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âFür unsere schöne Wissenschaft eine Einigung anzubahnenâ

Date post: 08-Dec-2016
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Nachrichten aus der Chemie | 58 | Mai 2010 | www.gdch.de/nachrichten hauptsächlich um drei Dinge han- delte: den elektrochemischen Dua- lismus, die Avogadro'sche Hypothe- se und die relativen Atomgewichte der Elemente. Dies war aber jener Zeit nicht so klar; man stritt viel- mehr nur um die Formeln, durch welche die Zusammensetzung der chemischen Verbindungen dar- gestellt werden sollte. ... Im Gefolge kam es hier zunehmend zur Verwir- rung, so dass es für jeden Stoff, selbst den einfachsten, eine ganze Reihe von Formeln gab, z. B. für Wasser: H 2 O oder HO oder H 2 O 2 , für Grubengas (Methan): CH 4 , C 2 H 4 . ... Selbst bei einer so einfachen Sub- stanz wie der Essigsäure konnten die vorgeschlagenen Formeln eine gan- ze Druckseite füllen.“ 1) Um die Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte also die Erkenntnis vor, dass die wissenschaftliche Situation in der Chemie unbefriedigend sei. Drei junge Professoren der Chemie ergriffen im Jahre 1859 die Initiative, einen Kongress zu organisieren, um die strittigen Fragen zu klären: Fried- rich August Kekulé, Carl Weltzien und Charles Adolphe Wurtz. Die drei Organisatoren Friedrich August Kekulé von Stradonitz (1829 – 1896) hatte zu- erst Architektur an der Universität Mitte des 19. Jahrhunderts war die wissenschaftliche Chemie in eine Sackgasse geraten. Die Arbeiten La- voisiers hatten die Grundlage der modernen Chemie geschaffen; in den folgenden Jahrzehnten verästelte sich die Nomenklatur in verschiedene Spielarten, so dass es immer mühseli- ger wurde, über chemische Verbin- dungen zu kommunizieren. Hinzu kam, dass nach Dalton zwar Atome als kleinste Bausteine der chemischen Verbindungen allgemein akzeptiert waren, über deren Aufbau aber so gut wie nichts bekannt war. Verschiedene wissenschaftliche Schulen vertraten unterschiedliche Ansichten – selbst bei grundlegenden theoretischen Fra- gen wie der Basisgröße der Atomge- wichte. So stellten Untersuchungen von Jean Baptiste Dumas (1800 – 1884) und seinen Schülern zunehmend die Theorie von Jöns Jakob Berzelius (1779 – 1848) in Frage. Berzelius war der überragende Chemiker sei- ner Zeit und sein Konzept des elek- trochemischen Dualismus bei der Bildung von organischen Verbin- dungen war Jahrzehnte hinweg all- gemein akzeptiert gewesen. Die Si- tuation schilderte der zeitgenössi- sche Chemiker Lothar Meyer (1830 – 1895) so: „Von unserem jet- zigen Standpunkt aus erkennen wir leicht, dass es sich in diesem Streite Michael Mönnich Kongresse sind auch im Zeitalter von Internet und E-Mail eine wichtige und beliebte Form der Kommunikation innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin. Die Chemie kann auf eine 150-jährige Tradition zurückblicken: Der erste internationale Chemikerkongress fand vom 3. bis 5. September 1860 in Karlsruhe statt. „Für unsere schöne Wissenschaft eine Einigung anzubahnen“ Chemiegeschichte Streit in der Chemie im Jahr 1860: Was ist die richtige Formel für Essigsäure? (Zeitgenössische Lehrbuchdarstellung) QUERGELESEN ❯❯ 127 Chemiker aus zwölf Ländern trafen sich vor 150 Jahren zum ersten internationalen Chemie- Kongress. ❯❯ Sie wollten insbesondere in Nomenklaturfragen eine Einigung erzielen. ❯❯ Obwohl der Kongress ohne konkretes Resultat blieb, wirkte er katalytisch auf die weitere Ent- wicklung der Chemie. 539
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Nachrichten aus der Chemie | 58 | Mai 2010 | www.gdch.de/nachrichten

