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ALLGEMEINES MUSIK, MUSIZIEREN, JUGEND UND … · 1 allgemeines Über musik, musizieren, jugend und...

Date post: 05-Jun-2018
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1 ALLGEMEINES ÜBER MUSIK, MUSIZIEREN, JUGEND UND JUGEND IM MUSIKUNTERRICHT I. DIE BEDEUTUNG DER MUSIK UND DES MUSIZIERENS FÜR DEN MENSCHEN 1. Die anthropologische Bedeutung der Musik Die anthropologische, das heißt, die von sozialen Gegebenheiten unbeeinflusste Beschaffenheit des Menschen, lässt sich weiter in die Phylogenese, die Geschichte der Menschheit und die Ontogenese, die Entwicklung des einzelnen Menschen einteilen. Verhaltensforscher, Ethnologen und Kulturanthropologen sind sich einig: Musik ist und war für die Entstehung der Menschheitsgeschichte und für die Entwicklung jedes einzelnen Individuums unabkömmlich. Bereits vor 50.000 Jahren wurde auf Musikinstrumenten musiziert, Musik hat kommunikative und mystische Bedeutung, eine befreiende und entlastende Funktion. Ontogenese sowie Phylogenese sind und wären ohne akustische, rhythmische, musische Reize und Geschehnisse nicht möglich. 1 2. Die Bedeutung der Musik für Gesellschaft und Umwelt Der Bildungs- und Umweltforscher Georg Picht schreibt in seinem Aufsatz „Wozu braucht die Gesellschaft Musik?“, dass eine Gesellschaft ohne Musik humanbiologisch nicht überlebensfähig sei. Dies kann man einerseits durch die „Allgegenwärtigkeit“ von Klang erklären: Musik ist durch ihre physikalische Eigenschaften fast immer und überall präsent – sie ist uns zu einem beständigen Umweltfaktor geworden. 1 Vgl.: Rauhe/Flender 1986:9ff Gruhn 2003:91ff
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1. Die anthropologische Bedeutung der Musik Die anthropologische, das heißt, die von sozialen Gegebenheiten

unbeeinflusste Beschaffenheit des Menschen, lässt sich weiter in die

Phylogenese, die Geschichte der Menschheit und die Ontogenese, die

Entwicklung des einzelnen Menschen einteilen.

Verhaltensforscher, Ethnologen und Kulturanthropologen sind sich einig:

Musik ist und war für die Entstehung der Menschheitsgeschichte und für

die Entwicklung jedes einzelnen Individuums unabkömmlich. Bereits vor

50.000 Jahren wurde auf Musikinstrumenten musiziert, Musik hat

kommunikative und mystische Bedeutung, eine befreiende und

entlastende Funktion. Ontogenese sowie Phylogenese sind und wären

ohne akustische, rhythmische, musische Reize und Geschehnisse nicht

möglich.1

2. Die Bedeutung der Musik für Gesellschaft und Umw elt

Der Bildungs- und Umweltforscher Georg Picht schreibt in seinem Aufsatz

„Wozu braucht die Gesellschaft Musik?“, dass eine Gesellschaft ohne

Musik humanbiologisch nicht überlebensfähig sei.

Dies kann man einerseits durch die „Allgegenwärtigkeit“ von Klang

erklären: Musik ist durch ihre physikalische Eigenschaften fast immer und

überall präsent – sie ist uns zu einem beständigen Umweltfaktor

geworden.

1 Vgl.: Rauhe/Flender 1986:9ff Gruhn 2003:91ff

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Geräusche, Klänge und Rhythmen wirken ständig auf die Menschen ein,

ohne dass sie es wirklich bewusst wahrnehmen und sich davon entziehen

könnten, da das „Weghören“ den Menschen ohne äußere Hilfe nicht

möglich ist.

Andererseits hängt die sozio-ökologische Funktion der Musik auch noch

mit der Entwicklung der Menschheitsgeschichte zusammen. Es ist

historisch belegt, dass es in der uns bekannten Menschheitsgeschichte

noch keine Gesellschaft ohne Musik gegeben hat.

Musik ist ein wichtiger Teil der verschiedensten Kulturen, welche für den

Menschen zur natürlichen Lebensbedingung geworden sind. Die Musik

hilft, das Gleichgewicht dieser lebensnotwendigen kulturellen Umwelt

aufrecht zu erhalten.2

3. Warum Menschen Musik machen – Musizieren als Spiel verstanden

Das menschliche Musizieren hat eine Art Spielcharakter .

Schon das Wort „Spiel“ ist eng mit dem Musizieren verknüpft, denkt man

nur daran, dass z. B. ein Musikant auf seinem Instrument spielt, und der

Instrumentalist schlicht als Spieler bezeichnet wird.

„Musizieren als Spiel verstanden, ist eine Möglichk eit der

Selbstdarstellung des Lebendigseins.“ 3

Zunächst wäre zu bemerken, dass das Spiel im menschlichen Leben eine

elementare Funktion hat. Das Spiel ist beim Menschen eine vorsoziale,

das heißt, allgemeinmenschliche, anthropologische Gegebenheit.

