bekommen, und dieFlüge aus Lima sind auf Tage hinaus ausgebucht.

Am nächsten Tag, dem 8.Januar, werden an derAbsturzstelle weitere Trümmer gefunden und die ersten20 Leichen. Man berichtet von grausigen Funden undentsetzlichen Bildern, die man nie wieder vergessen kann. Diemeisten Leichen sind zerstückelt oder grässlich entstellt, in derPresse zieht man den Vergleich zu Dantes »Inferno«. Dereingeflogene, von den Behörden bestellte Leichenbeschauerwird laut Presseberichten auf der Stelle »krank«, als er dieUnglücksstelle und die Überreste der Leichen sieht, und gibtso schnell wie möglich seine Arbeit ab. Offenbar hängen übereinen Durchmesser von rund vier Kilometern Geschenke,Gepäckstücke oder deren Inhalt, Kleider, Schuhe,Weihnachtsstollen in ihrer Verpackung, aber auch Teile vonLeichen in den Urwaldbäumen ringsumher. Über allemschwebt ein schrecklicher Verwesungsgeruch, in den Ästensitzen Geier, die von der Suchmannschaft offenbar gestörtwurden.

Der eilig eingeflogene Untersuchungsrichter, der nun auchals Leichenbeschauer fungiert, schaut sich die Absturzstelle15 Minuten lang an, dann ordnet er die Bergung der Leichenan und fliegt wieder ab. Kein Wunder, dass die wirklicheUrsache, die zum Absturz führte, nie ermittelt wurde.

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Ursache, die zum Absturz führte, nie ermittelt wurde.Als erste Tote werden der Pilot und ein 14-jähriges

Mädchen identifiziert. Pilot Carlos Forno muss aus seinemCockpit herausgehämmert und -gesägt werden und ist nurnoch an seinem Platz in der Maschine, seiner Uniform und denPapieren erkennbar. Bei dem Mädchen handelt es sich um dietraurigen Überreste von Elisabeth Ribeiro, die von ihremeigenen Vater anhand ihres Schmuckes, den er ihr selbstgeschenkt hat, identifiziert werden kann. Er besteht darauf,das, was von seiner Tochter übrig blieb, selbst in einem derbereitgestellten schwarzen Plastiksäcke in den Hubschrauberzu tragen, der die Leichen zunächst nach Puerto Inca bringt.Von dort werden sie nach Pucallpa in die extra dafüreingerichtete Leichenschauhalle an der Carretera Centralgeflogen, wo man die Toten in einer leer stehenden Fabrikhallezur Identifizierung aufbahrt. Auch hier lockt derVerwesungsgeruch bald die Geier an.

Immer wieder regnet es in Strömen. Die Zivilisten, die sichbei der Bergung unter Aufbietung all ihrer Kräfte engagieren,beklagen sich darüber, dass ihnen von den Behörden nicht dierichtigen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Die verteiltenHandschuhe und schwarzen Plastiksäcke seien denkbarungeeignet und erschweren die oft mühevolle Bergung vonLeichen, die in Schluchten gestürzt sind oder an steilenAbhängen liegen. So wird die ohnehin schon extremproblematische Arbeit zur Qual.

Und ich? Werde von all dem abgeschirmt. Möchte am liebstenmeine Ruhe haben. Aber da sind die Gespräche mit denJournalisten vom »Stern«, die täglich kommen. Meine

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Journalisten vom »Stern«, die täglich kommen. MeineBesucher, die meinen, mich aufheitern zu müssen. Mein Vaterfährt täglich nach Pucallpa; wie ich später erfahre, wartet erTag für Tag an der provisorischen Leichenhalle. Er wartet aufmeine Mutter. Doch kein Fund lässt auf ihren Leichnamschließen.

Wenn er nicht in Pucallpa ist, dann sitzt er meist still in einerEcke meines Zimmers. Einmal, nachdem die Kinder derMissionsstation, die mich treu täglich besuchen, gegangen sind,sehe ich ihn an, wie er dort sitzt, völlig in sich versunken.

»Was ist mit dir?«, frage ich ihn.Da blickt er auf, als kehre er aus einer anderen Welt

zurück.»Ach nichts«, antwortet er und zwingt sich zu einem

Lächeln, das nicht recht gelingt. »Ich habe nur eben einbisschen um deine Mutter getrauert.«

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Während der folgenden Tage, Wochen, ja Monate wird mirPost gebracht, Berge von Briefen, täglich sind es mehr. Ausaller Welt kommen sie, und ich bin überwältigt und gerührt,mitunter auch befremdet von den Zeilen, die mir wildfremdeMenschen glauben schreiben zu müssen. Vor allem aus denUSA, aus Kanada, Australien, Deutschland, Frankreich,England, Polen, Italien, Schweden, Argentinien und natürlichaus Peru. Aber auch Menschen aus Burundi, Neuseeland,Französisch-Guyana, Uruguay, Kuba, Costa Rica haben miretwas zu sagen. Die Anschriften auf den Briefumschlägen sindoft kurios, manchmal bestehen sie nur aus den Worten »JulianeKoepcke – Peru«, doch alles kommt an. Das Alter derBriefschreiber variiert zwischen neun und 80 Jahren. Daruntersind viele Kinder, Jugendliche und Mütter, die meist liebevollan meinem Schicksal Anteil nehmen und offenbar einfach nurdas Bedürfnis haben, mir zu schreiben, um mir zu sagen, dassich nicht allein bin. So wie eine sympathische Frau ausAustralien, die schreibt: »Ich bin niemand Besonderes, einfacheine Familienmutter…« Weltweit denken in diesen Tagen vieleMenschen an mich und wünschen mir das Beste.

Viele wollen mir mitteilen, wie sehr sie es bewundern, aufwelche Weise ich mir meinen Weg durch den Urwald suchte,und finden mich enorm »tapfer«, »besonnen« und»unerschrocken«. Ich freue mich darüber, aber eigentlich,denke ich, blieb mir doch einfach keine andere Wahl.

Dann melden sich Menschen, die entweder meine Elternnäher oder entfernter kannten, bei demselben Professor in Kielstudiert oder in früheren Jahren den Urwald von Peru bereist

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studiert oder in früheren Jahren den Urwald von Peru bereisthatten. Einige Exildeutsche in lateinamerikanischen Ländernschreiben, wie stolz sie sind, dass »ein Mädel aus der Heimat«eine solche Leistung vollbringen konnte. Ein amerikanischerFlugzeugpilot findet, »seine« Stewardessen könnten eineMenge von mir lernen – ich bin mir nicht ganz sicher, was erdamit meint. Bob aus Colorado studierte früherFlugzeugtechnik und möchte gerne wissen, ob ich mit einemWrackteil zusammen zur Erde fiel oder ganz allein. Er kannsogar ein bisschen Deutsch und schreibt: »Schreiben mir bittewenn Sie zeit haben Liebschen – Du bist ein sehr bravfraülein!«

Ärzte oder andere Menschen, die über ein besonderesFachwissen verfügen, kommentieren meine Verletzungen,geben gute Ratschläge, wie im Falle eines Belgiers, der vorLungenschäden – verursacht durch den Schlüsselbeinbruch –warnt, oder eines Münchner Entomologen, der mir schreibt,dass das mit den »Würmern« in meinen Wunden wohl nichtsein könne. Er hat völlig recht: Schuld haben deutscheZeitungsartikel mit fehlerhaften Übersetzungen, in denenFliegenmaden, die im Englischen »worms« und im Spanischen»gusanos« heißen, als Würmer bezeichnet wurden. EinigeJungen in meinem Alter und jünger fragen nach zoologischenDetails, sei es, dass sie sich gezielt für Fische interessieren wiePeter aus Australien, der Näheres über die Stachelrochenerfahren möchte, allgemeine Fragen zur Tierwelt desAmazonas-Regenwalds haben wie Brian aus Kanada oder wieHerbert aus Süddeutschland wissen wollen, ob es stimmt, dassder Jaguar in Peru inzwischen ausgestorben sei.

Mitunter eröffnen mir Briefe aber auch einen Einblick in ein

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Mitunter eröffnen mir Briefe aber auch einen Einblick in einfremdes Schicksal: Eine Frau aus San Antonio, Texas, hattedrei Jahre zuvor ihre damals 17-jährige Tochter verloren, die –so meinte sie – mir nicht nur äußerst ähnlich sah, sondern wieich Tiere liebte und Veterinärin werden wollte. Sie starb beieinem Tauchunfall. Nun lädt sie mich ein, bei ihr und ihreranderen Tochter zu leben und an einer texanischen Universitätzu studieren. Vielleicht denkt sie, sie könne mir die Mutter undich ihr die verlorene Tochter ersetzen?

Nicht ausschließen möchte ich auch, dass sich der eine oderandere junge Mann aus der Ferne in mich verliebte. In derRegel schreiben sie reizende Briefe, versichern mir, sie seienimmer für mich da, sollte ich sie brauchen. Einer verfasst garein religiös durchdrungenes Gedicht, ein anderer schickt mirauf einer Postkarte in Miniaturschrift seine Botschaft aufItalienisch, Französisch und sogar auf Lateinisch. Leider gibtes aber auch welche, die aufdringlich werden, einer wendetsich am Ende, als ich ihm nicht antworte, empört an meinenVater!

Ein amerikanischer Künstler äußert den Wunsch, eineBronzeplastik von mir zu fertigen – falls wir uns einmalbegegnen könnten. Und ein 16-jähriges Mädchen ausMünchen würde gerne eine Kurzgeschichte über meinen Unfallschreiben und bittet mich um Details.

Ein begeisterter Anhänger der internationalen KunstspracheEsperanto schreibt mir einen zweisprachigen Brief in Englischund Esperanto, der folgendermaßen beginnt:

»Jetzt, da Sie eine weltberühmte Person geworden sind,werden Sie es wahrscheinlich nützlich finden, die internationale

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werden Sie es wahrscheinlich nützlich finden, die internationaleSprache Esperanto zu lernen. Der weltberühmte Fußball-König Pelé von Brasilien schrieb seine Autobiografie ›Ich binPelé‹ und veröffentlichte sie in Esperanto, was Geschichtemachte, weil nun Esperanto-Fußballfans auf der ganzen Weltsie lesen können, was auch immer ihre Nationalsprache ist.Bitte lernen Sie Esperanto und schreiben Sie ein Buch über IhrLeben und Abenteuer, sodass Esperantisten, ob weiblich odermännlich, es auf der ganzen Welt lesen können…«

Praktischerweise legt er auch gleich ein kleines Handbuchmit den Grammatikregeln und ein Vokabelheft zum Esperanto-Lernen bei.

Lustig finde ich auch eine Postkarte aus Hildesheim, auf derfolgendes Gedicht geschrieben steht:

»Ein Engel kam vom Himmel,aß ein Stück Kuchen,ging dann auf Wanderschaft,und alles war wieder gut.«

Tja, wenn das so einfach wäre! Freude machen mir auch dieBriefe von Schulklassen, die viele Fragen haben und hin undwieder selbst gemalte Bilder von mir mitten im Urwald nebenden Flugzeugtrümmern beilegen.

Und dann gibt es Briefe, die mich seltsam berühren, ja dieich mitunter abstoßend finde. Es gibt nämlich Menschen,denen angeblich gelungen ist, was uns verwehrt bleibt, nämlichKontakt zu meiner Mutter im Jenseits aufzubauen. Noch eheihr Tod offiziell bestätigt ist, lassen solche Menschen »herzlichgrüßen«. Eine Hellseherin aus Freiburg ist gar felsenfest davonüberzeugt, dass ihre Seele im Augenblick des Unglücks bei mir

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überzeugt, dass ihre Seele im Augenblick des Unglücks bei mirwar und ich nur deshalb überleben konnte, weil sie mir – vonmir unbemerkt – den richtigen Weg wies. Dabei beschreibt siedie Umstände so, wie es in den fehlerhaften Berichten derZeitungen steht: Ich sei aus den Trümmern herausgeklettert,um mich seien viele Tote gewesen, ich hätte auf ihren Rat hineinen Kuchen aufgehoben und mitgenommen, wäre beinahe indie Hände von Menschenfressern geraten, hätte ihreunsichtbare Seele mich nicht auf einen sichereren Weg gelockt.Als letzte Vision sah sie mich lichtumkränzt auf einer Lichtungsitzen und den letzten Kanten Kuchen essen. Das alles kannich ja noch mit Humor nehmen, aber als sie dann auch nochNachrichten von meiner toten Mutter übermittelt, da wird esmir doch zu viel.

Es ist nicht der einzige und nicht der letzte kuriose Brief, derbei mir eintreffen soll. Manche versuchen, mich sogar vor ihrenKarren zu spannen. Viele Monate später ist eineBiorhythmikerin aus der Schweiz der Überzeugung, dass ichmich »während dieser fast übermenschlichen Strapazeoffenbar in einer optimalen biorhythmischen Lage« befand.»Denn wenn auch ein solcher Durchhaltewillen weitgehendeine Charaktersache ist, so hülfe er doch wenig, wenn mangerade in einer schwachen Rhythmenlage wäre.« Darum ist dieDame »überzeugt, dass Ihre Urwald-Odyssee geradezu einTestfall für die Lehre von der Biorhythmik darstellt.« Um diesnachprüfen zu können, werde ich aufgefordert, meinGeburtsdatum, möglichst auch mit Uhrzeit, bekannt zu geben.Daran liegt der Dame sehr, »denn wenn nun meine Vermutungbezüglich Ihres Erlebnisses stimmt, dann wäre dies ein soüberzeugender Testfall, das sich sogar die bösartigsten

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überzeugender Testfall, das sich sogar die bösartigstenZweifler und Bekämpfer der Biorhythmik geschlagen gebenmüssen.«

Eine völlig aufgeregte Frau aus New Jersey wird mir nochzwei Jahre später einen Brief schicken, der mich befremdet. Erbeginnt so: »Juliane: Ich fand neue Muster inFlugzeugabstürzen – Planetenpositionen.« Sie hat, ausgehendvon meinem Fall, die Horoskope für jene Tage berechnet, andenen Flugzeugunglücke stattfanden, und kam dabei auf einebestürzende Theorie: Offenbar sorgten ganz bestimmtePlanetenkonstellationen dafür, dass die metallenen Vögel vomHimmel fielen. »Die meisten meiner Freunde«, schreibt sie,»denken, ich werde verrückt, aber diese Untersuchungenlassen mich einfach nicht mehr los.« Ihrer Meinung nach liegtdie Ursache für einen Flugzeugabsturz in einem Quadratzwischen Sonne und Pluto. Zu meiner Rettung aber schlossensich an Weihnachten 1971 Venus, Pluto und Saturn zu einemDreieck zusammen. Ähnliches wiederholte sich offenbar einJahr später, und wieder stürzte eine Maschine, diesmal einefranzösische, über der Karibik ab. Was soll ich davon halten?Ich verstehe nichts von Astrologie und kann zu dieserDiskussion leider nichts beitragen.

Noch kurioser ist ein Brief, der mich ebenfalls zwei Jahrenach meinem Unfall erreicht und in dem es heißt: »Ich habenämlich die richtige Kreisrelationszahl… gefunden und möchtedamit in Kiel mit Hilfe von Ihrer Abiturientin [gemeint bin ich]eine weltweit geistige Revolution auf dem Gebiet derMathematik einleiten.« Die komplizierten, angeblichbahnbrechenden neuen Formeln für ein »Piteljahr« kann ichauch nach meinem– ziemlich guten – Abitur nicht

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auch nach meinem– ziemlich guten – Abitur nichtnachvollziehen, und die geistige Revolution wird wohl nochwarten müssen.

Doch ich greife voraus. Noch liege ich in meinem Bett in derMissionsstation von Yarinacocha als Gast der freundlichenLinguisten, erhalte jeden Tag einen neuen Korb voller Briefe,lese sie alle und stelle mir die bange Frage: Wie um alles in derWelt soll ich nur all diesen Menschen antworten? Es sind soviele, dass es schlichtweg unmöglich ist. Ich suche die Briefeheraus, die mich besonders ansprechen. Aus manchen wirdsogar eine Brieffreundschaft, so mit einem Schüler ausSchweden und einer Dame aus Polen.

Manche Briefe allerdings brauchen keine Briefmarke undmüssen keinen weiten Weg zurücklegen, um zu mir zugelangen, denn sie kommen von direkt nebenan. Auch dieGemeinschaft der Missionare, die mich so liebevollaufgenommen hat und umsorgt, hat Angehörige verloren.Umso dankbarer bin ich, mich bei ihnen erholen zu dürfen. Inder Tiefe meines Herzens fühle ich mich schuldig, überlebt zuhaben, während alle anderen sterben mussten. »Warum«, fragtmich mein Vater einmal in einer besonders schweren Stunde,»habt ihr bloß diesen LANSA-Flug nehmen müssen!«

…obwohl ich euch doch ausdrücklich davor gewarnt hatte.Auch wenn er das Letzte nicht ausspricht, weiß ich, dass er esdenkt. Ich weiß auch, dass ich diejenige bin, die Schuld daranhat, dass wir nicht am Tag zuvor den Flug mit der sicherenFluglinie Faucett nahmen, wie meine Mutter es gerne gehabthätte, nur weil ich so kindisch war und unbedingt an derSchulabschlussfeier teilnehmen wollte. Ich fühle mich schuldig,und es tut mir unendlich leid. Es tut mir leid, dass ich damals

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und es tut mir unendlich leid. Es tut mir leid, dass ich damalsnicht auf dieses Schulereignis verzichtet habe, dass ich überlebthabe und sie nicht. Es tut mir leid, dass so viele Familien inTrauer aufgelöst sind, nur ich sitze hier in meinem Bett, und esgeht mir schon wieder so gut.

Ich finde für all das keine Worte, ja es ist mir nicht einmalbewusst. Dass es jedem Überlebendem einer Katastrophe soergeht, das erfahre ich erst viel später.

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Während mich das Fieber mit Schüttelfrost schwächt, Tag fürTag der halbe Meter Gaze in meine Armwunde gestopft wird,während ich in meinen Kokon gehüllt noch immer kaum fassenkann, was geschehen ist, im Schlaf meine ersten Alpträumedurchlebe und mir noch keinen Reim auf sie machen kann,während mein Vater in meinem Zimmer sitzt und hin undwieder leise geht und wieder kommt – während all dieser Tagewerden immer mehr Leichen geborgen. Täglich spreche ich mitden Journalisten vom »Stern«, und die peruanischen Kollegenregen sich schrecklich auf, als die ersten Bilder von mir in denausländischen Zeitschriften »Life«, »Paris Match« und »Stern«erscheinen, während der Comandante del Carpio dereinheimischen Presse, wohl um mich zu schützen, jedenKontakt zu mir untersagt. Am 9.Januar trifft eine Delegationder Firma Lockheed ein. Die Teilnehmer besuchen dieAbsturzstelle, jedoch wird man auch von ihnen keine neuenErkenntnisse über die Gründe des Unglücks erfahren.

Am 11.Januar ziehe ich von der Familie Lindholm ins Hausder Holstons um. Einen Tag später findet eine Trauerfeier stattfür den 13-jährigen Nathan Lyon und für Dave Ericson,18 Jahre. Was ich nicht weiß und erst Jahre später erfahrenwerde: Es sind die beiden Jungen, die vor uns in derWarteschlange standen, damals, an jenem Morgen des24.Dezember 1971, als noch keiner von uns ahnte, waswenige Stunden später passieren sollte. An diesem Tag wirddie Bergung der Leichen offiziell eingestellt.

Auch an diesem 12.Januar fährt mein Vater nach Pucallpa.Als er am Nachmittag wiederkommt, ist er ernst und sehr

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Als er am Nachmittag wiederkommt, ist er ernst und sehrbleich, aber gefasst.

Er sagt, er habe meine Mutter identifiziert. Ganz ruhigerzählt er mir, er habe sich mit einem Journalisten geprügelt,der seine Kamera in den Zinksarg halten wollte, um dieÜberreste meiner Mutter zu fotografieren, ja er habe diesemKerl sogar die Kamera aus der Hand geschlagen. Ich binentsetzt. So etwas tut mein Vater sonst nie.

Er erzählt weiter, er sei sich nicht hundertprozentig sicher,ob es sich bei der Frauenleiche um meine Mutter gehandelthabe. Denn außer dem Unterkiefer fehlte der Kopf. Er habeallerdings den Fuß der Leiche genauer angeschaut. MeineMutter hatte sehr charakteristische Füße. Ihre zweiten Zehenwaren sehr viel länger als die großen und die kleinen Zehenstark gekrümmt, mein Vater hatte meine Mutter deshalb früheröfters geneckt. Und bei dieser Leiche war das auch der Fall.Mein Vater fragt mich, ob ich mich erinnern könne, welcheSchuhe meine Mutter am Unfalltag getragen habe, und als ichihre flachen Lederschuhe mit der aufgesetzten Steppnahtbeschreibe, die sie vor einigen Jahren von einer Europareisemitgebracht hat, da nickt mein Vater unmerklich und schaut zuBoden. Ein solcher Schuh hat sich bei der Leiche befunden.

Meine Mutter ist also wirklich tot. In diesem Moment, alses zur Gewissheit wird, empfinde ich gar nichts. Und wunderemich über mich. Aber eigentlich, wusste ich es nicht längst?Gab es denn tatsächlich noch Grund zur Hoffnung, 19 Tagenach dem Absturz? Meine Gefühlsleere befremdet mich.Müsste ich denn jetzt nicht weinend zusammenbrechen?Weder mein Vater noch ich tun das. Auch er ist ganz nüchtern,und ich weiß heute, dass dies in jenen Tagen unsere Art ist,

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und ich weiß heute, dass dies in jenen Tagen unsere Art ist,uns zu schützen: An mir perlt alles ab, als sei ich aus Glas. Under spricht darüber, als handle es sich um einen seinerwissenschaftlichen Fälle. Was nicht heißt, dass ihn das Ganzenicht beschäftigt. Es beschäftigt ihn sogar sehr, füllt sein ganzesDenken und Fühlen aus.

Am besten kann mein Vater seine Gefühle durchZornausbrüche zeigen, und das tut er auch jetzt, gegenüberden Journalisten, die ihn während jener mit Sicherheitschlimmsten Augenblicke seines Lebens belästigen, als er vorden Überresten des Menschen steht, den er am meisten aufder Welt geliebt hat. Oder gegenüber den Behörden, die miterschreckender Schlamperei arbeiten und seine Gefühle mitFüßen treten. Er wird viel Energie darauf verwenden, völligeGewissheit darüber zu erlangen, ob jene Leiche in demZinksarg Nr.022, die ihm gezeigt wurde, auch wirklich MariaKoepcke, geborene von Mikulicz-Radecki, gewesen ist.

Er sagt mir in diesen Tagen, dass er nicht ganz sicher sei,dass ihn Zweifel plagten. Außerdem erzählt er mir, dass derZustand der Leiche große Fragen aufwerfe. Warum fehlte derobere Teil des Kopfes, wenn die Leiche ansonsten völlig intakterschien? Und das Verstörendste: Warum war die Leiche ineinem so frischen Zustand? Auch ich weiß sehr genau, dasseine Leiche im Urwald höchstens ein paar Tage unversehrtbleiben kann, zu gut erinnere ich mich an die Anwesenheit derKönigsgeier, die ich, vier Tage nach dem Absturz, bei den dreiLeichen antraf. Ameisen, Käfer, Fliegen, Schildkröten undGeier, spezialisiert auf Aasfraß, finden in kürzester Zeit jedenauch noch so gut verborgenen Kadaver. Warum also war derKörper meiner Mutter noch so gut erhalten? Es gibt nur eine

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Körper meiner Mutter noch so gut erhalten? Es gibt nur eineAntwort darauf, und die ist grausam: Sie muss noch langegelebt haben. Wenn ich es mir recht überlege, kann sie erstvor wenigen Tagen gestorben sein. Wenn das wirklich so ist,was muss sie in den zwei Wochen zuvor gelitten haben? MeinVerstand nimmt diese Information auf, aber meinSchutzmechanismus lässt sie nicht an mich heran. Vielleichterscheine ich meinem Vater vollkommen gefühlskalt? Da liegtihre Mutter zwei Wochen hilflos im Urwald und kann sich ausirgendeinem Grund nicht rühren – vielleicht ist ihr Beckengebrochen oder ihre Wirbelsäule –, und dieses Mädchen, dasihre Tochter ist, sagt kein Wort. Lehnt sich im Bett zurück undschläft einfach wieder ein. Wacht auf und fragt, wann dennheute die Herren vom »Stern« kommen. Isst zu Abend, als seinichts geschehen.

Vielleicht versteht er aber auch, was mit mir los ist. Oder erist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er sichüberhaupt Gedanken über mich macht. Vielleicht geht es ihmja genauso wie mir, denn er spricht, als sei ein anderer in derLeichenschauhalle gewesen und habe sich dort mit Journalistengeprügelt. Was er damals wirklich denkt und fühlt – ich weißes bis heute nicht. Wir haben später nie mehr über jene Tagegesprochen.

Über den verzweifelten Zustand meines Vaters gibt wohlam besten eine kurze Briefnachricht an seine SchwesterAuskunft, die er einen Tag nach der Identifizierung schrieb:

»Gestern habe ich mir die Leiche Marias angesehen. Der Sargwar schon verlötet; alles war schwierig. Ich musste mich mitden Journalisten regelrecht prügeln. Mir wurde der Ehering

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den Journalisten regelrecht prügeln. Mir wurde der EheringMarias gezeigt. Ob er an der Hand gefunden wurde, wussteniemand. Die sichere Bestimmung soll durch die Zahnprotheseerfolgt sein, aber der obere Teil des Schädels fehlte. ImÜbrigen war die Leiche erstaunlich frisch, das heißt nur wenigvon Geiern und Insekten zerstört. Nach unseren Erfahrungenmit im Walde ausgelegten Säugetierleichen sollten schon nachetwa 5 bis 6 Tagen nur noch Knochen und Hautteilevorhanden sein. Der eine Fuß war noch relativ gut erkennbar.Es kann Marias Fuß sein (die ja eine sehr charakteristischeZehenform hatte), aber ganz sicher bin ich nicht. Ich möchteDich bitten, die Leiche dort untersuchen und beurteilen zulassen. Es ist nicht unmöglich, dass Maria noch tagelang gelebthat und dass die fehlenden Schädelteile später entferntwurden. Am besten setzt Du Dich wohl mit Johann-Georg[der Bruder meiner Mutter, der selbst Arzt war] inVerbindung. Die übrigen Verwandten brauchen ja zunächstnichts davon zu erfahren. Vor dem 7.1. wurde keine Leichegefunden. Viele Leichen sind unbestimmbar. Vielleicht brauchtman ja Schädel, um die Stückzahl von 91 zu erhalten.«

Solche Gedanken quälen ihn, während ich zur selben Zeitebenfalls an meine Tante und die Großmutter schreibe. DerKontrast zwischen unseren Briefen könnte größer nicht sein:

»Da Papi gerade einen Brief schreibt, möchte auch ich Euchein paar Zeilen schicken. Bitte entschuldigt die schlechte undunregelmäßige Schrift! Es liegt daran, dass ich im Bettschreibe. Außerdem habe ich mir das rechte Schlüsselbeingebrochen, sodass ich vorsichtig sein muss.

Mir geht es schon viel besser. Meine Wunden heilen gut,

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Mir geht es schon viel besser. Meine Wunden heilen gut,und ich kann mich schon ganz gut bewegen. Alle Leute sindsehr freundlich zu mir und bringen mir Bücher und Schokolade(leider viel zu viel). Das Essen schmeckt immer sehr gut.Augenblicklich lebe ich im Hause meines Arztes, einesAmerikaners. Es gefällt mir hier gut.

Nun möchte ich meinen Brief beenden, da ich noch einen zuschreiben habe.«

Wenn man bedenkt, dass ich 17 Jahre alt und durchauseloquent bin, dann kann man meinen benommenen Zustandangesichts der schrecklichen Geschehnisse um mich herum, indem ich mir vorkomme, wie von mir selbst abgeschnitten, ausdiesen Zeilen herauslesen. Offenbar bin ich überaus bemüht,allen zu versichern, wie gut es mir gehe – das Wörtchen »gut«kommt in diesem kurzen Schreiben gleich viermal vor! Unddas einen Tag nach dem Auffinden der Leiche meiner Mutter.

Heute kommt es mir so vor, als musste ich mir damalsselbst immer wieder klarmachen: Es geht dir gut, Juliane, duhast es geschafft! Es geht dir ja so gut. Als ob wenigstens ichmeiner Umwelt keine Sorgen mehr bereiten wollte, die inTrauer und Kümmernis aufging.

Erst seit dem Tod meiner Tante im Sommer 2010 weiß ich,dass mein Vater seine Nachforschungen über die Identität derLeiche und deren Todesursache nicht aufgab. Er wollteGewissheit haben. Doch es war, als wollten ihn diechaotischen und korrupten Umstände in Pucallpa und dieverwirrenden Ergebnisse in Deutschland, wohin die Leicheüberführt worden war, erst recht zum Narren halten. Durch dieschwierigen Umstände der Bergung hatte niemand Fotos von

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schwierigen Umstände der Bergung hatte niemand Fotos vondem Fundort oder der ursprünglichen Lage des Körpersgemacht, die Umgebung war nicht untersucht worden, ja manwusste nicht einmal mit Sicherheit, wo der Schuh gefundenwurde. Was in Deutschland bei jedem Unfall eineSelbstverständlichkeit ist, wurde damals im peruanischenDschungel – wohl aufgrund der extremen Bedingungen bei derBergung – völlig vernachlässigt. Irgendwann wurden die Totenoffenbar einfach nur noch in Säcke gepackt undabtransportiert.

An jenem Tag, als mein Vater vor der Leiche stand, die erfür seine Frau hielt und doch auch wieder nicht, war ihm einEhering gezeigt worden. Den konnte er einwandfreiidentifizieren, denn er trug in seiner Innenseite das Datumseiner Verlobung mit Maria und seinen Vornamen eingraviert.Es war eindeutig der Ehering meiner Mutter. Als mein Vaterfragte, ob er an der Hand der Toten gefunden wurde, konnteihm das niemand bestätigen. Als er ihn behalten wollte,verweigerte man ihm den Ring mit dem Argument, dasszunächst der Richter ihn sehen müsste. Mein Vater sah denRing nie wieder. Sooft er auch bei jenem Richter, beim Militärund beim zuständigen Krankenhaus nachfragte, keiner wollteje etwas von dem Ring gehört haben.

Der Sarg ist noch im Beisein meines Vaters wieder verlötetund verschlossen worden und ging noch am selben Tag, alsoam 12.Januar, auf die Reise nach Lima. Hier balsamiert derArzt Luis Felipe Roveredo am 13.Januar die Leiche ein, damitsie den Flug nach Deutschland gut übersteht. Aus dem Gartenmeines Paten wird ein Sträußchen dem Sarg beigegeben, esstammt von demselben Strauch, aus dem am Tag ihrer

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stammt von demselben Strauch, aus dem am Tag ihrerHochzeit ein Kranz für meine Mutter geflochten worden war.Am 14.Januar findet um 18 Uhr in einem Hangar auf demFlughafen Jorge Chávez in Lima/Callao eine Trauerfeier statt.Freunde berichten uns später, dass die Zeremonie sehrergreifend gewesen sei und durch das ständige Starten undLanden von Flugzeugen eine besondere Dramatik erhaltenhabe. Viele Freunde und Kollegen geben meiner Mutter dieletzte Ehre. Am Morgen darauf wird ihr Sarg mit einerMaschine der Lufthansa nach Frankfurt überführt und von dortmit einer anderen nach München. Am 21.Januar setzt man,was man für die Überreste meiner Mutter hält, in Aufkirchenam Starnberger See bei, wo auch schon ihr Vater beerdigtwar.