hauptsächlich um drei Dinge han-delte: den elektrochemischen Dua-lismus, die Avogadro'sche Hypothe-se und die relativen Atomgewichte der Elemente. Dies war aber jener Zeit nicht so klar; man stritt viel-mehr nur um die Formeln, durch welche die Zusammensetzung der chemischen Verbindungen dar-gestellt werden sollte. ... Im Gefolge kam es hier zunehmend zur Verwir-rung, so dass es für jeden Stoff, selbst den einfachsten, eine ganze Reihe von Formeln gab, z. B. für Wasser: H2O oder HO oder H2O2, für Grubengas (Methan): CH4, C2H4. ... Selbst bei einer so einfachen Sub-stanz wie der Essigsäure konnten die vorgeschlagenen Formeln eine gan-ze Druckseite füllen.“1)

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte also die Erkenntnis vor, dass die wissenschaftliche Situation in der Chemie unbefriedigend sei. Drei junge Professoren der Chemie ergriffen im Jahre 1859 die Initiative, einen Kongress zu organisieren, um die strittigen Fragen zu klären: Fried-rich August Kekulé, Carl Weltzien und Charles Adolphe Wurtz.

Die drei Organisatoren

� Friedrich August Kekulé von Stradonitz (1829 – 1896) hatte zu-erst Architektur an der Universität

� Mitte des 19. Jahrhunderts war die wissenschaftliche Chemie in eine Sackgasse geraten. Die Arbeiten La-voisiers hatten die Grundlage der modernen Chemie geschaffen; in den folgenden Jahrzehnten verästelte sich die Nomenklatur in verschiedene Spielarten, so dass es immer mühseli-ger wurde, über chemische Verbin-dungen zu kommunizieren. Hinzu kam, dass nach Dalton zwar Atome als kleinste Bausteine der chemischen Verbindungen allgemein akzeptiert waren, über deren Aufbau aber so gut wie nichts bekannt war. Verschiedene wissenschaftliche Schulen vertraten unterschiedliche Ansichten – selbst bei grundlegenden theoretischen Fra-gen wie der Basisgröße der Atomge-wichte.

So stellten Untersuchungen von Jean Baptiste Dumas (1800 – 1884) und seinen Schülern zunehmend die Theorie von Jöns Jakob Berzelius (1779 – 1848) in Frage. Berzelius war der überragende Chemiker sei-ner Zeit und sein Konzept des elek-trochemischen Dualismus bei der Bildung von organischen Verbin-dungen war Jahrzehnte hinweg all-gemein akzeptiert gewesen. Die Si-tuation schilderte der zeitgenössi-sche Chemiker Lothar Meyer (1830 – 1895) so: „Von unserem jet-zigen Standpunkt aus erkennen wir leicht, dass es sich in diesem Streite

Michael Mönnich

Kongresse sind auch im Zeitalter von Internet und E-Mail eine wichtige und beliebte Form der

Kommunikation innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin. Die Chemie kann auf eine 150-jährige

Tradition zurückblicken: Der erste internationale Chemikerkongress fand vom 3. bis 5. September 1860

in Karlsruhe statt.

„Für unsere schöne Wissenschaft eine Einigung anzubahnen“

�Chemiegeschichte�

Streit in der Chemie im Jahr 1860: Was ist die richtige Formel für

Essigsäure? (Zeitgenössische Lehrbuchdarstellung)

� QUERGELESEN

�� 127 Chemiker aus zwölf Ländern trafen sich vor

150 Jahren zum ersten internationalen Chemie-

Kongress.

�� Sie wollten insbesondere in Nomenklaturfragen

eine Einigung erzielen.

