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PHILOSOPHIE UND AKTUALITÄT
PASSAGEN FORUM
02 Schmutztitel.p65 22.03.2005, 15:455
02 Schmutztitel.p65 22.03.2005, 15:456
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Alain Badiou
Das Ereignis denken
Wir fragen uns heute Abend, auf welche Art sich
die Philosophie einmischt – ins Zeitgeschehen, in
historische und politische Fragen und so weiter –
und was die Natur dieser Einmischung ist. Warum
sollte sich der Philosoph in Fragen des Zeitgesche-
hens einmischen? Slavoj ̧ i&ek und ich werden dar-
über ein paar anfängliche Überlegungen anstellen
und anschließend diskutieren. In vielerlei Hinsicht
sind wir uns allerdings einig und können Ihnen
daher keine Schlacht versprechen; aber wir tun, was
wir können.
Zuerst, glaube ich, müssen wir uns von einer fal-
schen Vorstellung befreien: dass die Philosophie
über alles sprechen könne. Diese Vorstellung ge-
hört zur Figur des Fernseh-Philosophen: er spricht
über Gesellschaftsprobleme, über Probleme des
Zeitgeschehens . . . Warum diese Vorstellung falsch
ist? Weil der Philosoph seine eigenen Probleme
schafft; weil er Erfinder von Problemen ist und
nicht jemand, den das Fernsehen allabendlich nach
seiner Meinung zum Tagesgeschehen fragen kann.
Ein echter Philosoph entscheidet selbst, welche
Probleme wichtig sind. Er schlägt neue Probleme
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vor. Philosophie ist vor allem das Erfinden neuer
Probleme.
Es folgt daraus, dass der Philosoph sich dann
einmischt, wenn ihm in einer Situation – sei diese
historisch, politisch, künstlerisch, amourös, wis-
senschaftlich oder was auch immer – bestimmte
Dinge als Signal dafür gelten, dass es ein neues Pro-
blem zu erfinden gilt. Ja, der Philosoph mischt sich
ein, wenn er im Zeitgeschehen Signale für die Not-
wendigkeit eines neuen Problems und einer neu-
en Erfindung entdeckt. So ergibt sich die Frage:
Unter welchen Bedingungen findet der Philosoph
in einer bestimmten Situation Signale für ein neu-
es Problem und ein neues Denken? An diesem
Punkt möchte ich unsere Diskussion beginnen.
Führen wir zuerst den Begriff der „philosophi-
schen Situation“ ein. Es spielen sich in der Welt
alle möglichen Dinge ab, ohne dass es sich dabei
um Situationen für die Philosophie, um philoso-
phische Situationen handelt. Fragen wir uns also:
Wie sieht eine Situation aus, die tatsächlich eine
Situation für die Philosophie, eine Situation für
philosophisches Denken ist? Damit Sie in etwa
wissen, was ich meine, werde ich Ihnen drei Bei-
spiele philosophischer Situationen nennen.
Das erste Beispiel ist, wenn ich so sagen darf,
bereits philosophisch formatiert. Wir finden es in
Platons Dialog Gorgias, der den äußerst heftigen
Zusammenprall zwischen Sokrates und Kallikles
schildert. Dieser Zusammenprall schafft eine phi-
losophische Situation, die noch dazu fast dramati-
sche Züge trägt. Warum? Weil das Denken Sokra-
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tes’ und das Denken Kallikles’ keinen gemeinsa-
men Maßstab haben, das eine dem anderen fremd
ist. In seiner Beschreibung der Diskussion zwi-
schen Kallikles und Sokrates zeigt uns Platon, was
es heißt, wenn zwei Gedanken inkommensurabel
sind, so wie etwa die Diagonale und die Seite eines
Quadrats. Diese Diskussion ist das Aufeinander-
Bezogensein zweier Begriffe, die keine Beziehung
zueinander haben. Kallikles behauptet, das Recht
sei die Macht und der glückliche Mann der Tyrann,
ein Mann, der sich mit List und Gewalt über die
anderen hinwegsetzt. Sokrates meint, der wahr-
hafte Mensch, der glückliche, sei der Gerechte im
philosophischen Sinne des Wortes. Zwischen der
Gerechtigkeit als Gewalt und der Gerechtigkeit als
Denken besteht keine schlichte Opposition, die
wir mit Argumenten angehen könnten, denen eine
gemeinsame Norm zu Grunde liegt. Hier fehlt jeg-
liche Beziehung. Also ist die Diskussion gar keine
Diskussion: Sie ist eine Konfrontation. Wer den
Dialog liest, versteht, dass nicht einer den ande-
ren überzeugen, sondern es einen Sieger und ei-
nen Besiegten geben wird. Das erklärt, warum in
diesem Dialog Sokrates’ Methoden kaum anstän-
diger sind als die von Kallikles. Hier heiligt der
Zweck die Mittel: es geht darum zu gewinnen, be-
sonders vor den Augen der jungen Leute, die der
Szene als Zeugen beiwohnen.