Warum in Deutschland? Warum nicht in Peru? Ich kann dieAntwort nur erahnen, denn mein Vater sprach nicht mit mirüber seine Gründe. Ich wusste, dass meine Eltern vorhatten, ineinigen Jahren nach Deutschland zurückzukehren. Wie genaumein Vater sich in diesen Tagen und Wochen mit seinemeigenen Ableben beschäftigte, das zeigt mir ein anderer Briefan meine Tante Cordula, in dem er detailliert darlegt, wie erdas Grab gestaltet haben möchte, das auch schon einen Platzfür ihn selbst vorsieht. Meine Tante fand es offenbarangebracht, in ihrem Antwortbrief zu schreiben: »Bittebedenke auch bei allen Entscheidungen, dass Du Dich fürJuliane erhalten musst. Wenn sie schon keine Mutter mehr hat,braucht sie den Vater doppelt.«

In diesen Tagen geht meinem Vater vieles durch den Kopf,und es sind keine schönen Gedanken. Einmal äußert er mirgegenüber, dass er es nicht für ausgeschlossen hält, dass meine

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gegenüber, dass er es nicht für ausgeschlossen hält, dass meineMutter selbst dann noch gelebt haben könnte, als man siefand. »Aber warum ist sie dann tot?«, frage ich ihnkonsterniert.

Eine Weile spricht er nicht. Dann sagt er: »Vielleicht hatman sie ja umgebracht?«

Eine schreckliche, für mich unfassbare Antwort. Warumsollte das jemand getan haben?

Tatsache ist, dass meinem Vater der Gedanke keine Ruhelässt. Er will wissen, ob es sich bei der Leiche um die seinerFrau handelt oder nicht. Außerdem will er wissen, wann undworan meine Mutter starb. Er bittet seine Schwester Cordula,in München eine Obduktion zu veranlassen, was diese auchtut. Doch das Ergebnis lässt auf sich warten.

Im Februar, rund vier Wochen nach der Beerdigung, wirdsich Gerd Heidemann vom »Stern« auf Bitten meines Vatersdarum kümmern. Heidemann schaltet sogar dieStaatsanwaltschaft ein. Das Ergebnis wird für meinen Vatermehr als niederschmetternd sein: Es wurde nicht nur versäumt,eindeutig zu klären, ob die Überreste tatsächlich auf MariaKoepcke schließen lassen. Zu seinem Entsetzen erfährt er,dass statt des einbalsamierten und noch gut erhaltenenKörpers lediglich einzelne Knochen in München ankamen.

Wie kann das sein? Eine befriedigende Antwort daraufwurde nie gefunden. Wurde der Sarg aus Versehenvertauscht? Aber warum befand sich dann Maria KoepckesUnterkiefer, der einzige Teil der Leiche, der anhand vonKieferabdrücken ihres Zahnarztes eindeutig identifiziertwerden konnte, in dem Sarg? Beide Ärzte, sowohl jener inLima, der die Einbalsamierung vornahm, als auch der in

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Lima, der die Einbalsamierung vornahm, als auch der inMünchen, der die Obduktion durchführte beziehungsweisedurchführen sollte, geben an, dass es unmöglich sei, dass sichder Leichnam innerhalb dieser wenigen Tage so vollständigaufgelöst haben könnte. Wollte da jemand etwas vertuschen?Mein Vater neigt dazu, dies zu vermuten. Aber was denn bloßvertuschen? Es ist ein Rätsel, das niemals gelöst werden wird.

Mein Vater tut in den folgenden Wochen alles, um eineExhumierung zu veranlassen. Er sendet eine eidesstattlicheErklärung nach Hamburg, in der er akribisch schildert, was eram 12.Januar 1972 in Pucallpa sah, und stellt seineBeobachtungen seinen Erfahrungen mit im Urwald ausgelegtenWirbeltieren gegenüber. Auch eine beglaubigte Erklärung desArztes in Lima, der als Letzter den Leichnam vor seinerÜberführung sah, fügt er bei. Meine Tante übersetzt sie insDeutsche. Doch außer der Notiz im »Stern« am 23.Februar1972 verläuft die Sache im Sande. Die Meldung lautet:

»Falsche Leiche

Der Flugzeugabsturz in Peru, den nur die 17jährige JulianeKoepcke nach einem elftägigen Marsch durch den Urwaldüberlebte, hat ein mysteriöses Nachspiel gefunden. JulianesVater hatte die Leiche seiner Frau 15 Tage nach dem Absturz›erstaunlich heil‹ gesehen, Konservierungsmittel in den Sarggießen und die Leiche zur Untersuchung nach Münchenschicken lassen. Dort kamen aber nur Skelett-Teile an, vondenen noch nicht einmal festgestellt werden kann, ob sie zueinem Mann oder einer Frau gehörten. Unter ihnen fand sich

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einem Mann oder einer Frau gehörten. Unter ihnen fand sichallerdings der Unterkiefer von Frau Dr.Koepcke. Jetzt kannnicht mehr ermittelt werden, ob die Vogelkundlerin denFlugzeugabsturz überlebt hatte und erst später starb.«

Mit all diesen hässlichen Details verschonte mich mein Vater inder Zeit meiner Genesung in Yarinacocha und in den folgendenWochen. Doch wie schwer muss es für ihn gewesen sein, nichtnur den Verlust des einzigen Menschen hinzunehmen, dem ersich jemals wirklich geöffnet hatte, sondern auch noch umdessen Leichnam betrogen worden zu sein, niemals zu wissen,wie seine geliebte Frau gestorben war und wo am Ende ihresterblichen Überreste geblieben sein mochten.

Ich selbst habe, obwohl ich von den düsteren Vermutungenmeines Vaters wusste, bis vor Kurzem nicht daran gezweifelt,dass meine Mutter in Aufkirchen am Starnberger Seebegraben liegt. Es war für mich einfacher so, instinktiv wussteich, wie wichtig es war, mein inneres Gleichgewichtwiederzufinden. Da mein Vater nichts mehr unternehmenkonnte, ließ er die Sache ruhen. Bis ich jetzt, nach dem Todmeiner Tante, all diese schockierenden Dokumente fand.

Auch dass am 24.Januar 1972 in Pucallpa eine Trauerfeierfür die 54 Toten, die aus der Stadt stammten, stattfand und dieLeichen in dem Mausoleum »Alas de Esperanza« beerdigtwurden, davon erfuhr ich damals nichts. Erst vor Kurzem fandich die Sonderbeilage, die an jenem Tag in der Zeitschrift»Impetu« in Pucallpa erschien. Demnach war ursprünglich vonden Behörden geplant gewesen, die nicht identifizierbarenLeichenteile in einem Massengrab zu bestatten. DieAngehörigen der Opfer jedoch fanden das »pietätlos, gottlos

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Angehörigen der Opfer jedoch fanden das »pietätlos, gottlosund inhuman« und wehrten sich erfolgreich gegen dieseMaßnahme. Und so fanden auch diese menschlichenÜberreste ihre letzte Ruhe in dem Mausoleum, das ich27 Jahre später mit Werner Herzog zum ersten Mal besuchte.

Ein 26-jähriger, freiwilliger Helfer namens Mario Zarbebewies während der Bergungsarbeiten ein unglaublichesGespür und fand allein fast die Hälfte der Toten. Nach denInformationen in dieser Sonderbeilage, die neben zahlreichenNachrufen auch persönliche Mitteilungen enthält, überlebtenmindestens sechs Personen den Absturz, nach anderenAngaben waren es zwölf. Nach dem offiziellen Ende derBergung fand eine Gruppe von Zivilisten, die nicht aufgebenwollte, übrigens noch sechs weitere Leichen, darunter die deseinen amerikanischen Jungen, des 18-jährigen David Ericson,für den bereits eine Trauerfeier stattgefunden hatte. Ichpersönlich habe nie an ein Verbrechen an meiner Muttergeglaubt und halte die damaligen Vermutungen meines Vatersfür die düsteren Gedanken eines verzweifelten Menschen. Derentsetzliche Verdacht, den er hegte, zeigt mir, in welchverheerender Verfassung er sich befunden haben muss.

Was den Ort ihrer letzten Ruhe anbelangt, denke ich, dass ihresterblichen Überreste wohl größtenteils in dem Monument»Alas de Esperanza« ruhen. Was macht es schon, dass ihrName dort nicht steht? Vielleicht ist sie dort ebenso gutaufgehoben wie in Aufkirchen am Starnberger See. Und wasviel wichtiger ist: Ich bin mir sicher, sie hat ihren Friedengefunden.

Ein atemberaubender Sonnenuntergang, wie ihn nur die

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Ein atemberaubender Sonnenuntergang, wie ihn nur dieTropen hervorbringen, färbt den Himmel blutrot. In wenigenMinuten wird es Nacht sein.

»Sollen wir langsam aufbrechen?«, fragt mich behutsammein Mann, der mich kennt wie kein anderer. Es ist einverdächtiges Zeichen, wenn ich länger als zehn Minuten nichtssage, dann weiß er, dass ich mit meinen Gedanken einmalwieder in der Vergangenheit bin.

Er hat recht, morgen haben wir einen langen Reisetag voruns. Wenn ich daran denke, dann macht mein Herz vorFreude einen Sprung. Bald werde ich in Panguana sein.

Eine Stunde später sind wir wieder am Packen. Und ichmuss auf einmal an jenen Koffer denken, der uns damals soüberraschend gebracht worden war. Es war einer der Koffer,die meine Mutter und ich in Lima für das Weihnachtsfest 1971im Urwald gepackt hatten. Er war völlig unversehrt, nur dieAußenhülle durchnässt. Darin befand sich unter anderem einWeihnachtsstollen, ganz ähnlich wie der so oft in denZeitungsberichten beschriebene. Diesen aßen mein Vater undich tatsächlich auf.

Auch Tonbänder mit Vogelstimmen wurden für unsabgegeben, und dann noch etwas, was mich besonders freute:mein Füller, auf den ich mit wasserfestem Stift meinen Namengeschrieben hatte, um etwaigen Verwechslungen vorzubeugen.Immerhin schrieben fast alle meine Freundinnen mit einemidentischen Füller. Er gehörte lange zu meinen größtenSchätzen – bis er mir Jahre später, zusammen mit meinerHandtasche, während einer Reise in San Ramón gestohlenwurde. Dieser Verlust schmerzte mich sehr, war er mir dochseit jenem Unfall treuer Begleiter und ständige Erinnerung

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seit jenem Unfall treuer Begleiter und ständige Erinnerungdaran, dass wir beide aus der Tiefe des Urwalds, einerverlorenen Stecknadel im Heuhaufen nicht unähnlich, gegenalle Wahrscheinlichkeit den Weg zurück ins Leben gefundenhatten.

Am nächsten Tag ist es einmal wieder so weit: Wir brechenauf nach Panguana…

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…Ein Toyota Pick-up mit Allradantrieb holt uns am frühenMorgen ab. Seit einigen Jahren buchen wir immer dieselbenFahrer, sie kennen die schwierige Strecke wie ihreWestentasche, und ihre Fahrzeuge waren bislang immerzuverlässig.

»Die Straße ist frei«, sagt er, nachdem wir uns begrüßthaben, und ich atme auf. Einige Tage lang war die Streckewegen der starken Regenfälle nämlich unpassierbar. »IhrZustand ist nicht besonders, aber wir werden durchkommen.Gestern hat einer unserer Fahrer sieben Stunden gebraucht.«

Sieben Stunden – das klingt gut. Das Wichtigste ist, wirkommen noch bei Tage in Yuyapichis an, denn dasÜbersetzen über den Río Pachitea und die Wanderung bis zurForschungsstation sind bei Nacht noch beschwerlicher alssonst.

»Es wird schon gut gehen«, beruhigt mich Nery, »zur Notkönnt ihr ja in meinem Haus in Yuyapichis übernachten.«

Wie immer dauert es eine Weile, bis das ganze Gepäckeinschließlich des eingekauften Proviants auf der offenenLadefläche verstaut ist. Dann wird ein Brett als Sitzbank überdie Ersatzkanister mit Benzin gelegt für Moro und den zweitenFahrer. Sie werden die Fahrt dort oben verbringen – wie ichaus eigener Erfahrung weiß, unter der sengenden Sonne undüber staubige oder verschlammte Stolperpisten nicht immer einVergnügen. Doch Moro lacht, er ist es so gewöhnt, er wirdschlafen, da ist er sich sicher.

Als wir auf die Carretera einbiegen, die in den UrwaldRichtung Anden führt und schließlich in Lima enden wird, bin

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Richtung Anden führt und schließlich in Lima enden wird, binich glücklich. Heute Abend werde ich in Panguana sein! Nochimmer, auch nach all den Jahren in Deutschland, ist es für michein Nachhausekommen.

So wie damals, als mir nach vierwöchigem Aufenthalt imInstituto Linguístico de Verano meine fürsorglichen Ärzteendlich erlauben, das Bett zu verlassen. Für ein paar Tagewohne ich bei meinem Vater bei der Familie Maulhardt, diemich in ihrem Bungalowhotel »La Cabaña« freundlichaufnimmt. Hier führe ich auch die letzten Gespräche mit einemneu hinzugekommenen Reporter vom »Stern«, Rolf Winter.Ich muss gestehen, langsam geht mir die Fragerei auf dieNerven. Die Sitzungen mit Gerd Heidemann und Hero Busswaren angenehm verlaufen. Auch wenn sich in ihre ReportagenFehler einschlichen, die tausendfach kopiert werden sollten.Vor allem in dem Vorbericht, der erschien, noch ehe diebeiden mit mir überhaupt gesprochen hatten, wurde somancher Grundstein für nie wieder ausrottbare Gerüchtegelegt. Dieser Text basierte offenbar auf dem Artikel, derzuerst in der amerikanischen Zeitschrift »Life« erschienen war,wofür der Reporter verschiedene Leute befragt hatte wie dieKrankenschwester in Tournavista, die Pilotin Jerrie Cobb undwahrscheinlich auch die Holzfäller, die mich gerettet hatten. Soschrieb der »Stern«, dass ich einen Kuchen vom Unfallortmitnahm. Dieser Kuchen, der leider nicht existierte, denn denvöllig mit Schlamm durchsetzten Panetón konnte ich ja nichtessen, wird sich weltweit durch die gesamte Berichterstattungziehen und noch manch seltsame Blüte treiben. Denn aus demeinen Kuchen wurden bald mehrere, schließlich – in »Paris

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einen Kuchen wurden bald mehrere, schließlich – in »ParisMatch« – so viele, dass ich sie gar nicht alle tragen kann und inErmangelung eines Sackes zurücklassen muss. Später wird ausdem Kuchen ein für meinen Vater von mir selbst gebackenerChriststollen, in einer weiteren Zeitung halte ich den währenddes Fluges in der Electra die ganze Zeit auf meinem Schoßfest, sodass ich ihn nach meinem Erwachen auf dem Grunddes Urwalds praktischerweise gleich zur Hand habe.

Außerdem wundern sich die »Stern«-Reporter darüber,dass ich den Unfallort verließ und schreiben gar von einem»Fehler«, der mir das Leben rettete. Dabei wusste ich sehrgenau, was ich tat, ich hatte begriffen, dass mich an der Stelle,wo ich erwacht war, nie jemand finden würde. Ich ranntekeinesfalls kopflos in den Urwald, sondern folgte aus gutemGrund dem Lauf des Wassers.

In dem Vorbericht wird auch die unsinnige Mär aus dem»Life«-Artikel vom selbst gebauten Floß übernommen: »DaßJuliane wusste, welche Äste und Lianen sich zum Bau einesFloßes eignen, war der zweite Glücksfall, der ihr Lebenrettete: Hätte sie für ihr Floß das falsche Material gewählt,wäre sie in der Mitte des Flusses ohne Chance gewesen, dennin der Regenzeit führen auch die kleinen Flüsse, die sämtlichZubringer des Amazonas sind, eine rasende Strömung.«

Auch die Information, ich hätte im Arm »viele Würmer«gehabt, die den Fachmann aus München dazu brachte, einenLeserbrief zu schreiben, findet sich in diesem allererstenArtikel.

Im zweiten Teil der Reportage ist ein Satz zu lesen, den mirspäter so mancher vorgehalten hat: »Nach dem Absturz nahmsich Juliane vor: ›Nun hat Vater seine Frau verloren, aber

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sich Juliane vor: ›Nun hat Vater seine Frau verloren, aberseine Tochter soll er nicht auch noch verlieren‹.« Diessuggeriert, ich hätte meine tote Mutter gesehen und womöglichnoch andere Leichen oder Verletzte, was natürlich nicht derFall war. Daraus entstanden dann die falschen Meldungen,Verletzte seien weinend und schreiend durch den Wald geirrt,ich aber wäre allein losgegangen. Doch das sind im Grundealles die typischen Ungenauigkeiten, vor denen Journalistenoffenbar weltweit nicht gefeit sind. Viel mehr traf mich der Tonund Inhalt des letzten Teils der Reportage, verfasst von RolfWinter. Hier, im Heft Nr.9, 17. bis 23.2.1972, werde ich aufSeite 54 wie ein gefühlloses, arrogantes, frühreifes Kindhingestellt – in dem Artikel kommt ganze sieben Mal derAusdruck »die kleine Juliane« vor –, das von dem Erlebtenvöllig unberührt bleibt und auch noch unverständlicherweisezurück in den Urwald möchte. Er bemerkt offenbar nicht, dassich noch immer unter den Nachwirkungen eines starkenSchocks stehe – selbst im Jahr 1972 hat man meines Wissensbereits von diesem Phänomen gehört. Ich bin im Grunde allesandere als ein nachtragender Mensch, aber Rolf Wintersletzten Absatz habe ich ihm bis heute nicht verziehen. Er lautet:

»Es ist nicht zu befürchten, daß sie auf ihrem fernerenLebensweg unter einem Überschuß an femininen Emotionen zuleiden haben wird, und sie wird sich auch nicht den Kopf überden tragischen Umstand zerbrechen, daß ihre nun tote Mutterund sie eigentlich gar nicht in der Unglücksmaschine sitzenwollten, sondern im Flugzeug einer anderen Gesellschaft, fürdas sie schon Tickets besaßen. Jemand sagte ihnen irrtümlich,der Flug falle aus, da flogen sie mit der ›Lansa‹ – die Mutter in

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der Flug falle aus, da flogen sie mit der ›Lansa‹ – die Mutter inden Tod, die Tochter in tragik-umgebenes Glück.

Die kleine Juliane, die so fragil und hilfsbedürftig aussieht,viel eher Kind als Frau, wird mit so etwas fertig. Freilich, sieist auch nur ein Mensch. Jemand erzählt ihr, daß auf derStation in Panguana ihr Vogel ›Pinxi‹ gestorben ist. Sie hat ihneinmal gefunden, nachdem er aus dem Nest gefallen war, sieliebt ihn, und nun ist er tot.

Da weint die kleine Juliane.«

Ich werde mich daran gewöhnen, meine Geschichte in für michimmer wieder überraschenden Varianten zu lesen und dasswildfremde Menschen viel besser wissen, wie es damals war,als ich selbst. Aber an bestimmte Dinge gewöhne ich mich nie.Unheimlich ist mir, wie meine Urwald-Wanderung diePhantasien beflügelt, bis hin zu dem reißerischen Roman »EineUrwaldgöttin darf nicht weinen«. Gut möglich, dass meinSchicksal Konsalik zu diesem Machwerk »inspiriert« hat, einerunsäglichen Geschichte von einem blonden, ebenfalls 17-jährigen Mädchen, das praktischerweise gemeinsam mit einemmutigen jungen Mann einen Flugzeugabsturz in Amazonienüberlebt und von gefährlichen Kopfjägern entdeckt und alsSonnengöttin verschleppt wird… und so weiter und so fort.Natürlich ist in vielen Berichten auch die Rede davon, dassmein Kleid völlig zerrissen und ich halb nackt gewesen sei. Ichhabe das Minikleid aufgehoben, und außer dem defektenReißverschluss und einer kleinen offenen Stelle an derSeitennaht ist es in einem erstaunlich tadellosen Zustand. Aberdie Wahrheit ist offenbar irgendwann nicht mehr so wichtig, siemuss hinter dem, was sich die Menschen in ihren kühnsten

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Phantasien vorstellen, zurückstehen.

Kein Wunder also, dass ich erleichtert bin, als ich Ende Januar1972 endlich so weit hergestellt bin, dass ich reisen kann.Gemeinsam mit meinem Vater fahre ich nach Panguana. UnserVerhältnis hat sich durch das Geschehene von Grund aufgewandelt. Von heute auf morgen, so kommt es mir vor, binich von einem unbeschwerten Kind zu einer Erwachsenengeworden, und nichts hat mich darauf vorbereitet, weder dieSchule in Lima noch die Schule des Urwalds. Ich kann michzwar tagelang im Regenwald am Leben erhalten, doch gegendas, was nach meiner Rettung auf mich einprasselt, bin ichnicht gewappnet.

Bislang hatte ich ein viel engeres Verhältnis zu meinerMutter. Sie war sowohl meine Vertraute als auch die meinesVaters. Vielleicht, das wird mir erst jetzt bewusst, war sieimmer eine Art Vermittlerin: Sie vermittelte zwischen meinemVater und der Welt. Die Lücke, die sie hinterließ, lässt unsenger zusammenrücken. Und doch wird mein Vater, der ihrenVerlust nie verwinden wird, immer ein Stück weit einUnbekannter für mich bleiben.

An die fünf, sechs Wochen in Panguana zwischen demUnfall und meiner Abreise nach Lima habe ich wenig konkreteErinnerungen. Meine Mutter ist nicht da, aber sie könntegenauso gut auf einer ihrer Auslandsreisen sein. Ich bekommeeinen jungen Nasenbären geschenkt, den ich Ursi nenne undder mich ziemlich auf Trab hält. Denn er stellt eine MengeUnsinn an, ist natürlich nicht stubenrein zu kriegen, einmal frisster unseren gesamten Vorrat an Aspirintabletten auf, einandermal schnappt er sich unser kostbares Thermometer und

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andermal schnappt er sich unser kostbares Thermometer undverschwindet damit aufs Hüttendach. Ich habe eine MengeSpaß mit ihm, auch wenn er unsere Küche mehrmalsverwüstet auf der Suche nach etwas Leckerem.

Leider war, wie Rolf Winter ja berichtete, die zweite Pinxi,einer meiner Stärlingsvögel, während meines Aufenthalts inYarinacocha gestorben. Mein Vater hatte die Vögel zuFreunden in Pflege gegeben, und dort hatten sie wohl etwasgefressen, was Pinxi nicht vertrug. Nun beginne ich, denanderen Stärling, Punki, langsam auszuwildern. Ich lasse ihnfrei, und er schließt sich sofort einer Stärlingsgruppe an, die ineinem nahen Baum ihre Hängenester baut. Dennoch kommt erimmer wieder zu mir zurück, wenn er mich sieht. Er liebt esgeradezu, im Sturzflug in die Küchenhütte gesegelt zu kommenund sich ansatzlos in die Schüssel mit Brotteig oder was sonstgerade herumsteht zu stürzen. Irgendwann geht er mir damit soauf die Nerven, dass ich ihm einen Löffel mit Senf anbiete, undgierig, wie Punki nun mal ist, versenkt er sofort seinenSchnabel darin. Von da an ist er vorsichtiger und klatscht nichtmehr sofort in jede Schüssel.

Die vertraute Umgebung, der Umgang mit meinen geliebtenzahmen Tieren und jenen im Wald vor unserer Tür tun mir gut.Wenn mein Vater und ich von der Zukunft sprechen, dannweiß ich genau, was ich will: zurück nach Lima, zwei weitereJahre zur Schule gehen, um dann mein Abitur zu machen.Genau das, was ich auch vor dem Unfall vorhatte.

Denn ich will mein Leben dort wieder anknüpfen, wo derFaden am 24.Dezember riss. Ich will mein ganz normalesLeben weiterleben, genau so wie vorher. Mein Vater sprichteinmal davon, mich nach Deutschland zu schicken. Ich

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einmal davon, mich nach Deutschland zu schicken. Ichwiderspreche ihm, was ich selten tue. Ich möchte jetzt nochnicht dorthin. Deutschland ist ja ein fremdes Land für mich.Bloß nicht noch mehr Veränderung, ich will, dass alles soweitergeht wie bisher. Oder wenigstens fast.

Meine Mutter wird niemand mehr zurückholen. Und selbsthier im Urwald, wo eigentlich alles so ist, wie es früher war, istnichts mehr so, wie es war. Dieses Paradoxon wird mich nochviele Jahre lang begleiten. Denn mein Wunsch nach Normalitätist so stark, dass es manchmal fast wehtut. Hier, im Februar1972 in Panguana, denke ich tatsächlich, ich hätte »es« hintermir. Wie sehr ich mich täusche, werde ich bald erfahren.

Die Trauer um meine Mutter – noch immer hat sie michnicht erreicht. Erst ungefähr drei Jahre später werde ich aneinem Weihnachtstag mit voller Wucht die Unersetzlichkeitdieses Verlusts begreifen. Erst dann werde ich weinen, undzwar den ganzen Tag lang, fast ohne Unterlass. Doch bis dahinbleibt ihr Tod für mich wie eine ferne Theorie. So, als könntemeine Mutter jeden Augenblick aus dem Wald treten, mirlachend zurufen, was sie jetzt schon wieder Spannendesentdeckt habe. Viele Jahre lang träume ich immer wieder, dassich sie plötzlich zufällig auf der anderen Straßenseite entdecke.Ich renne zu ihr, spreche sie an, wir fallen uns in die Arme, undalles ist gut. Ich bin grenzenlos erleichtert und sooo glücklich –bis ich wieder erwache.

Ich weiß, dass dies niemals mehr geschehen wird. DochDenken und Fühlen sind voneinander getrennt. In diesenTagen und Wochen zwischen dem Absturz und dem, waskommen wird, lerne ich, dass Verstehen und Begreifenzweierlei sind. Zumindest habe ich hier ein wenig Ruhe, selbst

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zweierlei sind. Zumindest habe ich hier ein wenig Ruhe, selbstwenn mich besonders zähe Journalisten sogar bis in unser soschwer zu erreichendes Refugium verfolgen.

Einmal kommt beispielsweise zu unserer großenÜberraschung eine Krankenschwester an, die vorgibt, meineWunden untersuchen zu müssen. Ihr Gesicht kommt mirbekannt vor.

»Sie kenne ich doch«, sage ich, »hab ich Sie nicht inYarinacocha gesehen?« Es ist eine Journalistin, die damalsbereits in einer anderen Rolle versuchte, zu mir vorzudringen.Jetzt hat sie sich als Schwester verkleidet. Mein Vater jagt siedavon. Den Rest des Tages ist seine Miene düster. Ich möchtegerne wissen, was hinter seiner Stirn vor sich geht. Oderbesser: Ich möchte es lieber nicht wissen.

Die Wochen vergehen, und das Leben geht weiter. Ichfreue mich auf die Klassenkameraden, die sich wie ich auf dasAbitur vorbereiten werden. Auf ein Leben in Lima mit Kinound Milkshake und Ausflügen an den Strand. Nach demAbitur werde ich Biologie studieren, dafür werde ich dannwirklich nach Deutschland gehen, so hatte ich es schon langemit meiner Mutter besprochen. Denn in Deutschland sind dieUniversitäten besser, hat sie gesagt. Ich möchte, genau wie sieund mein Vater, in Kiel studieren und Zoologin werden. Dochdas wird noch zwei Jahre dauern. Zwei Jahre sind eine langeZeit im Leben einer 17-Jährigen. Und dann ist es so weit, dasneue Schuljahr steht vor der Tür.

Wenn ich nur schon dort wäre! Doch bevor ich in Limawieder zur Schule gehen kann, muss ich die Andenüberqueren.

»Ich fliege mit dir«, sagt mein Vater. Ich habe einen Kloß im

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»Ich fliege mit dir«, sagt mein Vater. Ich habe einen Kloß imHals. Natürlich buchen wir nicht mit der LANSA, selbst wennwir wollten, wäre das nicht möglich, denn mit der Electra, dieam Weihnachtstag abstürzte, verlor die Fluggesellschaft nichtnur ihre letzte Maschine, sondern auch die Lizenz. Mein Vater,der in Lima versucht, die Gesellschaft zu verklagen, wirderfahren, dass sie sich längst aufgelöst hat. Aber auch dieTatsache, dass wir mit einer anderen Linie fliegen, nimmt mirnicht die Angst vor diesem Flug.

»Müssen wir fliegen?«, frage ich meinen Vater.Er wirft mir einen kurzen Blick zu. Dann sagt er: »Es wird

besser sein, als drei Tage über die Anden zu kurven, findest dunicht?«

Ich bin mir nicht sicher, ob es besser sein wird. Aber ichsage nichts mehr. Schon lange habe ich gelernt, tapfer zu sein.

Wenn ich geglaubt habe, dass mich die Welt inzwischenvergessen hat, so werde ich bereits in Pucallpa eines Besserenbelehrt. Woher die Journalisten wissen, dass ich gerade jetztnach Lima fliegen werde, ich habe keine Ahnung. Jedenfallshalten sie mir von allen Seiten Mikrofone vor das Gesicht,Kameras surren, Blitzlichter blenden mich, Blumen werden mirüberreicht, Fragen prasseln auf mich ein. Ob es mir gut gehe.Wie meine Wunden heilen. Was ich anfangen werde mitmeinem Leben. Ob ich nicht die Mädchen von Pucallpagrüßen möchte. Ob ich keine Angst habe, wieder in einFlugzeug zu steigen.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Natürlich habe ich Angst.Noch mehr aber erschreckt mich diese Meute, die sounversehens über mich herfällt. Fast bin ich erleichtert, als ich

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unversehens über mich herfällt. Fast bin ich erleichtert, als ichim Flugzeug sitze. Doch nur so lange, bis es startet. Dannmerke ich, wie sich jeder Muskel in meinem Körper anspannt.

Ich schließe die Augen, versuche tief durchzuatmen.Lausche angestrengt auf jedes noch so geringe Geräusch.Heute ist kein Gewitter weit und breit zu sehen. Zum Glückdauert der Flug nur eine knappe Stunde. Aber 50 Minutenkönnen so schrecklich lang sein.

Ich habe es schon fast hinter mir, da höre ich einen Lärm,der mich in Panik versetzt. Es ist ein Rattern und Schlagen, füreinen Moment setzt mein Herzschlag aus, der Schweiß brichtmir aus allen Poren, ich klammere mich am Sitz vor mir fest.

»Ganz ruhig«, sagt mein Vater, »das sind nur dieFahrgestelle, die werden jetzt ausgefahren. In ein paar Minutenlanden wir schon.«

Ich atme auf. Kurz darauf steige ich, noch mit wackeligenKnien, aus dem Flugzeug.

Doch was wollen all diese Menschen am Fuß der Treppe?Eine ganze Traube belagert das Flugfeld, umringt dasFlugzeug. Dürfen die das? Warten die etwa auf mich? Schonwieder werde ich fotografiert, auch hier hält man mirMikrofone entgegen. Am liebsten würde ich wieder umkehrenund mich im Flugzeug verkriechen. Doch die anderenPassagiere drängen von hinten nach.

Es ist wie ein Spießrutenlauf. »Juliana«, höre ich, »lächle füruns!« »Juliana, hast du die grüne Hölle gut überstanden?«»Juliana, was wirst du jetzt tun?« Ich möchte nichts sagen, ichmöchte mich in Luft auflösen, ich bin ein eher schüchternerMensch, diese Aufmerksamkeit wird mir zu viel. »Juliana, hastdu schon einen Freund?« »Juliana, stimmt es, dass du zu San

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du schon einen Freund?« »Juliana, stimmt es, dass du zu SanMartín de Porres, dem Schwarzen Heiligen, betest?«

Endlich sind wir durch. Ich kann es kaum fassen. Wiesointeressieren sich all diese Menschen immer noch für mich?Während der Wochen in Panguana habe ich kaum eineHandvoll Leute gesehen. Und hier strömt alles auf mich ein.