�� Obwohl der Kongress ohne konkretes Resultat

blieb, wirkte er katalytisch auf die weitere Ent-

wicklung der Chemie.

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von Kekulé aus, der zu dieser Zeit Professor für Chemie in Gent war. Bei der Umsetzung stützte er sich auf seine Kollegen Weltzien und Wurtz, mit denen er befreundet war.

Im Sommer 1859 reiste Kekulé zu Weltzien in die badische Hauptstadt und schlug ihm vor, in Karlsruhe ei-nen großen Chemikerkongress zu or-ganisieren, um die Verwirrung um die Begriffe Atom, Molekül und Äqui-valenz einvernehmlich zu klären. Karlsruhe bot sich als Tagungsort an, da Weltzien hier seit 1850 Leiter der Chemischen Schule am Polytech-nikum war und man sich vom badi-

Gießen studiert. Dort wechselte er – inspiriert durch Justus von Liebigs (1803 – 1873) Vorlesungen – zur Chemie. Nach der Promotion und Auslandsaufenthalten in Paris, der Schweiz und England wurde Kekulé Professor für Chemie an der belgi-schen Universität Gent. Dort klärte er die Struktur der aromatischen Kohlenstoffverbindungen auf. Im Jahr 1867 wurde er Professor für Chemie in Bonn. Sein Name ist heu-te vor allem verknüpft mit seiner 1865 postulierten Idee der ringför-migen Anordnung der sechs Kohlen-stoffatome im Benzol, der prototypi-schen aromatischen Substanz.2)

Carl Weltzien (1813 – 1870) war Schüler von Friedrich Wöhler (1800 – 1882) und Eilhard Mitscher-lich (1794 – 1863) in Berlin. Er wur-de im Jahr 1841 an das Polytech-nikum in Karlsruhe berufen und dort neun Jahre später Leiter der Chemischen Abteilung.3)

Charles Adolphe Wurtz (Karl Adolph Würtz, 1817 – 1884) wurde in Wolfisheim im Elsass geboren, promovierte in Medizin in Straßburg und studierte danach Chemie in Gießen bei Liebig. Ab dem Jahr 1845 war er Assistent bei Dumas in Paris und folgte ihm 1853 auf dem Lehr-stuhl für Chemie an der Fakultät für Medizin. Kekulé kannte Wurtz seit einem Aufenthalt in London 1852.4)

Der entscheidende Impuls für die Organisation eines internationalen Chemikertreffens ging sicherlich

schen Großherzog Friedrich I. (1826 – 1907) als einem Förderer der Wissenschaften Unterstützung bei der Ausrichtung erhoffte. Die TH Karlsruhe, 1825 als „Großherzogli-che Badische Polytechnische Schule“ nach dem Vorbild der École Polytech-nique in Paris gegründet, genoss zu-dem als erste technische Hochschule in Deutschland einen guten Ruf. Im Jahr 1851 hatte Weltzien den Bau ei-nes chemischen Laboratoriums nach dem Vorbild von Liebigs Labor in Gießen umsetzen können – die Kos-ten des Labors betrugen 25 000 Gul-den und damit fast die Hälfte des Ge-samtetats des Polytechnikums.5) Da-mit und dank einer soliden personel-len Ausstattung der drei chemischen Lehrstühle stieg Karlsruhe in die ers-te Reihe der deutschen Universität-schemie auf. Die günstige geographi-sche Lage von Karlsruhe ließ die Ver-anstalter zudem auf die Teilnahme vieler französischer Kollegen und des damals schon berühmten Heidelber-ger Chemikers Robert Bunsen (1811 – 1899) hoffen.

Vorbereitungen

� Nach dem Treffen mit Kekulé in Karlsruhe schilderte Weltzien im Wintersemester 1859/60 das Vor-haben in Briefen an Wurtz in Paris und August Wilhelm Hofmann (1818 – 1892) in London.