Das Spiel „bindet unausgelebte Triebenergien – oder von der

Person her interpretiert: das Spiel gibt ihr die Mö glichkeit,

unerfüllte Wünsche außerhalb der sozialen Realität

auszudrücken, das heißt ohne wesentliche soziale Konflikte

befürchten zu müssen ...“ 4

2 Vgl.: Rauhe/Flender 1986:9ff 3 Schönherr 1998:21 4 Klausmeier 1978:140

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Johan Huizinga schreibt in seinem Buch „Homo ludens“, dass alle

Kulturerscheinungen und –handlungen aus dem Spielen hervorgegangen

sind und die verschiedenen Arten des menschlichen Kulturverhaltens

Spielcharakter haben. Ebenfalls beschreibt er die Eigenschaften des

Spiels, die sich sehr gut auf das Musizieren umwälzen lassen:

- die Ambivalenz zwischen Ernst und Spaß – Leichtigke it und

Mühe

- die relative Freiheit von Bedingungen und Zwängen

- Geschlossenheit und Eigenheit, die sich aus den Vor gaben

(Spielraum, -feld, -materialien, -regeln) ergeben

- die Symbolkraft und Symboldeutung 5

Der Philosoph Hans-Georg Gadamer beschreibt in seiner Schrift „Die

Aktualität des Schönen“ ebenfalls die Merkmale des Spiels und somit

seine Bedeutung für die Kunst:

- Spiel ist das Hin- und Her einer Bewegung.

- Diese Bewegung ist nicht an ein Bewegungsziel gebun den. Sie

ergibt sich aus einem gewissen „Überschuss“. Für de n

Menschen ist das Spiel eine Form des Selbstausdruck es und

des Lebendigseins.

- Spiel hat und gibt Spielraum. 6

Was bedeuten diese Merkmale des Spiels nun für die Musik?

Der Spielraum wird insofern verstanden, als dass die Musik ein Hin und

Her zwischen Gebundenheit und Freiheit ist, das heißt, Musizieren bewegt

sich einerseits in einem geordneten Rahmen, der ein gemeinsames

Musizieren ermöglicht. Auf der anderen Seite bietet die Musik, je nach

Gattung und Epoche, größere oder kleinere Freiräume der Interpretation

und des persönlichen Ausdrucks.

5 Huizinga, J.: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956, in: Schönherr 1998:20 6 Gadamer, H.-G.: Die Aktualität des Schönen, Stuttgart 1977:29 f, in: Schönherr 1998:20f

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Die Symbolkraft des Spiels bezieht sich ebenfalls auf die Musik und das

Musizieren, denkt man nur an spezielle Gattungen wie Liebeslieder,

Fanfaren, Tanzstücke, Militärsignale, ..., die alle ihre Eigenheiten und

symbolischen Botschaften, auch ohne Worte vermitteln. Auch kann es

bloß die Geste des miteinander Musizierens sein, die symbolisch

Freundschaft, Zuneigung und Zusammengehörigkeit demonstrieren kann.

Doch das Symbolische in der Musik allein reicht nicht aus, es sucht seine

Ergänzung immer in der Deutung des Musizierenden.7

Das Musizieren angesehen als Form menschlichen Spiels bietet dem

Musizierenden also eine Möglichkeit, die Hürden und Schwierigkeiten bis

hin zum Klangerlebnis zu überbrücken, verringert die Gefahr einer

Verkrampfung und Theoretisierung des musikalischen Ausdrucks.

Außerdem erhält der Musizierende die Chance, Gemeinschaft zu erleben

und sich in der Gruppe selbst darzustellen.

Im Weiteren möchte ich nun die zwei Hauptkomponenten des

Musizierens, das Singen und das Instrumentalspiel näher erläutern.

4. Warum Menschen singen

Die erste Äußerungsart eines Menschen außerhalb des Mutterleibes ist

ein Schrei.

Nach Herzfeld8 haben alle oralen Äußerungsarten wie das Sprechen und

somit auch das Singen ihren Ursprung im Schrei.

Für das Neugeborene ist der Schrei vorerst lebensnotwendig, um seine

Vertrauensperson herbeizuholen, die seine Bedürfnisse stillt.

Der Schrei gehört also zur physisch-psychischen Ausrüstung des

Neugeborenen und hilft ihm, seine Unlustgefühle in Lust und

Wohlbehagen umzuwandeln (Kind hat Hunger – Kind schreit – Mutter

kommt – Mutter füttert Kind – Kind ist zufrieden und spürt Geborgenheit).

7 Vgl.: Schönherr 1998:19ff 8 Vgl.: Herzfeld: Magie der Stimme, Berlin 1961, in: Klausmeier 1978:29

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Ist das Kind zufrieden, weicht der „Alarmschrei“ einem lustvollen Schrei,

welcher weniger intensiv ist als der Schrei aus Not und anzeigt, dass sich

das Kind nun mit sich beschäftigt.

Das Lallen, welches durch die lustvolle Zone rund um den Mund angeregt

wird, richtet sich nicht an eine Außenperson, sondern ist reine

Beschäftigung des Kindes mit sich selbst. Lallgesänge drücken lustvolles

Behagen und Erleben des eigenen Körpers, Zufriedenheit aus.

Diese ersten Ausdrucksarten und ihre Mischformen (Jauchzen, Jammern)

finden sich als prägende Grundmuster des Singens in verschiedenen

Kulturen. So gestaltet zum Beispiel der lustvolle, helle Schrei eine Basis

für das Singen in verschiedenen afrikanischen Kulturen.

Das Jammern und Schluchzen ist im Gesang der Menschen des vorderen

Orients und das Jauchzen in alpenländischen Jodlern wiedererkennbar.

Der aggressive Schrei erinnert andererseits an moderne Beat- oder

Heavy-Metal-Stimmen, kann aber auch im Gesang mancher

ostafrikanischer Völker vernommen werden.