Mein Vater wohnt, wie so oft, auch während diesesAufenthalts in Lima im Gästezimmer des NaturhistorischenMuseums. Er zieht sich von allem zurück, will nichts sehen undnichts hören, sondern mit seiner Trauer allein sein. Und ichbeziehe wieder mein Zimmer bei der Großmutter meinerSchulfreundin Edith. Doch wenn ich dachte, alles sei wie vordem Unfall, dann sehe ich jetzt ein, dass nichts mehr ist wiefrüher. Wildfremde Menschen sprechen mich auf der Straßean, wollen ein Autogramm von mir oder mich einfach nuranfassen. Ich finde das unglaublich anstrengend, habe nochnicht gelernt, mit diesem plötzlichen »Ruhm« umzugehen. Auchdie Journalisten lassen mir keine Ruhe. Trete ich aus demHaus, sind sie schon da. Gehe ich mit meinen Freundinnen inder Stadt spazieren, verfolgen sie uns. Fahren wir zum Strand,dann erwarten sie mich bereits. Sogar mit dem Teleobjektivversuchen sie, mich in meinem Zimmer zu fotografieren.Schließlich fühle ich mich wie belagert, es macht überhauptkeinen Spaß mehr, irgendetwas zu unternehmen. So habe ichmir meine Rückkehr nach Lima nicht vorgestellt.

In dieser Stimmung überredet mich meine Freundin Edith aneinem schönen Nachmittag, mit ihr in den Deutschen Club zumSchwimmen zu gehen. Ich war nur selten dort, denn meineEltern besuchten diesen Ort nicht, doch Edith gibt keine Ruhe.

»Ach«, sage ich, »ich weiß nicht, da lauern mir sicher

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»Ach«, sage ich, »ich weiß nicht, da lauern mir sicherwieder die Journalisten auf. Lieber nicht.«

»Du kannst doch nicht ewig bei zugezogenen Vorhängen imZimmer sitzen«, meint sie. »Am besten gewöhnst du dicheinfach an die Presse. Und du wirst sehen, so schlimm ist dasgar nicht.«

Edith weiß, wovon sie spricht. Denn sie hat alsLeichtathletin für Peru schon zahlreiche Medaillen gewonnenund ist selbst eine Berühmtheit. Sie hat Erfahrung mitPresseleuten, und sie verspricht, mir beizustehen.

»Außerdem siehst du Gespenster«, sagt sie. »In denDeutschen Club lassen sie keine Journalisten rein. Kommschon, das Wetter ist doch so schön.«

Schließlich gebe ich nach. Edith hat recht, denke ich, baldfängt die Schule wieder an, und da bleibt uns nicht viel Zeit fürsolche Dinge.

Zunächst scheint auch alles ruhig zu sein im Deutschen Club.Doch kaum treten wir aus der Umkleidekabine, sind sie auchschon wieder da: Ich habe keine Ahnung, wie sie dorthineingekommen sind, aber auf einmal sehe ich mich schonwieder von Presse umringt. Diesmal ist sogar eine laufendeFernsehkamera auf mich gerichtet.

»Komm«, sagt Edith leise zu mir, »am besten gibst du jetztganz freundlich ein paar Antworten, dann lassen sie dich auchbald wieder in Ruhe.«

Und auf ihren Rat hin setze ich mich folgsam auf eineSchaukel, lächle freundlich und beantworte die harmlosenFragen der Journalisten. Und wirklich, nach kurzer Zeit ziehtdas Fernsehteam wieder ab. Bei mir hinterlässt dieserZwischenfall aber dennoch ein ungutes Gefühl.

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Zwischenfall aber dennoch ein ungutes Gefühl.

Mein Leben wäre anders verlaufen, hätte mein Patenonkelnicht ausgerechnet an jenem Abend meinen Vater zu sich nachHause eingeladen. Zu den Hauptnachrichten schaltet man denFernseher ein. Und da sieht er, zu seiner grenzenlosenBestürzung, seine Tochter. Sie sitzt im Bikini auf einerSchaukel, lächelt in die Kamera und erzählt der Welt, es geheihr gut. Es ist ein großer Zufall, denn mein Vater siehtnormalerweise nie fern. Doch jene zwei Minuten, die muss erausgerechnet sehen. Zuerst ist er wie vom Schlag gerührt.Dann sieht er rot.

»So also trauerst du um deine Mutter!«, schleudert er mirzornig entgegen, als er mich am selben Abend noch aufsucht.Und dann verkündet er mir, was er unumstößlich beschlossenhat. Ich werde das Land auf der Stelle verlassen. Nicht inLima werde ich mein Abitur machen, sondern in Deutschland.So bald wie möglich wird er mich in ein Flugzeug setzen undzu meiner Tante Cordula schicken.

Ich bin entsetzt. Weine. Bettle darum, dass ich bleiben darf.Ich will nicht nach Deutschland. Nimm mir nicht auch nochmeine Heimat, will ich schreien, nicht auch noch das, ich habdoch schon so viel verloren. Aber durch sein streng tadelndes»So trauerst du um deine Mutter« scheint mir jedes Rechtentzogen. Es geht mir ja gut, man konnte es im Fernsehenhören. Nur er verzehrt sich vor Kummer um seine geliebteFrau. In den nächsten Tagen hoffe und bete ich, dass er zurVernunft kommen wird. Wenn er sich erst einmal beruhigt hat,denke ich, wird er es nochmals überdenken. Doch meinFlehen ist umsonst. Sein Urteil ist gefallen.

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Flehen ist umsonst. Sein Urteil ist gefallen.»Hier in Peru«, sagt er ein paar Tage später, »wirst du nie

mehr zur Ruhe kommen. Diese Aasgeier von Journalistenwerden verhindern, dass du hier ein normales Leben führenkannst. Glaube mir, es geschieht nur zu deinem Besten. InDeutschland wirst du ein neues Leben anfangen können.«

Ein neues Leben. Dabei will ich kein neues Leben. Ich willdoch einfach nur, wie jedes andere Mädchen meiner Klasse,mein altes Leben weiterführen, zur Schule gehen und meinAbitur machen. Danach werde ich nach Deutschland gehen.Doch nicht jetzt, nicht jetzt, nach all dem, was war…

Es hilft alles nichts. Für die Papiere müssen Passbildergemacht werden. Ich habe auf ihnen verweinte Augen. Allesgeht so schnell, wie in einem bösen Traum, aus dem icheinfach nicht erwachen kann.

Als meine Schulfreunde von meiner bevorstehendenAbreise hören, organisieren sie ein Abschiedsfest für mich. Beidieser Gelegenheit überreichen sie mir einen wunderschönenRing, Rotgold mit einem rosa Turmalin, damit ich sie nievergesse. Sie haben zusammengelegt, um ihn mir kaufen zukönnen. Ich bin gerührt und muss schon wieder weinen.

Ich erinnere mich an einen Nachmittag, als ich mit meinemVater durch die Straßen von Miraflores gehe. Er will miretwas erklären, spricht von der Philosophie, der meine Mutterund er anhingen, von dem Glauben der alten Ägypter an dieBedeutung der Sonne als Leben spendende Kraft. Ich merke,er sucht nach Worten, macht mit der Hand eine seltsameBewegung, so als müsse er etwas verscheuchen, doch da istnichts.

»Was machst du denn da?«, frage ich erschrocken, »was

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»Was machst du denn da?«, frage ich erschrocken, »wassoll das denn?«

»Ach nichts«, sagt er und bleibt stehen.»Juliane«, sagt er dann in einem ganz anderen Ton, »deine

Mutter und ich, wir hatten ein paar Regeln, an die wir unsimmer hielten. Eine davon lautet, dass man sich niemals imStreit voneinander verabschieden soll oder noch nicht mal sichabends schlafen legen darf, ohne sich versöhnt zu haben.«

Ich sehe ihn an und warte, dass er weiterspricht. Er fährtsich mit der Hand über sein Gesicht.

»Das ist wichtig«, sagt er.Mehr nicht. Ich sehe ihm ins Gesicht, betrachte die tiefen

Falten, den verzweifelten Zug um den Mund, seine wachen,fast brennenden Augen, die noch mehr in ihre Höhlenzurückgesunken zu sein scheinen. Und auf einmal erkenne ich:Mein Vater ist mit seinen Nerven vollkommen am Ende.

Ob er sich mit diesen Sätzen, unbeholfen, wie er inGefühlsdingen nun mal war, mit mir versöhnen wollte? Damalswar ich zu jung, zu verzweifelt und verwirrt, um das zuerkennen. Zu den Großeltern meiner Freundin, bei denen ichwohnte, sagte ich beim Abschied: »Ich komme bald wieder!«

Doch die sahen sich nur an und meinten dann: »Soschnell… das glauben wir eigentlich nicht, Juliane. So baldwird das nicht sein.«

Aber das wollte ich nicht hören. Ich erwiderte: »Doch doch,da bin ich mir sicher.«

Es gibt Bilder vom Flughafen in Lima – denn natürlich folgtenmir die peruanischen Journalisten bis zum allerletzten Moment,

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mir die peruanischen Journalisten bis zum allerletzten Moment,und in Deutschland erwarteten mich bereits ihre Kollegen –,auf denen ich traurig in die Kamera winke, während meinVater mich mit einem ziemlich verkniffenen Gesicht im Augebehält. Er sieht nervös aus auf diesen Bildern. Vielleichtzweifelt er an seiner Entscheidung? Oder fürchtet er, ich würdeihm im letzten Augenblick doch noch einen Strich durch dieRechnung machen? Dass ich gegen meinen Willen nachDeutschland geschickt wurde, das habe ich viele Jahre lang,wie so vieles, zumindest nach außen hin erfolgreich verdrängt.Lange sagte ich: »…und dann haben wir entschieden, dass ichbesser nach Deutschland ging.« Aber in Wahrheit hat meinVater das entschieden, und ich war sehr unglücklich darüber.Heute habe ich natürlich eingesehen, dass sein Entschlussletztendlich richtig war.

Aber da war so vieles, was mich mit Angst erfüllte.Zuallererst wartete mein erster Überseeflug auf mich. DieseAnspannung…

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…wieder in einem Flugzeug zu sitzen, und diesmal sollte siealso nicht nur 50 Minuten lang dauern, sondern ganze18 Stunden. Zum Glück durfte ich einige dieser Stunden imCockpit verbringen, was mir die Zeit enorm verkürzte und mirmeine Angst ein Stück weit nahm. Besonders faszinierend fandich die abendliche Zwischenlandung in New York, die ich vomCockpit aus miterleben durfte. Sofort erfasste mich wiedermeine Begeisterung für alle technischen Dinge, und diefreundlichen Piloten antworteten geduldig auf meine Fragen.

Dennoch. Auf diesem Flug über den Atlantik befand ichmich in einer Art seelischem Niemandsland. Mein bisherigesLeben war jäh zu Ende. Ein neues hatte noch nicht begonnen.Und langsam begriff ich, dass der Absturz mehr war als einunangenehmer Zwischenfall, den man erlebt, verarbeitet undwieder vergisst. Auch wenn ich wie durch ein Wunder relativsanft auf dem Boden des Regenwalds gelandet war – nochimmer fühlte ich mich ohne Grund unter meinen Füßen, ohneBasis, ohne Fundament.

Ich hatte meine Mutter verloren. Eben war mir meineHeimat genommen worden. Und ich hatte keine Ahnung, wasmich in meinem neuen Leben erwarten würde. Ich war mit derfesten Überzeugung aufgebrochen, so bald wie möglich wiedernach Panguana zurückzukehren. In Wirklichkeit sollten vieleJahre ins Land ziehen, bis ich meinen geliebten Urwald wiedersah.

Vielleicht ist es darum immer wieder etwas ganz Besonderesfür mich, zu diesem Fleckchen Erde mitten im peruanischen

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für mich, zu diesem Fleckchen Erde mitten im peruanischenRegenwald zurückzukehren. Heute wird einmal mehr eineGeduldsprobe daraus. Kaum haben wir die Carreteraverlassen und sind auf die Erdpiste in Richtung Yuyapichisabgebogen, folgt ein Schlammloch auf das andere. Der roteLateritboden verwandelt sich nach Regenfällen in eine einzigeRutschpartie, und es braucht viel Erfahrung, um nach denheftigen Schauern, die die letzten Wochen hier herrschten, denvoll beladenen Wagen sicher durch dieses Abenteuer zusteuern. Mehrmals denke sogar ich, die ich jetzt schon so oftund bei allen möglichen Straßenlagen hier im Urwaldunterwegs war: Dieses Hindernis hier schaffen wir nicht!Besonders, als es einige Meter wie auf einer Rutschbahn steilnach unten in ein Wasserloch geht, dessen Tiefe man nichtermessen kann, und nach zehn, zwanzig Metern eine ebensosteile Rutsche wieder hoch. Doch unser Fahrer lässt sich nichtso schnell beeindrucken, unbeirrbar manövriert er uns durchdiesen Schlamassel hindurch. Unterwegs begegnen uns kleineund größere LKWs und Pick-ups, voll beladen mit Waren undMenschen, wie Trauben kleben sie oben auf der Ladung undhalten sich fest, wo es nur geht. Da darf man nicht zimperlichsein, wenn sich das Gefährt mal so richtig in Schieflage begibt,aber für eine Mitfahrgelegenheit für ein paar Soles ertragen dieMenschen hier in diesen abgelegenen Gegenden viel.

»Wenn wir erst ›Die Tür‹ erreicht haben«, sagt der Fahrer,»dann ist alles nur noch halb so schlimm.«

Und er hat recht. Wir müssen nur einmal einen Reifenwechseln, und das erledigen die beiden Fahrer so routiniert,als ob sie das jeden Tag machten. Und so ist es auch. »EinenReifen?«, lacht der zweite Fahrer, der sich offenbar freut,

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Reifen?«, lacht der zweite Fahrer, der sich offenbar freut,etwas zu tun zu kriegen und nicht nur auf der Ladeflächedurchgeschaukelt zu werden. »Das ist ja gar nichts!« Der»neue« Reifen hat fast überhaupt kein Profil mehr, aber dasstört niemanden.

Und dann geht es weiter.Bei der »Tür« halten wir heute nur kurz. Die Señora ist gar

nicht zuhause, und ich gebe ihrer Tochter ein paar Fotos, dieich von ihrer Mutter auf der letzten Durchfahrt machte. Wirtrinken ein Bier und sehen, dass wir weiterkommen. Es dauertnicht mehr lange, dann überqueren wir den Río Shebonya.Hier lasse ich kurz anhalten, denn dieser Fluss ist und bleibt fürmich etwas Besonderes. Ich gehe zur Brücke, überquere siezur Hälfte und schaue zwischen den Eisenstreben hindurch insWasser. Wie oft schon habe ich mir die Frage gestellt, ob ichauch hier vorbeigekommen bin, schwimmend oder im Wassertreibend, am Ufer watend, immer auf der Hut vorStachelrochen? Wen auch immer ich fragte, wo denn nungenau von hier aus gesehen die Flugzeugtrümmer liegen, jedergab mir eine andere Antwort. Der Urwald hat sie wieder festin seinem Griff, nur einmal aufgestört durch die Beharrlichkeiteines Werner Herzog.

Und weiter geht es über den breiten, erdigenWeißwasserfluss Súngaro und durch die gleichnamigeSiedlung, immer Richtung Süden. Es ist nicht mehr weit, unddoch zieht es sich hin, meine Ungeduld wächst mit meinerVorfreude. Nach Überquerung des wunderschönenSchwarzwasserflusses Yanayacu erreichen wir die Stichstraßenach Yuyapichis, und als wir endlich im Dorf ankommen, sindes noch drei Stunden bis zur Dämmerung. Ich treibe Moro zur

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es noch drei Stunden bis zur Dämmerung. Ich treibe Moro zurEile an, denn nun gilt es, Boote zu organisieren für uns undunsere Fracht. Aber so schnell geht es hier nun mal nicht, dasmüsste ich eigentlich wissen.

Und irgendwann fällt die Hektik der Großstadt einfach vonmir ab. Der Urwald hat sein eigenes Tempo, und dieMenschen passen sich ihm an. Und so rege ich mich auch nichtauf, als Moro eine Stunde später verschwitzt und keuchendvor mir steht mit der Nachricht, für uns und unsere Kofferhabe er ein Boot auftreiben können, jedoch für unsereLebensmittel nicht. Also lagern wir die erst einmal in NerysHaus ein und machen uns auf zum Fluss. Mañana, mañana –morgen ist auch noch ein Tag.

Die Fahrt über den Fluss ist für mich jedes Mal wie dieÜberquerung einer geheimnisvollen Grenze. Davor liegt daswirkliche Leben, dahinter Panguana. Natürlich ist Panguanagenauso wirklich wie das Leben in Lima oder das in München.Aber es gehört einer anderen Welt an. Dort ist die Naturgeduldeter Gast, man pflanzt ein paar Bäume, stellt sichPflanzen vors Fenster und hält sich ein Haustier. Hier inPanguana ist die Natur Gastgeberin, und wir sind dieBesucher. Auch wenn mir dieses Fleckchen Erde dem Papiernach gehört, so betrachte ich es doch eher als geliehen oderbesser noch: anvertraut. Wir Biologen kommen, staunen,lernen, beschreiben und versuchen, unser neu erworbenesWissen der Menschheit zugänglich zu machen.

»Wozu ist es gut, zu wissen, wie viele Käfer, Ameisen,Wanzen, Milben und sonstige Viecher dort kreuchen undfleuchen?«, werde ich oft gefragt. »Was nützt uns das?«

»Man kann nur schützen, was man zuvor erforscht und

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»Man kann nur schützen, was man zuvor erforscht undkennengelernt hat«, pflege ich darauf zu antworten, »undirgendwann wird man auch hier feststellen, dass es nützlicherund wertvoller ist, die Wälder und ihre Biodiversität langfristigzu erhalten, anstatt sie für einen kurzfristigen Gewinn zuvernichten.« Solange aber der Regenwald für uns nichtsanderes ist als eine Wildnis, eine »Grüne Hölle«, benehmen wiruns wie Kinder, die einen Haufen Geldscheine anstecken, nurweil sie nicht wissen, was das Papier wert ist.

Von meiner Liebe zu diesem grünen Universum, dessenGeheimnisse wir alle noch immer so wenig durchschauen,schweige ich lieber. Gefühle halten viele für ein wenigschlagkräftiges Argument. Und gute Argumente gibt esnatürlich wirklich genügend: Zerstört man die tropischenWälder, dann entweicht das dort zuvor in der Biomassegespeicherte CO2 in die Atmosphäre, und das sind vieleMilliarden Tonnen, zusätzlich werden noch weitere schädlicheGase freigesetzt. Ist die Walddecke dezimiert, wird eszunehmend trockener, der Grundwasserspiegel sinkt, und dieTemperaturen steigen. Die Folgen sind unübersehbar undhaben erschreckende Auswirkungen auf das gesamteWeltklima.

Als meine Eltern vor über 40 Jahren hierherkamen, dawaren die Amazonaswälder noch so gut wie unerforscht. IhreIdee war es, in einem bestimmten, übersichtlichen Gebiet zuuntersuchen, was hier auf engem Raum zusammenlebt. Siesuchten sich Panguana aus, um ihren Fokus auf diese zweiexemplarischen Quadratkilometer in der unermesslichen Weitedes Regenwalds zu richten. Sie wollten zunächst einmal einfachnur beobachten und zusammentragen, was hier überhaupt lebt

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nur beobachten und zusammentragen, was hier überhaupt lebtund wächst. Ein Großteil ihrer Arbeit bestand deshalb darin,Artenlisten anzulegen. Zugleich wollten sie das Ökosystem desTieflandregenwalds erforschen, in dem diese vielen Artenmiteinander im Wechselspiel stehen, besonders die»ökologische Einnischung« von Tieren und Pflanzen, denn jedeArt sucht sich eine solche Nische, in der sie neben denanderen existieren kann. Dies ist meist ein sehr komplexes undspannendes Beziehungsgefüge. Während meine Mutter alsOrnithologin ihr Augenmerk vorwiegend auf die Erforschungder Vogelwelt richtete, hatte mein Vater immer schon das»große Ganze« im Visier, und auch wenn man das zu seinerZeit noch nicht so nannte, arbeitete er eigentlich von Anfang anschon ökologisch.

Ursprünglich wollten meine Eltern fünf Jahre hier bleibenund dann zurück nach Lima gehen, um ihre Ergebnisseauszuwerten. Wahrscheinlich konnten sie sich damals auchnicht vorstellen, länger als fünf Jahre in dieserAbgeschiedenheit zu leben. Bald aber stellten sie fest, dass dieVielfalt im andennahen Tieflandregenwald derart groß ist, dassman mehr als ein ganzes Leben bräuchte, um allein dieArtenlisten nur annähernd zu vervollständigen. Damals gab essolche lediglich für die großen oder häufigen Tiere undPflanzen. Es existierten einige oberflächlicheZusammenstellungen für ausgedehntere Regionen oder dasganze Land, die jedoch keine biologischen Zusammenhängeberücksichtigten und nicht speziell den Regenwaldthematisierten. Was meine Eltern hier mit ihrem Anspruch aufVollständigkeit auf kleiner Fläche und die Tiefen diesesÖkosystems ausleuchtend leisteten, war daher echte

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Ökosystems ausleuchtend leisteten, war daher echtePionierarbeit.

Die Kunde von der enormen Vielfalt an Lebensformen inPanguana lockte Forscher aus aller Welt hierher. MeineEltern, vor allem meine Mutter, waren weltweit ausgezeichnetmit Kollegen vernetzt – und das zu Zeiten, in denen es nochkein E-Mail und Internet gab und ein Brief meist mehrereMonate benötigte, um uns zu erreichen. In den Briefen meinerMutter ist von den Schwierigkeiten mit der Post des Öfterendie Rede, und sie scheute sich auch nicht, dieVerantwortlichen aufzusuchen und zu befragen, warum einePostsendung mitunter sogar ganze fünf Monate brauchte, umvon Pucallpa nach Panguana zu gelangen.

Immer wieder reiste meine Mutter auch in die USA oder nachEuropa, um an Kongressen teilzunehmen. Ich erinnere michbesonders gut an eine ihrer längeren Abwesenheiten Anfang1970, kurz vor meiner Rückkehr nach Lima. Damals hattenwir zahlreichen Forscherbesuch, und ich musste täglich für allekochen, was ich als ziemlich anstrengend empfand.

Meine Eltern waren also die Ersten, die untersuchten, wiesich hier jegliche Lebensform, die sie antrafen, in ihre Umwelteinfügt, wie sie dem Feinddruck entgeht, welche Strategien sieentwickelt, um Nahrungskonkurrenten zu trotzen, und vielesmehr. Da sie sich vorgenommen hatten, alles zuberücksichtigen, nichts auszuklammern und auch keinePrioritäten zu setzen, war ihnen rasch klar, dass diese Arbeitso gut wie uferlos war und sehr lange dauern würde, wenn sienicht Hilfe bekämen. Aus diesem Grund waren sie froh,zahlreiche ihrer Kollegen für Panguana als neues Studiengebiet

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zahlreiche ihrer Kollegen für Panguana als neues Studiengebietinteressieren zu können. Selbst heute ist noch bei Weitem nichtalles Leben erfasst, und dennoch ist Panguana die am bestenerforschte Urwaldstation im peruanischen Regenwald östlichder Anden. Sie ist zudem die älteste, wenn auch nicht diegrößte, und die meisten anderen sind mit bedeutend mehrMitteln ausgestattet. Als mein Vater 1974 Panguana verließund als Professor in Hamburg lehrte, vergab er an seineStudenten Diplom- und Doktorarbeiten zu ökologischenProblemstellungen, die in Panguana noch nicht so gut erforschtwaren. So kam im Laufe der Zeit viel Wissen zusammen. Aberüber Panguanas Fische hat noch niemand eingehendersystematisch gearbeitet. Einmal bauten meine Eltern einStellnetz im Fluss auf und fanden gleich 35 verschiedene Artendarin. Auch hier gäbe es noch so viel zu tun.

Wenn meine Mutter sehen könnte, was inzwischen ausPanguana geworden ist, denke ich, während ich die Böschunghinunter zum Río Pachitea klettere, wo das Boot auf unswartet, wäre sie sicher glücklich. Und vielleicht würde sieaugenzwinkernd sagen: »Was? In all den Jahren habt ihr esnoch nicht geschafft, die Artenliste der Fische zuvervollkommnen?«

Mit zwei, drei Schritten besteige ich beherzt unser Boot»Panguana I«, eine Canoa, also ein traditioneller Einbaum, derseitlich mit Brettern verstärkt und vergrößert wurde. SeineSchritte setzt man besser genau in die Mitte, sonst kann essein, man plumpst schneller ins Wasser, als man »upps« sagenkann. Früher, während meiner zwei Jahre in Panguana, konnteich eine einfache Canoa ohne Seitenverstärkung sogar selbststaken. Ich habe es lange nicht mehr versucht. Heute benutzt

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staken. Ich habe es lange nicht mehr versucht. Heute benutztman die charakteristischen 7-PS-Außenbordmotoren, wegenihres keckernden Geräuschs »Peke Peke« genannt. Sieverfügen über eine lange Steuerstange, mit deren Hilfe man dieSchraube im Nu aus dem Wasser heben kann, was sehrpraktisch ist, wenn man unversehens in eine Untiefe gelangt.Und selbst die »Peke Pekes« klingen in meinen Ohren nachHeimat.

Abends ist es auf den Flüssen Amazoniens besondersschön. Das sonst milchkaffeebraune Wasser erhält einengoldenen Schimmer, der Himmel nimmt eine unwirklicheFärbung an, und die Geräuschkulisse der Ufervögel, Fröscheund Insekten verändert ihre Tonlage. Keiner spricht. Der Flussist wie ein magisches Band, auf dem wir entlanggleiten,stromabwärts und quer über die stattliche Breite des Pachitea,vorbei an den Hütten von Goldsuchern, an Häusern, vor denenKinder spielen, und vor allem vorbei an der grünen Wand desWaldes. Ich halte Ausschau nach Zigeunerhühnern, die mireinst das Leben retteten und die meine Mutter so intensivstudierte. Dazu stieg sie an unzähligen Abenden zum Flusshinunter und beobachtete mit der ihr eigenen Engelsgeduld dasVerhalten dieser seltsamen Vögel. Doch heute lassen sich dieZigeunerhühner nirgendwo blicken.

Wir erreichen die Mündung des Flusses Yuyapichis, unserBootsmann ändert seinen Kurs und hält auf eine sandigeAnlegestelle zu. Oben auf der Anhöhe erkenne ich die alteMódena-Farm, die einst Moros Großeltern bauten.

Die letzte Etappe, unser Fußmarsch, beginnt.Früher mussten wir uns von hier an – natürlich erst nach

einer stärkenden Einkehr bei Doña Josefa – durch dichten

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einer stärkenden Einkehr bei Doña Josefa – durch dichtenSekundär- und Primärregenwald hindurchkämpfen. Heute istder Wald zwischen der Módena-Farm und Panguanaweitgehend gerodet. Obwohl das unseren Fußmarschvereinfacht, bedaure ich es natürlich. Immer mehrGrundbesitzer stellten in den vergangenen 30 Jahren aufViehzucht um und rodeten dafür den Wald. Doch mit wenigErfolg. Denn die so gewonnenen Weiden entsprechen inkeiner Weise den Anforderungen einer rentablenViehwirtschaft. Nach einer kurzen, fruchtbaren Phase, bedingtdurch die bei der Brandrodung anfallenden geringfügigenNährstoffmengen in den Ascheresten des Holzes, veröden dieohnehin nährstoffarmen Böden. Da ihnen das Wurzelgeflechtdes Waldes fehlt, können sie sich bei Regen nicht mehrvollsaugen und trocknen aus. Das Wasser fließt viel zu schnellab, die sowieso kaum vorhandene Humusschicht wird in dieFlüsse geschwemmt, und es kommt verstärkt zur Erosion. DasGras wächst spärlich und ist nicht besonders nahrhaft, sodassder Viehzüchter gezwungen ist, teures Kraftfutter zuzufüttern.Auch die Infrastruktur im Urwald macht es ihm schwer, seineRinder gut zu verkaufen. Auf den weiten Wegen, ofteingezwängt auf Booten, verlieren die Tiere an Gewicht undkommen meist mager in Pucallpa an, wo sie keinen guten Preiserzielen. Dennoch werden jährlich viele Hektar Regenwaldvernichtet, immer noch hält sich mangels Wissen und echtenAlternativen die Mär vom möglichen Wohlstand durch dieViehzucht.

Am Abend dieser langen Reise marschieren wir jetzt alsoquerfeldein über die Weiden der Módena-Farm und sind froh,dass die Sonne nicht mehr so hoch am Himmel steht. Wir

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dass die Sonne nicht mehr so hoch am Himmel steht. Wirdurchwaten ein tiefes Schlammloch und den Río Yuyapichisbei einer alten Furt, wo uns das Wasser gerade bis an denoberen Rand der Gummistiefel reicht. Moros Frau Nery undihre beiden Töchter, die sich uns im Dorf Yuyapichisangeschlossen haben, sind uns schon weit voraus. Nun geht esnoch ein paar Kilometer an einem Altwasser des Flussesentlang, an dem seit Kurzem wieder Kaimane leben, was michungemein freut. Zu lange waren sie verschwunden, ausgerottetvon den Indianern und Farmern, die um ihre Kleintierefürchteten und auch ihr recht schmackhaftes Fleisch nichtverachteten.

Und dann, endlich, kann ich den Lupuna-Baum sehen. Stolzragt er aus der Masse der übrigen Bäume heraus und breitetseinen mächtigen Kronenschirm aus – das Wahrzeichen vonPanguana, 50 Meter hoch und viele Hundert Jahre alt. AlsNächstes kommt Moros Wohnhaus in Sicht, dann die beidenGästehäuser. Es sind unscheinbare Holzhütten, mehr nicht –für mich bedeuten sie den Himmel auf Erden. Seit zwei Jahrenbesitzen wir sogar ein Duschhäuschen, und obwohl es nurkaltes Wasser gibt, ist das für uns ein enormer Luxus, wuschenwir uns doch bis dahin unten im Fluss, wo es vieleKriebelmücken und Gnitzen gibt, deren Stiche sich häufigunangenehm entzünden und schrecklich jucken. In einengroßen Behälter auf dem Dach des Häuschens wirdregelmäßig Flusswasser gepumpt, die mitgeschwemmte Erdesetzt sich unten ab, und aus dem Rohr kommt klares, herrlicherfrischendes Wasser. Trinkwasser müssen wir allerdings ausPucallpa mitbringen, wie die meisten anderen Lebensmittelauch.

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auch.Moros Hunde schlagen an. Gleich sind wir zuhause. Aus

dem Kamin in Moros Haus steigt Rauch auf: Nery hat bereitsein Feuer im Herd entzündet und mit den Vorbereitungen fürdas Abendessen begonnen. Ich bin sicher, auch ohne den inYuyapichis zurückgelassenen Proviant wird sie uns einelandesübliche Köstlichkeit zaubern.

An diesem ersten Abend in Panguana sitzen wir, trotzunserer Müdigkeit nach der anstrengenden Fahrt, noch langebei Kerzenschein auf der Terrasse, damit der Generatorausgeschaltet bleiben kann, teilen ein paar Biere, die Morowunderbarerweise noch in seinen Rucksack gesteckt hat, undlauschen den Geräuschen der tropischen Nacht. Die Laute desUrwalds hüllen mich ein. Über uns kreisen Fledermäuse. Alleinvon ihnen gibt es über 50 Arten hier in Panguana, ich studiertesie mehrere Jahre lang und legte die Ergebnisse in meinerDoktorarbeit nieder. Denn wenn es nach meiner Abreise 1972auch Jahre dauern sollte, irgendwann kehrte ich nachPanguana zurück.