Ende März 1860 reisten Kekulé und Weltzien zu Wurtz und setzten

Carl Weltzien, August Kekulé. und Adolphe Wurtz (v. l.). (Archiv Universität Karlsruhe; Universität Bonn; F. J. Moore, A History of Chemistry,

McGraw-Hill, New York 1918)

� Jubiläum im September

Anlässlich des 150-jährigen

Jubiläums des Kongresses ver-

anstaltet die Fakultät für Che-

mie und Biowissenschaften des

Karlsruher Instituts für Tech-

nologie (KIT) ein wissenschaftli-

ches Symposium, den 150th An-

niversary Weltkongress Chemie

– Progress and Challenges in

Chemistry. Das Symposium fin-

det vom 3. bis 4. September in

Karlsruhe statt, international re-

nommierte Chemiker, darunter

mehrere Nobelpreisträger, wer-

den teilnehmen und vortragen.

Weitere Informationen unter:

www.chem-bio.uni-karlsruhe.de/

weltkongress.

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te. Kekulé drängte deshalb darauf, keinen ständigen Tagungspräsiden-ten zu wählen: Er befürchtete, dass eine solche Wahl zum einen bei den unterlegenen Kollegen zu verletzten Eitelkeiten führen würde und zum anderen die Gefahr bestünde, dass der Präsident die Tagung in eine ihm gefällige Richtung lenkte. Auch eine größere Zahl vorbereiteter Vorträge sei möglichst zu vermeiden, da diese wenig zum Ziel der Tagung beitra-gen würden: „Die Versammlung wird ohne Resultate bleiben, wenn man dem einzelnen Gelegenheit gibt, in schmuckvoller Rede sich und seine Privatansicht heraus-zustellen“.9) Große Bedeutung für den positiven Verlauf der Tagung maß Kekulé den Protokollführern („Sekretären“) bei: „Das Sekretariat müßte also aus der tüchtigen und tä-tigen Jugend der verschiedenen Na-tionen, oder besser gesagt, der ver-schiedenen Sprachen gewählt wer-den. Die eigentliche Geschäftslei-tung wäre dann in Händen des Se-kretariats“.10)

Kekulé strebte somit eine Tagung mit modernem Workshopcharakter an, nicht etwa einen Schaukongress, auf dem die Berühmtheiten der Zunft ihre unterschiedlichen Mei-nungen präsentierten.

Teilnehmer

� Zum Kongress trafen 127 Chemi-ker in Karlsruhe ein, 57 aus Deutschland, 21 aus Frankreich, 18 aus Großbritannien, je sieben aus Russland und Österreich-Ungarn, sechs aus der Schweiz, je drei aus Schweden und Belgien, zwei aus Italien und drei aus weiteren Län-dern.11)

Es trafen sich Chemiker mit be-kannten Namen wie Bunsen, Adolf von Baeyer (1835 – 1917), Emil Erlenmeyer (1825 – 1909), von Feh-ling, Carl Fresenius (1818 – 1897), Kopp, Friedrich Beilstein (1838 – 1906), Jean-Baptiste Boussingault (1802 – 1887), Dumas, Arnould Paul Edmond Thénard (1819 – 1884), Cannizzaro, Dmitri Mendelejew (1834 – 1907) und Lothar Meyer (1830 – 1895).

ling (1811 – 1885), A. W. Hofmann, Hermann Kopp (1817 – 1892), Louis Pasteur (1822 – 1895), Henry Ros-coe (1833 – 1915) und Adolph Stre-cker (1822 – 1871) in der Unter-zeichnerliste. Weltzien erhielt da-raufhin 129 Briefe7) und die Reaktio-nen waren so positiv, dass mit der praktischen Organisation des Kon-gresses begonnen werden konnte.

Organisation und Ziele

� Es war von vornherein geplant, dass der Kongress nicht nur dem Meinungsaustausch dienen sollte, sondern dass die Teilnehmer auch Beschlüsse fassen sollten.