Diese Tatsachen erlauben es zu sagen, dass das Schreien und das Lallen

menschliche, vorsoziale Bedingungen für Singen und Sprechen sind, die

Motivation und Basis des menschlichen Singens im aggressiven, vielmehr

aber im lustvollen Schrei und libidinösen Lallen liegt.9

Laut N. Wallin ist Musik eine epigenetische, d. h. sich über vielfältige

Differenzierungsvorgänge entwickelnde tonale Lautäußerung, die aus den

frühesten menschlichen Lautgesten hervorgegangen ist und

phylogenetisch eine soziale Leistung in der Menschheitsentwicklung

darstellt.10

Singen heißt im Allgemeinen, einen Sprachtext mit musikalischen

Elementen, Melodien durch die Stimme zum Ausdruck zu bringen.

Die anfänglichen Entwicklungsschritte zum Singen passieren im

Enkulturationsprozess des Kindes.

9 Vgl.: Klausmeier 1978:28–44 10 Vgl.: Wallin, N.:Biomusicology, Pendragon Press, New York 1991:481 in: Gruhn 2003:93

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Enkulturation bedeutet, dass die Person die Kultur der zugehörigen

Gruppe erwirbt, im Fall des Kleinkindes ist es so, dass es in die Kultur

hineingeboren wird und hineinwächst. Der Enkulturationsprozess gründet

nun auf dem Faktum, dass der Mensch „zu früh“ geboren wird. Er bedarf

einer Pflegeperson, die sich einerseits um körperliche Versorgung, wie

Nahrungsaufnahme, Schutz und Wärme kümmert. Aber mindestens

genauso wichtig für das Neugeborene sind emotionale „Pflege“ und

Zuneigung.

Dieser Faktor spielt für das Singen im Enkulturationsprozess eine

bedeutende Rolle, denn je mehr Emotion einem Menschen in frühester

Kindheit zukommt, desto eher wird er später bereit sein, sich emotional zu

äußern und unter anderem auch zu singen.

(Klausmeier: Musizieren ist „der intensivste emotionale Ausdruck, den

sich Menschen in ihrer Kultur geschaffen haben. “ 11)

Singen ist auch ein wesentlicher Bestandteil des Kulturverhaltens und

dieses Kulturverhalten lernt das Kind anfänglich durch Imitation ,

Identifikation und Erfahrungswerte in der Realität .

Imitation bedeutet, dass das Kind seine Bezugspersonen und ihre

Handlungen genauestens nachahmt und Identifikation meint, dass das

Kind versucht, sich mit jenen Personen zu identifizieren und ihre

Aktivitäten zu verinnerlichen.

Dies passiert beim Singen zum Großteil durch die Eltern.

Singen vermitteln die Eltern durch

- ihr Verhalten, ihre Art Emotionen zum Ausdruck zu bringen,

- ihre Sprache, Sprachmelodie und Gestikulationen,

- ihre Art zu singen,

- ihre persönliche Einstellung zum Gesang und damit verbunden

- die Häufigkeit, wie oft sie dem Kind etwas vorsingen oder mit ihm

gemeinsam singen. (Ein Kind singt umso mehr, je mehr ihm

vorgesungen wird.)

11 Klausmeier 1978:12

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Im weiteren Entwicklungsprozess lernt das Kind seine verschiedenen

Stimmarten auszuprobieren und zu wechseln, vom lauten Schrei bis zum

leisen Jammern, bis sich der Klang und die Lautstärke seiner Stimme auf

einem mittleren Niveau einpendeln.

Mit ungefähr fünf Jahren ist die kindliche Stimme fertig entwickelt.

Nun könnte man meinen, dass viel mehr Menschen viel öfter und lieber

singen würden, viel häufiger ihre Gefühle durch Singen ausdrücken

würden: in der Realität ist dies nicht der Fall.

Dies kann man unter anderem auf bestimmte Hemmschwellen und

Hemmungsmechanismen zurückführen, die schon in früher Kindheit die

Singfreudigkeit beeinflussen.

Einerseits kann die Unlust zu singen, wie bereits genannt, auf zu wenig

emotionale Zuwendung im ersten Lebensjahr zurückgeführt werden.

Durch gefühlsarmen Umgang, wenig emotionsbetonte Zuwendung der

Eltern verringert sich beim Kind die Fähigkeit, seine eigenen Gefühle

auszudrücken, emotionsvoll zu agieren und unter anderem auch zu

singen.

Weiters entwickelt das Kind mit der Sauberkeitserziehung im nächsten

Lebensabschnitt ein Gefühl, das es vorher nicht kannte: Scham.

Menschen singen offen und frei, wenn sie sich nicht beobachtet fühlen, in

der Gruppe oder geselligen Runde, wenn sie sich „scham-los“ fühlen. In

der Öffentlichkeit alleine loszusingen trauen sich die wenigsten.

Jemand, der öffentlich laut singt, erregt eher Aufsehen, als dass sein

Singen als natürlicher Emotionsausdruck angesehen wird. Man könnte

fast sagen, es gehört zu den Verhaltensregeln der modernen Gesellschaft,

sich in der Öffentlichkeit leise, unauffällig und emotionsarm zu geben.

Eine weitere Hemmschwelle für das Singen bildet sich in der Pubertät

heraus. Die Stimme, ein sekundäres Geschlechtsmerkmal, wird mit der

ausreifenden Geschlechtsreife tiefer. Mit dem Ablöse- und

Selbstreifungsprozess verbunden ist eine gewisse Singverweigerung im

schulischen, aber auch im familiären Bereich.