Damals, als ich von Lima über New York nach Deutschlandkam und endlich in Frankfurt völlig übermüdet landete, nahmich es einfach nur noch hin, dass auch hier Journalisten aufmich warteten und versuchten, unbedingt ein Foto von mir zuschießen. Ich hatte während des Fluges kein Auge zugetan,und an das Phänomen der Zeitverschiebung musste ich micherst noch gewöhnen.

In Frankfurt erwarteten mich Freunde meiner Eltern, die aufBitten meines Vaters hin sogar noch ein Programm für meinenZwischenstopp organisiert hatten. Denn ich musste ja noch

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weiter nach Kiel.So kam es, dass unter den ersten Menschen, die ich in

Deutschland antraf, Bernhard Grzimek war, der ja nicht nurein durch die Medien bekannter und beliebter Tierexpertewar, sondern auch Direktor des Frankfurter Zoos. Ich habeschon immer gerne Zoologische Gärten besucht, und genaudiesen berühmten durfte ich mir jetzt ansehen. Aber ich warinzwischen so müde, dass mir sogar der Zoobesuch schon egalwar und ich einfach alles stoisch hinnahm, was man mirvorschlug. Erst später, als ich erfuhr, dass Grzimeks SohnMichael 13 Jahre zuvor bei einem Flugzeugabsturz in derSerengeti verunglückt war, wurde mir klar, dass unsereBegegnung auch für ihn sicherlich bewegend gewesen seinmuss.

Von Frankfurt aus sollte mich ein kleineres Flugzeug weiternach Kiel bringen, wo meine Tante und Großmutter lebten,und ich hatte eine fürchterliche Angst davor, in diese Maschinezu steigen. Vielleicht konnte das freundliche Ehepaar, das michin Frankfurt betreute, meine Angst spüren, denn sie fragtenmich mehrmals, ob sie mich nicht lieber mit dem Auto nachKiel bringen sollten. Ich hätte so gerne »Ja!« gesagt, trautemich aber nicht. Und so biss ich einmal mehr die Zähnezusammen, setzte mich in das Turboprop-Flugzeug – wie dieLANSA-Maschine, aber kleiner – und überstand auch nochdiesen Flug. Alles ging gut. Doch als ich in Kiel ankam, warich völlig fertig und schlief erst einmal 13 Stunden am Stückdurch.

Meine Tante Cordula und meine Großmutter empfingenmich so herzlich, wie es herzlicher nicht geht. In der

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Dreizimmerwohnung erhielt ich mein eigenes kleines Reich,dafür räumte meine Tante ihr Zimmer und schlief und arbeitetefortan im Wohnraum. Nie hat sie mich spüren lassen, dass dasmöglicherweise ein Opfer für sie war, es war für sie einfachselbstverständlich. Ich verstand mich von Anfang an gut mitbeiden Frauen, besonders meine Tante kümmerte sich rührendum mich, und das werde ich ihr mein Leben lang nichtvergessen. Dennoch war die Umstellung für mich alles andereals leicht. Das Erste, was mir an Deutschland auffiel, war, dassich immerzu fror. Es war Anfang April, und eine solche Kältehatte ich bisher nur in den Anden erlebt.

Hier in Kiel erzählte mir meine Tante auch, wie sie inDeutschland von der Schreckensnachricht erfahren hatten.Denn damals gab es ja kein E-Mail, und selbst dasTelefonieren in einen fernen Kontinent war nicht so einfach.Mein Vater war in Panguana ohnehin nicht zu erreichen, undso kamen der Tante ihre Kontakte als Journalistin zugute.

Zuerst dachten sie, meine Mutter und ich seien bereits am23.Dezember geflogen, und machten sich daher noch keinegroßen Sorgen, als sie vom Absturz hörten. Aber dann hießes, wir seien doch in der Maschine gewesen, und dieUngewissheit begann. In diesen Tagen erwies sich das BonnerBüro der Agence-France-Presse als äußerst hilfsbereit. Am26.Dezember besorgten die Redakteure mithilfe ihres Büros inLima innerhalb von drei Stunden die Passagierliste derLANSA-Maschine. Auch über die Rettungsaktion wurdeTante Cordula von den Kollegen auf dem Laufenden gehalten.In einem Dankesbrief schreibt sie: »…die Mitteilung von derAuffindung meiner Nichte Juliane am späten Abend des

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4.Januars 1972 war für die in Deutschland lebendenFamilienangehörigen, für die ich spreche, vonaußerordentlicher Bedeutung.« Ich finde es heute nochspannend, wie schwierig es damals war, verlässlicheInformationen zu bekommen, und wie findig und gut vernetztmeine Tante doch war.

Ja, diese ersten Wochen in Kiel verbrachte ich wie betäubt.Ich fühlte mich nicht wohl, mir war andauernd schlecht, und soließ ich alles einfach über mich ergehen. So überstürzt, wie ichgekommen war, musste man ja erst einmal eine Schule fürmich finden, in der ich mein Abitur machen konnte. Ich hatteGlück, denn der Mann einer Verwandten meiner Mutter warDirektor des Gymnasiums Wellingdorf in Kiel, das als ersteSchule weit und breit bereits die Studienstufe, also einereformierte Oberstufe, eingeführt hatte. Er bot mir an, direkt indie elfte Klasse einzusteigen, man würde dann schon sehen, obich mitkäme. In der Tat war die Kollegstufe einfacher für mich,so konnte ich die Fächer wählen, die mir am besten lagen. InLima begann das Schuljahr allerdings im April und hier imHerbst, ich platzte also mitten in den laufenden Unterrichthinein, was ich ganz furchtbar fand.

Der erste Schultag war auch entsprechend: Ich fand nichtgleich das richtige Klassenzimmer und kam deshalb zu spät.Der Lehrer schimpfte: »Erst neu sein und dann auch noch zuspät kommen!« Außerdem musste ich mich erst an diedeutschen Gepflogenheiten anpassen; in Lima stand man zumBeispiel auf, wenn man drankam, um etwas zu sagen. Dasgewöhnte ich mir allerdings schnell ab, nachdem ich damit inder Klasse für allgemeine Heiterkeit gesorgt hatte.

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Von den anderen Schülern wurde ich sofort freundlichaufgenommen und hatte gleich einen richtig netten Kreis anFreundinnen. Natürlich wusste man auch hier, wer ich war undwas ich erlebt hatte, und neugierige Fragen blieben nicht aus.Es fiel mir schwer, über die ganze Sache zu sprechen, vorallem, seit ich auch noch aus meinem Heimatland Peru»verbannt« worden war. Doch alle Menschen in meiner neuenUmgebung bemühten sich, mir die Umstellung so leicht wiemöglich zu machen. Dennoch – es war einfach zu viel, was inden letzten Wochen auf mich eingeströmt war, und meinKörper machte mir einmal mehr klar, dass noch längst nichtalles überstanden war.

Seit damals in Yarinacocha mein Knie angeschwollen war,hatte ich große Schmerzen beim Gehen. Meine Tante brachtemich zu einem Orthopäden, der sich das ansehen sollte. Derschaute mir nicht nur aufs Knie, sondern auch ins Gesicht undmeinte: »Sie haben ja ganz gelbe Augen! Ich überweise Siesofort in ein Krankenhaus zur Untersuchung!« Dort behieltensie mich auf der Stelle da und steckten mich auf dieIsolierstation, denn ich hatte nicht nur einen Kreuzbandriss,sondern auch eine ausgewachsene Hepatitis. Meine Leber wargeschwollen – das war die Ursache für meine ständigeÜbelkeit.

Da lag ich also, und im Grunde war es mir recht. Ich wolltenur noch meine Ruhe haben, und die hatte ich jetzt auch. Ichmusste streng Diät halten, aber auch das war mir egal. Ja, esgefiel mir im Krankenhaus.

Die Ärzte und Schwestern waren freundlich, ich hatte einequirlige Zimmergenossin, ich fühlte mich geborgen wie schon

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lange nicht mehr. Von mir aus, dachte ich, bleib ich für immerhier. Ist es nicht seltsam, dass ich erst in ein Krankenhauseingeliefert werden musste, um endlich zur Ruhe zu kommen?Aber all das, was hinter mir lag, hatte mich überwältigt. InYarinacocha war trotz der erholsamen Umgebung noch zu vielauf mich eingeströmt: Da waren die Journalisten, da waren dietäglichen Neuigkeiten von der Bergung der Leichen, diegrausigen Nachrichten und die Erkenntnis, dass ich die einzigeÜberlebende war. Und schließlich die Sache mit dem Todmeiner Mutter. Da war außerdem die unmerkliche Spannungzwischen mir und meinem Vater, seine Trauer, die er nichtzeigen, aber auch nicht verbergen konnte. Da war so vielUnausgesprochenes zwischen uns geblieben und schließlichmein überstürzter Abschied von Peru, den ich immer nochnicht verwunden hatte. Jetzt hatte ich Zeit, jetzt hatte ich dieRuhe, die ich so dringend brauchte, und darum wollte ich ausdieser Isolierstation erst gar nicht wieder raus.

Nach vier Wochen, als es mir schon viel besser ging, erfuhrder Arzt, dass ich in Deutschland nicht krankenversichert warund die Kosten selbst tragen musste. Bettruhe und Diät,meinte er, könne ich auch zuhause einhalten, und entließ michauf der Stelle. Und ich dachte: Oh nein, jetzt muss ich schonwieder woandershin! Aber meine Tante kümmerte sich soliebevoll um mich, dass ich nach und nach begann, michheimisch zu fühlen. Noch einige Wochen lang hütete ich dasBett. Meine neuen Klassenkameradinnen kamen mich hin undwieder besuchen, und dann waren auch schon die großenFerien da.

Im September begann ich ganz regulär das neue Schuljahr

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Im September begann ich ganz regulär das neue Schuljahrund siehe da: Mit der Unterstützung meiner Tante fand ich denAnschluss an die zwölfte Klasse und musste die elfte nichtwiederholen. Ich wählte die Leistungsfächer Biologie –natürlich! – und Deutsch, Letzteres auf Zuraten meiner Tante,die ja Schriftstellerin war und meine Begeisterung für Literaturnach Kräften unterstützte. In diesem Fach war ich immer gutgewesen, doch sie half mir, meinen Stil zu verbessern.Lediglich in Mathematik wurde ich zurückgestuft, da wir inPeru keine Mengenlehre gehabt hatten und das Pensum dortein wenig anders gelagert war. Am Ende schrieb ich eine glatteEins im Deutsch-Abitur, und ich war sehr stolz darauf.

Tante Cordula war eine äußerst interessante Frau, und ichlernte es täglich mehr zu schätzen, bei ihr wohnen zu dürfen.Sie war, wie schon gesagt, Journalistin und Schriftstellerin undlebte, da unverheiratet, mit ihrer Mutter zusammen. Sie warstets über alles im Bilde, was in der Politik und im Bereich derKunst los war, und schärfte meine Wahrnehmung für solcheDinge, die mich vorher nicht so besonders interessiert hatten.Sie schrieb unter anderem recht erfolgreiche Biografien überLou Andreas-Salomé und Edith Stein. Wenn sie mir beimeinen Aufsätzen, besonders bei den Interpretationen, helfenkonnte, dann war sie so richtig in ihrem Element. Ich werde nievergessen, wie sie mir beibrachte, Gedichte zu interpretieren.Sie wollte, dass ich alles selbst herausfand, was in so einemGedicht steckt, und ermutigte mich so lange, bis es mir gelang.Das waren Stunden, die uns sehr verbanden, und ich bin ihrheute noch dankbar dafür, dass sie mir die Sinne für allesKulturelle geöffnet hat.

In diesen beiden ersten Jahren in Kiel zeichnete und malte

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In diesen beiden ersten Jahren in Kiel zeichnete und malteich viel, benutzte gerne Kreiden und Kohle. Sicherlich habe ichdie Anlagen dafür von meiner Mutter geerbt, die eineausgezeichnete Tierillustratorin war. Sie hatte bei Prof. HansKrieg in München gelernt, wie man Vögel im Flug und andereTiere in schneller Bewegung zeichnet, und das rascheSkizzieren zur Perfektion gebracht. Sie illustrierte außerdemdie Bücher meines Vaters und fertigte dafür Hunderte vonZeichnungen an. In Peru kam nach ihrem Tod einBriefmarkensatz mit fünf ihrer Vogelzeichnungen heraus.

Nun hatte auch ich viel Freude am Zeichnen, sodass ich mirsogar ernsthaft überlegte, Kunst zu studieren statt Biologie.Eine Lehrerin am Gymnasium, zu der ich einen besonderenDraht hatte, förderte mein Interesse außerdem. Sie nahm michmit auf Ausflüge, um hier und dort eine Ausstellung anzusehen.Auch zu sich nach Hause lud sie mich ein, und bei diesenGelegenheiten lernte ich einige Künstler der Kieler Kulturszenekennen. Das alles hat mich sehr bereichert, denn in Peru hatteich dergleichen nie erlebt.

Wenn ich die Vergangenheit auch gerne vergessen wollte,immer wieder gab es die Notwendigkeit, mich an dasGeschehene zu erinnern. Der »Stern« hatte die Rechte anmeiner Geschichte an eine Filmproduktion weiterverkauft, undein italienischer Regisseur namens Giuseppe Scotese (nicht zuverwechseln mit dem berühmten amerikanischen RegisseurScorsese) besuchte mich, um Informationen aus erster Handzu bekommen. Also musste ich ihm alles noch einmal vonvorne erzählen und seine zahlreichen Fragen beantworten. Dastat ich dann auch geduldig, wurde aber nicht weiter in dieFilmarbeiten involviert. Mir war es recht so, je weniger ich

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Filmarbeiten involviert. Mir war es recht so, je weniger ichdamit zu tun hatte, desto besser, fand ich.

Mein erstes Jahr in Kiel neigte sich dem Ende zu. Vielleichtfragte sich meine Tante bang, wie ich wohl das Weihnachtsfestempfinden würde, den Jahrestag jenes schrecklichenErlebnisses. Doch es war eigenartig: Vielleicht weilWeihnachten in Deutschland so völlig anders war als imUrwald, vielleicht weil ich meine Trauer immer noch nichtrichtig zulassen konnte – ein neuerlicher Rückfall fandkeineswegs statt. Vielmehr machte ich Pläne für denkommenden Sommer, und möglicherweise war dies meineArt, mein Heimweh zu kompensieren. Und so schrieb meineTante an meinen Vater, dass ich gerne in den kommendenSommerferien 1973 Panguana besuchen wollte.

Eigentlich das Normalste von der Welt, sollte man meinen:Die Tochter will in den Sommerferien nach Hausezurückkehren. Tat ich nicht alles, was mein Vater von mirerwartete? Hatte ich nicht trotz meiner schweren Erkrankungdas fremde Schulpensum mit Bravour gemeistert und sogareine Klasse übersprungen? In den Briefen meiner Tante, diesie in meinem ersten Jahr in Deutschland an meinen Vaterschrieb, lese ich immer wieder wie ein wiederkehrenderRefrain: »Juliane muss in diesen Wochen sehr hart für dieSchule arbeiten.« Seltsam, ich erinnere mich gar nicht mehrdaran, dass ich so viel tun musste. Mit Sicherheit war dies fürmich die beste Art, das Überstandene hinter mir und keinHeimweh aufkommen zu lassen.

So langsam war ich in Kiel also angekommen, nicht nuräußerlich, sondern auch mit meinem Herzen. Ich wargesundheitlich so weit wiederhergestellt und freute mich

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gesundheitlich so weit wiederhergestellt und freute michdarauf, Panguana und meinen Vater wiederzusehen. Bis ichmir ausrechnete, wie wenig von meinen fünf WochenSommerferien übrig bleiben würde, zog ich die lange undbeschwerliche Reise ab. Meine Tante riet mir sanft davon ab,sprach davon, welch eine Strapaze da auf mich wartete. Soviel Zeit in Flugzeugen für gute zwei Wochen Panguana. Beider Vorstellung, wieder fliegen zu müssen, bekam ich ohnehineine Gänsehaut. Und als mich meine Großmuttermütterlicherseits drängte, sie doch endlich am Starnberger Seebesuchen zu kommen, da gab ich meinen Plan, nach Peru zufahren, allmählich auf.

Was ich nicht wusste, war, dass mein Vater es mir sowiesountersagt hatte, zu kommen. Im Nachlass meiner Tante fandich einen Brief, der mir das Blut in den Adern stocken ließ.Während mein Vater verschiedene Besuche von Zoologenguthieß, schrieb er: »Erschrocken bin ich darüber, dass Julianeschon wieder hierherkommen will. Ich halte das auf keinen Fallfür ratsam. Bitte rede ihr diese Sache aus; es gibt zu vieleDinge, die ihre Reise hierher als nicht geraten erscheinenlassen. Falls Marias Bruder kommen will, so soll er es tun…Er soll bedenken, dass ich hier kein Personal habe und dasshier keine Sommerfrische ist. Sollte Juliane gegen meinenWillen hier auftauchen, dann wird sie etwas erleben, was siesich nicht gedacht hat.«

Meine Tante antwortete darauf: »Juliane hat ihre Peru-Reisepläne schon von selbst aufgegeben, als sie bemerkte,dass sie höchstens 17 Tage in Panguana hätte sein können,denn die Ferien sind ja nur fünf Wochen lang. Du brauchst garnicht mit Donnerworten zu drohen, wie im Brief vom 30.12.,

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nicht mit Donnerworten zu drohen, wie im Brief vom 30.12.,das würde sie nur in ihrem mühsam gewonnenen und leichterschütterbaren seelischen und körperlichen Gleichgewichtbedrohen. Ich habe ihr davon deswegen auch gar nichtserzählt.«

Erst jetzt, fast 40 Jahre später, erfahre ich also davon undfrage mich: Warum wollte mein Vater mich nicht sehen?Welche »Dinge« ließen meinen Besuch als »nicht geratenerscheinen«? Konnte er meine Gegenwart nicht ertragen?Nahm er es mir übel, dass ich lebte und meine Mutter nicht?

Selbst nach so vielen Jahren tut mir sein grob formuliertesVerbot, nach Hause zu kommen, noch weh. Aber was nochseltsamer ist: Bis ich diesen Brief vor wenigen Wochen fand,hatte ich völlig verdrängt, dass ich damals überhaupt jeerwogen hatte, nach Panguana zu reisen. Hätte man michgefragt, ich hätte es mit dem Brustton der Überzeugungverneint. Und doch, hier steht es, schwarz auf weiß. Warumhabe ich das so vollständig vergessen?

Und warum gab ich diesen Plan freiwillig wieder auf?17 Tage sind nicht so wenig, wenn man tatsächlich großesHeimweh hat. Habe ich auch ohne Worte selbst über diegroße Entfernung gespürt, dass ich bei meinem Vater nichtwillkommen sein würde? Ich weiß es nicht und werde es nichtmehr erfahren. Mein Vater verstarb im Jahr 2000. Wiesoversäumt man so oft, die wichtigen Fragen rechtzeitig zustellen?

Und doch, ich kann meinem Vater nicht wirklich böse sein.Sein Weihnachtsbrief an mich, den er bereits Ende November1972 schrieb, damit er auch rechtzeitig bei uns ankam, beginntmit folgenden Sätzen:

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mit folgenden Sätzen:»Liebe Juliane! Zum Weihnachtsfest wünsche ich Dir sehr

viel Gutes, und gleichzeitig wünsche ich Dir auch viel, vielGlück für das neue Jahr 1973. Seit dem vergangenen Jahr hatja das Weihnachtsfest für uns ein besonderes Gesichtbekommen. Für Dich wird es immer das Fest sein, an dem Dirdas Leben neu geschenkt wurde. Für mich ist es von jetzt abein trauriges Fest, dem noch eine traurigere Zeit folgt, nämlichbis zu Mamis wirklichem Todestag, der auf den 6. oder7.Januar anzusetzen ist.«

Den harschen Brief, in dem er mir verbietet, nach Panguanazu kommen, schrieb er am 30.Dezember 1972 an meineTante, und der Absturz hatte sich gerade erst gejährt. Daserste Weihnachten ohne meine Mutter lag hinter ihm, und ichwage nicht, mir vorzustellen, wie es in ihm ausgesehen habenmochte.

»Nun, Vecina«, bricht Moro das Schweigen und reißt michaus meinen Gedanken, »bist du denn überhaupt nicht müde?«

»Doch«, sage ich, »das war ein langer Tag. Ich bin nur sofroh, wieder hier zu sein.«

»Und wir erst! Willkommen zurück in Panguana!«Mit den Taschenlampen suchen wir unseren Weg zum

Zähneputzen ins Duschhäuschen und in unsere Betten. Sie sindhart, aber das stört uns nicht. Ich weiß schon jetzt, ich werdetief und fest schlafen.

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Einige Tage später ist es an der Zeit, nach Puerto Inca zufahren und im dortigen Rathaus die Sache mit denGrundbucheintragungen zu klären. Früh am Morgen bringt unsMoro zusammen mit seinem Gehilfen Chano in der Canoa biszur Furt, damit wir ein Stück Weges sparen.

Zu meiner Freude flattern am Ufer große Vögel auf, es sindZigeunerhühner, eine ganze Kolonie.

Bei der Módena-Farm treffen wir Don Elvio, Moros Onkel,der uns herzlich begrüßt und gerne bereit ist, uns in seinemBoot nach dem Dorf Yuyapichis überzusetzen. Dort finden wirbald einen Wagen, der uns zu dem Ort Súngaro amgleichnamigen Fluss fährt. Und dann werden wir schonweitersehen.

Habe ich mich einmal auf dieses Urwaldleben eingestellt, aufseine Regeln und Gebräuche, dann genieße ich es in vollenZügen. Irgendwie kommt man schon ans Ziel, auch wenn eskeine öffentlichen Verkehrsmittel mit genauem Abfahrtsplangibt. Zwischen den einzelnen, weit verstreutenUrwaldortschaften sind immer Fahrer unterwegs, in der Regelfindet man auf diese Weise rasch eine Mitfahrgelegenheit,wenn man Pech hat, wartet man ein paar Stunden. So ist daseben, kein Grund zur Aufregung – trotzdem für einen Europäergewöhnungsbedürftig. Aber je eher man sich auf diesenRhythmus einlässt, desto besser. Denn alles Schimpfen undKlagen nützt nichts, sondern verdirbt einem nur die Laune.

Der Weg zum Súngaro ist nicht lehmig, dafür aber vonfaustgroßen Kieselsteinen übersät. Schlaglöcher gibt esnatürlich auch, und unser Fahrer hat es sich offenbar zur

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natürlich auch, und unser Fahrer hat es sich offenbar zurAufgabe gemacht, so schnell wie nur möglich über diesekollernde Piste zu rasen, die eher an eine Murmelbahn fürRiesenkinder erinnert als an eine Straße. Das ist eineHerausforderung für die Federung des Fahrzeugs, aber auchfür unsere Bandscheiben und Gesäßpolster. Als wir imDörfchen Súngaro ankommen, sind wir alle ein bisschenbenommen und ziemlich durchgerüttelt. Von hier dauert es nurnoch eine halbe Stunde bis nach Puerto Inca. Ein Kombi, derfür europäische Verhältnisse eigentlich schon voll besetzt ist,lässt auch uns noch einsteigen. Man rückt einfach zusammen,mein Mann und ich teilen uns den Beifahrersitz, und so schafftes der Fahrer, in einen normalen PKW, zugelassen für vierPersonen, die doppelte Anzahl Passagiere hineinzuquetschen.Ein besonders unerschrockener setzt sich gar in den offenenKofferraum, ganz nach dem Motto: »Besser schlecht gefahren,als gut zu Fuß unterwegs.«

Jedes Mal, wenn wir am Ufer des Río Pachitea ankommenund ich auf der anderen Seite des Flusses Puerto Inca liegensehe, dann erinnere ich mich an die vielen Male, die ich hiermit meiner Mutter Station machte. Mit diesem Städtchen, dasja nur 20 Kilometer von der Absturzstelle entfernt liegt,verbindet mich aber vor allem die Geschichte meines Unfalls.Denn wenn man mich auch in ganz Peru als »die Juliana«kennt, die damals »den LANSA-Absturz überlebte«, so binich hier geradezu eine Lokalgröße. Schon die Fährmänner, dieam Ufer herumstehen und auf Kundschaft warten, erkennenmich sofort. Der alte Mann, der uns übersetzen »darf«, strahltüber sein ganzes zahnloses Gesicht.

Es ist Mittag geworden, und als wir am anderen Ufer die

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Es ist Mittag geworden, und als wir am anderen Ufer diebetonierten Stufen zur Uferstraße hinaufsteigen, brennt uns dieSonne unbarmherzig auf die Köpfe. Das Liegenschaftsamt hatzwar noch nicht Mittagspause, aber der zuständige Beamte»ist gerade nicht da«. Ob er später wiederkommen wird? Dasweiß der Sekretär nicht so genau. Wir können es ja nach14 Uhr nochmals probieren. Also versuchen wir unser Glückauf dem Rathaus. Und hier – ich bin ja davon überzeugt, dasses Zufälle nicht gibt – begegnen wir doch tatsächlich einemalten Bekannten: Don Marcio, der mich damals aus demUrwald nach Tournavista brachte, steht auf einmal vor mir,gealtert wie wir alle, mit noch markanteren Zügen als früher. Erstrahlt, als er mich sieht. Und für mich ist es, wie jedes Mal,eine sehr anrührende Begegnung. Es gehe ihm gut, sagt deralte Waldläufer, er sei sesshafter geworden, immerhin ist erdieses Jahr 73 Jahre alt geworden.

»Damals«, sagt er, »das waren Zeiten. Was haben wir nichtalles erlebt.« Und dann fragt er mich, ob ich noch eine Kopiehabe von »meinem« Spielfilm, er würde den Film gerne seinenEnkeln zeigen.

Ja, der Absturz der LANSA und die sich anschließendeSuchaktion waren sicherlich ein Höhepunkt in der Geschichtedes Städtchens. Ein weiterer folgte, als jener italienischeFilmregisseur Giuseppe Scotese die Story verfilmte, und dasteilweise hier vor Ort.

Schauplätze waren der Flughafen von Pucallpa,Yarinacocha, »La Cabaña« – das Bungalowhotel der Freundemeiner Eltern – und Puerto Inca. Meinen Part übernahm dasjunge englische Starlet Susan Penhaligon, von der die einensagen, sie sähe mir zum Verwechseln ähnlich, und zwar so

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sagen, sie sähe mir zum Verwechseln ähnlich, und zwar sosehr, dass viele dachten, ich spielte mich selbst. Die anderenbehaupten, sie habe nicht die geringste Ähnlichkeit mit mir – sokönnen die Meinungen auseinandergehen. Auch die Rollenmeiner Eltern wurden mit Schauspielern besetzt, sonstarbeitete der Regisseur viel mit Laiendarstellern. So kam es,dass viele Leute sich selbst spielten, auch Don Marcio wardabei und übernahm im Film die Rolle meines Retters. Nochheute kursieren in dem Urwaldstädtchen lustige Geschichtenvon den Dreharbeiten. Besonders einen kurzen Auftritt von»Pampa Hualo«, wie ein echtes lokales Original nach einemRegenzeitfrosch genannt wurde, finden die Leute immer nochwitzig.

Der Regisseur Scotese besuchte auch meinen Vater inPanguana und erwog offenbar, die entsprechenden Szenen amOriginalschauplatz zu drehen. Doch dann entschied er sichanders, und unsere Hütten wurden auf dem Gelände desHotels »La Cabaña« in Yarinacocha nachgebaut – wie meinVater fand, recht dürftig.

Wie alle anderen Menschen bekam ich den Film erst 1974,als er in die deutschen Kinos kam, zu sehen. Der Besitzereines Kieler Lichtspielhauses lud mich und meine Tante zurPremiere ein und fragte mich, ob er mich hinterher demPublikum vorstellen dürfte. Ich nahm die Einladung gerne an,wollte jedoch lieber inkognito kommen und war sehr nervös.In unserer schönen Loge habe ich während der Vorführungregelrecht gezittert und gefroren. Vor allem die Darstellung desAbsturzes hat mich sehr mitgenommen, und diese ist auch eineder besten Szenen des Films. Ich kann mich noch gut daranerinnern, wie sich hinter mir ein junges Pärchen unterhielt. Sie

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erinnern, wie sich hinter mir ein junges Pärchen unterhielt. Siesagte zu ihm: »Wie unglaubwürdig! So was gibt es ja garnicht!« Da hätte ich mich dann doch fast umgedreht undgesagt: »Doch! So was gibt es! Das ist mir tatsächlichpassiert!« Aber natürlich war ich lieber still.

Leider gab es aber eine Menge Szenen, die ziemlich kitschigwaren. Einmal kauert jenes Mädchen, das ich sein sollte, aneinem Abhang und ist völlig erschöpft. Es ist Nacht. Undplötzlich kommt eine Affenmutter mit ihrem Jungen daher, dievon einem Jaguar verfolgt wird. Rasch wirft die Affenmutter ihrKleines in den Arm des Mädchens, da wird sie auch schonvon der Raubkatze fortgeschleppt. Und nun klammern sichMädchen und Äffchen natürlich aneinander fest und schenkensich gegenseitig Trost. Als der kleine Affe am Morgen seinerWege geht, ruft ihm das Mädchen verzweifelt nach: »Geh nichtfort! Lass mich nicht allein!«

Was soll ich sagen, der Film wurde kein Meisterwerk.Wenn auch die Schauspielerin, die meinen Part verkörperte,sich wirklich sehr engagierte und keine Mühe scheute, sich inden Schlamm warf und in vielen Szenen vollen Einsatz zeigte –der Film ist über weite Strecken einfach nur langweilig. DerRegisseur hat sich bemüht, authentisch zu bleiben, die vielenLaiendarsteller gaben ihr Bestes, doch insgesamt konnte derStreifen nicht wirklich überzeugen. Das Spannendste, nämlichder Flugzeugabsturz, findet bereits im ersten Drittel statt, undvon da an beschreibt der Film meinen Gang durch den Urwaldals einen Hindernislauf von einer Gefahr zur nächsten.

Hier in Deutschland lief der Film unter dem reißerischenTitel »Ein Mädchen kämpft sich durch die Grüne Hölle«immerhin zwölf Wochen lang, und in Peru und in anderen

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immerhin zwölf Wochen lang, und in Peru und in anderensüdamerikanischen Ländern als »Perdida en el Infierno Verde«noch länger. Auch in den USA kam er in die Kinos unter demTitel »Miracles still happen«. Dennoch hieß es am Ende, derFilm habe nur Verluste gemacht, und so erhielt ich aus denweltweiten Einnahmen keinen Pfennig. Auch im Fernsehen liefder Film unter den abenteuerlichsten Titeln. Leider erhielt ichnie eine offizielle Kopie des Films. Der Regisseur istinzwischen verstorben, die Filmproduktion hat sich längstaufgelöst.

Was meinen Vater sehr ärgerte, war, dass SusanPenhaligon auch Filme drehte, in der sie Nacktszenen hatte. Invielen Zeitungen erschienen dann Bilder von mir in Jeans undT-Shirt neben einem Nacktbild von ihr. Mir persönlich wardas egal. Aber viele Leute haben mich gefragt, ob ich das seiund ob ich jetzt tatsächlich Nacktfilme drehen würde.