Kekulé drückte es so aus: „Mir scheint der Congreß kann auf kei-nen Fall für die Minorität (und noch weniger für die Abwesenden) bin-dende Majoritätsbeschlüsse faßen. Nichts destoweniger wäre Abstim-men in manchen Fällen vortheilhaft, des moralischen Gewichtes wegen. Diskussion einzelner Hauptfragen führt vielleicht dazu, Irrthümer auf-zuklären und so Parthei zu gewin-nen.“8) Stimmberechtigt sollten alle anwesenden Dozenten der Chemie sein.

Ein weiteres Anliegen der Organi-satoren war es, den Kongress so zu gestalten, dass er möglichst wenig Raum für die Entfaltung persönli-cher Befindlichkeiten und Eitelkei-ten bieten und so eine Konzentrati-on auf Sachfragen ermöglichen soll-

erste Schritte ihres Plans um. Ein Rundschreiben sollte die Unterstüt-zung der bedeutendsten Chemiker der Zeit gewinnen. In einem Brief vom 14. März 1860 bezeichnete Ke-kulé es als das wichtigstes Ziel des Kongresses, in grundlegenden Fra-gen der theoretischen Chemie zu ei-ner einheitlichen Sichtweise zu ge-langen.

Der Aufruf wurde günstig auf-genommen, und die drei einigten sich auf Karlsruhe als Ort des Tref-fens in der ersten Septemberwoche. Den Versand der Einladungen teil-ten sich die drei Organisatoren. Zu-nächst schickte Wurtz Einladungen an die französischen Kollegen, wäh-rend Kekulé die Briten einlud. Das deutsche Rundschreiben Weltziens vom 10. Juli erläuterte die Notwen-digkeit und Ziele eines internationa-len Kongresses: „Präcisere Definiti-on der durch die Ausdrücke: Atom, Molecül, Aequivalent, Atomigkeit, Basicität etc. bezeichneten Begriffe; Untersuchung über das wahre Ae-quivalent der Körper und ihrer For-meln; Anbahnung einer gleichmäßi-gen Bezeichnung und einer rationel-len Nomenklatur.“6)

Neben den drei Organisatoren hatten 42 namhafte Chemiker dieses Schreiben unterzeichnet, darunter Bunsen, Dumas, Liebig, Mitscher-lich und Wöhler. Außerdem fanden sich Namen wie Stanislao Cannizza-ro (1826 – 1910), Otto Erdmann (1804 – 1869), Hermann von Feh-

Ständehaus Karlsruhe. (Archiv Universität Karlsruhe)

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Die meisten Teilnehmer kannten sich, war doch die akademische Ge-meinschaft in der Chemie zu dieser Zeit noch sehr überschaubar. Außer-dem hatten die meisten ihr che-misches Wissen in Paris, Gießen oder Heidelberg erworben.

Die Teilnehmer waren zum über-wiegenden Teil Anhänger einer kon-servativen Richtung, die am System Berzelius' festhalten wollte. Ledig-lich eine Minderheit, zu der die Or-ganisatoren zählten, neigte der Kerntheorie der Pariser Chemiker Auguste Laurent (1807 – 1853) und Charles Gerhardt (1816 – 1856) zu.

Ablauf

� Der Kongress begann am Montag, den 3. September um 9 Uhr. Die Ta-gung fand im großen Sitzungssaal des Karlsruher Ständehauses in der Rit-terstraße statt.12) Weltzien begrüßte als Generalsekretär die Tagungsteil-nehmer und hielt eine Ansprache, in der er den internationalen und fach-spezifischen Charakter der Veranstal-tung hervorhob: „Zum ersten Male sind hier die Vertreter einer einzigen Naturwissenschaft, und zwar der jüngsten, versammelt ... Wir sind ver-schiedenen Stammes und sprechen verschiedene Sprachen, aber wir sind fachverwandt ... Wir sind versammelt zu dem bestimmten Zwecke, den Ver-such zu machen, in gewissen, für un-sere schöne Wissenschaft wichtigen