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Der einzelne Jugendliche ist selten zum Singen zu bewegen, hingegen ist

Gesang der Gruppe nichts Außergewöhnliches. Dieses Singen ist oft laut,

emotionsgeladen, überschwänglich, fast ein wenig euphorisch und

manchmal sogar aggressiv. Hier soll der Gesang eben den revoltierenden

Aspekt und die Gemeinschaft Gleichaltriger zum Ausdruck bringen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Unlust am Singen

physiologische, entwicklungsbezogene und altersbedingte, aber auch

psychische Gründe, wie eine Ich-Schwäche oder mangelndes

Selbstwertgefühl haben kann.12

Nach meinen Ausführungen über das Singen möchte ich nun zu der

zweiten Hauptform des Musizierens, dem Instrumentalspiel kommen.

5. Warum Menschen auf Instrumenten spielen Die Grundlagen für das Singen werden als vorsoziale Bedingungen in den

ersten Lebensmonaten bereits mitbestimmt. Mit dem Instrumentalspiel

wird hingegen erst begonnen, wenn der Enkulturationsprozess bereits in

Gang ist und schon gewisse Spuren hinterlassen hat. Instrumentalspiel,

seine zugehörigen Bewegungen, Regeln und notwendigen Fertigkeiten

werden also sozial weiter gegeben.

Als weiteren Unterschied zum Singen – es passiert in gewisser Weise

innerhalb des Körpers - werden beim Spiel Instrumente, Objekte

außerhalb des Körpers verwendet, die auf unterschiedlichste Weise zum

Klingen gebracht werden können.

Die Frage, warum Menschen nun auf Musikinstrumenten spielen, kann

beantwortet werden, indem man das Instrumentalspiel in fünf Teilbereiche

unterteilt:

12 Vgl.: Klausmeier 1978:47ff

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- Eine wichtige Komponente liegt in der Bedeutung des

menschlichen Spiels .

- Der nächste Bereich behandelt die Körperbewegungen mit

deren Hilfe ein Instrument gespielt wird.

- Ein weiterer Motivationsgrund des Instrumentalspiels setzt sich

mit der Gestik auseinander, die in der Bewegung liegt.

- Der menschliche Wunsch nach Ausdruck soll ebenfalls

betrachtet werden.

- Im Instrumentalspiel und im Instrument selber liegen auch

symbolische Elemente .13

Nach der Beschreibung dieser fünf vorsozialen Bedingungen und

Motivationskomponenten möchte ich folgende Fragen stellen:

Warum beginnt eine Person zu spielen?

Welche Bedeutung hat das Instrumentalspiel für den Prozess der

kulturellen Entwicklung bei Kindern?

Die einfachsten und ersten Musikinstrumente der Kinder und auch

früherer Kulturen sind und waren die Hände.

Für das Kleinkind erscheint es als anregend und lustvoll, mit den Händen

Rhythmen und Geräusche zu erzeugen, zu klatschen, auf andere

Körperteile zu schlagen.

Im Folgenden erweitert es sein Körperinstrumentarium durch Rasseln,

Schellen und Stöcke, mit denen auf Hohlkörper und membranüberspannte

Resonanzkörper geschlagen wird.

Mit dem Instrumentalspiel an sich kann relativ früh, bereits zwischen dem

vierten und sechsten Lebensjahr begonnen werden.

Für musikalische Früherziehung und auch den Musikunterricht in der

Grundstufe eignet sich sehr gut das Orff-Instrumentarium, da dieses für

die Kinder leicht spielbar ist und doch einen befriedigenden Klangeindruck

hinterlässt.

13 Vgl.: Klausmeier 1978:108–13

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Der Erfolg des Instrumentalspiels eines Kindes steht, wie jener beim

Singen, in engem Zusammenhang mit der Einstellung der Eltern zum

Musizieren. Oft möchte ein Kind ein Instrument lernen, da dies der Vater

oder die Mutter auch spielen, also steht das frühe Instrumentalspiel in

enger Verbindung des Identifikationsprozesses des Kindes mit den

Elternteilen. Auch regen „musikalische“ Eltern eher ihre Kinder an, ein

Instrument zu lernen als jene, denen Musizieren nicht viel bedeutet.

Nicht zuletzt soll der wirtschaftliche Aspekt in Betracht gezogen werden:

Die Anschaffung eines Instruments und vor allem der

Instrumentalunterricht stellt für die Eltern eine doch nicht so geringe

finanzielle Belastung dar. Deshalb kann man beobachten, dass Kinder aus

sozial besser stehenden Schichten öfter Instrumentalunterricht erhalten

und auch „teurere“ Instrumente, wie z. B. das Klavier, spielen.

Dies soll nicht bedeuten, dass in der sozialen Mittel- oder Unterschicht

weniger musiziert wird – es besteht immer noch die Möglichkeit der

Vermittlung und Weitergabe des Spiels und des Instrumentes durch die

Eltern.

Auf die Frage, warum jemand mit dem Instrumentalspiel beginnt, kann

man also wie folgt antworten:14

- Die Eltern wollen, dass das Kind spielt.

Die Eltern sind entweder selber musikalisch, kennen die Bedeutung

und Wichtigkeit einer musikalischen Ausbildung oder möchten

ihrem Kind ermöglichen, was ihnen eventuell nicht möglich war.

- Das Kind möchte von sich aus spielen.

Das Kind hat eventuell „musikalische Anlagen“ vererbt bekommen

oder möchte spielen, da es Musizieren als neu und interessant

empfindet.

- Das Kind findet besonderen Gefallen an einem Instrument.

14 Vgl.: Klausmeier 1978:149–164

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Das Kind hat ein bestimmtes Instrument gesehen, gehört, kennen

gelernt und ist von seinem Klang und/oder Aussehen hingerissen.

- Vorbild-, Identifikationspersonen oder Freunde spielen auch.