Einer falschen Zeitungsnachricht zufolge sollte SusanPenhaligon übrigens in den 90er-Jahren bei einem Unfall in denVereinigten Staaten ums Leben gekommen sein. Eine schöneAnekdote, wie falsche Medienberichte ein Eigenlebenentwickeln können. Denn obwohl das überhaupt nicht stimmtund sich die Schauspielerin bis heute einer guten Gesundheiterfreut, hält sich das hartnäckige Gerücht, ich sei es, diedamals verunglückte. Viele Menschen konnten auch in diesemFall Realität und Fiktion nicht auseinanderhalten und dachten,ich habe mich selbst gespielt. Und so kam es in der Folgeimmer wieder zu amüsanten Situationen. Einmal fuhr ich mitAlwin Rahmel von Lima in Richtung Norden, und unterwegsnahmen wir einen Naturwissenschaftler mit, der mit seinemWagen liegen geblieben war. Wie es der Zufall wollte, kannte

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Wagen liegen geblieben war. Wie es der Zufall wollte, kannteer meine Mutter. Ich saß hinten im Wagen, und Alwin bestrittdie Konversation. Der Mann sagte: »Das war ja so eineTragödie, als Maria Koepcke damals ums Leben kam. Wasmich aber besonders traurig macht, ist, dass ihre Tochter, dieden Absturz so wundersam überlebt hatte, später in den USAverunglückte!«

Da fragte Alwin, dem der Schalk recht oft im Nacken sitzt:»Sie meinen Juliane? Würden Sie gerne mit ihr sprechenwollen?«

Der Wissenschaftler sah ihn bestürzt von der Seite an.»Ja«, insistierte Alwin, »Sie haben heute ganz besonderes

Glück! Wenn Sie möchten, können Sie mit Juliane sprechen.Sie sitzt nämlich direkt hinter ihnen.«

Da war der Mann wie vom Donner gerührt und konnteüberhaupt nicht glauben, dass ich tatsächlich noch lebte undausgerechnet mit ihm in einem Wagen saß.

Solche Begegnungen hatte ich öfter. Einmal musste ichsogar meinen Pass vorzeigen, weil mir die Leute, die ich aufeinem Empfang kennenlernte, partout nicht glauben wollten,dass ich wirklich Juliane Koepcke bin. Gerade erst bat micheine Verwandte von Moro, ihr ein aktuelles Bild von mir zugeben, um ihre Lehrerin davon zu überzeugen, dass ichquicklebendig bin. Wie das so ist mit Gerüchten, am Endekursierten die tollsten Versionen von meinem angeblichenUnfall in den USA. Einmal verunglückte ich mit dem Auto, einanderes Mal mit dem Fahrrad. Und es ist unglaublich, wiehartnäckig die Menschen an diesen Geschichten festhalten.Selbst wenn ich vor ihnen stehe, vertrauen sie mitunter denMedienberichten mehr als dem Offensichtlichen.

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Medienberichten mehr als dem Offensichtlichen.Auch die Menschen in Puerto Inca können es kaum

glauben, dass ich nach einigen Jahren mal wieder den Weg zuihnen finde. Im Rathaus treffe ich zwar auch niemanden an, dermir in Sachen Panguana weiterhelfen könnte, dafür laufen aberalle Sekretärinnen und Angestellten zusammen, und jedeEinzelne möchte mit mir zusammen fotografiert werden.Inzwischen ist es Zeit zum Mittagessen geworden, und gernefolgen wir dem Hinweis einer jungen Frau, die uns insRestaurant ihrer Mutter schickt.

Es wundert mich überhaupt nicht, dass ich diese Frautatsächlich von früher kenne, und zwar aus der Zeit vormeinem Unfall. Sie führte nämlich einst ein Hotel, dessenNamen ich mir gut merken konnte, es hieß »La Lámpara deAladino«, »Aladins Wunderlampe« – nach dem Ehemann derFrau, der Aladino hieß. Hier machte meine Mutter oft Station,und einige Male hatte ich sie begleitet. Die Wirtin strahlt überihr ganzes Gesicht, und natürlich erhalten wir nicht nur einausgezeichnetes Mittagessen, sondern sind bald in einangeregtes Gespräch verwickelt.

Wir sprechen, wie könnte es anders sein, von damals. Alsmeine Mutter hier übernachtete und angeblich eine Schlangeim Gepäck hatte – was ich für ein weiteres Gerücht halte, aberich widerspreche der Dame nicht. Natürlich kommen wir baldauf jenen Weihnachtstag, als während eines fürchterlichenSturms das Flugzeug über den Wäldern kreiste und schließlichverschwand. Einmal mehr höre ich zu, wie fremde Menschenmeine Geschichte erzählen, als wäre es die ihre.

Ich muss an den Satz von Werner Herzog denken: »IhreGeschichte gehört nicht mehr Ihnen allein. Sie gehört der

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Geschichte gehört nicht mehr Ihnen allein. Sie gehört derÖffentlichkeit.« Ob ich es will oder nicht – er hat ganzoffensichtlich recht.

Damals erwarb der »Stern« nicht nur die Film-, sondernauch die Buchrechte an meiner Geschichte. Um die ganzenFormalitäten kümmerte sich zum Glück meine Tante, die ja»vom Fach« war und der ich völlig vertraute. Es wurde auchtatsächlich ein Buch geschrieben, aber als ich das Manuskriptzu lesen bekam, war ich nicht besonders glücklich damit.Darum war es mir gar nicht unrecht, als ich erfuhr, dass sichkein Verlag fand, der das Buch veröffentlichen wollte. Ichhatte schon damals das Gefühl, dass dies eine Sache ist, dieman eigentlich selbst machen sollte oder in Zusammenarbeitmit jemandem, dem man vertraut.

Inzwischen haben sich wildfremde Menschen zu uns an denTisch gesetzt, die mit mir reden, als sei ich eine alte Bekannte.Noch immer ist es für die Menschen hier, wo die Suchaktionso viele Gemüter erregt hatte, so etwas wie ein göttlichesZeichen, dass ich damals als Einzige einfach so vom Himmelfiel und dabei heil blieb.

»Du weißt«, sagt eine Dame, nur wenig älter als ich, »dassdu hier in Puerto Inca ein Zuhause hast.«

Ich danke ihr. Und denke an unser Zuhause in Münchenund daran, wie lange es doch dauerte, bis ich nach meinererzwungenen Abreise aus Peru ein echtes, eigenes Heim fand.

Mein allererstes Zuhause war das Humboldt-Haus, und als esdas nicht mehr gab, Panguana. Ist es nicht merkwürdig, dassein paar Indianerhütten ohne Wände ein Zuhause sein

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ein paar Indianerhütten ohne Wände ein Zuhause seinkonnten? Aber dann wird mir klar, dass es auf den Ort nichtankommt: Zuhause war für mich, wo meine Eltern waren.Aber dann auf einmal war meine Mutter tot, und mein Vaterwollte mich, zumindest vorübergehend, nicht mehr um sichhaben und fand tausend Gründe, um mich fernzuhalten.

Statt nach Panguana fuhr ich also in jenen Sommerferien 1973zu meiner anderen Großmutter, der Mutter meiner Mutter,nach Sibichhausen am Starnberger See. Und hier lernte ichnach und nach die Großfamilie meiner Mutter kennen. Fürmich als Einzelkind war das etwas ganz Besonderes.

Meine Großmutter war ein liebenswerter, fröhlicher undäußerst geselliger Mensch. Sie hatte gerne Leute um sich, undsolange ihr Mann, ein angesehener Gynäkologe, noch lebte,war ihr Haus das Zentrum vieler geselliger Runden gewesen.Im Alter freute es sie ungemein, wenn im Sommer so vieleVerwandte und Freunde wie nur möglich das Haus mit Lebenerfüllten. Sie hatte eine Rauhaardackelhündin, Anka, die leiderkurze Zeit nachdem ich sie kennenlernte, starb. Aber meineTante Hilde, eine Schwester meiner Mutter, die Schauspielerinin Düsseldorf war, hatte ebenfalls einen Hund, der Amor hieß,und mit ihm machte ich gerne die Umgebung unsicher.

Das war auch etwas, was mir in Deutschland fehlte, dassich nämlich so wenig an die frische Luft kam. In Peru, vorallem im Urwald, war ich ständig draußen gewesen, unsereHäuser hatten ja nicht einmal Wände, alles fand unter freiemHimmel statt, und hier in Deutschland saß ich immer drinnen.Da ich so viel für die Schule tun musste, hatte ich auch wenigHobbys, trieb keinen Sport und bekam wenig Bewegung.

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Daher genoss ich es, mit Amor zu einem der Moorseen zugehen oder durch herrliche Schluchten zum Starnberger See zuwandern, Pilze oder Blaubeeren zu sammeln oder auf demReiterhof, der gleich hinter dem Haus war, ein wenigzuzuschauen. Einmal fanden wir besonders schöne Steinpilze,und da wurde meine Großmutter ganz still. Abends brachte siemir ein gerahmtes Bild. Es war ein hübsches Aquarell voneinem Steinpilz.

»Hier«, sagte sie, »das schenke ich dir. Denn das hat deineMutter gemacht, damals, ehe sie deinem Vater nach Perufolgte. Wir waren Pilze sammeln, gerade so wie du heute. Undabends sagte Maria: ›Mutti, diesen hier, den darfst du nochnicht zerschneiden, den muss ich erst noch zeichnen!‹«

Meine Großmutter hatte Tränen in den Augen und wandtesich schnell ab. Ich betrachtete die Studie. Sie war wirklichbesonders gut gelungen. Ein paar Tage nach meiner Ankunfthatten wir das Grab besucht. Aber erst jetzt, angesichts dieserZeichnung, begriff ich, wie sehr auch meine Großmutter unterdem Tod meiner Mutter litt.

»Dein Großvater war überhaupt nicht begeistert davon, sieganz alleine auf diese weite Reise zu lassen. Aber Maria sagte:›Diesem Mann folge ich überallhin. Wenn es sein muss, bis ansEnde der Welt.‹«

Meine Großmutter schwieg. In ihren Gedanken war sie weitweg, das konnte ich fühlen.

»Bis ans Ende der Welt…«, wiederholte sie leise. Danngab sie sich einen Ruck. Sie sah mich an, lächelte.

»Eigentlich hätte ich es gern gehabt, dass du hier bei mirwohnst«, fuhr sie fort. »Aber ich hab eingesehen, dass du es in

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Kiel viel einfacher hast. Von hier aus ist es ja eine Weltreisezum nächsten Gymnasium.«

Da kam meine Tante Hilde ins Zimmer und fragte fröhlich,ob wir nicht zusammen ein Pilzgericht kochen undGroßmutters Freundin von nebenan dazu einladen wollten.Und damit war der Zauber dieses Augenblicks gebrochen.

Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass ich nachSibichhausen fuhr, ich war gerne mit meiner Großmutterzusammen und genoss die herrlichen Wochen imVoralpenland. Bei Geburtstagsfesten oder anderenGelegenheiten lernte ich nun auch meine elf Cousins undCousinen kennen. Auch die Familie eines Onkels meinesVaters, die in Hannover und später in Lahr lebte, besuchte ichmit Vergnügen.

Ich fand es wunderbar, so viele Verwandte zu haben, undalle nahmen mich herzlich in ihrer Runde auf. Es gab für michso viel Neues zu erleben und entdecken, und ich verschobmeine Pläne, Panguana wiederzusehen, auf später.

So verging die Zeit. Am Tag lernte ich fleißig für mein Abiturund unternahm hin und wieder etwas mit meinen neuenSchulfreundinnen. Und in der Nacht träumte ich, ich sause mitirrsinniger Geschwindigkeit, wie mit einem Motor ausgestattet,in einem dunklen Raum immer an der Wand entlang. Oder voneinem tiefen, brausenden Geräusch, und ich weiß, es sind dieTurbinen und wir stürzen ins Bodenlose. Lange Zeit gehörtendiese Träume zu mir wie die Narben, die ich von dem Absturzzurückbehalten habe. Oft plagen mich Kopfschmerzen, dochich nehme es hin, was will ich mich beklagen, schließlich sindalle anderen tot, da werde ich doch das bisschen Kopfweh

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alle anderen tot, da werde ich doch das bisschen Kopfwehertragen können. Zu meinem Geburtstag schickte mein Vaterpräparierte Regenwaldschmetterlinge. Ein anderes Malschenkte er mir eine Fotokamera, eine Minolta, und ich freutemich riesig darüber. Wir schrieben uns, und beide beendetenwir die meisten unserer Briefe mit der Bitte: »Schreib mir baldwieder!«

Die beiden Jahre bis zu meinem Abitur vergingen schnell.Ich bestand es mit gutem Ergebnis. Mein Vater konnte stolzauf mich sein. Und als Belohnung kam er selbst. Zwei Jahreund sechs Tage nach meiner Abreise aus Peru sah ich meinenVater wieder…

Es ist Zeit, unser Glück erneut auf den Behörden zu versuchen.Wir werden wortreich verabschiedet, und nachdem wir einletztes Mal in die verschiedenen Fotokameras gelächelt haben,dürfen wir weiterziehen.

Und siehe da, wir haben Glück, wir können alle unsereAnliegen erledigen. Selbst den Nachbarn, der seine Rinder aufeinem der neuen Grundstücke weiden lässt, treffen wir inseinem Gemischtwarenladen an. Moro und er klären dieFrage, und dann können wir uns auf den Heimweg machen.

An diesem Abend schaffen wir es nicht vor Einbruch derDunkelheit zurück ins Dorf Yuyapichis. Unter einem Himmel,der so aussieht, als müsse man nur die Hand ausstrecken, umnach den Sternen zu greifen, setzen wir über den Río Pachiteaüber. Auf der anderen Seite unterhalb der Módena-Farmwartet der treue Chano auf uns. Ist es die Müdigkeit oder dererfolgreich verlaufene Tag, sind es die vielen Erinnerungenoder die Wärme der freundlichen Menschen – an diesem

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oder die Wärme der freundlichen Menschen – an diesemAbend fühle ich mich fast schwerelos, als ich hinter Moro überdie Weide schreite. Die vielen Male, die ich in derVergangenheit diesen Pfad entlangging, verschmelzen mit derGegenwart, mit der Zukunft. Denn ich weiß, ich werde nochunzählige Male nach Panguana zurückkehren. Jeder Schritt,den ich gehe, erscheint mir wie einer jener langwierigenSchritte, die es braucht, um das Erbe meiner Eltern zu erfüllen.Doch ich weiß auch, so wie ich immer wiederkomme, ganzegal, was geschieht, so wie am Ende des Wegs der Lupuna-Baum auf uns wartet und darunter die Hütten von Panguana,so werde ich es schaffen, diesen Ort ein für alle Mal zuschützen und für die nachfolgenden Generationen zu erhalten.

Ich frage mich, wie mein Vater sich wohl fühlte, als erdamals zum letzten Mal diesen Weg entlangging. War ererleichtert, diesen Ort, an dem er unbeschreiblich glücklichgewesen war und später unsagbar einsam und in seine Trauereingekapselt, endlich zu verlassen? Oder dachte er, er würdebald zurückkommen und nahm den Abschied nur als vorläufigwahr, viel zu sehr beschäftigt mit den Vorbereitungen derlangen Reise? Ich weiß es nicht. Und ich denke, wie seltsamund auch traurig es doch ist, dass ich nach jenem Aufenthalthier in Panguana, direkt nach meinem Unfall, nie wieder mitmeinem Vater gemeinsam hier gewesen bin.

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Am 12.April 1974 holte ich meinen Vater in Hamburg-Fuhlsbüttel am Flughafen ab. Wir waren nicht allein, undvielleicht fiel deshalb das Wiedersehen eher nüchtern aus.Meine Tante war natürlich dabei und die Freunde meinesVaters, die mich bereits zwei Jahre zuvor in Frankfurt inEmpfang genommen hatten.

Leider habe ich an dieses Wiedersehen keine besondersdetaillierten Erinnerungen. Ich weiß nur noch, dass ich mirgewünscht hatte, er solle mir doch bitte eine frische Avocadomitbringen und eine Mango. Mein Vater fuhr mit zurGroßmutter nach Kiel und übernachtete ein oder zwei Nächtebei uns, dann ging er nach Hamburg, wo er, der Vereinbarungbei seiner Habilitation gemäß, eine Stelle als Professor antrat.Dort wohnte er zunächst im Gästezimmer des Instituts, bis ersich recht bald ein kleines Reihenhaus etwas außerhalb vonHamburg kaufte.

Zunächst sagte er, seine Anwesenheit in Deutschland sei nurvorübergehend, und er wolle auf alle Fälle wieder nachPanguana zurückkehren. Später erfuhr ich von Kollegen amNaturhistorischen Museum in Lima, dass er sich vonniemandem dort verabschiedet hatte. Eines Tages war ereinfach weg, und ehe man richtig wusste, was los war, wurdeseine Stelle an der Universität mit einem jüngeren Kollegenbesetzt. Heute weiß ich, dass mein Vater schon damals an derUmwandlung von Panguana in ein Naturschutzgebiet arbeiteteund auch eine vielversprechende Aussage vom damaligenLandwirtschaftsministerium hatte. Bereits in diesen frühen70er-Jahren sollte Panguana auf rund zehn Quadratkilometer

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70er-Jahren sollte Panguana auf rund zehn Quadratkilometervergrößert werden. Doch dann stagnierte die ganze Sache,Gutachten wurden geschrieben und verschwanden in einerAkte, die nach und nach immer dicker wurde. VonDeutschland aus konnte mein Vater die Sache nicht wirklichvorantreiben, und so verlief alles im Sande.

Warum mein Vater nie wieder nach Peru zurückkehrte – ichweiß es nicht. Ich vermute, einmal in Deutschland, hatte er dieKraft nicht mehr dazu. Peru war das Land, in dem er mitmeiner Mutter glücklich gewesen war, ohne sie war es nichtmehr dasselbe. Und alles dort erinnerte ihn an sie. Zwar hatteer in einem Brief während meines ersten Jahres in Deutschlandvon Panguana aus geschrieben: »…und 1975 würde ich eineReise nach Peru, und zwar hauptsächlich nach Panguana,machen. Versprechen kann ich natürlich heute noch nichts,aber ich könnte mir denken, dass es schön wäre, wenn wirzusammen hierherkämen und auch zusammen wiederabreisten.«

Doch davon war später nie wieder die Rede, und ichdrängte ihn auch nicht dazu.

Dafür stand eine andere Reise ins Haus, und zwar einerichtige Weltreise. Vom 12. bis 19.August 1974 stand nämlichim australischen Canberra der 16.InternationaleOrnithologische Kongress auf dem Programm, der schonJahre vorher seine Schatten vorausgeworfen hatte. Denndieses für Vogelkundler so wichtige und traditionsreicheFachtreffen existiert seit 1884 und findet nur alle vier Jahrestatt. Heute vermute ich, dass wahrscheinlich ursprünglichmeine Mutter vorhatte, ihn zu besuchen, schließlich war sie dieOrnithologin in der Familie. Doch nach ihrem Tod war es

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Ornithologin in der Familie. Doch nach ihrem Tod war esirgendwie selbstverständlich, dass mein Vater nach Australienreisen würde – und ich sollte ihn begleiten. Mein Abitur in derTasche, voller Vorfreude und mit einer Riesenportion Reiselustim Herzen, brach ich also am 5.August 1974 gemeinsam mitmeinem Vater auf. Wir flogen über Frankfurt, Bombay undSingapur nach Sydney. Von hier ging es nach Canberra –natürlich nicht, ohne vorher ein paar Exkursionen an denmarinen Sandstrand und in die Umgebung von Sydney zumachen. Vor allem besuchten wir, wie an allen Orten, die wirbereisten, den Zoologischen und den Botanischen Garten.

Canberra war für mich ein eindrucksvolles Erlebnis, undnicht nur wegen des Kongresses, bei dem ich begeistertVeranstaltungen besuchte und viele ausländische Kollegenmeiner Mutter kennenlernte, sondern auch wegen derspannenden, architektonisch interessanten Stadt und derherrlichen Umgebung. Mein Vater hielt auf dem Kongresseinen Vortrag über die Vogelstimmen des peruanischenRegenwalds. Auch sonst war diese ganze Reise kein Urlaubfür ihn, sondern diente einem genauen Plan für seineForschungsarbeiten. Darum fuhren wir später weiter dieOstküste entlang Richtung Norden, ließen uns zum Beispiel aufHinchinbrook Island, einer dem Ort Cardwell vorgelagerten,bewaldeten und unbewohnten Insel, absetzen, wo wir fünfTage lang zelteten und Vogelstimmen aufnahmen. Denn meinVater hatte das damals topmoderne, aber heute natürlichextrem altmodische und sperrige Tonbandgerät Nagra III samtReflektor in seinem Gepäck, das ihm einst von der Thyssen-Stiftung zur Verfügung gestellt worden war und mit dem er undmeine Mutter auch in Peru ihr Vogelstimmenarchiv angelegt

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meine Mutter auch in Peru ihr Vogelstimmenarchiv angelegthatten. Nur so, fand mein Vater, mit demselben Gerätaufgenommen, ließen sich die Aufnahmen wirklich vergleichen.Denn genau das wollte er: Systematisch suchten wir imNordosten Australiens, in Neuguinea und auf verschiedenenInseln von Hawaii Regenwälder auf, die gewisse Ähnlichkeitenmit dem von Panguana hatten, um Parallelen in derVogelstimmenwelt zu finden oder auszuschließen. Mein Vater,der ja immer schon das große Ganze im Auge hatte, wolltenicht Gefahr laufen, als Wissenschaftler ausschließlich aufPanguana und die dort anzutreffende Form des Regenwaldsfestgelegt zu werden.

Hinchinbrook Island ist mir in denkwürdiger Erinnerunggeblieben, denn der freundliche Herr aus Cardwell, der unsereAusrüstung und Verpflegung für den Inselaufenthaltzusammenstellte, vergaß das Besteck. So schnitzten wir unsmit unseren Taschenmessern aus dem Bast der zahlreichenherumliegenden Kokosnüsse primitive Löffel. Mein Vater wareben schon immer ein Meister im Improvisieren. Außerdemsetzte ich mich gleich am ersten Tag auf meine Brille undzerbrach ein Glas. Zu allem Überfluss regnete es in Strömen,unser Zelt war nicht dicht, und die Mücken liebten uns.

Insgesamt verbrachten wir einen Monat in Australien,reisten weiter nach Neuguinea, sammelten dort vier Wochenlang unermüdlich Vogelstimmen und andere Daten, bis es überdie Fidschi-Inseln weiterging nach Hawaii. Weil wir dieZeitgrenze von West nach Ost überschritten, erlebten wirdiesen Reisetag gleich zweimal.

Hier, auf der wunderschönen Insel Kauai, verbrachte ichmeinen 20.Geburtstag. Mein Vater überraschte mich mit

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meinen 20.Geburtstag. Mein Vater überraschte mich miteinem liebevoll arrangierten Gabentisch, dekoriert mit Blütenund Kerzen. Er muss sich nachts, als ich schon schlief, ausunserem gemeinsamen Zimmer geschlichen haben, um dasalles zu besorgen. Es wurde ein ganz besonderer Geburtstag,den ich nie vergessen werde. Mit einem Taxi fuhren wir rundum die Insel, um uns einen Überblick zu verschaffen, unddurchwanderten dann ein subtropisches Waldgebiet. Es warschön, zu zweit unterwegs zu sein, wir hatten dieselbenInteressen, und vielleicht fühlte sich mein Vater in diesenWochen ein bisschen so wie früher, als er mit meiner Mutterunterwegs gewesen war.

Diese so intensiv gemeinsam verlebte Zeit brachte unseinander wieder nahe. Auf einer Reise zeigt es sich, ob manmiteinander auskommt oder nicht, und wir verstanden unsprächtig.

Als wir Mitte Oktober in Frankfurt landeten, stand ich wiedereinmal vor einem neuen Lebensabschnitt, meinem Studium.Obwohl ich im Jahr zuvor noch geschwankt hatte, ob ich stattBiologie nicht vielleicht doch Germanistik und Kunst studierensollte, hatte ich mich dazu entschlossen, bei dem zu bleiben,was bereits von Kindesbeinen an mein Wunsch gewesen war:dass ich Zoologin werden würde, so wie meine Eltern. MeinVater war sehr glücklich darüber. Er hoffte, dass ich seineArbeit und die meiner Mutter fortführen würde. Undtatsächlich sehnte ich mich nach nichts mehr, als endlich wiedernach Panguana zurückzukehren. Meine Liebe zu allemLebendigen, meine Neugier und mein Staunen angesichts derunendlichen Vielfalt der Natur, das hatte ich während unserer

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unendlichen Vielfalt der Natur, das hatte ich während unsererReise wieder deutlich gespürt, waren immer noch genausostark wie damals, als ich noch ein Kind war und mit meinenEltern die Geheimnisse der Wälder erkundete. Ich hatte michgut in Deutschland eingelebt, doch als ich mit meinem Studiumbegann, war es für mich eine ausgemachte Sache, dass icheines Tages wieder nach Peru zurückkehren und dort auchleben würde.

Die erste Gelegenheit dazu bot sich 1977, als ich meineDiplomarbeit in Angriff nehmen musste. Ich brauchte einThema, etwas, was noch nicht untersucht worden war. Washätte sich mehr angeboten als eines, das ich in Panguanabearbeiten konnte?

Natürlich sprach ich mit meinem Vater darüber, der sichüber mein Interesse freute. Die Erforschung des Lebens inPanguana lag ihm immer noch sehr am Herzen. Meine Mutterund er waren damals aufgebrochen mit dem Plan, einensystematischen und ökologischen Überblick und ein möglichstvollständiges Arteninventar zu erarbeiten. So viele Jahre späterwar das nun erst zu einem kleinen Teil gelungen, so vielfältig istdas Leben in diesem Stück Regenwald. Unter anderemerwähnte er, dass es über die Tarnfärbungen der aas- undkotfressenden Tagschmetterlinge noch keine wissenschaftlicheUntersuchung gäbe, wohl aber Veröffentlichungen über diewarnfarbigen Falter. Und da dachte ich: Ja, das könnte dochetwas für mich sein. Mein Vater und andere Forscher hattenbereits eine Menge Schmetterlinge in Panguana gesammelt,also musste ich nicht bei null beginnen. Außerdem sind dieseTiere relativ leicht zu beobachten und anzulocken, sodass ichdas Thema im Rahmen einer Diplomarbeit bewältigen konnte.

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das Thema im Rahmen einer Diplomarbeit bewältigen konnte.Und auf diese Weise wurde ein weiterer Teil der Faunaunserer Station erforscht und erschlossen.

Für mich war es die erste und sehr willkommeneGelegenheit, endlich wieder nach Panguana zurückzukehren.Ich reiste nicht allein, sondern brach Anfang August 1977 mitvier weiteren Studenten auf, und wir formten ein buntesTrüppchen: Es begleiteten mich eine Diplomandin meinesVaters mit ihrem Mann, die sich beide sehr für Reptilien undAmphibien interessierten. Außerdem kam noch ein Doktorandmeines Vaters mit, Andreas, der heute im NaturkundemuseumStuttgart als Herpetologe arbeitet, also als Fachmann fürAmphibien und Reptilien. Er promovierte über die Frosch-Artengemeinschaft eines Waldtümpels in Panguana und bliebetwa ein Jahr dort. Und schließlich begleitete uns eine weitereStudentin, die das Leben im Amazonas-Regenwaldkennenlernen und außerdem Andreas Gesellschaft leistenwollte.

Als wir in Lima ankamen, erwarteten mich schon wiedereine Menge Journalisten. Ich konnte es kaum glauben,immerhin war ich über fünf Jahre fort gewesen und hattegehofft, man hätte mich in Peru längst vergessen. Ständigwurde ich um Interviews gebeten, und das ging mir damalsganz schön auf die Nerven. Darum war ich froh, als meineBegleiter und ich Richtung Urwald aufbrachen, wo ich in Ruhemeiner Arbeit nachgehen konnte.

Wie sehr freute ich mich, Panguana wiederzusehen. Damalskonnten wir noch das alte Haupthaus, in dem ich mit meinenEltern gelebt hatte, bewohnen, das heute leider nicht mehrexistiert. Es war umgeben von einer Arbeits- und einer

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existiert. Es war umgeben von einer Arbeits- und einerKüchenhütte, und etwas weiter entfernt gab es noch einGästehaus. Dieses hatte zwar keine Wände, grenzte auf einerSeite aber direkt an den Urwald an, und hier, wo man vorWind und Wetter ganz gut geschützt war, übernachteten wir –auf dem Fußboden natürlich. Es war also genügend Platz füruns alle. Moro und seine Familie wohnten damals nochflussabwärts auf der anderen Seite des Yuyapichis auf seinerFarm »La Ponderosa« – »fundo« nennt man im amazonischenPeru die Viehzuchten. Erst später baute er das Haus auf demPanguana-Gelände direkt gegenüber den heutigenGästehäusern.

Insgesamt verbrachte ich drei Monate in Peru, davon einenin Panguana. Dort fing und fotografierte ich zahlreicheSchmetterlinge, die ich mit verschiedenen Ködern anlockte. Esgab zu der Zeit eine Menge wilder Ratten und Mäuse in derNähe der Häuser und am Waldrand, vor allem Stachelratten.Moro half mir, sie zu fangen, und wenn geschlachtet wurde,erhielt ich auch anderes Fleisch. Diese oft faustgroßen Stückelegte ich aus, um die Schmetterlinge anzulocken. Amattraktivsten wurden die Köder für die Falter, wenn sieanfingen zu faulen, vor allem für die prächtigen Morphos unddie geheimnisvollen, handtellergroßen Eulenschmetterlinge mitihrer schönen Augenzeichnung auf der Unterseite der Flügel.Manche Arten mochten auch gärende Früchte und Fruchtsäfteoder Kot. Die schönsten Arten sah und fing ich auf unsererToilette, einem richtigen Donnerbalken. Dort wurde ich einesNachts leider von einer der Riesenameisen, einer vierZentimeter langen Izula, in den Oberschenkel gestochen. Soein Stich ist äußerst schmerzhaft, und man spürt die

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ein Stich ist äußerst schmerzhaft, und man spürt dieEinstichstelle mehrere Tage lang. Daher heißt die Art auch»24 horas« – »24 Stunden« –, denn so lange leidet man ganzbestimmt.

In der ersten Zeit verschwanden meine Fleischköder aufwundersame Weise, und ich fand heraus, dass sie vonSchildkröten, Gürteltieren und anderen Tieren gefressenwurden. Für Schildkröten ist verwesendes Fleisch nämlich einwahrer Leckerbissen. Was konnte ich dagegen tun? Ichwickelte die Fleischstücke in Maschendraht ein und band siean einen Baum oder Pfosten. Auf diese Weise hörten zwar dieFestgelage der Schildkröten auf, aber dafür konnte ich»meine« Schmetterlinge besser beobachten. Am Flussufer fandich damals ganze Wolken herrlicher, farbenprächtiger gelber,weißer und orangefarbener Schmetterlinge, die an Tapirkotund -urin oder an den Ausscheidungen von Brillenkaimanensaßen – jedes Mal ein wunderschöner Anblick.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie die Diplomandinmeines Vaters und ich im Wald eines Tages von Massenwinziger Zecken überfallen wurden. Wir hatten ein Gebüschgestreift, auf dem diese Biester saßen, und sieüberschwemmten uns geradezu. Da half alles nichts. Wirstürzten nach Hause, rissen uns die Kleider vom Leib undsammelten uns gegenseitig die winzig kleinen Plagegeister mitPinzetten ab, die wir danach in eine Kerzenflamme tauchten,um die Zecken zu verbrennen.

Einmal erwischten die Diplomandin und ihr Mann einWaldkrokodil, das sie unbedingt fotografieren wollte. Dabeistörten sie aber die Hände ihres Mannes, die das Krokodilfesthielten, die sollten nicht mit aufs Bild. Da ließ ihr Mann die

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festhielten, die sollten nicht mit aufs Bild. Da ließ ihr Mann dieSchnauze und den Schwanz des etwa 80 Zentimeter langenTieres los und hielt es nur an den Beinen fest. Natürlich biss esihn tief in den Arm, zum Glück entzündete sich die Wundenicht.

Damals gab es viele Schlangen um die Häuser vonPanguana, und einmal wurde einer der Nachbarn von einerLanzenotter gebissen. Die Diplomandin verpasste ihm einegroße Ladung Schlangenserum, sodass es eine riesige Beulegab. Vermutlich wäre dies gar nicht nötig gewesen, aber sicherist sicher. Man sollte allerdings mit dem Serum vorsichtigumgehen, denn es kann zum anaphylaktischen Schock führen,falls man dagegen allergisch ist – und auch der kann tödlichenden.