Am Ende unterliegt Kallikles. Zwar gesteht er
seine Niederlage nicht ein, er schweigt aber und
bleibt in seiner Ecke. Er unterliegt – allerdings nur
in dieser Inszenierung Platons. Sonst ist es wohl
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eher selten, dass jemand wie Kallikles der Besieg-
te ist. Das sind eben die Freuden des Theaters.
Was lehrt uns diese Situation über die Philoso-
phie? Ihre einzige Aufgabe ist zu zeigen, dass wir
eine Wahl treffen müssen. Wir müssen uns zwi-
schen zwei Denkarten entscheiden. Wir müssen
entscheiden, ob wir auf der Seite von Sokrates oder
auf der von Kallikles stehen. In diesem Beispiel zeigt
uns die Philosophie das Denken als eine Wahl, das
Denken als Entscheidung. Uns diese Wahl zu er-
klären ist ihre eigentliche Aufgabe. Wir können also
sagen: Eine philosophische Situation ist ein Mo-
ment, in dem eine Wahl deutlich wird; eine Wahl,
in der es um das Dasein oder das Denken geht.
Als zweites Beispiel dient uns der Tod des Ma-
thematikers Archimedes. Archimedes zählt zu den
größten Geistern der Menschheitsgeschichte. Noch
für uns heute sind seine mathematischen Texte be-
eindruckend. Schon über das Unendliche hat die-
ses außergewöhnliche Genie reflektiert – und da-
bei die Infinitesimalrechnung praktisch 2000 Jah-
re vor Newton erfunden.
Archimedes war Grieche, auf Sizilien geboren.
Als die Römer auf der Insel einfielen, kämpfte Ar-
chimedes im Widerstand und entwickelte Kriegs-
maschinen. Abwenden konnte das den Sieg der
Römer aber nicht.
Zu Beginn der römischen Besatzung nimmt Ar-
chimedes seine mathematischen Arbeiten wieder
auf. Er hat die Angewohnheit, geometrische Fi-
guren im Sand zu zeichnen. Als er so einmal am
Meeresufer über komplizierten, auf den Strand
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gezeichneten Figuren brütet, tritt ein römischer
Soldat, eine Art Bote, zu ihm und sagt, der römi-
sche General Marcellus wolle ihn sehen. Die Rö-
mer hegten für die griechischen Weisen eine leb-
hafte Neugierde, vielleicht in etwa so, wie sich der
Vorstandschef eines multinationalen Kosmetik-
Konzerns für einen renommierten Philosophen
interessiert. General Marcellus will also Archime-
des sehen. Unter uns: Ich kann mir nicht vorstel-
len, dass Marcellus viel Ahnung von Mathematik
hatte. Er wollte einfach sehen – und diese Neu-
gierde macht ihm Ehre –, wie ein Widerständler
vom Schlage Archimedes’ aussieht. So schickt er
ihm seinen Boten. Archimedes aber regt sich nicht.
„Der General Marcellus will dich sehen!“, sagt der
Soldat noch einmal, bekommt aber von Archime-
des wieder keine Antwort. Der römische Soldat,
der auch nicht gerade ein großes Interesse für die
Mathematik gehabt haben wird, versteht nicht, wie
man einen Befehl des Generals Marcellus ignorie-
ren kann. „Archimedes! Der General will dich se-
hen!“ Archimedes hebt unmerklich die Augen und
sagt dem Soldaten: „Lass’ mich meinen Beweis
beenden.“ Darauf der Soldat: „Dein Beweis kann
mir gestohlen bleiben: Marcellus will dich jetzt
sehen!“ Archimedes nimmt ohne eine Antwort
seine Rechnung wieder auf. Der vor Wut schäu-
mende Soldat zieht sein Schwert und streckt Ar-
chimedes nieder. Der fallende Körper verwischt
die Figur im Sand.