Der Schulfreund oder Spielkamerad beginnt auch ein Instrument zu

lernen. Das Kind möchte eine Gemeinsamkeit mit seinen Freunden,

möchte in der Gemeinschaft der Musizierenden dabei sein.

Abschließend zu diesen Ausführungen wäre zu bemerken: Alle kulturellen

Handlungen, somit auch das Musizieren, werden in erster Linie von der

Familie und dem sozialen Umfeld der Familie angeregt.

Für pubertierende Jugendliche kann man generell Folgendes sagen:

Neben der Familie gilt vor allem das soziale Umfeld der Jugendlichen

selber als „Anreger von kulturellen Handlungen“. Der Ablöse- und

Veränderungsprozess wird durch eine konträre Art des Ausdrucks, wie z.

B. einen Wechsel des Musikinstruments, die Präferenz für Pop- und

Rockmusik und extreme Lautstärken demonstriert.15

Im nächsten Teil meiner Arbeit möchte ich hier an die Überlegungen über

die Kulturvermittlung an pubertierende Jugendliche anknüpfen und mich

mit der Bedeutung der Musik und des Musizierens für den

Jugendlichen und der sogenannten musikalischen Sozialisation

auseinandersetzen.

15 Vgl.: Klausmeier 1978:149–164

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IIII.. DDIIEE BBEEDDEEUUTTUUNNGG DDEERR MMUUSSIIKK UUNNDD DDEESS MMUUSSIIZZIIEERREENNSS FFÜÜRR DDEENN JJUUGGEENNDDLLIICCHHEENN –– MMUUSSIIKKAALLIISSCCHHEE SSOOZZIIAALLIISSAATTIIOONN

1. Sozialisation Unter dem Begriff Sozialisation versteht man im Allgemeinen den Erwerb

von kultur- und gesellschaftsspezifischen Verhaltensregeln, Normen und

Werten. Eigentlich könnte man sagen, dass jeder Erziehungsvorgang in

gewisser Weise Sozialisation ist.

Die Sozialisation spaltet sich auf in den Bereich der primären und der

sekundären Sozialisation: Die primäre Sozialisation passiert vor allem im

familiären Bereich durch die Sozialisationsinstanzen Eltern, Geschwister,

Verwandte, Pflegepersonen, aber auch Medien aller Art. Das Kind lernt in

dieser Phase erste Verhaltensformen, Einstellungen und Haltungen und

wird in gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen bereits entscheidend

geprägt.

Die Phase der sekundären Sozialisation, eine Phase der beginnenden

gesellschaftlichen Vervollständigung, baut auf die bereits entwickelten

Basisnormen und beginnt ungefähr mit dem Eintritt in den Kindergarten.

Während das Kind durch die primäre Sozialisation vorwiegend die

Einstellungen seiner Eltern und engsten Verwandten kennen lernte, wird

es nun mit neuen, oft anderen Normen und Wertsystemen konfrontiert.

Der Entwicklungsprozess des Kindes durchläuft im Kindes- bzw.

Jugendalter die Phasen der Nachahmung von Autoritäten über die

Loslösung von Autoritätspersonen und die Anlehnung an Freunde,

Gleichaltrige, Gleichgesinnte bis hin zur Entwicklung und zum Heranreifen

der eigenen Identität.

Die Gruppierung unter Gleichaltrigen, die in der Sprache der Soziologie

Bildung von Peers genannt wird, spielt in allen Entwicklungsphasen, aber

besonders in der Jugendzeit eine bedeutende Rolle.

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Denkt man hier zum Beispiel an die Sozialisationsinstanz „technische

Medien“, erzielen diese oft nur durch die Annahme und Vorliebe der

Gruppe ihre Wirkung. Kinder und Jugendliche wählen aus dem vielfältigen

Sozialisationsangebot aus, lehnen ab, nehmen an und schneidern auf sich

zu.

Da die eigenen Verhaltensweisen, Handlungen und Wahrnehmung in

diesem Lebensabschnitt sehr stark mit Gefühlen verbunden sind, eignet

sich die Musik als Ausdrucksmittel und Wahrnehmungsverstärker sehr gut,

da sie einerseits in ihrer Vielfalt verschiedensten Angebote des Ausdrucks

bietet, auf der anderen Seite in ihrer aktiven und passiven Form

Freizeitgestaltung, Zeitvertreib und Entspannung sein kann.16

2. Musikalische Sozialisation

Die Sozialisation eines Kindes, bzw. eines Jugendlichen wird deshalb

auch entscheidend von der umgebenden kulturellen Atmosphäre und

somit auch von der Musik geprägt und beeinflusst.

Musik wird im Leben des Heranreifenden aufgenommen, integriert und

wirkt sich auf die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit, Identität aus.

Andererseits erfolgt in diesen Phasen der primären und sekundären

Sozialisation eine grundlegende Prägung im musikalischen Verhalten:

Der Jugendliche im Alter zwischen zehn und fünfzehn Jahren durchlebt in

der Zeit der beginnenden bzw. sich fortsetzenden und abschließenden

Pubertät schwierige Phasen seiner persönlichen Entwicklung und

Entfaltung. Dies schlägt sich in seinem Musikverhalten nieder.