Yuyapichis war in jenen Jahren noch gar kein richtiges Dorf,sondern eher eine Ansammlung von Hütten am Hochufer desRío Pachitea, und unter der Woche war dort ab derDämmerung »tote Hose« angesagt. Aber an den Samstagengab es Fiesta mit Tanz und Essen, und da gingen wir gerne hin.Es war eine lustige Zeit, die leider zu schnell verging. WirMädels fielen als »Gringas« natürlich auf und wurden im Dorfvon den Männern nur so umschwärmt.

War ich in Lima, dann wohnte ich bei den Eltern meinerFreundin Edith. Sie hatten im Garten einen kleineneinstöckigen Anbau, in dem mir ein Zimmer mit Bad immer zurVerfügung stand. Das war natürlich sehr angenehm. In Limawar ich während dieses Peru-Besuchs auch zu einerbesonderen Veranstaltung eingeladen, und zwar zu einerZeremonie der Universität Ricardo Palma. Man hatte das

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Zeremonie der Universität Ricardo Palma. Man hatte dasAbschluss-Semester der Biologiestudenten nach meinerMutter »Promoción 76B Maria Koepcke« genannt, und ichwar dort als Ehrengast geladen, was natürlich wieder einmaldurch die Presse ging. Immer noch wurde ich ständig umInterviews gebeten, und mein Aufenthalt in Peru wurde in derZeitung aufmerksam verfolgt und kommentiert. Vor allem,wenn ich auf meiner Reise zwischen Lima und Panguana durchPucallpa kam, wurde ich von meiner Vergangenheit eingeholt.Der Leiter des örtlichen Radiosenders war mit meinen Elternbefreundet gewesen, und so konnte ich es ihm nichtabschlagen, immer wieder Grußworte und Ähnliches für eineSendung zu sprechen.

Bei diesen Gelegenheiten besuchte ich gerne jenefreundlichen Missionare in Yarinacocha, in deren Häusern ichmich nach meiner Rettung erholen durfte. Einmal hatte ichdabei ein denkwürdiges Erlebnis.

Ich wurde von einer der Linguisten-Familien privat in ihrHaus eingeladen. Es war ein wirklich netter Abend, und ichfühlte mich erneut sehr geborgen bei diesen Menschen. EineDame, die ich vom Sehen her kannte wie viele andere dortauch, fiel mir dadurch auf, dass sie mich wiederholt fragte:»Geht es dir gut, Juliane? Ich meine: wirklich gut?«

»Aber ja«, sagte ich, nach einer Weile dann doch einbisschen irritiert, »ja, mir geht es gut!« Wieso, fragte ich mich,insistierte diese Frau derart auf dieser Frage?

Als es Zeit war aufzubrechen, fuhr sie mich in mein Hotel.Beim Abschied drückte sie mir einen Brief in die Hand.

»Bitte lies das erst nachher, wenn du auf deinem Zimmerbist«, sagte sie. »Und fühle dich nicht verpflichtet zu

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bist«, sagte sie. »Und fühle dich nicht verpflichtet zuantworten.«

Natürlich war ich überrascht. Ich konnte mir nicht denken,was mir diese Frau zu schreiben hatte. Aber so, wie ich es ihrversprochen hatte, las ich den Brief noch am selben Abend.

Sie war die Mutter eines der Jungen, die an jenem24.Dezember 1971 direkt vor uns in der Reihe beimEinchecken für die LANSA-Maschine gestanden hatten, mitdenen ich gescherzt und gelacht hatte. Und der, wie alleanderen auch, ums Leben kam. Sie schrieb, dass sie lange mitihrem Gott gehadert habe, warum ich überleben durfte und ihrSohn nicht. Diese Frage hatte sie, die ja ihr Leben wie alleanderen von der Missionsgemeinschaft in Yarinacocha derVerbreitung des Christentums gewidmet hatte, in eine tiefeKrise gestürzt. Bis sie schließlich ihren Frieden mit diesemSchicksal gemacht hatte.

In jener Nacht konnte ich lange nicht schlafen. MeineGeschichte hatte mich nach all den Jahren in Kiel wiedereingeholt. Warum musste er sterben und ich nicht? Warummusste meine Mutter sterben, und ich durfte leben? AmNaturhistorischen Museum hatte eine frühere Kollegin meinerMutter, die eng mit ihr befreundet gewesen war, erst neulichmit Tränen in den Augen zu mir gesagt: »Damals, als wir dieNachricht vom Absturz hörten, da sagten wir alle: ›Wenn daseine überlebt, dann ist es die Doctora. Denn die weiß genau,wie man sich im Urwald zu verhalten hat.‹ Tja. Und dann wares die Tochter.« Ich weiß, es war wirklich nicht böse gemeint,aber ihre Tränen und dieses so resigniert klingende »tja«, dasalles weckte in mir jenes Gefühl, das ich auch damalsgegenüber meinem Vater gehabt hatte. Nämlich dass da

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gegenüber meinem Vater gehabt hatte. Nämlich dass dairgendeine Verwechslung stattgefunden hatte. Das Gefühl, dassdie Falsche umgekommen war. Eigentlich hätte meine Mutterdie Katastrophe überleben müssen. Oder jener Junge. Abernicht ausgerechnet ich.

Damals war ich 23 Jahre alt. Das Unglück lag sechs Jahrezurück. Ich war überglücklich, zurückgekehrt zu sein. Dochzum ersten Mal dachte ich darüber nach, ob mein Vater nichtvielleicht doch recht gehabt hatte, als er mich nachDeutschland schickte. Dort hatte ich einen gewissen Abstandzu jener Katastrophe bekommen. Hier erinnerte man mich aufSchritt und Tritt aufs Neue daran. Dennoch würde ich immerwieder zurückkommen, mein Leben lang. Tief in meinemHerzen wusste ich das damals schon.

Wieder zurück in Kiel machte ich mich an die Auswertungmeiner Untersuchungen. Meine Diplomarbeit bereitete mirgroßen Spaß, und ich beendete erfolgreich mein Studium. Esstand außer Frage, dass ich auch promovieren wollte – eineweitere gute Gelegenheit, Zeit in Panguana zu verbringen. Ichwusste zwar noch nicht, worüber ich dieses Mal arbeitenwollte, aber ein besseres Forschungsgebiet als Panguana gabes für mich nicht. Trotz allem, was damit auch an traurigenErinnerungen verbunden war, zog es mich einfach immerwieder dorthin.

Ich war übrigens nicht die Einzige, die die Forschungsstationmeiner Eltern am Ufer des Yuyapichis in diesen Jahrenbereiste. Mein Vater schickte immer wieder Diplomanden undDoktoranden in unsere Urwaldstation mit Themen, die sie dortbearbeiten konnten. Wie in früheren Zeiten reisten auch andere

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Forscher mit dem Einverständnis meines Vaters dorthin, umbegonnene Studien zu vervollständigen oder neue anzufangen.Moro war derjenige, der sich vor Ort um die Besucherkümmerte, wenn das notwendig wurde. So dirigierte meinVater aus der Ferne weiterhin die Geschicke diesesFleckchens Erde, während er in Hamburg Fuß fasste und, zualler Erstaunen, von dort nicht mehr wegging. Zwar unternahmer natürlich weiterhin zahlreiche Exkursionen. Meistens hüteteich dann sein Hamburger Reihenhäuschen. Nach Peru aberfuhr er nie wieder.

Ich dagegen freute mich schon darauf, wieder dorthin zudürfen. Bereits im Jahr nach dem Abschluss meinerDiplomarbeit mit dem Titel »Artspezifische Muster derTarnfärbung aas- und kotfressender Tagschmetterlinge imtropischen Regenwald von Peru« reiste ich mit ein paarFreunden vier Monate lang durch das Land, in dem ichgeboren worden war, und erlebte einige Abenteuer.Besonders aufregend gestaltete sich eine Fahrt über dieAnden. In einer einsamen Gegend kam uns ein Unimogentgegen. Einer der Insassen hatte sich ein Taschentuch umden Kopf gebunden. Wir hielten an, und da sah ich, dass dasTuch blutgetränkt war. Sie erzählten, dass sie Deutsche seienund in der Nacht überfallen worden waren. Das hatte in derNähe einer der Kupfer-, Silber- oder Wismut- und Wolfram-Minen stattgefunden, als mitten in der Nacht jemand ans Autoklopfte. Natürlich machten die Reisenden erst mal lieber nichtauf, und da trommelte auch schon eine Maschinengewehrsalveauf den Wagen ein. Eine Kugel traf den Mann und durchschlugglatt den Hals, ohne eine Vene oder die Kehle zerfetzt zu

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glatt den Hals, ohne eine Vene oder die Kehle zerfetzt zuhaben, aber das Blut floss dennoch in Strömen. Trotz derVerletzung hechtete der Mann sofort ans Steuer und fuhr unterweiterem Beschuss davon.

Wer die Angreifer gewesen waren, wir wussten es damalsnicht. Erst später, als die terroristische Bewegung um AbimaelGuzmán Reynoso, genannt »Sendero Luminoso« –»Leuchtender Pfad« –, mehr um sich griff und Peru für Jahre inein Land verwandeln sollte, in das man besser nicht mehrreiste, konnte ich diese Begebenheit in einen größerenZusammenhang stellen. Damals standen wir vor dem Problem,dass wir genau durch dieses Gebiet, in dem der Angriffstattgefunden hatte, erst noch hindurchmussten. Ich kann michgut erinnern, wie angespannt wir alle waren, denn wir fuhrenüber Tingo María nach Pucallpa, eine Strecke, die besondersgefährlich war, und kamen dann auch noch in die Nacht. DerFahrer meinte: »Wenn jetzt das Auto verreckt, dann gnade unsGott.« Damals wurde dringend davon abgeraten, mit demWagen jene unzugänglichen Gegenden zu passieren, schon garnicht bei Nacht. Zum Glück tat uns unser Gefährt den Gefallendurchzuhalten, und wir kamen glücklich, ohne eine dergefürchteten Begegnungen, über diese gefahrvolle Strecke.

Es war eine unheilvolle Zeit, damals in Peru. Im Jahr derWahlen nach dem Ende der Militärdiktatur erklärte AbimaelGuzmán 1980 dem Staat den bewaffneten Krieg. Im Frühjahrverbrannten seine Anhänger die Wahlurnen in einem kleinenDorf in der Nähe von Ayacucho, wo die Bewegung ihrenAusgang hatte. Es folgten Überfälle auf Polizeistationen undDörfer. Schließlich rief die Regierung Ende 1982 in derProvinz Ayacucho den Ausnahmezustand aus und verlegte

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Provinz Ayacucho den Ausnahmezustand aus und verlegteMilitäreinheiten in das Gebiet. Die Grausamkeiten derAktionen, die nun folgen sollten, waren selbst in Lateinamerikavon bis dahin unbekannter Radikalität. Der Führer derBewegung, der sich Presidente Gonzalo oder »Das vierteSchwert der Weltrevolution« nennen ließ, verlangte absoluteUnterwerfung. Er und seine Anhänger nahmen keinerleiRücksicht, weder auf die indigenen Traditionen noch aufirgendwelche Eigentums- oder Menschenrechte. Waren dieBauern nicht bereit, die Bewegung zu unterstützen, dann gabes blutige Rachefeldzüge. Auf diese Weise zur Unterstützunggezwungen, hatten die Bauern zudem unter Strafmaßnahmenvon Seiten des Militärs zu leiden, ein Kreislauf, der viele Jahrelang anhalten sollte.

Von all dem erlebten wir auf unserer Reise nur einenentfernten Widerhall, denn die Bewegung breitete sichzunächst nur langsam über das gesamte Land aus, dafür aberstetig. Überfälle hatte es auf abgelegenen Strecken immerschon gegeben, auch meine Eltern hatten während einer Reisein den späten 50er-Jahren, ich war damals gerade mal dreiJahre alt und in der Obhut von Tante und Großmutter in Limazurückgeblieben, eine fast tödliche Begegnung gehabt. Diesewar allerdings nicht politisch bedingt, sondern einem weitverbreiteten Aberglauben der Andenbewohner geschuldet.Meine Eltern waren damals allein mit Rucksäcken in denAnden unterwegs und schlugen ihr Zelt an einsamen Plätzenauf, was in der Regel nie ein Problem darstellte. Bis sie einesTages in ein Dorf kamen, in dem niemand Spanisch zusprechen schien und offenbar noch nie zuvor ein Europäerdurchgekommen war. Es waren nur Frauen im Dorf, die

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durchgekommen war. Es waren nur Frauen im Dorf, dieMänner arbeiteten auf den Feldern. Und diese Frauen hieltenmeine Eltern für Pishtacos. Das sind nach dem Volksglaubenübernatürliche, böse Geister, die in Menschengestaltdaherkommen, blonde Haare haben und einen Rucksack aufdem Rücken tragen. Sie kommen, um die Menschen beiNacht heimlich zu töten und ihnen das Körperfett abzusaugen.Jene Frauen in dem einsamen Dorf dachten voller Angst,meine Eltern seien solche Wesen. Sie ließen sich nichtsanmerken und baten die unwillkommenen Gäste in dasSchulhaus, wo sie sie einschlossen. Als abends die Männerheimkamen, erschienen sie mit Hacken und Macheten, ummeine Eltern zu töten.

Zum Glück gab es in dem Dorf aber auch eine Lehrerin, diein Lima studiert hatte und sehr wohl wusste, dass meine Elternkeinesfalls Pishtacos waren und auch sonst nichts Böses imSchilde führten. Mit Müh und Not konnte sie die Bewohnerdavon überzeugen, dass man sie am Leben ließ. Sie durften imSchulhaus übernachten und am nächsten Morgen unter denargwöhnischen Augen der Menschen das Dorf schleunigstwieder verlassen.

Es ist noch nicht lange her, da gestand mir Moro, dassmanche der Leute in der Umgebung von Panguana bis vorKurzem noch glaubten, wir und unsere Forschergäste seienauch Pishtacos. Um diesem Irrglauben ein für alle Mal einEnde zu bereiten, schlug er mir vor, eine Sendung für denlokalen Radiosender »La Voz del Pachitea« zu gestalten, inder wir genau erklären sollten, was Panguana ist, und welcheZiele wir verfolgen. Ich verfasste also einen Text, der im Radioüber mehrere Wochen immer wieder verlesen wurde, und das

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über mehrere Wochen immer wieder verlesen wurde, und dasbrachte sehr viel Verständnis für unsere Sache. Inzwischenwissen in der Umgebung alle sehr gut Bescheid über unsereArbeit, und Moro, der in jungen Jahren ebenfalls skeptischgewesen war und den Wald mehr als Lieferant vonRessourcen sah, ist heute der beste Anwalt für die Erhaltungdes Regenwalds. Aus den umliegenden Dörfern kommenregelmäßig Schulklassen zu Besuch, die Moro mitansteckender Begeisterung durch den Wald führt, wo erKindern wie Erwachsenen die Besonderheiten der Flora undFauna erklärt – und wie wichtig es für sie und ihr Land ist, siezu erhalten.

Als ich im November 1980 nach Kiel zurückkehrte, empfingmich eine traurige Nachricht: Meine Großmutter, bei der ichgemeinsam mit meiner Tante so lange gelebt hatte, wargestorben. Wir beerdigten sie einen Tag nach meinerRückkehr.

Es dauerte nicht lange, und ich plante bereits einen weiteren,diesmal mehr als ein Jahr währenden Aufenthalt in Panguana.Ich brauchte nur noch ein geeignetes Thema für meineDoktorarbeit, eines, das es mir erlauben würde, wieder nachPanguana zurückzukehren, und das so spannend war, dass ichFreude daran haben würde, mich einige Jahre meines Lebensdamit zu beschäftigen.

Und da kam mein Vater mit einem Vorschlag, der michvöllig überraschte…

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»Was?«, fragte ich entrüstet, »Fledermäuse? Das ist nicht deinErnst!«

Über Säugetiere oder Vögel wollte ich schon immerarbeiten, doch auf keinen Fall über Fledermäuse, denn dieseNachtgeister fand ich ziemlich hässlich. Was an ihnen solltereizvoll sein?

»Unterschätze mir die Fledermäuse nicht«, gab mein Vaterzurück und schmunzelte ein wenig. »Das sind faszinierendeTiere, möglicherweise sogar die interessantesten Säugetiereüberhaupt. Und in Panguana gibt es sie in Hülle und Fülle.«

Ich verdrehte die Augen. Zu gut konnte ich mich an dieFledermäuse in Panguana erinnern. Mich schauderte, wenn ichallein an die Vampirfledermäuse dachte, die an den Rindernnachts Blut tranken. Sogar mich hatte eine mal während desSchlafens in die große Zehe gebissen, und ich hatte das garnicht lustig gefunden.

»Na ja«, räumte mein Vater ein, »sie gehören sicher nicht zuden niedlichsten Tieren. Aber bedenke doch: Du wärst dieErste, die in Panguana über sie eine Arbeit schreibt. Und wasfür eine spannende Lebensform das doch ist: Sie sindSäugetiere und fliegen, sie sind nachtaktiv und orientieren sichper Echoortung, und ihre Verhaltensmuster und Ökologie sindauch etwas ganz Besonderes. Denk doch einfach darübernach.«

Das tat ich. Und je länger ich darüber nachdachte, destoüberzeugender fand ich die Argumente meines Vaters.Besonders die Vielfalt ihrer Ernährungsweisen und ihrerSchlafplatzwahl war im amazonischen Peru noch überhaupt

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Schlafplatzwahl war im amazonischen Peru noch überhauptnicht erforscht, schon gar nicht in Panguana. Dafür konnte mansie im Vergleich zu anderen Säugetieren relativ leicht mitNetzen fangen oder an ihren Schlafplätzen beobachten.

Also betrat ich Neuland und habe es nie bereut. Es gab nurwenige Arbeiten, die ich zum Vergleich heranziehen konnte,und die stammten aus weit entfernten Gebieten derNachbarländer Perus. Wer aber in Deutschland konnte einesolche Doktorarbeit adäquat betreuen?

Es gab in München einen Professor, einenSüdamerikaspezialisten, der mir von allen Seiten empfohlenwurde: Prof. Ernst Josef Fittkau. Also fuhr ich hin und stellteihm mein Arbeitsvorhaben vor, und er nahm mich alsDoktorandin an. Die nächsten Jahre meines Lebens waren nunvorgezeichnet: Ich würde für mindestens ein Jahr nachPanguana gehen und mich den nächtlichen Flattergeisternwidmen, danach in München meine Dissertation schreiben.

So kam es, dass ich fast neun Jahre nach meiner Ankunft inKiel meine Zelte bei der Tante abbrach, meine Sachen inKisten verpackte und vorläufig unterstellte. Denn nach meinerRückkehr aus Peru wollte ich direkt nach München umziehen.Als ich im August 1981 im Flugzeug nach Lima saß, fühlte icheine große Aufbruchstimmung. Abitur und Studium hatte ichabgeschlossen. Jetzt würde ich promovieren, und danach warich frei, zu entscheiden, was ich aus meinem Leben machenund wo ich leben wollte.

Die ersten Wochen in Panguana hatte ich übrigensGesellschaft. Michael, damals Assistent an der Universität inKiel, forschte über Minierfliegen und reiste bereits einenMonat früher nach Peru, um Land und Leute kennenzulernen.

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Monat früher nach Peru, um Land und Leute kennenzulernen.Leider gehörte Michael zu den Menschen, die das Unglückoffenbar unwiderstehlich anziehen. Während seiner Reisedurch Peru wurde er dreimal bestohlen, ein Bus erlitt einenAchsbruch, und während er in einer Indiohütte in denHochanden übernachtete, wurde er doch tatsächlich von einerRatte vollgepinkelt. Außerdem bekam er die Ruhr und damitfürchterliche Durchfälle und nahm mindestens 15 Kilo ab. Alsich Michael in Lima traf, erkannte ich ihn kaum wieder: Er warschrecklich abgemagert und hatte sich einen Vollbart wachsenlassen. Während ich mit dem Flugzeug nach Yuyapichis flog,fuhr er ein paar Tage vorher mit dem Boot von Pucallpa abund nahm unser Gepäck und ein Petroleumfass für unserenneuen Kühlschrank mit, bei dessen Anschaffung er mich fast inden Wahnsinn getrieben hätte. Denn es musste absolut dichtsein, was in Peru eine ungeheure Anforderung ist. Doch mitviel Geduld hatte er tatsächlich das »perfekte Fass« gefundenund war sehr glücklich – und ich natürlich auch.

Vor der Abreise kaufte er außerdem acht riesigeWassermelonen ein. Ich lächelte darüber, weil ich dies für diezwei Tage Bootsfahrt reichlich übertrieben fand. Auf einemsolchen Boot war nicht unendlich viel Platz, man musste essich irgendwie auf der Ladung bequem machen, die ausKartons, Fässern, Kisten und möglicherweise ausverschiedenen Maschinen bestand, und das war meist einunbequemes Unterfangen. Zu Essen gab es allerdings nichts.Michaels Boot hatte einen Tag nach der Abfahrt einenMotorschaden, und er durfte mit den anderen Passagierenmehrere Tage am Ufer des Río Pachitea verbringen, bis dasBoot wieder flottgemacht werden konnte. Da kamen die

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Boot wieder flottgemacht werden konnte. Da kamen dieMelonen natürlich wie gerufen, und auch seine Mitreisendenprofitierten von Michaels Vorsorge.

In Panguana fiel er einmal einen Abhang hinunter, und einanderes Mal bekam er eine gewaltige Ladung Vogelkot aufsHaupt. Da untersuchte er gerade besonders interessanteFliegen auf einem großen Klecks und bedachte nicht, dassdessen Verursacher in der Nähe war, nämlich direkt überihm– ein Kahnschnabel, ein großer Reiher. Dies alles war zumGlück nicht weiter schlimm, nur eine lustige Häufung anMissgeschicken, und wir haben viel miteinander gelacht.Michael buk übrigens ein ausgezeichnetes Brot in einemKochtopf in der Asche unserer Feuerstelle, und er war, wiealle anderen auch, begeistert von der ungeheuren Artenvielfaltin Panguana, besonders auch bei den Halmfliegen, auf die ersich spezialisiert hatte. Leider reiste er bald wieder ab. Und ichwidmete mich ganz meinen Fledermäusen. Das hieß, ichmusste meinen Rhythmus an den ihren anpassen. Tagsübersuchte ich nach ihren Schlafquartieren, kletterte in hohleBäume oder unter Uferböschungen, und Nacht für Nacht gingich in den Wald, um an geeigneten Stellen meine Fallenaufzustellen und zu kontrollieren. In einer dieser dunklenNächte traf ich einen Ozelot. Diesen nachtaktivenEinzelgängern begegnet man nur äußerst selten, und ichschätzte mich glücklich, dass unsere Wege sich kreuzten.

Ein anderes Mal hörte ich an sich nähernden Schritten, dasssich da ein größeres Tier auf mich zu bewegte. Ich blieb ganzstill und wartete ab. Da trat auf einmal ein Tapir aus demGebüsch und blieb direkt vor mir stehen. Mit seinem Rüsselbeschnüffelte er mich, offenbar ebenso erstaunt wie ich,

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beschnüffelte er mich, offenbar ebenso erstaunt wie ich,wahrscheinlich fragte er sich, was ich wohl für ein seltsamesTier sei. Eine ganze Weile hab ich nicht gewagt, mich zu regen,denn ich wusste, dass diese Kerle ungemütlich werdenkönnen, vor allem, wenn sie Junge haben. Schließlich habe ichmich geräuspert – und der Tapir drehte sich um undverschwand wieder. Und in einer anderen Nacht, als ich voneiner Feier in Yuyapichis nach Panguana zurückging, hatte icheine noch viel unglaublichere Begegnung. Ich trug einen Kartonauf dem Kopf und tastete mehr nach meinem Weg, als dassich ihn sah, denn die Batterie meiner Taschenlampe war fastam Ende. So kam ich in der Dunkelheit ein Stück vom Wegab und geriet an den Hang, der zum Fluss hinunterführte. Undda, auf einmal knurrte etwas ganz tief und orgelnd neben mir,wie ein sehr großer Hund und doch irgendwie anders. Ichleuchtete in eine kleine Senke unter mir, konnte aber nichtserkennen mit meiner Funzel. Da, wieder war da diesesGeräusch, tief und rollend, sodass ich dachte: »Nichts wie weghier.« Am nächsten Tag erfuhr ich, dass es ein Jaguar gewesensein musste, denn man fand an jener Stelle ein gerissenesKalb. Offenbar störte ich ihn beim Fressen, und wenn meineTaschenlampe kräftiger gewesen wäre, dann hätte ich ihmwohl mitten ins Gesicht geleuchtet.

Ich gewöhnte mich daran, vorwiegend nachts unterwegs zusein. Vor dem Morgengrauen war ich wieder auf den Beinen,denn ich musste die Fledermausnetze zusammenlegen, ehe dieVögel aufwachten und sich womöglich in ihnen verfingen.Besonders früh sind die Baumsteiger wach, und ich wolltenicht, dass sich die armen Tiere mit ihrer pfeilförmigen Zungein einem Netz verhedderten. In diesen frühen Morgenstunden

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in einem Netz verhedderten. In diesen frühen Morgenstundensorgt der Bodennebel für eine einzigartige Stimmung, denn erliegt wie ein weißes Tuch über Moros Weiden und Feldern. Eskann dann ganz schön kalt und die Feuchtigkeit direktunangenehm werden, denn der Tau fällt bei 100 ProzentLuftfeuchte wie Regen auf die Bäume.

Viele Fledermäuse konnte ich auch an bestimmtenErdfraßstellen, sogenannten Colpas, beobachten, das sindBereiche an Waldquellen oder am Flussufer, die besondersmineralhaltige Erde enthalten, eine wichtigeNahrungsergänzung für zahlreiche Vögel und Säugetiere. Ichhatte eine solche Colpa gefunden, zu der die Fledermäuse inScharen flogen, um dort zu trinken. Da habe ich Morogebeten, mir eine Art Hochsitz zu bauen, damit ich die Tierebesser beobachten konnte. Allerdings gab es dort auchSchwärme von Mücken, und ich musste an meine Mutterdenken, die eine derartige Disziplin gehabt hatte. Sie schafftees, sich nicht zu bewegen, und wenn ihr auch der Schweiß indie Augen floss.

In besonders dunklen und lautlosen Nächten konnte ichmanchmal tief im Innern des Urwalds eine Serie von dünnen,hohen, fast körperlosen Pfiffen hören, die durch die Stillewehten wie nicht von dieser Welt. Sie kamen von jenemTunshi, manchmal auch Tunchi geschrieben, vor dem ich michals kleines Kind in Lima gefürchtet hatte, bis Alida kam undmich beruhigte. Wenn ich jetzt mitten im Wald so ganz alleine,nur im Lichtkegel meiner Taschenlampe etwas sehend, diesecharakteristischen Töne hörte, dann war das auch für mich alsErwachsene unheimlich. Kein Wunder gilt der Tunshi imamazonischen Peru und auch in den Nachbarländern als

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amazonischen Peru und auch in den Nachbarländern alsUrwaldgeist, der nur in den dunkelsten, trostlosesten Nächtenzu vernehmen ist. Dem Volksglauben nach ist er eine traurige,herumziehende Seele, die keinen Frieden findet. AnderenLegenden nach ist der Tunshi aber auch ein Hüter des Waldes,denn er tut nur denjenigen etwas, die dem Wald schaden, ihnabholzen oder seine Tiere töten. Er kann taub oder blindmachen und auch Wahnsinn oder sogar den Tod bringen. InWirklichkeit handelt es sich jedoch um einen vollkommenharmlosen kleinen Kuckuck, der fast nie zu sehen ist. Durchseine Lautlosigkeit und die besonders finsteren Nächte, indenen er ruft, hat er aber auch mich immer wieder merkwürdigberührt.

In zahllosen Nächten lernte ich also das meiste über dieFledermäuse durch eigene Erfahrung. Zunächst einmal erfuhrich, dass es zwar besonders hässliche Arten gibt mitgreisenhaften Fratzen und Glubschaugen oder bei denVampiren mit kleinen Äuglein und scharfen Zähnen, aber auchausgesprochen hübsche mit bunt gezeichneten Fuchsgesichternoder interessanter Fellfärbung. Schon als Kleinkind hatte ichmich allen Tieren genähert und wollte sie anfassen, ganz egal,ob sie klein oder groß, gefährlich oder ungefährlich, hübschoder hässlich waren. Einmal streichelte ich in einem Zoo durchein Gitter hindurch einen schwarzen Jaguar, meine Mutter hatsich fürchterlich erschrocken, als sie das bemerkte.

Bei den Fledermäusen war das wunderbar weiche Fell eineganz neue und auch sinnliche Erfahrung für mich. Ich habe siegerne gestreichelt, was die kleinen Kerle natürlich überhauptnicht leiden konnten. Anfangs haben sie mich andauerndgebissen, doch ich lernte, wie ich diese Tiere aus den

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gebissen, doch ich lernte, wie ich diese Tiere aus denspeziellen Vogel- und Fledermausnetzen, die man Japannetzenennt, herauslöst, ohne allzu oft mit ihren kräftigen ZähnenBekanntschaft zu machen. In den Netzen verfingen sich auchgroße nachtaktive Wespen, deren Stiche enorm schmerzten,und manchmal Greifvögel, die die Fledermäuse fressenwollten. Einmal marschierte sogar ein Tapir buchstäblich durchdas Netz hindurch, ohne Rücksicht auf Verluste. Da war dannnicht mehr viel übrig von meinem Japannetz. Mit ihren scharfenEckzähnen und kräftigen Kiefern durchdringen Fledermäuseübrigens auch die dicksten Handschuhe. Haben sie sich einmalverbissen, dann halten sie erst recht fest und beißen nochkräftiger zu. Also lernte ich, wie ich sie halten musste, damit siemich nicht mehr zu fassen kriegten: Ich legte ihnen denMittelfinger auf den Rücken und drückte mit Zeigefinger undDaumen die beiden Flügel zurück. Da Fledermäuse eineziemlich dicke Nackenmuskulatur besitzen, können sie denKopf nicht weit genug wenden, um nach hinten zu schnappen.Ich wurde auch einmal von einer Vampirfledermaus gebissen.Dabei lernte ich einiges, zum Beispiel auch, dass Draculaimmer falsch dargestellt wird: Es sind nämlich ihre spitzenSchneidezähne und nicht die Eckzähne, die so messerscharfsind, dass sie, ohne Schmerzen zu verursachen, durch die Hautdringen. Das Geheimnis ist, dass ihr Speichel eineschmerzstillende Substanz enthält, dazu noch eine andere, diegerinnungshemmend wirkt, sodass das Blut stark fließt undvon ihnen abgeleckt werden kann, ohne dass das Opfererwacht. Es gibt übrigens drei Vampirfledermaus-Arten. Einedavon ist der »normale Vampir«, der sich vom Blutverschiedener Säugetiere ernährt. Die beiden anderen dagegen

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verschiedener Säugetiere ernährt. Die beiden anderen dagegentrinken nur Vogelblut. Diese Arten dringen auch inHühnerställe ein und beißen das Geflügel in die zarte Haut amAnsatz des Schenkelgefieders oberhalb der Beine, die javerhornt sind. Vampire schleichen sich, anders als ihre nichtblutfressenden Kollegen, am Boden gehend an. Dasfunktioniert, weil sie die Flügelhaut so zusammenlegen können,dass die Armknochen wie Stöcke wirken. Sie gehen dannsozusagen auf dem Handtelleransatz, da, wo der Daumenabsteht. Ich habe dies nie beobachten können, denn Vampiresind sehr scheu und nur in den dunkelsten Stunden der Nachtaktiv, aber es gibt hervorragende Filme darüber.