Punkten eine Einigung anzubah-nen.“13)

Anschließend hielt Kekulé die Er-öffnungsrede, deren Inhalt leider nicht überliefert ist.14) Alle Sitzungen der Tagung wurden mitgeschrieben und diese Protokolle von Wurtz auf-bereitet, damit sie im Anschluss in französisch, deutsch und englisch publiziert werden konnten.15) Seine französische Fassung sandte Wurtz im Herbst an Kekulé, der in einem Brief an Weltzien vom 19. November 1860 den Erhalt dieses Textes ver-merkte und sich Zeit für die Über-arbeitung und Übersetzung ins Deut-sche erbat.16) Die Publikation des Protokolls verzögerte sich immer wieder und fand letztendlich nie statt. Erhalten ist lediglich die deut-sche Übersetzung von Wurtz' Pro-tokoll, die der Karlsruher Chemiker Karl Engler (1842–1925) für eine Festschrift der TH Karlsruhe zum Ju-biläum der 40-jährigen Regierung von Großherzog Friedrich von Baden 1892 anfertigte.17) Zum Ablauf des Kongresses ist Englers Abhandlung eine der wichtigsten Quellen, ergänzt durch Aufzeichnungen von Meyer und Mendelejew sowie Berichte in der Karlsruher Lokalpresse.18)

Der Kongress gestaltete sich dem-zufolge wie folgt: Weltzien leitete die erste Sitzung am 3. September, bei der Kekulé, Lew Nikolajewitsch Schischkow (1830 – ?), Strecker, Wurtz, Roscoe und William Odling

(1829 – 1921) als Protokollführer benannt wurden. Dann tagte um 11 Uhr unter Ausschluss der Öffent-lichkeit eine neunköpfige Kommis-sion unter dem Vorsitz von Kopp, um die auf dem Kongress zu behan-delnden Themen zu spezifizieren. Der Ausschuss legte sich auf die zu treffende Unterscheidung zwischen „Atom“, „Molekül“ und „Äquiva-lent“ fest. Abends fand ein Kongress-dinner „in der großen Halle des Mu-seums“ statt, an dem 120 Personen teilnahmen (vermutlich handelt es sich bei dem Museum um die heuti-ge Karlsruher Kunsthalle).

Am nächsten Tag diskutierte die Versammlung die am Vortag vom Ausschuss formulierten Fragen, oh-ne zu einem Resultat zu gelangen. Man gab deshalb die strittigen The-men wieder zurück an die Kommis-sion, die an diesem Tag noch zwei-mal darüber beriet und dann be-schloss, der Versammlung drei kon-krete Nomenklaturfragen zur Ent-scheidung vorzulegen.

Am dritten Tag beriet der Kon-gress dann unter dem Vorsitz von Dumas über die von der Kommis-sion am Vortag beschlossenen Fra-gen zur Nomenklatur und Verwen-dung chemischer Symbole. Dabei warnte der bis dahin wenig bekannte genuesische Chemieprofessor Can-nizzaro vor dem Versuch, den Er-kenntnisstand auf die Zeit vor Ber-zelius zurückzuführen, da die Che-

Carl Weltzien (2. v. l.) und Karl Engler (ganz links) im Labor der TH Karlsruhe. (Archiv Universität Karlsruhe)

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mie seitdem kontinuierlich weiter ausgebaut wurde.19) Nach einer kon-troversen Diskussion beschloss schließlich der Kongress, dass auch künftig die von Berzelius eingeführ-ten Summenformeln verwendet wer-den sollten.