Umgekehrt kann die Musik und das Musizieren dem Jugendlichen hilfreich

sein, diesen von Veränderung und Emotion geprägten Lebensabschnitt

individuell bewältigen zu können.17

16 Vgl.: Helms/Schneider/Weber, Sekundarstufe I, 1997:11-19 Kleinen, G.: Sozialisation – Entwicklung – Selbstfindung, in: Helms/Schneider/Weber, Primarstufe, 1997:11f Haselauer 1980:20-24 17 Vgl.: Kleinen, G.: Sozialisation – Entwicklung – Selbstfindung, in: Helms/Schneider/Weber, Primarstufe, 1997:11f

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3. Zehn- bis Fünfzehnjährige Zehn- bis fünfzehnjährige durchleben die Phasen vom späten

Kindesalter (ungefähr ab neun Jahren) über die Vorpubertät (bei

Mädchen ungefähr ab elf, bei Burschen ab zwölf Jahren) bis hin zur

eigentlichen Pubertät (bei Mädchen ca. 13 Jahren, bei Burschen

wiederum ein Jahr später).

In dieser schwierigen Zeit der Ablösung, physischen und psychischen

Entwicklung, Neuorientierung, persönlichen Krisen, Autoritätsablehnung,

Opposition und Suche nach „Gleichgesinnten“ ist bei den Jugendlichen

eine starke Präferenz der Rock- und Popmusik und anderer moderner

Musikarten (Techno, Rave, ...) festzustellen.

Diese emotional geprägten Musikrichtungen helfen dem Jugendlichen in

seiner schwierigen Entwicklungsphase offensichtlich, seinen Gefühlen

„Luft zu machen“ und sich von den Eltern, von anderen Autoritätspersonen

durch eine andersartige, wildere Musikpräferenz abzugrenzen.

Rock- und Popmusik war lange Zeit verpönt und von der Musiksoziologie

sogar ignoriert, da sie

„einem niederen Grund, nämlich der Unterhaltung die ne...“ 18

So glaube ich, erschien sie den Jugendlichen geradezu geschaffen, ihre

Altersstufe und die damit verknüpften Anschauungen zu repräsentieren,

da sie von vielen Erwachsenen abgelehnt wird.

Mit biologischen Veränderungen verbunden sind ebenfalls Veränderungen

im Denk- und Lernbereich.

Lernen erfolgt zunehmend durch logisch sinnvolle Denkvorgänge und

weniger durch Imitation. Der Jugendliche entwickelt ein kritisch-

hinterfragendes Verhalten, welches in Verbindung mit der rationalen

Denkweise in gewisser Hinsicht dafür verantwortlich ist, dass dem

Heranwachsenden die kindlich-spielerische Ungezwungenheit verloren

geht.19

18 Adorno/Horkheimer: Aufklärung als Massenbetrug, Ort Jahr, in: Helms/Schneider/Weber, Sekundarstufe I, 1997:16 19 Vgl.: Münden 1993:10-15

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Dies zeigt sich auf musikalischer Ebene oft so, dass viele hauptschul-

pflichtige Kinder Schwierigkeiten haben, aus sich herauszugehen, ihre

Gefühle kundzutun und emotionale Ausdrucksformen, wie Tanz und

Gesang, meiden.

Außerdem ist der Pubertierende nun nicht mehr für jede Musikrichtung

und Art des Musizierens offen, sondern entscheidet und wählt für sich

nach seinem persönlichen Geschmack und Belieben.

In der Hauptphase der Pubertät verstärken sich die extremen

Verhaltensweisen der Jugendlichen noch weiter und drücken sich in

oftmaliger Gespaltenheit zwischen Emotionswelt und Realität aus.

Damit verbunden sind wiederum Konflikte, meist mit Eltern oder Lehrern,

und enorme Gefühlsschwankungen.

Neben dem Tiefer-Werden der Stimme (Stimmbruch), welches im

schulischen Bereich oft Singverweigerung bewirkt, verändert sich in der

pubertären Phase auch die Fähigkeit der Wahrnehmung des

Jugendlichen.

Jugendliche sind in vermehrtem Maße fähig, Teilbereiche der Musik, wie

zum Beispiel die Melodie oder den Rhythmus eines Musikstückes getrennt

wahrzunehmen, herauszuhören und natürlich auch subjektiv zu bewerten.

Außerdem entwickelt sich mit diesem Alter ein gewisses Harmoniegefühl

und damit für manche die eigentliche Fähigkeit, mehrstimmig zu singen,

obwohl dies mit den musikalischen Anlagen und der musikalischen

Ausbildung und Praxis eines Kindes zusammenhängt und mit vielen

Kindern schon früher mehrstimmig gesungen werden kann.

Es liegt nun am Erziehenden oder Ausbildenden, diese sich entwickelnden

Fähigkeiten des Jugendlichen geschickt zu fördern und zu unterstützen,

da in dieser Altersphase der Neuorientierung und Selbstfindung weitere

grundlegende Bausteine der kulturellen und schöpferischen Entwicklung

gelegt werden.20

20 Vgl.: Münden 1993:10-15

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Warum nun die Musik so bedeutsam für Jugendliche ist und unter

anderem einen wichtigen Stellenwert im Freizeitbereich einnimmt,

versucht Erik Erikson zu beantworten:

„Das mag daran liegen, dass Musik wie kein anderes

Phänomen einen aus den Anforderungen des Alltags

herausgehobenen Freiraum bildet, in dem gesellschaf tliche

Anforderungen ohne gravierende Konsequenzen zurücks tehen

können. Das korrespondiert mit der Auffassung der J ugendzeit

als psychosozialem Moratorium.“ 21

Eriksons Überlegungen können so verstanden werden, dass mit Hilfe der

Musik der Jugend eine Möglichkeit geboten werden kann, ihre starken

Emotionen ohne direkte Konfrontation mit der „verständnislosen“

Erwachsenenwelt ausleben zu können.

Durch die Musik, passiven Musikkonsum oder aber auch aktives

Musizieren kann der Jugendliche aus seiner „Problemwelt“ wegtauchen,

seine Aggression und überschüssige Energie abbauen.