Es dauerte nicht lange, und ich war völlig fasziniert von denFledermäusen, die ich ursprünglich so abstoßend fand. Undmeine Faszination hält bis heute an. Es gibt so viele Aspektedieser heimlichen Nachttiere, die extrem spannend sind. Sosind die Vampire zum Beispiel besonders soziale Tiere. Sieleben in engen Familienverbänden, betreiben gemeinsameFellpflege und haben Wochenstuben, in denen die Mütter auchdie Jungtiere anderer Vampirweibchen betreuen, wenn dieseauf Nahrungssuche gehen. Aber es ist auch nicht ungefährlich,mit ihnen umzugehen, denn Vampirfledermäuse übertragenTollwut und andere Viruskrankheiten. Darum habe ich michvorher in Deutschland gegen Tollwut impfen lassen. Die dritteAuffrischimpfung musste ich mir selbst in den Hintern geben,ein komisches Gefühl, wenn man sich selbst spritzen muss.Aber nachdem es mir die Ärztin erklärt hatte, ging es ganzleicht.

Die Stimmen der Fledermäuse liegen größtenteils imUltraschallbereich und sind für unsere Ohren unhörbar. Mit

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Ultraschallbereich und sind für unsere Ohren unhörbar. Miteinem speziellen Gerät, dem »Bat-Detector«, kann man sieaufnehmen und unterscheiden lernen. Daneben haben dieseTiere aber auch Kommunikationsrufe, die für uns hörbar sind,und ich lernte dieses Spektrum im Laufe der Zeit recht gutkennen. Etwas ganz Besonderes war es, während derTrockenzeit an den Blüten der Balsa-Bäume in Flussnähe dieRufe der großen Blattnasen-Fledermäuse zu hören und siebeim Fressen des Pollens aus den riesigen cremefarbenenBlütenkelchen zu beobachten. Andere Fledermäuse flogen inScharen um die großen Feigenbäume, von denen es inPanguana mehrere Arten gibt. Die für Menschen nichtgenießbaren Feigen dieser Bäume sind neben denZekropienfrüchten eine wichtige Nahrungsquelle für vielefruchtfressende Fledermausarten. Sehr beeindruckt hat michdas Sozialverhalten einer Fledermausart, deren Männchen sicheinen Harem halten, den sie mit Gesängen, Tänzen undDuftsignalen, die sie aus Taschen in der Haut am Armknochenverströmen, bei Laune halten. Was tut man nicht alles für dieholde Weiblichkeit!

Schließlich zählte ich 52 verschiedene Fledermausarten.Heute wissen wir, dass es insgesamt mindestens 53 sind. Dasist eine ganze Menge für die damals zwei Quadratkilometergroße Fläche von Panguana, wenn man bedenkt, dass in ganzEuropa nur 27 Arten vorkommen.

Mein Bat-Detector wurde mir übrigens später auf demFlughafen von Lima direkt aus dem Koffer gestohlen, als ich inder Warteschlange stand, um nach Deutschlandzurückzufliegen. Der Koffer war zu voll und klaffte auf einerSeite leicht auseinander – das hatte dem Langfinger genügt.

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Seite leicht auseinander – das hatte dem Langfinger genügt.Mit Sicherheit hatte der Dieb wenig Freude an dem Gerät,denn es produziert nur ein Rauschen, und mit denFledermausstimmen konnte er bestimmt nichts anfangen. Sohatten wir beide Pech, der Dieb und ich.

Nach Michaels Abreise bekam ich bald wieder neueGesellschaft. Manfred, ein österreichischer Doktorand, dervon meinem Vater von Panguana erfahren hatte, erforschtefortpflanzungsbiologische Aspekte der Froscharten an demgroßen Waldtümpel, über den auch Andreas schon gearbeitethatte, und blieb ein ganzes Jahr. Auch mit ihm verstand ichmich gut. Wir teilten uns das Wohnhaus, inzwischen ein neues,denn das meiner Eltern war, so wie unser früheres Arbeitshausund die ursprüngliche Küchenhütte, leiderzusammengebrochen. Das neue Haus hatte keine Wände, undwir schliefen auf dem Fußboden auf Matratzen mitMoskitonetzen, jeder in einer der dem Wald zugewandtenEcken, sodass wir auch bei einem Unwetter, das meist vonder Flussseite kommt, nicht nass wurden. Ich hatte es mir ganzhinten, abgeschirmt durch zwei Regale, bequem gemacht.Später zog ich auf den Dachboden unseres mit Palmenwedelngedeckten Hauses um, wo es besonders gemütlich war, wennes regnete und ich bei dem gleichmäßigen Rauschen direktüber mir wunderbar einschlafen konnte. Meist kam ich nachMitternacht oder auch erst gegen zwei Uhr morgens aus demWald, badete im Fluss und ging dann schlafen, jedoch nie,ohne vorher noch etwas bei Kerzenlicht zu lesen.

Manfred war ebenfalls in der Dunkelheit unterwegs, dennauch die meisten Frösche am Tümpel sind nachtaktiv, doch

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auch die meisten Frösche am Tümpel sind nachtaktiv, dochManfred und ich gingen unserer Arbeit entsprechendverschiedener Wege. Am Tag arbeiteten wir das in der NachtBeobachtete und Gesammelte auf, führten Tagebuch undtrugen Daten zusammen. Ich fing nicht nur Fledermäuse, dieich vorsichtig einzeln in Stoffbeutelchen unterbrachte und meistdort, wo ich sie erbeutet hatte, auch wieder freiließ. Ichsammelte ihren Kot, um das Nahrungsspektrum zu ergründen,und auch die Lausfliegen aus ihrem Fell. Denn Fledermaus-Lausfliegen sind spezielle Parasiten, die ich in meinerDissertation ebenfalls berücksichtigen wollte. Und danngehörte zu unseren täglichen Aufgaben ja auch das Kochen,und damit musste ich immer schon früh am Vormittagbeginnen, denn auf dem Holzfeuer dauerte es lange, bis allesfertig war. Abends steuerten wir die Reste unseresMittagsmahls zum gemeinsamen Abendessen in gemütlicherRunde bei Moros Mutter Doña Lida bei, einer willensstarken,tüchtigen und herzlichen Frau, die auch heute noch in derFamilie Módena eine Institution ist. Uns unterstützte sietatkräftig, nahm mich mit offenen Armen auf und kümmertesich um die Leute in Panguana, wenn wir nicht da waren. Sieund Panguana sind untrennbar miteinander verbunden, und ichnenne sie bis heute zärtlich »Tante«. Damals wohnte sie mitTeilen von Moros Familie nahe bei unserem Stationshaus,während Moro noch auf der »Ponderosa« auf der anderenSeite des Yuyapichis lebte.

Damals empfand ich Panguana als besonders schön, soschön wie nie zuvor. Es gab viele Tiere, auch Fledermäuse, dieman heute nur noch selten sieht. Ich liebte die Mondnächte, indenen ein eigenartiges, elfenbeinfarbenes Licht herrschte, und

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denen ein eigenartiges, elfenbeinfarbenes Licht herrschte, undden herrlichen Sternenhimmel, den man so prachtvoll nur inGegenden bewundern kann, in denen es kein elektrischesLicht gibt. Besonders beeindruckend ist in Panguana auchheute noch das helle, breite Band der Milchstraße, die wir inDeutschland wegen der städtischen Beleuchtung oft nichteinmal erahnen können.

Bald bewegte ich mich in diesen hellen Mondnächten sosicher wie bei Tage. Und einmal wurde mir das beinahe zumVerhängnis. Ich kam von einem meiner Streifzüge nach Hauseund machte die Taschenlampe aus, als ich aus dem Wald trat,so hell empfand ich das Mondlicht. Auf einmal richtete sichetwas vor mir auf. Es war eine Lanzenotter, so nah, dass siemich hätte beißen können. Ich bin zur Salzsäule erstarrt, unddas war instinktiv genau die richtige Reaktion bei einer solchenKonfrontation. Man muss ganz still stehen, dann nimmt dieSchlange keine Bewegung mehr wahr. Ich war leichtsinniggewesen, wir wussten eigentlich, dass sie da war, dennLanzenottern sind ortstreu, ich habe aber vor lauterMondenschein nicht mehr daran gedacht. Nun war sieaufgebracht. Als ich mich wieder gefasst hatte, zog ich michlangsam und bedächtig zurück. Da verschwand sie lautlos imWald.

Das war übrigens nicht meine erste nähere Begegnung miteiner Lanzenotter. Bereits 1969, als ich mit meinen Eltern imUrwald lebte, wäre es beinahe passiert. Ich wollte damalseinen Frosch für mein Terrarium fangen. Auf den Knien folgteich ihm langsam um eine Erdpalme herum, da sah ich aufeinmal aus den Augenwinkeln eine Bewegung – es war eineLanzenotter, etwa 15 Zentimeter von meiner Nase entfernt.

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Lanzenotter, etwa 15 Zentimeter von meiner Nase entfernt.Sie züngelte bereits angriffslustig und hätte mich fast insGesicht gebissen. Das hätte tödlich ausgehen können.

Natürlich ist das Leben in Panguana – und damals noch mehrals heute – ein Leben mit großen Einschränkungen. Wirwuschen unsere Wäsche von Hand am Fluss, was besondersin der Regenzeit ziemlich schwierig war. Dann blieb allesfeucht und klamm, die Wäsche begann zu schimmeln, undManfred und ich bekamen Pilzinfektionen zwischen denZehen, weil wir in dem völlig durchweichten undüberschwemmten Wald fast immer Gummistiefel tragenmussten. Der Yuyapichis führte oft Hochwasser und wurdekalt und schlammig. Da fiel das tägliche Bad oft schwer oderauch manchmal ganz aus. Und siehe da, es ging trotzdem.

In Yuyapichis waren Manfred und ich bald mit allenbekannt und fühlten uns wie zuhause. Geburtstage wurden imUrwald immer groß gefeiert, und wir waren meistens dabei. InYuyapichis und den Nachbardörfern gab es dann einePachamanca, was immer eine festliche Angelegenheit ist. DasWort »Pachamanca« kommt aus dem Quetschua und heißtübersetzt so viel wie »Erd-Topf-Speise«. Man gräbt ein Loch,bedeckt den Grund mit über dem Feuer erhitzten Steinen,schichtet darauf verschiedene Sorten mariniertes Fleisch,Kräuter und Gemüse und dazwischen Bananenblätter undschließt die Grube wieder. Je nach Größe der Pachamancabraucht es dann eine bis zwei Stunden, bis das Ganze gar istund unter der Anteilnahme aller Beteiligten geöffnet wird.Moro war ein großer Pachamanquero und beherrschte dasGaren im Erdloch perfekt. Daher wurde er immer wieder

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Garen im Erdloch perfekt. Daher wurde er immer wiederdarum gebeten, bei großen Festivitäten eine Pachamancazuzubereiten. Als mein Geburtstag nahte, beschlossen wir, ihnim Dorf Yanayaquillo bei Moros Schwiegereltern zu feiern.Moro und seine beiden Familien bereiteten mir einrauschendes Fest mit einer riesigen Pachamanca und Tanz bisfünf Uhr morgens, zu dem die Menschen nicht nur ausYuyapichis und Yanayaquillo, sondern der ganzen Umgebungkamen und über 100 Kästen Bier leerten. Einer der Pilotender Buschflugzeug-Linie schaute ebenfalls vorbei und brachteweiteren Biernachschub mit. Da traditionell dasGeburtstagskind für Speis und Trank aufkommt, riss dies eintiefes Loch in meine Studentenkasse, aber das scherte michnicht. Alle waren glücklich und ich besonders.

Seit jener Zeit gehöre ich bei den Módenas mit zur Familie.Von ihnen allen erfuhr und erlernte ich eine Menge über dieBewohner des Urwalds und wie sie leben. Ich war ja bereitsmit ihm vertraut und hatte immerhin elf Tage lang allein imRegenwald durchhalten können, und doch vertiefte sich erstjetzt mein Wissen. Ich lernte, peruanisch zu kochen, und zwarauf Ureinwohner-Art mit den Produkten des Waldes und derFelder. Das war nicht nur äußerst spannend, sondern auchpraktisch und billiger, als ständig Sachen aus Pucallpaheranzuschaffen. Natürlich musste auch das hin und wiedersein, und ich genoss die fälligen Ausflüge in die Stadt. Damalswar Pucallpa noch nicht das dröhnende Inferno, das es heuteist, denn es gab keine Motocars. Dafür waren die Straßenauch noch nicht asphaltiert, und in der Regenzeit verwandeltensie sich in seifige Schlammpisten, auf denen man ständigausrutschte und im Nu kiloschwere Schuhe durch anhaftende

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ausrutschte und im Nu kiloschwere Schuhe durch anhaftendeMatschklumpen bekam. Hier wohnte ich bei der ältestenSchwester Moros, Luz, deren Mann bei der ErdölfirmaPetroperú arbeitete und ein schönes Haus – sogar mitKlimaanlage – hatte. Bei späteren Gelegenheiten nahmen michFreunde meiner Eltern auf, die Schwestern Escalante, derenBruder Tuchhändler ist und früher ein Flugzeug für Flüge imUrwald besaß. Noch heute besuche ich die Schwestern, wennich nach Pucallpa komme.

Meist fuhr ich ganz alleine nach Pucallpa und auch einpaarmal bis nach Lima. Meine Freundin Edith heiratete, undselbstverständlich durfte ich dabei nicht fehlen. ZurVerlängerung meines Aufenthalts in Peru musste ich nachsechs Monaten sogar bis nach Tumbes an die ecuadorianischeGrenze reisen. Hier ging ich kurz über die Grenze und gleichwieder zurück, ich brauchte ja nur den Einreisestempel imPass. Doch immer war ich froh, in den Urwaldzurückzukehren.

Wenn man bedenkt, wie schwierig es heute noch ist, nachPanguana zu gelangen, dann kann man sich vorstellen, dass esauch damals Geduld und Abenteuerlust bedurfte, von dort ausnach Pucallpa oder gar nach Lima zu reisen. Zu jener Zeit gabes eine ganze Reihe kleiner, zum Teil privater Fluglinien, die oftunter den abenteuerlichsten Umständen Verbindungsflüge imUrwald anboten. Heute bin ich voller Verwunderung darüber,wie unerschrocken ich nach meiner Absturzerfahrung damalsin diese Klapperkisten stieg und keinerlei Angst zu kennenschien. Es gab einen 50-minütigen Flug mit einer einmotorigenCessna zwischen Pucallpa und dem Dorf Yuyapichis, undohne mit der Wimper zu zucken, stieg ich in sie ein.

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ohne mit der Wimper zu zucken, stieg ich in sie ein.Ich erinnere mich noch gut an einen Rückflug, bei dem wir

derart durchgeschaukelt wurden, dass sich der Pilotandauernd bekreuzigte. Er war noch nie in Yuyapichisgelandet und fragte seine kleine Besatzung, also uns, ob wirdenn da wirklich landen müssten oder ob wir nicht lieber nachPuerto Inca könnten. Dort gab es nämlich eine richtigeLandebahn, während er in Yuyapichis auf einer Viehweiderunter musste. Es war auch schon vorgekommen, dass eineCessna bei der Landung mit einer Kuh oder einem Pferdzusammenstieß, die nicht rechtzeitig beiseitegegangen waren.Entsprechend schwitzte der Pilot Blut und Wasser. Wirbestanden aber alle auf Yuyapichis, denn keiner hatte Lust, inPuerto Inca Ewigkeiten auf eine Mitfahrgelegenheit zu warten.Während des gesamten Fluges klammerte sich eine Frau mitbeiden Händen an meiner Hose fest und ein kleines Mädchenübergab sich andauernd auf den Boden. Als das Flugzeugendlich festen Grund unter dem Boden hatte und gerade nochso am Ende der Weide zum Stehen kam, da war der Pilotderart fertig mit den Nerven, dass er uns da, wo wir waren,rauswarf und sagte, er fahre keinen Zentimeter mehr weiter, erwolle nur noch nach Hause. Ich musste damals lachen, dabeiwar ich diejenige, die am meisten Grund gehabt hätte, sich zufürchten.

Ein andermal flog ich mit einer spanischen Maschine, einemsogenannten Aviocar, einem sehr seltsamen, breitenPropellerflugzeug, in das rund 20 Menschen passten. Innensaßen wir auf Holzbänken mit dem Rücken zur Außenwand,während im Mittelgang Schweine gelagert wurden, denenaugenblicklich, noch ehe es richtig losging, schlecht wurde. Auf

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augenblicklich, noch ehe es richtig losging, schlecht wurde. Aufdie offenen Gepäckablagen warfen die Passagiere an denBeinen zusammengebundene, lebende Hühnerpakete. Gurtegab es natürlich nicht. Während des Fluges ging eine ArtFlugzeugschaffner herum, kassierte den Fahrpreis und drückteuns, wie in einer Straßenbahn, einen Abreißzettel in die Hand.Neben mir saß eine Frau, die mir erzählte: »Wissen Sie, ichfliege lieber, als dass ich mit dem Boot fahre. Denn ich kannnicht schwimmen.« Das fand ich eine sehr lustige Aussage,denn fliegen konnte sie ja schließlich auch nicht, falls etwasschiefgehen sollte. Ich erzählte ihr besser nicht, was mirpassiert war.

Warum mich das damals alles mehr amüsierte alsbeängstigte, während mir heute das Fliegen durchaus nicht garso leichtfällt – ich habe keine Ahnung. Vielleicht ist man inseinen Zwanzigern einfach sorgloser als in späteren Jahren.Jedenfalls stellte ich mich in dieser so intensiven Zeit imperuanischen Urwald ganz auf das Leben dort ein. Auch wennich als Kind bereits die spanische Sprache erlernt hatte, soperfektionierte ich sie erst jetzt, ja ich träumte sogar aufSpanisch. Meine Liebe zu Peru und dem Regenwald, dieimmer schon bestanden hatte, gewann hier an Tiefe und Fülle.Früher war ich in Panguana immer nur mit meinen Elternzusammen gewesen. Unsere Kleinfamilie bildete eine perfekteEinheit, und der Kontakt zur Nachbarschaft war zwar äußerstfreundschaftlich, aber doch sporadisch geblieben. Außerdemwar ich damals ja erst 14 Jahre alt gewesen und hatte meineUmwelt mit den Augen einer Heranwachsenden gesehen. Wasunsere Küche anbelangte, war sie recht einfach und längstnicht so abwechslungsreich, wie ich sie nun bei Doña Lida

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nicht so abwechslungsreich, wie ich sie nun bei Doña Lidaerlernte.

Wenn in der Nachbarschaft geschlachtet wurde, warenManfred und ich immer dabei und halfen mit, und ich lernteschnell, wie man die Tiere zerlegt und verwertet und welcheKöstlichkeiten nach peruanischer Art man aus denverschiedenen Teilen von Schwein und Kalb, aber auch ausHuhn, Ente und den Fischen des Flusses zaubern konnte. Esgab auch viel Wild und einheimische Früchte von Palmen undverschiedenen Bäumen des Waldes, und Doña Lida bereiteteuns hin und wieder sogar die großen Ochsenfrösche,Schildkröten oder Käferengerlinge nach Art der Ureinwohnerzu. Hier lernte ich, wie man Kaimanschwänze, Gürteltier undOpossum kocht oder räuchert, und ich staunte, dass manselbst die Beuteltiere am Ende tatsächlich essen kann, obwohlsie so fürchterlich stinken. Von ihr und Moro erfuhr ichaußerdem einiges darüber, welche natürliche Medizin derUrwald liefert, welche Baumsäfte man wofür gebrauchenkann. Da gibt es zum Beispiel Lianen, die man anschneidet,wenn man Zahnweh hat, denn sie enthalten Nelkenöl, einblutrotes Baumharz, das Wunden heilt, und vieles mehr. Ichhabe mich auf diese Weise an die Landessitten gewöhnt undalles probiert, was ich sonst niemals gegessen hätte. Natürlichwürde ich heute viele jener Gerichte aus naturschützerischenGründen strikt ablehnen, doch damals war alles faszinierendfür mich, ich wollte so leben wie die Nachbarn auch, und oftwar ich einfach nur neugierig. Moros Mutter wies mich nichtnur in die Küche der Indianer ein, sondern auch in die derDeutschstämmigen aus den Bergwäldern von Pozuzo, von wosie herkam. Da gab es zum Beispiel einen Strudel aus Bananen

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sie herkam. Da gab es zum Beispiel einen Strudel aus Bananenund Rosinen, eine »Sopa de Knédales«, eine Knödelsuppe mitManiok, Mais und allen möglichen anderen Zutaten. SolcheGerichte wurden aber nur zubereitet, wenn die Schwesternvon Moro aus Lima zu Besuch kamen, dann kochte DoñaLida noch aufwändiger als sonst. Ganz besondere Tage warennatürlich Weihnachten und Ostern und auch der Johannistag,San Juán, am 24.Juni, denn die Sonnenwende hat ihre eigeneTradition im Urwald. Da bereitet jede Hausfrau, die etwas aufsich hält, »Juanes« zu, das sind kleine Beutelchen ausBananenblättern mit einer Mischung aus Gelbwurzelreis mitgeschmorten Hühnerstückchen, schwarzen Oliven und hartgekochten Eiern. Ein typisches Urwaldgericht, das man an derKüste nicht einmal kennt. In Deutschland musste ich michspäter erst wieder an den Elektroherd gewöhnen, denn ichfand das Kochen auf dem Holzofenherd oder auf einer offenenFlamme viel einfacher.

Ich erinnere mich gut, wie mich mein Doktorvater,Professor Fittkau, in Begleitung zweier deutscher Kollegen inPanguana besuchte. Das war natürlich sehr aufregend für mich,aber auch enorm wichtig, weil ich inzwischen festgestellt hatte,dass ich mit dem vielfältigen Material, das ich zusammentrug,nicht nur eine Doktorarbeit füllen, sondern mein ganzes Lebenverbringen könnte. Er half mir nicht nur, mein Thema sinnvolleinzugrenzen, sondern machte sich auch beim Feuermachenenorm nützlich, denn das Holz war mitunter feucht und schwerzum Brennen zu bringen. Hier erwies sich Professor Fittkau alsein Mensch mit außergewöhnlichem Durchhaltevermögen.Mitten im beißenden Rauch stehend fächelte er klaglos miteinem Topfdeckel der schwelenden Glut so lange Luft zu, bis

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einem Topfdeckel der schwelenden Glut so lange Luft zu, bisendlich ein vernünftiges Feuer zustande kam. Außerdembeeindruckte mich, dass er auch im strömenden Regen, ohnezu zögern, in den Wald ging, um in den Bächen dieZuckmückenlarven zu suchen, über die er arbeitete. Um einenBaumkaktus zu ergattern, er sammelte und züchtete zuhauseKakteen, scheute er sich auch nicht, auf gefährlich morschenÄsten über Bächen und Tümpeln herumzuklettern. Das wareine Sache, die er und meine Eltern gemeinsam hatten: Wenner etwas erreichen wollte, dann kannte er kein Zurück. Aufsolchen Reisen konnte man Pferde mit ihm stehlen.

Ernst Josef Fittkau war neben seiner Lehrtätigkeit auchDirektor der Zoologischen Staatssammlung in München. Undso kam es, dass uns einige Monate später von dort ein kleinesForscherteam in unserer Abgeschiedenheit besuchte. Aberabgesehen davon und von dem Überraschungsüberfall einerenglischen Journalistengruppe, die einfach bei uns auftauchte,eine Woche blieb und mich mit ihren Fragen nervte, war esdas ganze Jahr über sehr ruhig. Und ich genoss den Kontaktzu den Einheimischen, am meisten natürlich zu Moros Familie.Ich nahm im Laufe der Zeit sogar den Singsang desUrwaldspanischen an, ohne es zu merken, sodass ich an derKüste deswegen aufgezogen und manchmal »Charapita«genannt wurde, eine liebevolle umgangssprachlicheBezeichnung für kleine amazonische Ureinwohnermädchen.

All diese Erfahrungen und Erlebnisse möchte ich nicht missen.Manchmal denke ich sogar mit einer gewissen Wehmut anjene Monate, die bis heute zu den schönsten meines Lebenszählen.

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Und tatsächlich entwickelte sich meine Ehrfurcht vor demLebensraum Regenwald erst damals richtig, während derStudien zu meiner Doktorarbeit. Davor hatte ich allesinteressant, neu und wunderschön gefunden, jetzt merkte ich,dass mir der tiefere Zugang zu dieser Welt noch gefehlt hatte.Als Heranwachsende hatte ich gestaunt und alles sehrgenossen, und doch war ich damals nur Beobachterin und das»Anhängsel« meiner Eltern gewesen. Ich begleitete sie ständig,blieb selbst aber passiv. Erst während der Doktorarbeit warich mit ganzer Seele und Kraft bei der Erforschung der Naturrund um Panguana dabei. Hier fand ich Zeit, über denRegenwald und seine Struktur zu reflektieren. Und dannbekam ich nach und nach das eigenartige Gefühl, dieser grüneKosmos lasse es erst jetzt wirklich zu, dass ich seineGeheimnisse ergründete. Und es ist ja tatsächlich einPhänomen: Auf den ersten Blick nämlich glaubt man in diesenWäldern gar nichts zu sehen, das empfinden viele Menschen,wenn sie den Urwald erstmals betreten. Um einen herumgedeiht eine Unmenge grüner Pflanzen, weiter nichts, denn diezahlreichen Tiere haben sich perfekt an ihr Ambienteangepasst. Da gibt es fingernagelgroße Frösche, die auf einemBlatt sitzen, von deren Färbung sie sich so gut wie nichtunterscheiden, und man kann eine ganze Weile auf dieses Blattschauen, ohne sie überhaupt zu bemerken. VieleHeuschrecken, Wanzen oder Spinnen scheinen mit der Rindeeines Baumes oder mit dem Geäst geradezu zu verschmelzen.Schlangen, die reglos in einem Baumast liegen, können leichtfür einen Zweig gehalten werden oder auf dem Boden perfektim Laub »verschwinden«. Wer den Urwald nicht kennt, der

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sieht solche Feinheiten einfach nicht. Lässt man sich aber aufdiese Welt ein, dann ist es, als würde man nach und nach eineganz neue Art des Sehens lernen. Es ist, als würde einem einSchleier von den Augen gezogen, und man stellt fest, dass manumgeben ist von tausendfachem Leben. Diese Fülle kanndurchaus überwältigend sein, im wahrsten Sinne des Wortes.

Heute weiß ich, dass auch meine Eltern, ganz besondersmeine Mutter, dies intensiv empfanden. Denn auch ich nahmjetzt den Wald mit allen Sinnen auf, die unendliche Vielfalt derVegetation und Tierwelt und ihrer Anpassungen, dasunglaubliche Farbenspiel der Natur, das oft in kleinen Detailsund Nuancen liegt, die Geräusche, die mich manchmal wieeinen Mantel umhüllten und auf die ich mich auch heute immerwieder freue, die Gerüche, das grüngelbe Dämmerlicht, diewarme Feuchtigkeit des Waldes. Und dann ist es mir, alswürde ich eintauchen in die Energie eines gewaltigen, allesumfassenden Lebewesens, so vertraut mittlerweile, dochimmer wieder aufs Neue fremdartig. Und genau diesesständige Neuentdecken ist es, was wir Wissenschaftler soüberaus faszinierend am Lebensraum Tropischer Regenwaldfinden – und das ganz besonders in Panguana, das wir seit40 Jahren erforschen und immer noch nicht zur Gänzebegreifen.

Es ist diese geheime Seele des Urwalds, desselben Waldes,der mir damals nach meinem Unfall half, ins Leben derMenschen zurückzukehren, die sich mir erst jetzt, währendmeiner eineinhalb Jahre dauernden Forschungsarbeit,offenbarte. Erst da habe ich wirklich verstanden, was jeneLebensaufgabe tatsächlich ist, die ich in den verzweifelten und

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so unendlich einsamen Urwaldregennächten nach meinemAbsturz beschloss, anzunehmen. Damals hatte ich mirvorgenommen, dass ich mein Leben, sollte ich es behaltendürfen, einer sinnvollen Sache widmen würde, einer Aufgabe,die der Natur und den Menschen dient. Jetzt, als jungeErwachsene auf die Station zurückgekehrt und ohne meineEltern einen eigenen, mir selbst gestellten Forschungsauftragerfüllend, lag auf einmal alles ganz klar auf der Hand: MeineAufgabe hat einen Namen. Und er lautet Panguana.

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Im Februar 1983, eineinhalb Jahre, nachdem ich aufgebrochenwar, kehrte ich nach Deutschland zurück. Die meiste Zeitdavon hatte ich im Urwald verbracht. Diese Monate warenungeheuer wichtig für mich. Ich war als Erwachsene dorthinzurückgekehrt, wo mein Leben eine derart entscheidendeWendung genommen hatte, ich hatte selbst als Forscheringearbeitet und mir den Lebensraum Amazonas-Regenwald aufmeine eigene, persönliche Weise erschlossen. Mehr als einJahrzehnt nach meinem wundersamen Überlebenskampf imDschungel hatte ich einen noch tieferen Bezug zu ihmgewonnen. Waren meine elf Tage Wanderung nach demAbsturz so etwas wie eine Art Initiation gewesen, während derich bereits die Ahnung erhielt, dass mein Leben mit dem desUrwalds auf eine mysteriöse Weise verbunden war, sobedeuteten jene 18 Monate während meinerFledermausstudien ein bewusstes, erwachsenes Eindringen ineinen Teil seiner Geheimnisse.

In Deutschland warteten ein Umzug und ein Neubeginn aufmich. Meine Zeit in Kiel war zu Ende, meine Habseligkeiten inKisten verpackt, und nun nahm ich sie samt meiner neugesammelten Erfahrungen und zog nach München, wo meinDoktorvater lehrte. Zunächst wohnte ich bei meinerGroßmutter in Sibichhausen, wo ich bereits so viele schöneUrlaubswochen verlebt hatte. Doch die Entfernung zurMünchner Innenstadt war gar zu weit, und darum suchte ichmir bald in Neuhausen eine eigene kleine Wohnung.

Ich belegte die nötigen Fächer an der Ludwig-Maximilians-Universität für meine Promotion, konnte parallel dazu als

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Universität für meine Promotion, konnte parallel dazu alsZeitangestellte an der Zoologischen Staatssammlung arbeitensowie mein reiches Material, das ich in Panguana gesammelthatte, auswerten.

Hier lernte ich viele Kollegen kennen, und unter ihnen wareiner, der mir besonders charmant den Hof machte. Erarbeitete über parasitische Schlupfwespen, hatte immer einenRat, wenn ich ihn brauchte, und was das Schönste war: Erbrachte mich immer wieder zum Lachen. Er lud mich gernezum Essen ein, wir stellten fest, dass wir eine Mengegemeinsam hatten, und ehe wir uns versahen, hatten wir unsineinander verliebt.

Im Jahr nach meiner Rückkehr stellte ich fest, dass ichnochmals nach Panguana reisen musste, um meineBeobachtungen abzurunden, und während jener drei Monateim Sommer 1984 schrieb mir Erich wundervolle Briefe nachPeru. Als ich im September, pünktlich zum Beginn derVorlesungen, in München war, sahen wir uns noch häufiger,durch meine Arbeit an der Zoologischen Staatssammlung oftsogar täglich.

Es sollte noch drei Jahre dauern, bis meine Doktorarbeit mitdem Titel »Ökologische Einnischung einerFledermausartengemeinschaft im TropischenTieflandregenwald von Peru« und die Rigorosumsprüfungenbeendet waren. Der Zufall wollte es, dass die Stelle derBibliotheksleiterin an der Zoologischen Staatssammlung freiwurde, und da diese Position meinen Interessen undQualifikationen entsprach, bewarb ich mich dafür. Ich, die ichBücher über alles liebe, arbeite heute noch in diesereinzigartigen zoologischen Fachbibliothek, die zu den größten

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einzigartigen zoologischen Fachbibliothek, die zu den größtenihrer Art in Europa zählt, und finde hier den perfektenAusgleich zu meinem Engagement für Panguana.