Warum handelt es sich hierbei um eine philoso-
phische Situation? Weil sie uns zeigt, dass es zwi-
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schen dem Recht des Staates und dem schöpferi-
schen Denken, insbesondere dem rein ontologi-
schen Denken der Mathematik, keinen gemeinsa-
men Maßstab gibt, keine echte Diskussion. Die
Macht ist die Gewalt; das schöpferische Denken
hingegen kennt keinen anderen Zwang als den der
ihm immanenten Regeln. Archimedes folgt den
Gesetzen seines Denkens und bewegt sich damit
außerhalb des Aktionskreises der Macht. Die
Eigenzeit des Beweises kann die Dringlichkeit der
militärischen Sieger nicht berücksichtigen; die Sze-
ne schlägt um in Gewalt – was zeigt, dass es kei-
nen gemeinsamen Maßstab, kein gemeinsames
Zeitmaß gibt für die Macht auf der einen Seite und
die schöpferischen Wahrheiten auf der anderen.
Erinnern wir uns an eine andere Begebenheit:
Während die US-Armee am Ende des Zweiten
Weltkrieges die Vorstädte Wiens besetzte, erschoss
ein G.I. das größte musikalische Genie der dama-
ligen Zeit, den Komponisten Anton Webern, ohne
zu wissen, wen er vor sich hatte.
Ein Unfall, eine schiefgelaufene philosophische
Situation.
Zwischen der Macht und den Wahrheiten be-
steht eine Distanz: die Distanz zwischen Marcellus
und Archimedes. Diese Distanz kann der Bote,
zweifellos ein stumpfer, aber disziplinierter Sol-
dat, nicht überbrücken. Die Aufgabe der Philoso-
phie ist hier, diese Distanz zu verdeutlichen. Sie
muss eine Distanz in Gedanken fassen, die maß-
los ist; sie muss selbst erst das Maß für diese Dis-
tanz erfinden.
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Slavoj ¸i&ek
Philosophie ist kein Dialog
Es wird zwischen uns kaum zu einem Dialog kom-
men, da wir weitgehend einer Meinung sind.
Könnte das aber – um mit einer Provokation zu
beginnen – ein Zeichen wirklicher Philosophie
sein? Ich bin mit Badiou einer Meinung, wenn er
mit Platon betont, Philosophie sei axiomatisch,
und die Frage aufwirft, wie sich der wahre Philo-
soph überhaupt erkennen lässt. Man sitzt sich im
Café gegenüber und wird aufgefordert: „Komm,
wir diskutieren das aus!“ Der Philosoph wird so-
fort sagen, es tue ihm Leid, er müsse los, und wird
zusehen, dass er schnellstmöglich verschwindet.
Ich hielt immer die späten Dialoge Platons für
seine im eigentlichen Sinn philosophischen. In ih-
nen spricht eine Person fast ununterbrochen; die
Einwürfe der anderen, im Sophisten zum Beispiel,
würden kaum eine halbe Seite füllen. Sie lauten
etwa „Du hast ganz Recht“, „Ganz offenbar“, „So
sei es“. Wieso auch nicht? Philosophie ist kein Dia-
log. Man nenne mir auch nur ein einziges Beispiel
eines erfolgreichen philosophischen Dialoges, der
nicht ein fürchterliches Missverständnis war. Das
gilt selbst für die prominentesten Fälle: Aristoteles
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hat Platon nicht richtig verstanden, Hegel – dem
das vielleicht gefallen hätte – hat selbstverständ-
lich Kant nicht richtig verstanden, und krasser
noch hat Marx – dem es vielleicht nicht darauf
ankam – Hegel missverstanden. Und Heidegger
hat im Grunde genommen alle in allem missver-
standen. Kein Dialog also, aber gehen wir weiter.