4. Musikalische Abgrenzung, Gruppenbildung Der pubertierende Jugendliche steht in einer Übergangsphase zwischen

Kindheit und Erwachsen-Sein. Was Erikson als „psychosoziales

Moratorium“ bezeichnet, verstehe ich unter dem Begriff der Verlängerung

der Jugendzeit.

Das Jugendalter, und somit das indirekte Verbundensein mit dem

Elternhaus, verlängert sich durch die langen Ausbildungszeiten, und die

damit verbundene finanzielle Abhängigkeit zögert sich hinaus.

Der Jugendliche steht nun in einem inneren Konflikt, da sich einerseits in

ihm ein Prozess der Ablösung vollzieht, er aber andererseits dennoch

abhängig vom Elternhaus ist.

21 Erikson, E. in: Helms/Schneider/Weber, Sekundarstufe I, 1997:12

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Hier bedienen sich Jugendliche nun sogenannter „sozialer

Abgrenzungsriten“, deren Inhalte und Methoden Sprache, Mode, Technik,

Gruppenbildung, aber eben auch Musik sein kann.

Die musikalische Abgrenzung erfolgt, wie schon gesagt, unter anderem

durch Präferenzen lauter, wilder Musik, wie etwa Rock, Pop, Techno und

Heavy-Metal. Der Autoritätsprotest zeigt sich auch oft in der Ablehnung

der großen Meister der „alten“ Musik, die für den Jugendlichen meist weit

weg vom aktuellen Geschehen, seinem Umfeld sind, ihm als altmodisch

und unzugänglich erscheinen. Rock- und Popstars werden hingegen nicht

als Autoritätspersonen, sondern als „Gleichgesinnte“ angesehen, zu

denen man aufsehen kann und die als Idole und Vorbilder verehrt werden.

Das Suchen und Treffen von Gleichgesinnten und Verbündeten spielt im

Abgrenzungsprozess nämlich eine bedeutende Rolle: Protest ist in der

Gemeinschaft der Gruppe leichter möglich als im Einzelkampf. Außerdem

fühlt sich der Einzelne in der Gruppe sicher und bestärkt, seine konträren,

altersmäßig bedingten Anschauungen und Einstellungen offen zu zeigen.

Oft verbinden die Jugendlichen einer bestimmten Gruppe auch dieselben

Sorgen und Probleme, für die in der Gemeinschaft auch leichter Lösungen

gefunden werden können.22

Da die Musik in der Freizeitgestaltung der Jugendlichen einen großen Teil

einnimmt, erfolgt diese Gruppenbildung oft nach musikalischem Verhalten

und Interesse.

Folgende Zahlen geben Einblick:

� Im Jahr 2005 sind beim Chorverband Österreich, ehemals

Österreichischer Sängerbund, 369 Kinder- und Jugendchöre mit

insgesamt 11.667 Sängern gemeldet.

� 2006 sind beim Österreichischen Blasmusikverband 54.561

Unter-30-Jährige Mitglied.

� An Österreichs Musikschulen werden im Jahr 2004 rund 148.400

Schüler im Alter zwischen 5 und 20 Jahren unterrichtet.23

22 Vgl.: Abel-Struth 1984:239-245 23 Siehe: http://www.statistik.austria.at [27. 03. 2008]

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5. Musik und Erziehung

„Die antike Lehre vom Ethos Musik ist der Versuch, eine

empirische Erklärung für die Macht der Musik über d ie

menschliche Seele zu finden; die zugleich zur Begrü ndung

eines musikalischen Bildungsprogrammes dienen soll; dies

wird getragen von der Erwartung, dass die so mächti ge Musik

in der Lage sei, junge Menschen zum richtigen Verha lten zu

führen und für ihre Aufgaben im Staat auszurüsten.“ 24

Der Gedanke, Musik als sittlich-moralische Gesamthaltung in die

Erziehung einfließen zu lassen, ist sehr alt.

Der genaue Zeitpunkt ab dem Musik bewusst in die Erziehung mit

einbezogen wurde ist nicht geklärt; sicher ist, dass im griechischen

Altertum der pädagogische Nutzen der Musik bereits bekannt war und das

Ethos Musik auf die sittliche Bildung des Menschen übertragen wurde.

Man glaubte daran, dass der Natur, dem Mensch-Sein und auch der

Musik geordnete Zahlenverhältnisse zu Grunde liegen und dass Musik ein

seelisches Ungleichgewicht ausgleichen könne. Die Musik, besser gesagt

„musiqué“ – die Einheit von Musik, Dichtung und Tanz war ein fixer

Bestandteil des antiken Fächerkanons.

Die Idee, Musik erzieherisch zu verwenden, geht auf Zitate von Plato und

Aristoteles zurück.

Nach Plato ist Musik in der Lage

„den jungen Menschen sittlich zu beeinflussen und z u einem

moralisch vollkommenen Menschen zu erziehen, Musik vermag

den jungen Menschen zur Anständigkeit hinzuführen; Musik

kann den jungen Menschen zu den Kardinalstugenden

Tapferkeit und Besonnenheit führen; 25

24 Abel-Struth 1985:26 25 Vgl.: Abert 1986 in: Abel-Struth 1985:25ff

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Aristoteles koppelt die Bedeutung der Musik für Gesellschaft und Staat ab,

er sieht eher ihre Wichtigkeit für das Individuum.

In der Jugendzeit stehen Individuum und Charakter in der Entwicklung,

somit könnten eventuelle positive Einflüsse der Musik bessere Wirkung

zeigen.