1989 heirateten Erich und ich in Aufkirchen, dort, wo meineMutter offiziell begraben liegt. Mein Mann interessierte sichvon Anfang an für Peru und vor allem natürlich für Panguana,hatte bislang aber noch keine Gelegenheit, selbst dorthin zureisen. Und ausgerechnet jetzt wurde es schwierig, wenn nichtunmöglich. Denn in den vergangenen Jahren hatte der Terrordes »Sendero Luminoso«, dessen ersten Auswüchsen ich jaschon während meiner Reise 1980 begegnet war, Peru in einLand voller Chaos und Gewalt verwandelt. War man in Limazwar relativ sicher, so wurde von Reisen ins Landesinnereentschieden abgeraten. Zu viele Einheimische, aber auchAusländer, sowohl Touristen als auch Wissenschaftler, warenauf brutale Weise hingemordet worden.

In jenen Jahren wäre uns Panguana mit Sicherheit verlorengegangen, hätte sich nicht Moro in unglaublicher Weise für dieErhaltung der Forschungsstation eingesetzt. Genau wie ich saher in ihr eine Art ihm anvertrautes Vermächtnis und fühlte denWunsch und die Pflicht, das, was meine Eltern vor so vielenJahren begonnen hatten, zu bewahren. Inzwischen war er ja,mit dem Einverständnis meines Vaters, auf das Gelände vonPanguana übergesiedelt. Auf diese Weise konnte er, wennnötig, den wissenschaftlichen Besuchern, denen mein Vatererlaubte, die Forschungsstation zu besuchen und zu nutzen,besser zur Seite stehen. Nachdem mein Vater nachDeutschland zurückgekehrt war, stand er in regelmäßigemKontakt zu Moro, gab ihm brieflich Aufträge und entlohnte ihn

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Kontakt zu Moro, gab ihm brieflich Aufträge und entlohnte ihndafür. Aber jetzt brachen schwierige Zeiten für die Menschenin Peru an und für Panguana ebenso.

Der »Sendero Luminoso« selbst kam nicht bis an denYuyapichis, dafür aber eine andere, bereits zuvor erwähnteBewegung, die sich nach einem von den spanischen Besatzernhingerichteten Inka-Nachfolger »Movimiento RevolucionarioTúpac Amaru« nannte. Diese distanzierte sich zwarentschieden vom »Sendero Luminoso« und setzte sich offiziellfür die Rechte der indigenen Bevölkerung ein, jedoch scheuteauch sie nicht vor blutigen Rachefeldzügen gegenüber demStamm der Asháninka-Indianer zurück, die angeblich Verräteran der Sache waren. Und da Panguana auf dem traditionellenGebiet der Asháninka lag, war es natürlich auch von denAuswirkungen jener Auseinandersetzungen betroffen. DieLeute von Túpac Amaru erhoben Abgaben von denBewohnern des Regenwalds östlich der Anden und bedrohtenviele Menschen, auch in Puerto Inca und den anderenUrwaldstädtchen der Umgebung. Es gab so manchenTodesfall, und eineinhalb Jahre lang saßen ihre Repräsentantenauch in dem Dorf Yuyapichis und machten den Einheimischendas Leben schwer. Dass es Moro gelang, in diesenschwierigen Zeiten das Waldgebiet von Panguana zu schützenund zu verhindern, dass es sich jemand anderer einverleibte,dafür werde ich ihm und seiner Familie immer dankbar sein.

Während meines Peru-Aufenthalts für meine Doktorarbeithatte ich in Lima versucht, die Bestrebungen meines Vaters,Panguana zum Naturschutzgebiet zu erklären, wiederaufzugreifen, aber ohne Erfolg. Immerhin erreichte ich damals,dass ich bei den lokalen Behörden ein Vorkaufsrecht für das

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dass ich bei den lokalen Behörden ein Vorkaufsrecht für dasGelände erhielt. Dabei hatten meine Eltern den Grund undBoden damals vom Vorbesitzer rechtmäßig erworben, wennauch ohne offizielle Papiere. Jedoch konnte auch sonstniemand in der Region offizielle Unterlagen über sein Gebietvorweisen. Und nun hieß es auf einmal, alle Grundstückegehörtem dem Staat, und man könne sie nur erwerben, wennman sie landwirtschaftlich nutzte.

Also überlegten Moro und ich, ob es sinnvoll wäre, in einemkleinen Bereich der Sekundärwälder Kakao anzupflanzen,doch zum Glück kam es dazu nicht. Gegen Ende der 80er-Jahre war es eines Tages so weit, dass die ganze Gegendparzelliert wurde, und staatliche Vermessungsingenieure teiltendas Gelände neu auf. Ich konnte damals nicht nach Perukommen, die Reise war wegen des »Sendero Luminoso« zugefährlich, außerdem steckte ich mitten in meiner Dissertation.Was konnten wir tun, um Panguana zu erhalten?

In dieser kritischen Situation erklärte sich Moros Frau Nerydazu bereit, das Gelände von Panguana vorläufig auf ihrenNamen überschreiben zu lassen, damit es gesichert war. Denneinige Nachbarn hatten bereits begehrliche Blicke auf denWald geworfen, wussten sie doch, welch reichenEdelholzbestand Panguana aufweist. Unsere Freunde aberverteidigten die wertvollen Bäume, vor allem unserenherrlichen Lupuna-Baum, wenn es sein musste auch »mitZähnen und Klauen«. Damals handelte sich Moro viel Ärgermit den Nachbarn ein, die nicht verstanden, warum dieser Kerlfür ferne Deutsche einen Wald derart bewachte, statt ihnabzuholzen, das wertvolle Holz zu verkaufen und aus demGrund Viehweiden zu machen. Doch Moro hatte inzwischen

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Grund Viehweiden zu machen. Doch Moro hatte inzwischenbegriffen, worum es bei Panguana geht. Heute steht fest: Ohneihn und seine gesamte Familie würde Panguana nicht mehrexistieren.

Die Jahre gingen ins Land, an eine Reise nach Peru warnicht zu denken, und so wurde München für mich und meinenMann zum Lebensmittelpunkt. Wir machten Urlaube, wie ichsie bis dahin kaum gekannt hatte: in Italien, Griechenland undSpanien. Ich entdeckte sozusagen jetzt erst Europa undgenoss dies sehr. In jener Zeit, in der ich mich vorPresseanfragen zunehmend zurückzog, keine Interviews gab,nichts mehr davon wissen wollte, die Geschichte meinesFlugzeugabsturzes wieder und wieder zu erzählen, überfielmich zwar oft unerwartet eine große Sehnsucht nach demLand, in dem ich geboren wurde, doch ich vertröstete mich aufspäter. Es ging mir gut. Ich hatte endlich ein Zuhause, das sichvon jenem, das ich einmal im Urwald gehabt hatte,grundlegend unterschied, und nur die überbordende Fülle anPflanzen auf unserer Dachterrasse ließ ahnen, wofür mein Herzheimlich noch immer schlug. Ein polnischer Handwerker, dereinmal am Dach etwas zu reparieren hatte, wunderte sich wohlüber die üppige Begrünung und sprach mit dem Hausmeisterdarüber. Danach sagte er äußerst verständnisvoll zu meinemMann: »Ich weiß, ich weiß: Frau abgestürzt – brauchtUrwald.«

Es war schließlich der Anruf von Werner Herzog, der michdazu brachte, nach 14 Jahren Pause wieder in den Regenwaldund nach Panguana zu fahren. Welche Bedeutung diese Reisefür die Aufarbeitung meines Unfalls hatte, beschrieb ichbereits. Ein zweiter, nicht weniger wichtiger Aspekt war, dass

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bereits. Ein zweiter, nicht weniger wichtiger Aspekt war, dassich endlich Panguana, Moro und seine Familie wiedersah. Mirwurde klar, dass für mich die Zeit gekommen war,Verantwortung für die Forschungsstation, den Wald und seineBewohner zu übernehmen. Noch war das in erster Linie dieSache meines Vaters, der inzwischen das stattliche Alter von84 Jahren erreicht hatte. Noch immer kümmerte er sich umalle Belange, schrieb Moro detaillierte Briefe, in denen er ihn,wie all die Jahre zuvor, mit »Señor« ansprach, am Endeallenfalls einmal mit »estimado amigo«, also »geschätzterFreund«. Weiterhin betreute mein Vater Studenten undDoktoranden, wenn sie sich für ein Thema, das mit Panguanazu tun hatte, interessierten. Und immer noch hatte er aus seinerZeit in Peru Forschungsergebnisse aufzuarbeiten undauszuwerten. Auch während seines Ruhestandes besuchte ereinmal in der Woche das Zoologische Institut in Hamburg, woer sich um die Reptilienabteilung verdient gemacht hatte.

Er hatte noch so viele Pläne. Neben einem Buch über dieLebensformen der Menschen, von dem er schon sprach, alsich noch ein Teenager war, hatte er auch begonnen, seineLebensgeschichte aufzuschreiben. Leider kam es nur zu denersten Kapiteln, und das unvollendete Manuskript brichtausgerechnet kurz vor seiner Abreise nach Peru ab. Mitten indiesen vielfältigen Arbeiten überraschte ihn eine schwereErkrankung, die im Jahr 2000 zu seinem Tod führen sollte.

Danach habe ich beschlossen, das Erbe meiner Elternanzutreten und die Studien, die vor so langer Zeit begonnenwurden, weiterführen zu lassen. Eine große Hilfe war es, dassmein Mann mich von Anfang an dabei unterstützte. Seit erwährend der Dreharbeiten für Werner Herzogs

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während der Dreharbeiten für Werner HerzogsDokumentarfilm zum ersten Mal an jenen Ort gekommen war,der mein Leben so entscheidend geprägt hatte und außerdemfür mein Überleben nach dem Absturz verantwortlich war,hatte auch ihn die Begeisterung für dieses Fleckchen Erdegepackt.

Als ersten Schritt setzten wir Moro endlich offiziell alsVerwalter und meinen Vertreter vor Ort ein und legten diesschriftlich nieder. Auf diese Weise hat er gegenüber Nachbarnund Behörden einen ganz anderen Stand und kann PanguanasSache noch besser vertreten, als er es all die Jahre auch ohneoffiziellen Auftrag ohnehin schon tat. Denn noch immer war dieMotivation meiner Eltern, den Wald zu erforschen, ohne ihnauszunutzen, vielen Einheimischen vollkommen fremd.Inzwischen trägt Moros Arbeit Früchte. Und natürlich fandauch in Peru in den vergangenen 30 Jahren ein Umdenkenstatt. Heute gibt es in den Schulen das Fach EducaciónAmbiental, also »Umwelterziehung«, und in diesem Rahmenbesuchen uns immer wieder Lehrerinnen und Lehrer mit ihrenSchulklassen. Langsam, aber sicher beginnt sich auch derGedanke durchzusetzen, dass es vielleicht keine so gute Ideeist, den Regenwald abzuholzen, um Rinder auf Weiden zuzüchten, die dort gar nicht gedeihen. Inzwischen gibt es sogarschon Aufforstungsprogramme und Umweltreferenten, diedafür sorgen sollen, dass nicht alles zerstört wird.

Auch der Gemeinderat von Yuyapichis kam zu uns undwollte sich vor Ort informieren, was wir hier tun. Sie warensehr angetan von dem, was sie sahen, und erfuhren auch, wasMoro dabei leistet. Inzwischen hat sich Moro alshervorragender Führer im Urwald erwiesen. Er kennt nicht nur

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hervorragender Führer im Urwald erwiesen. Er kennt nicht nurseit seiner frühen Kindheit alle Tiere und Pflanzen, inzwischenhat er sich auch den Naturschutzgedanken zu eigen gemacht.Wie sehr freute ich mich, als ich das erste Mal miterlebenkonnte, wie begeistert und mitreißend er den Kindern denWald erklären kann. Inzwischen ist es auch zur Traditiongeworden, dass jedes Mal, wenn eine Gruppe vonWissenschaftlern nach Panguana kommt, die Schulen eineKlasse herschicken, damit sie sich darüber informieren kann,was diese Leute aus Europa oder anderen Teilen der Welt hiereigentlich machen.

Dieses Verständnis in der Bevölkerung und die Akzeptanzunserer Nachbarn sind enorm wichtig für unsere Arbeit. Dennwas nützt es, wenn wir mit Panguana einen winzigen Fleck»heile Welt« schaffen, aber ringsumher der Regenwald zerstörtwird?

Um diese Entwicklung wirklich aufhalten zu können, daswar mir sehr früh schon bewusst, brauchen wir Mitstreiter, undzwar in Peru ebenso wie in Europa. Wir brauchen Mittel, diemeine privaten Möglichkeiten bei Weitem übersteigen. Daswurde mir spätestens klar, als ich die inzwischen längsteingemottete Akte am Landwirtschaftsministerium einsehendurfte, die in den 70er-Jahren, als mein Vater sich schon fürdieses Ziel einsetzte, angelegt worden war.

Ein Hauptargument der Gutachten gegen einNaturschutzgebiet lautete, Panguana sei zu klein. Also musstenwir es vergrößern, Land erwerben, die Forschungsstationausweiten. Dafür brauchte es Geld, viel Geld, das ich privatnicht aufbringen konnte. Eine Lösung schien nicht in Sicht.

Da tat sich, wie oft in meinem Leben, eine wunderbare

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Da tat sich, wie oft in meinem Leben, eine wunderbareChance wie von selbst auf. Über einen Artikel, den ich für dieMünchner Universitätszeitschrift »Aviso« gemeinsam mitmeinem Kollegen Prof. Ernst-Gerhard Burmeister überPanguana geschrieben hatte, wurde das Ehepaar Margarethaund Siegfried Stocker, die Besitzer der Hofpfisterei, desgrößten mittelständischen, ökologisch produzierendenBäckereibetriebs Deutschlands, auf Panguana aufmerksam.Als wir uns wenig später zufällig bei einer Vernissage derKünstlerin Rita Mühlbauer, die für die Hofpfisterei regelmäßigKunstpostkarten fertigt und auch schon in Panguana malte, inder Zoologischen Staatssammlung persönlich begegneten, dasagte mir Siegfried Stocker, dass er beim Lesen des Artikelsspontan gedacht hatte: »Hier möchte ich mich engagieren!«

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis es wirklich zu derZusammenarbeit kam, die wir heute pflegen und über die ichsehr glücklich bin. Zuerst einmal lernten wir uns in Ruhekennen, und das Ehepaar Stocker wog alle Für und Widereiner Sponsorenschaft für Panguana gründlich ab. Doch amEnde wurde ein Traum für mich wahr: 2008 haben Siegfriedund Margaretha Stocker entschieden, Panguana durch denZukauf von durch Brandrodung gefährdeten Flächen zuunterstützen und einen grundlegenden, langfristigen Beitrag zumAusbau der Forschungsstation zu leisten.

Es ist eine Partnerschaft, die gut passt. Waren meine ElternPioniere, so waren es die Stockers nicht minder. Zu Beginnder 70er-Jahre auf einen rein ökologischen Bäckereibetrieb zusetzen, das hielten damals viele für reichlich riskant. Mit ihrerSelbstverpflichtung zur Nachhaltigkeit in ihrerUnternehmensführung, dem ökologischen Anbau der Zutaten

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Unternehmensführung, dem ökologischen Anbau der Zutatenfür die Brote und dem Verzicht auf alle chemischen Zusätzewaren sie damals ihrer Zeit weit voraus, ganz ähnlich wie meinVater, der bereits über ökologische Zusammenhängenachdachte, als Ökologie im breiten Bewusstsein unsererGesellschaft noch kein Begriff war. Als sich das EhepaarStocker dazu entschloss, Panguana zu unterstützen, wurde esmöglich, endlich einen entscheidenden Schrittvoranzukommen.

Auch in der peruanischen Umweltpolitik hat sich einiges zumGuten gewandelt. War der Naturschutz früher demLandwirtschaftsministerium unterstellt, so gibt es seit 2009 einneu geschaffenes Umweltministerium. Im Rahmen dieserUmstrukturierung wurde es möglich, auch private und kleinereGelände unter Naturschutz zu stellen. Zwar hieß es nun, nocheinmal von vorne zu beginnen – immerhin hatte ich bereitseinen Antrag an die ursprüngliche Naturschutzbehördegestellt –, aber ich sah, dass es sich lohnte, die ganze Arbeiterneut und noch detaillierter zu machen. Denn inzwischenkonnten wir dank unserer Sponsoren das bislang 186 Hektarumfassende Gelände auf 700 Hektar erweitern. Wir haben esneu vermessen lassen und hoffen, es nun so bald wie möglichin ein privates Naturschutzgebiet verwandeln zu können. Denndann hat unser Bemühen um die Erhaltung des Geländes einenneuen, offiziellen Status, sowohl der umliegenden Bevölkerunggegenüber als auch bei den Behörden. Es wird noch mehrrespektiert werden, denn es gibt leider heute noch viel zu viele,die nur den kurzfristigen Gewinn erstreben. In Panguana lebeneine Menge Tiere, und leider gibt es auch Menschen, die in

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eine Menge Tiere, und leider gibt es auch Menschen, die inihnen nur das Wild sehen, das man jagen könnte. Aber daskommt für uns natürlich nicht in Frage. Außerdem enthält unserWald eine Menge Edelhölzer, und es gibt Prospektoren, dieauf der Suche nach Mahagonibäumen durch die Regenwälderziehen. Haben sie einen gefunden, versuchen sie, ihn demBesitzer für 50 Dollar oder weniger abzuschwatzen, um ihndann mit einem vielfachen Gewinn weiterzuverkaufen. So einBaum braucht mehr als 100 Jahre, um eine Größe zuerreichen, die ihn für die Holzhändler interessant macht, undbei uns in Europa endet er dann als Fensterkreuz. Diewundervollen Lupuna-Bäume, denen die Indianer magischeKräfte zuschreiben, werden zu Sperrholz verarbeitet.

Moro ist es durch seinen Einsatz gelungen, all die Jahreunsere Tiere und Pflanzen zu schützen. Mit Sicherheit wird esfür ihn einfacher sein, wenn Panguana den offiziellen Statuseines Naturschutzgebietes erhält. Auch unsere indianischenNachbarn, die in einigen Kilometern Entfernung leben, habenverstanden, worum es uns geht, und haben versprochen, dasssie das Gelände respektieren. Auch sie binden wir in unserePläne mit ein, und im Gegenzug unterstützen wir sie in ihrenAnliegen, damit aus der ganzen Sache ein Miteinander wird,was langfristig für alle Beteiligten nur von Vorteil sein kann.Denn das haben viele Menschen inzwischen begriffen: Ist derWald erst zerstört, dann braucht es Jahrhunderte, bis erwieder nachgewachsen ist – wenn dies überhaupt geschieht.Inzwischen ändert sich das Klima, und die Flüsse trocknenaus. Die Jüngeren sehen das möglicherweise eher ein als dieÄlteren. Aber ich bin mir sicher, dass wir da viel bewegenkönnen. Panguana hat heute schon als Forschungsstation

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können. Panguana hat heute schon als ForschungsstationModellcharakter, als Naturschutzgebiet kann es das durchausebenfalls erreichen. Es müssen nicht immer riesigeNationalparks sein, auch kleine Flächen haben ihren Sinn, undnatürlich werden wir nach und nach versuchen, das Geländestetig zu vergrößern.

Wieder einmal packen wir unsere Koffer. Unsere Zeit inPanguana neigt sich – für dieses Mal – dem Ende zu. Nun gehtes wieder zurück nach Pucallpa und von dort über die Andennach Lima. Hier warten einige entscheidende Termine beimMinisterium auf mich, und ich freue mich schon darauf, einenweiteren Schritt auf unser Ziel hin machen zu können.

Alles begann hier im Urwald. Während meiner Odyssee,zwischen Tod und Leben, erhielt ich ein völlig neues Verhältniszu den Dingen. Ich habe gelernt, dass nichts, vor allem nichtdas Leben, selbstverständlich ist. Seither lebe ich jeden Tag,als sei es mein letzter. Dazu gehört auch, keine Streitigkeitenmit in die Nacht zu nehmen, so wie meine Eltern es mirvorgelebt haben. Und die Ehrfurcht vor der Natur, die hat sichbereits als Kind tief in mein Herz eingebrannt. Ich habe späterfestgestellt, dass nicht alle Biologen so denken. Meine Elternhaben mich nie belehrt, sie haben mir die Achtung vor derNatur als Selbstverständlichkeit vermittelt, und das ist für michheute das wichtigste Erbe.

Das Damals ist vergangen, und doch prägte es das Heute.Und ebenso prägt dieses Heute das Morgen. Der Regenwaldist so unbeschreiblich mannigfaltig, und obwohl seitJahrzehnten daran gearbeitet wird, begreifen wir erst einenBruchteil dessen, was ihn ausmacht. Auch in Panguana können

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wir nach rund einem halben Jahrhundert wissenschaftlicherArbeit immer noch unendlich viel entdecken. Es gibt Kollegen,die untersuchen wochenlang einen einzigen umgestürztenBaumstamm und finden gleich Hunderte neuer Insektenarten.Panguana zum Naturschutzgebiet erklären zu lassen, das ist fürmich erst der Beginn. Ich habe noch viele Träume, einer davonist zum Beispiel, irgendwann einmal auf unserer StationBaumkronenforschung betreiben zu können.

Oft muss ich daran denken, wie schön es wäre, wenn meineEltern sehen könnten, was wir heute erreicht haben. DassPanguana auch nach so langer Zeit noch existiert. Wie dasGebiet gewachsen ist und weiter wachsen wird. Dass jährlichso viele Wissenschaftler aus aller Welt hierherkommen undihren Teil dazu beitragen, dass wir die Wunder desRegenwalds immer besser verstehen. Ich bin mir sicher, eswürde sie glücklich machen. Ich habe ihr Erbe auf allenEbenen angenommen, mit der Zukunft fest im Auge. DieZukunft des Regenwalds, über dem ich abstürzte, der michaufnahm und rettete und mir so viel schenkte, ist auch dieZukunft der Menschheit, unseres Klimas und unseres PlanetenErde. Wer so stark damit verbunden ist wie ich, wird niemalsaufhören, sich um seinen Erhalt zu kümmern.

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Dank

Meine Eltern lehrten mich die Liebe zur unendlichen Vielfaltdes Regenwalds und ermöglichten mir damit letztendlich auchdas Überleben in ihm.

Mein neues Leben verdanke ich maßgeblich den fünfHolzfällern, die mich nach fast elf Tagen im Urwald fanden undretteten. Stellvertretend für sie möchte ich Marcio Rivera undAmado Pereira erwähnen, die mich in die Zivilisationzurückbrachten.

Die Ärzte des Instituto Linguístico de Verano inYarinacocha und ihre Familien, die mich so herzlichaufnahmen, sorgten für meine schnelle Genesung. Ihrselbstloses Engagement werde ich nie vergessen.

Ohne die Familien von Edith Noeding und Gaby Hennigsowie viele weitere Freunde, die mich in Lima unterstützten,wäre die Eingliederung in mein Leben nach dem Absturz nichtso schnell gelungen.

Meine Tante Cordula Koepcke nahm mich in Kiel auf undhalf mir, mich in Deutschland und besonders in der Schuleschnell und gut zurechtzufinden. Sie sorgte maßgeblich dafür,dass ich bald eine neue, ansprechende Heimat finden konnte.

Die gesamte Familie Módena in Peru, in erster Linie aber»Moro«, seine Mutter Doña Lida, seine Frau Nery sowieseine Schwestern Luz, Pola und Gina waren stets hilfsbereitund nahmen mich wie selbstverständlich in ihre Familien auf.

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und nahmen mich wie selbstverständlich in ihre Familien auf.Dass Panguana noch heute nach über 40 Jahren besteht, istallein ihnen zu verdanken.

Seit meiner Kindheit steht mir der gute Freund unsererFamilie Alwin Rahmel in Lima wie selbstverständlich helfendzur Seite. Er rettete mich aus vielen schwierigen Situationenund führte mich durch das Labyrinth der Bürokratie.

Prof. Dr.Ernst Josef Fittkau betreute in München meineDoktorarbeit über Fledermäuse und ermöglichte mir so eineintensive Rückkehr in den Regenwald von Panguana.

Der Regisseur Werner Herzog führte mich an den Ortmeiner Erinnerungen zurück, und seine behutsame Filmarbeitbewirkte, dass ich heute viel gelassener und aufgeschlossenermit meinem Schicksal und den Reaktionen der Öffentlichkeitumgehen kann.

Siegfried und Margaretha Stocker bin ich für die großzügigeFörderung von Panguana außerordentlich dankbar. Ohne ihrlangfristiges Engagement wäre unser Ziel, dieForschungsstation in ein Naturschutzgebiet umzuwandeln,noch immer unerreichbar.

Meine Agentin Christine Proske von Ariadne-Buch inMünchen sowie Bettina Feldweg und ihre Kolleginnen undKollegen vom Malik-Verlag ermunterten und bestärkten michdarin, nach so langer Zeit meine Erlebnisse detailliert zuveröffentlichen. Doch ohne die großartige, einfühlsame Arbeitvon Beate Rygiert wäre dieses Buch nie entstanden. UnsereRedakteurin Gabriele Ernst sorgte für den letzten Schliff amManuskript.

Mein Mann Erich teilt mit mir die Begeisterung für denRegenwald und ist meine Quelle der Kraft. Seine tatkräftige

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Regenwald und ist meine Quelle der Kraft. Seine tatkräftigeAufmunterung und sein Durchhaltevermögen haben mich schonmanches Mal davor bewahrt, aufzugeben.

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An der Hand meiner Mutter: im Alter von vier Jahren zum ersten Mal imUrwald auf der Suche nach seltenen Vögeln, 1959. [1]

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Nach langer Irrfahrt: Am 24.6.1950 heiraten meine Eltern in Lima. [2]

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Glückliche Erinnerungen: Das Humboldt-Haus in Miraflores ist von 1956bis 1967 mein Zuhause und gleichzeitig Unterkunft für zahllose

Wissenschaftler. [3]

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Unbekanntes Terrain: Meine Eltern entdecken 1952 in Zárate, an derWestseite der peruanischen Anden, einen spektakulären Bergwald, hier

1955. [4]

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Der Schwerpunkt ihres Lebens: meine Eltern an ihrem Arbeitsplatz imNaturhistorischen Museum in Lima, 1960. [5]

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Ein unzertrennliches Team: Meine Mutter nimmt mich mit zu meinemersten Ritt in den Anden, 1959. [6]

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Wachsam: Schäferhund »Lobo« auf unseren Kisten vor dem Umzug nachPanguana, Ende 1967. [7]

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Panguana, Ende 1967. [7]

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Zoologisch nicht ganz korrekt: Die von mir vergötterte Münsterländer-Hündin trägt ausgerechnet den Namen »Biene«, 1957. [8]

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Kinderpflichten: auf dem Heimweg von der Humboldt-Schule, um 1960.[9]

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Ungemütlich: beim Zelten in den kalten Bergen von Zárate, um 1959. [10]

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Zimmer mit Aussicht: mit Mutter und Hund »Lobo« in unserem neuenZuhause im Regenwald, 1968. [11]

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Für das wissenschaftliche und leibliche Wohl: Arbeitshaus undKüchenhütte, 1969. [12]

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Selbstversorger: Meine Mutter backt uns Sauerteigbrot, 1969. [13]

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In luftiger Höhe: das ursprüngliche Stationshaus von Panguana, einetraditionelle Indianerhütte, 1971. [14]

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Leben zwischen Kisten und Kartons: Termiten und Ameisen gefährdenständig unseren Hausstand, 1969. [15]

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Typische Arbeitshaltung: meine Mutter bei der Vogelbeobachtung imUrwald, 1970. [16]

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Systematisierung: Mein Vater dokumentiert unsere neue Umgebungfotografisch, 1970. [17]

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In den Fußstapfen meiner Eltern: mit 14 Jahren auf Schmetterlingsfang amRío Yuyapichis, 1969. [18]

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Fast wie eine echte Ureinwohnerin: Das Steuern einer Canoa mit Paddelund Stakstange erfordert viel Geschick, 1969. [19]

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In Erinnerung: Diese Serie mit Vogelbriefmarken zeigt Aquarelle meinerMutter aus dem Urwald von Panguana und erschien 1972 nach ihrem Tod.

[20]

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Der letzte unbeschwerte Abend: am 22.12.1971 mit meinem Begleiter aufdem Schulabschlussball, eineinhalb Tage vor dem Unglück. [21]

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Nach meiner Rettung: Zeitungsberichte über die Bergung der Absturzopferin der peruanischen Presse, links oben das traurige Bild eines Vaters mit

den Überresten seiner 14-jährigen Tochter, Januar 1972. [22]

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Eine Krone aus Blättern: Blick in das 20 bis 50 Meter hohe Dach desUrwalds von Panguana. So ähnlich sah es auch an der Absturzstelle aus,

2010. [23]

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Gerettet: Das erste Foto nach dem Absturz zeigt mich in Tournavista, woich zunächst medizinisch versorgt werde, 4.1.1972. [24]

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Unser Wiedersehen: mein Vater zu Besuch an meinem Krankenbett. [25]

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Hinter den Spiegel geblickt: Meine Jugend ist zu Ende. [26]

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Berühmtheit 1: eine Titelseite mit »Comicheldin« Juliane. [27]

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Berühmtheit 2: einer aus Hunderten von Briefen ohne genaue Adresse, diemich trotzdem alle erreicht haben. [28]

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Zum Gedenken: das Grabmal »Alas de Esperanza« in Pucallpa, in dem diemeisten der Unfallopfer beerdigt wurden. [29]

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Späte Aufarbeitung: 1998 kehre ich für einen Dokumentarfilm von WernerHerzog an die Absturzstelle zurück. [30]

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Immer noch unfassbar: mit Werner Herzog vor der ehemaligen Flugzeugtür,1998. [31]

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Stumme Zeugen: Reste eines Kofferrahmens, des Räderwerks, derKabinenwand und der Instrumententafel aus dem Cockpit, 1998. [32]

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Zukunftsfragen: Besuch des Gemeinderats von Yuyapichis auf derForschungsstation Panguana, 2007. [36]

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Das Herz der Station: der Verwalter Carlos Vásquez Módena, »Moro«,und seine jüngste Tochter Carla Juliana, 2008. [37]

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Auf heutigem Stand: die Gästehäuser und das Labor in Panguana, 2009.[38]

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Glückliches Wiedersehen: 2010 mit meinem Retter Marcio Rivera inPuerto Inca. [39]

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Lieblingsvogel: Dieser Stärling gehört zur selben Art wie meine zahme»Pinxi«. [40]

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Schmuckstücke des Walds von Panguana: einer der zahlreichen buntenTagschmetterlinge, 2009. [41]

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Gefährliche Eskorte: Kaimane waren meine ständigen Begleiter im RíoShebonya, 2010. [42]

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Symbole meiner Wanderung und Rettung: Hoatzin oder Zigeunerhuhn aufeinem Riesenschilf-Stengel, 2010. [43]

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Herausragend: Der 50 Meter hohe Lupuna-Baum ist das Wahrzeichen vonPanguana. [44]

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Bildnachweis

Fotos im Text: Archiv Juliane Diller (Kapitel 12, 13, 16),Juliane Diller (Kapitel 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 10, 14, 15, 17),Houston Museum of Natural History (Kapitel 18), MathiasJaschhof (Kapitel 9), stern (Kapitel 11)

Fotos im Bildteil: Archiv Juliane Diller (Bild 22, 27), ErichDiller (Bild 30, 31, 33, 36, 39), Juliane Diller (Bild 1–21, 28,29, 32, 34, 35, 37, 38, 40, 41, 44), Mathias Jaschhof (Bild23, 43), Life Magazine (Bild 24), stern (Bild 25, 26), FranzWachtel (Bild 42)

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