Ergebnisse

� Das Festhalten an Berzelius' che-mischer Formelsprache als einzig greifbares Resultat des Kongresses scheint auf den ersten Blick ein sehr dürftiges Ergebnis, das weit hinter den hochgesteckten Erwartungen der Organisatoren zurück blieb. Den-noch war der Karlsruher Chemiker-kongress sicherlich das wichtigste Er-eignis in der Geschichte der Chemie zur Mitte des 19. Jahrhunderts.

Die konkreten Ergebnisse, die sich die Organisatoren ursprüng-lich erhofft hatten, blieben zwar aus, doch wirkte das Zusammen-treffen der zahlreichen Chemiker aus dem In- und Ausland kataly-tisch auf die theoretische Chemie. Insbesondere die Entwicklung des Periodensystems und die allgemei-ne Akzeptanz der Avogadro-Ampè-re-Theorie förderte der Kongress unzweifelhaft. Treffend gab dies der spätere Mitschöpfer des Perioden-systems und Kongressteilnehmer Meyer wieder: „War sonach die Ver-handlung der Form nach ergebnis-los verlaufen, so war sie doch in der Sache sehr nützlich, indem durch vielseitigen Meinungsaustausch die spätere Übereinstimmung vorberei-tet wurde. Nach Schluss der Ver-sammlung verteilte Freund Angelo Pavesi im Auftrage des Verfassers eine kleine ziemlich unscheinbare Schrift, den hier wiedergegebenen „Sunto“20) Canizzaros, der schon ei-nige Jahre früher erschienen, aber wenig bekannt geworden war. ... Ich war erstaunt über die Klar-heit, die das Schriftchen über die wichtigsten Streitpunkte verbreite-te. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, die Zweifel schwanden, und das Gefühl ruhigster Sicherheit trat an ihre Stelle.“21)

Der Karlsruher Kongress war der erste Fachkongress einer naturwis-

senschaftlichen Disziplin, ihm folg-ten in den nächsten 20 Jahren sechs weitere: im Jahr 1867 in Paris, 1872 in Moskau, 1873 in Wien, 1876 in Philadelphia, 1878 in Paris und 1880 in Düsseldorf.

Der innovative Charakter des Karlsruher Chemikerkongresses kann nicht hoch genug einge-schätzt werden. Zwar gab es schon seit 1746 in Europa (Schweiz) und seit 1822 in Deutschland naturfor-schende Gesellschaften, deren Mit-glieder sich bei regelmäßigen Ver-sammlungen untereinander aus-tauschten und Vorträge hielten, doch waren diese Veranstaltungen zumeist von einem regionalen Cha-rakter und fachübergreifend, wie die „Versammlungen der Gesell-schaft Deutscher Naturforscher und Ärzte“. Im Gegensatz dazu war die Karlsruher Tagung von vornherein als ein internationales und fachspe-zifisches Treffen angelegt, das zu-dem einem ganz bestimmten The-ma gewidmet war. Darüber hinaus förderte der Kongress maßgeblich die Entwicklung des Periodensys-tems der Elemente.22)

Literatur und Anmerkungen

1) L. Meyer, Anmerkungen, in: Stanislao

Cannizzaro, Abriss eines Lehrganges der

theoretischen Chemie 1858. [Übers. von

A. Miolati, Hrsg.: L. Meyer] Engelmann,

Leipzig, 1891, 52–58.

Cannizzaro Sunto erschien erstmals in Il

nuovo Cimento, 1858, 7, 321–366.

2) Zu Kekulé siehe: R. Anschütz, August

Kekulé, Bd. 1, Berlin, Verl. Chemie, 1929;

W. Göbel, Friedrich August Kekulé, Teub-

ner, Leipzig, 1984.

3) Zu Weltzien siehe: K. Birnbaum: Nekrolo-

ge – Karl Weltzien, Ber. Dtsch. chem. Ges.,

1875, 8, 1698–1702; C. de Milt, Carl

Weltzein[!] and the Congress at Karls-

ruhe, Chymia – Ann. Stud. in the Hist. of

Chem., 1948, 1, 153—169.