6. Musik im Leben des Schulkindes und Jugendlichen

Die meisten Kinder haben in den ersten Schuljahren ein sehr positives

Verhältnis zur Musik, zum Singen, zum Tanz und zu musikalischen

Spielen. Dieses positive Verhältnis verstärkt sich vor allem, wenn der

Lehrer die Musik „vorlebt“, begeistert und authentisch wirkt. Lieder und

Tänze sind wichtig für das Kind, um sich selbst und seine Umwelt besser

begreifen zu können. (Der wissenschaftliche Beweis dafür kann durch die

Studie „Na, weil’s Spaß macht“26 geliefert werden.)

Was Kinder und Jugendliche auf musikalischem Sektor zu leisten im

Stande sind, untersuchte der englische Musikwissenschaftler Arnold

Bentley in den sechziger Jahren (Bentley-Test ). Diese Studien sind

ziemlich umfangreich und erlauben, Aussagen über gewisse Tendenzen

der musikalischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen im

Alter von zehn bis sechzehn Jahren zu treffen.

Eine grobe Reihenfolge der musikalischen Entwicklung kann in etwa wie

folgt festgelegt werden:

1. Rhythmus – 2. Melodie– 3. Klangfarbe – 4. Harmon ik

Das Kind im Alter von neun bis zwölf Jahren (Phase der reifen Kindheit)

verändert sein Verhältnis zur Musik, indem sich nach und nach ein

steigendes harmonisches Empfinden ausprägt.

Außerdem ist in diesem Alter schon eine starke Präferenz rhythmisch

bestimmter Lieder und Instrumentalstücke zu erkennen.

26 Siehe: Langer/Preyer/Waldauf 2006:159ff

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Der Jugendliche zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren (pubertäre

Phase) verändert seine Einstellung zur Musik grundlegend.

Das Verhältnis des Jugendlichen zur Musik wird fast ausschließlich

bestimmt durch den Konsum von dynamisch und rhythmisch stark

geprägter Unterhaltungsmusik, das Umsetzen der Musik in

Körperbewegungen (vom Mitklopfen und Mitwippen bis hin zum Tanz) und

das Wissen, der Informationsdrang über die Musik. (Letzteres meint nicht

das Wissen um die formalen, rhythmischen, melodischen und

theoretischen Aspekte der Musik, sondern mehr das Wissen um das

„Drum-Herum“, Information über Stars, Interpreten, neu heurausgebrachte

Alben, ...)

Musikalische Aktivität stirbt aber dennoch nicht aus und lässt sich

heutzutage in wachsender Form vor allem im Freundeskreis und in der

Gruppe beobachten.27

7. Soziale Faktoren und musikalisches Lernen

Viele Wissenschaftler stellten und stellen sich die Frage, ob die soziale

Herkunft, das Elternhaus und das Umfeld in welchem ein Kind aufwächst,

eine Rolle für die musikalischen Präferenzen spielen und/oder

Auswirkungen auf musikalisches Können und Begabung haben:

• Anfang des 19. Jahrhunderts gibt es bereits unter anderem bei

Brehmer und Walker Diskussionen über Milieu und Anlage in

Bezug auf die Musikalität von Kindern28

• Bei den Tests von Gilbert erzielen Kinder aus gehobeneren

Schichten bessere Ergebnisse als Kinder aus niederen sozialen

Schichten.29

27 Vgl.: Lemmermann 1984:85-93 28 Siehe: Brehmer, F.: Melodieauffassung und melodische Begabung des Kindes, in: Z. für angewandte Psychologie, Beih. 36, 1925/ Walker, E.: Das musikalische Erlebnis und seine Entwicklung, Göttingen 1927; in: Abel-Struth 1984 29 Siehe: Gilbert, G. M.: Sex Differences in Musical Aptitude and Training, in: J. of General Psychology, 26, 1942

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• Gaston misst den sozialen Bedingungen große Bedeutung zu.30

• Nach Gordon hingegen ist der soziale Hintergrund für die

musikalischen Vorlieben nicht von Bedeutung.31

• Schaffrath und Behne erkennen eine stärkere Präferenz der

klassischen Musik bei höheren Schichten.32

Abel-Struth und Gembris ergänzen diese Erkenntnisse indem sie sagen,

dass nicht nur das sozio-ökonomische Umfeld, sondern auch die

Vorlieben, Einstellungen und Vorurteile der Eltern in großem Maße

beeinflussend wirken. Ob ein Kind singt oder nicht, bzw. bereit ist zu

singen, hängt stark von der „Singbereitschaft“ der Mutter und dem

häuslich-musikalischen Umfeld ab. Viele musikalischen Vorlieben von

Kindern und Jugendlichen gehen also nicht auf „musikalische

Entscheidungen“ sondern auf soziale Gegebenheiten und Gewohnheiten

zurück.33

30 Siehe: Gaston, E. Th.: Gaston Test of Musicality. Massachusetts St. Lawernce, Kansas 1957, in: Abel-Struth 1984 31 Siehe: Gordon, E.: Musical Aptitude Profile, Boston, Mass 1965, in: Abel-Struth 1984 32 Siehe: Schaffrath, H.: Einflussfaktoren im Schülerurteil, in: FME 1975, Mainz 1975/ Behne, K. E.: Musikalische Konzepte. Zur Schicht- und Altersspezifität musikalischer Präferenzen, in: FME Mainz 1975/ Behne, K. E.: Zur Struktur und Veränderlichkeit musikalischer Präferenzen, in: ZfMP1, 1976 33 Vgl.: Abel-Struth 1985:176ff Gembris 2002:192ff


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