Lassen Sie mich das Problem auf übliche Weise
angehen. Es stimmt: Wir Philosophen sind heute
angesprochen, man fragt und fordert uns; erwar-
tet, dass wir eingreifen, uns einschalten in die eu-
ropäische Öffentlichkeit und so weiter. Wie sol-
len wir auf diese Forderungen reagieren? Ich den-
ke, nicht viel anders als – freilich nicht genau wie
– ein Psychoanalytiker auf einen Patienten: denn
auch der fordert etwas. Nur ist es selten mit die-
sen Forderungen getan. Es sind falsche Forderun-
gen; sie weisen aber auf ein wirkliches Problem
hin, das sie zugleich verschleiern. Kommen wir hier
auf das von Alain Badiou erwähnte Thema der In-
kommensurabilität zurück. In seinem grandiosen
Essay über den 11. September greift er den deleu-
zeschen Begriff der „disjunktiven Synthese“ auf.
Wenn man uns Philosophen etwas fragt, geht es
meistens um mehr als nur die Frage: Die öffentli-
che Meinung sucht nach Orientierung in einer
problematischen Situation. Zum Beispiel: Heute
befinden wir uns im Krieg gegen den Terror, und
das stellt uns vor gewaltige Probleme: Sollen wir
unsere Freiheit eintauschen gegen die Sicherheit
vor dem Terror? Sollen wir die liberale Offenheit
auf die Spitze treiben – auch wenn wir dabei unse-
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re Wurzeln kappen und unsere Identität verlieren
– oder unsere Identität stärker betonen? Aufzu-
zeigen, dass diese Wahlmöglichkeiten, vor denen
wir gemeinsam stehen, eine disjunktive Synthese
bilden, also falsche Alternativen sind, muss hier
die erste Geste eines Philosophen sein: Die Be-
griffe selbst der Debatte muss er verändern – was
meines Erachtens genau das Negativ dessen dar-
stellt, was Badiou als „radikale Wahl“ bezeichnet.
Konkret heißt das in unserem Fall: „Liberalismus“,
„Krieg gegen den Terror“ und der sogenannte „fun-
damentalistische Terrorismus“ sind alles disjunk-
tive Synthesen; nicht die radikale Wahl. Die Be-
griffe der Debatte müssen wir verändern. Um ein
weiteres Beispiel zu geben: Im Sommer 2003 ha-
ben die großen europäischen Philosophen, Derri-
da, Habermas und andere, selbst einige Amerika-
ner, sich ehrwürdig in die Öffentlichkeit einge-
mischt und für ein neues Europa plädiert. Spricht
das nicht Bände über ihre philosophischen Posi-
tionen? Es ist immer so: Die politische Überein-
stimmung von Philosophen verrät etwas über ihre
Philosophie. Nehmen wir Richard Rorty, mit dem
ich zwar philosophisch in keiner Weise überein-
stimme, den ich aber als intelligenten Liberalen
achte, der sich nicht scheut, auch das Offensichtli-
che zu betonen – wofür sich stärker differenzie-
rende, aber kraftlosere Liberale stets zu fein sind.
Er erklärt uns, worum es geht, wenn Leute wie er,
Derrida, Habermas und – aus der kognitivistischen
Ecke – Daniel Dennett philosophisch debattieren.
Ein Blick auf ihre politischen Positionen zeigt uns
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ein anderes Bild: Unterschiedslos stehen sie alle ein
klein wenig links von der demokratischen Mitte.
Weiterhin Demokratie, vielleicht sogar ein bisschen
mehr, so Rortys typische pragmatische Schluss-
folgerung. Das zeigt: Philosophie ist belanglos. Ist
sie das wirklich? Betrachten wir als paradigma-
tischen Fall die politische Übereinstimmung von
Habermas und Derrida: Könnte sie nicht ein An-
zeichen dafür sein, dass auch ihre philosophischen
Positionen nicht wirklich inkommensurabel sind?
Dass auch ihre Opposition lediglich eine disjunk-
tive Synthese ist?
Schaut man sich ihre Gedankengebäude sorgfäl-
tiger an, bestätigt sich diese Vermutung: Zu Grun-
de liegt beiden gleichermaßen das Problem der
Kommunikation, genauer: einer Kommunikation,
die sich dem Anderen öffnet, ihn anerkennt und
ihm seine Andersheit lässt, statt sie zu verletzen.