4) Zu Wurtz siehe: C. v. Voit, Charles Adol -

phe Wurtz, Sitzungsber. der Bayer. Aka-

demie d. Wiss. zu München / Mathemat.-

Physikal. Kl., 15, 1885, 153–160.

5) A. J. Rocke, Nationalizing science –

Adolphe Wurtz and the battle for French

chemistry, MIT Press, 2001, Cambridge,

[Mass.], 2001.

6) K.-P. Hoepke, Geschichte der Fridericiana,

Universitätsverlag, Karlsruhe, 2007,

52–58; Anschütz I, 193 u. 671 ff.

7) A. Stock, Der internationale Chemiker-

Kongreß, Karlsruhe 3.–5. September

1860 vor und hinter den Kulissen, Verl.

Chemie, Berlin, 1933.

8) Anschütz I, 185.

9) Anschütz I, 191.

10) Anschütz I, 191.

11) Stock, 16—17.

12) 1944 bei Luftangriffen zerstört und

1993 neu erbaut, beherbergt das „Neue

Ständehaus“ heute die Stadtbibliothek

und eine Erinnerungsstätte. U. Theo-

bald (Hrsg.), Das badische Ständehaus

in Karlsruhe, Info-Verl., Karlsruhe,

1988; Stadt Karlsruhe (Hrsg.), Das neue

Ständehaus, Badenia-Verl., Karlsruhe,

1993.

13) K. Engler, Vier Jahrzehnte chemischer

Forschung unter besonderer Berück-

sichtigung von Baden als Heimstätte

der Chemie, in: Festgabe zum Jubiläum

der vierzigjährigen Regierung seiner

Königlichen Hoheit des Grossherzogs

Friedrich von Baden, Karlsruhe, 1892,

348–349.

14) Kekulés vorbereitende Notizen in An-

schütz I, 689–691.

15) Stock, 18.

16) Anschütz I, 208–209.

17) Engler, 332–374.

18) Karlsruher Zeitung, Nr. 209 – 211,

4.9. – 6.9.1860; S. a C. de Milt, The Con-

gress at Karlsruhe, J. Chem. Educ., 1951,

28, 421—425 sowie The Chemical News,

1860, Bd. 2, 226.

19) Anschütz I, S. 683.

20) Erstmals publiziert in Il nuovo Cimento,

1858, 7, 321–366. Online unter

www.minerva.unito.it/storia/cannizzaro

/sunto.

21) Meyer, 58—59.

22) Zur Bewertung des Kongresses siehe:

E. von Meyer, Die Karlsruher Chemiker-

Versammlung im Jahre 1860, J. Prakt.

Chem. 1911, 83, 182–189; A. J. Ihde: The

Karlsruhe Congress: A centennial retro-

spective, J. Chem. Educ., 1961, 38, 83–86;

H. Hartley, Stanislao Cannizzaro, F.R.S.

(1826–1910) and the First International

Chemical Conference at Karlsruhe in

1860, Notes and Records of the Royal So-

ciety London, 1966, 21, 56–63;

J. H. S. Green, The Conference at Karls-

ruhe 1860 and the Development of Che-

mical Theory, Proc. Chem. Soc. 1960,

329—332; M. J. Nye, The Question of the

Atom, Tomash Publ., Los Angeles, 2. Aufl.

1984 (History of Modern Physics, Vol. 4).

Michael W. Mönnich studier-

te nach seiner Approbation

als Apotheker (1985) Ge-

schichte der Pharmazie an

der Universität Marburg und

promovierte im Jahr 1989 an

der Universität Heidelberg. Nach einem Refe-

rendariat für den höheren Bibliotheksdienst

arbeitet er seit 1991 an der Bibliothek des

Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Er

lehrt Geschichte der Chemie in Karlsruhe und

Geschichte der Pharmazie an der Universität

Tübingen.

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