Wir haben es hier, glaube ich, bloß mit zwei kom-
plementären Versionen zu tun, auch wenn Haber-
mas eine unverzerrte Kommunikation mit dem
Anderen und dessen einzigartiger Ordnung be-
hauptet, während Derrida gerade das Gegenteil
betont: Man solle sich der radikalen Kontingenz
des Anderen öffnen. Diesen sich ergänzenden Po-
sitionen gegenüber ist es Badious großes Verdienst,
wie mir scheint, mit seiner Ethik das gesamte Feld
verändert zu haben. Nicht die Andersheit ist das
Problem, sondern das Selbe.3 Das also ist für mich
die erste Geste des Philosophen, wenn man ihn
mit Forderungen bedrängt. Die Begriffe der De-
batte selbst zu verändern – jetzt zum Beispiel ist
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die virtuelle Realität ein modisches Thema; wir
leben in einem virtuellen Universum: Verlieren wir
den Kontakt zur authentischen Realität? Haben
wir uns völlig entfremdet? Hier stößt man erneut
auf die disjunktive Synthese: Man kann sich Post-
modernisten vorstellen, deren wundervolle noma-
dische Subjektivität von einer künstlichen Reali-
tät zur nächsten schalten könnte; oder nostalgi-
sche Konservative und Links-Konservative, denen
das ein Grauen wäre und die stattdessen meinen,
wir müssten – auf welche Weise auch immer – zur
authentischen Erfahrung zurückkehren. Wir soll-
ten etwas anderes machen: die Begriffe der De-
batte verwerfen und behaupten, nicht die virtuel-
le Realität sei das Problem, sondern die Realität
des Virtuellen. Wie das?
Ich meine: Virtuelle Realität – Badiou hat das
irgendwo geschrieben – ist eine ziemlich banale
Idee. Sie gibt uns nichts zu denken. Virtuelle Rea-
lität, das heißt: „Schau, wie wir mit unseren tech-
nischen Spielereien einen Schein erzeugen können,
den wir am Ende für Wirklichkeit halten.“ Die
Realität des Virtuellen halte ich da für bedenkli-
cher. Das Virtuelle ist irgendetwas, aber nichts
Ganzes; es ist – wenn man so will – der tatsächli-
che Effekt des Wirklichen. Hier liegt das eigentli-
che Problem.
Kommen wir zum nächsten Thema, das den
Journalismus bewegt, den Hedonismus. Auch zum
Hedonismus sollen wir Stellung nehmen. Was tun,
wenn die alten Werte verfallen und die Menschen
den Glauben verlieren, dem Egoismus frönen und
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ihr Leben einzig der Suche nach Vergnügungen
widmen? Wieder teilt sich das Feld in zwei Lager:
Jede starre moralische Haltung schließt einen Akt
der Gewalt ein – Judith Butler vertritt diese ty-
pisch postmoderne Haltung in ihrem letzten, bis-
her nur auf Deutsch vorliegenden Buch Zur Kri-
tik der ethischen Gewalt 4 –, wir müssen also flexi-
bel sein und so weiter, was erneut auf das Thema
der nomadischen Subjektivität hinausläuft; feste
Werte und Verbindlichkeiten braucht das Land –
ist die Antwort von drüben. Natürlich sollten wir
hier einmal mehr das Problem direkt angehen und
zuerst die Begriffe der Debatte in Frage stellen,
mit einer Art brechtscher Verfremdung*; die Sa-
che selbst würde uns dann fremd: „Aber halt! Wor-
über sprechen wir hier eigentlich?“ Über Hedo-
nismus in einer Konsumgesellschaft, deren Haupt-
merkmal ein radikales Verbot ist: direkt zu genie-
ßen. Immer heißt es: „Du sollst zwar genießen,
um aber wirklich genießen zu können, musst du
erst einmal joggen, eine Diät machen und darfst
nicht sexuell belästigend sein.“ Am Ende steht die
totale Körperdisziplin. Kommen wir aber auf den
Glauben zurück, auf das Klischee, wir hätten heut-
zutage den Glauben verloren. Nichts als eine Pseu-
do-Debatte: Wir glauben heute mehr denn je – und
hier liegt das Problem, wie Robert Pfaller gezeigt
hat. Die Begriffe der Debatte sind damit nicht
mehr dieselben. Leider ist aber die große Mehr-
heit der Philosophen der Herausforderung auf die-
ser Höhe nicht gewachsen, und so überhäufen sie
uns mit falschen Antworten.
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