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Absolute Selbstähnlichkeit in der euklidischen Geometrie. Zu Kants Erklärung der Möglichkeit der...

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Absolute Selbstähnlichkeit in der euklidischen Geometrie. Zu Kants Erklärung der Möglichkeit der reinen Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori* von Michael Wolff, Bielefeld Abstract: Kant’s theory of space includes the idea that straight lines and planes can be defined in Euclidean geometry by a concept which nowadays has been revived in the field of fractal geometry: the concept of self-similarity. Absolute self-similarity of straight lines and planes distinguishes Euclidean space from any other geometrical space. Einstein missed this fact in his attempt to refute Kant’s theory of space in his article ‘Geometrie und Erfahrung’. Following Hilbert and Schlick he took it for granted, mistakenly, that purely geometrical definitions of the concepts of straight line and plane are not feasible, except as “implicit definitions”. There- fore Einstein’s criticism is not persuasive. Keywords: Axioms of intuition, philosophy of geometry, Relativity theory, absolute self-simi- larity. Nach einer heute herrschenden Meinung erhalten Ausdrücke für geometrische Begriffe wie die des Punktes, der Geraden und der Ebene nur aufgrund von Daten der Erfahrung einen Inhalt. Es ist vor allem Albert Einstein gewesen, der diese Meinung zur herrschenden gemacht hat. Er hat sie, unter Berufung auf David Hilberts Grundlagen der Geometrie von 1899, in einem Aufsatz entwickelt, der 1921 unter dem Titel „Geometrie und Erfahrung“ erschienen ist. 1 Hilbert selbst hat sich in seinen späteren Jahren den in diesem Aufsatz entwickelten Gedanken Einsteins weitgehend angeschlossen. 2 Auch auf die Philosophie – besonders auf die des logischen Empirismus – haben Einsteins Gedanken einen kaum zu überschätzenden Einfluß ausgeübt. Michael Friedman hat deshalb dessen Aufsatz von 1921 als historischen Meilenstein in der Philosophie der Geometrie bezeich- Der vorliegende Aufsatz ist aus Vorträgen hervorgegangen, die ich im Laufe des Jahres 2006 an der Universität Oldenburg, an der ETH Zürich und, auf Einladung der Norwegischen Kant-Gesellschaft, an der Universität Oslo gehalten habe. Brigitte Falkenburg, Holger Lyre und Oliver Schliemann haben eine frühere Version dieses Aufsatzes gelesen. Ich danke ihnen für hilfreiche Kritik. 1 Ich zitiere diesen Aufsatz im folgenden nach der Ausgabe in The Collected Papers of Albert Einstein, hrsg. von Diana Kormos Buchwald, Bd. 7, Princeton 2002, 383–404. Ursprüng- lich war er als erweiterte Fassung eines Vortrags erschienen, den Einstein im Januar 1921 an der Preußischen Akademie der Wissenschaften gehalten hatte. 2 Vergleiche den in David Hilberts Gesammelten Abhandlungen, Bd. 3, 1935, 378–387, nach- gedruckten Aufsatz, der ursprünglich im Jahrgang 1930 der Zeitschrift Naturwissenschaf- ten, 959–963, unter dem Titel „Naturerkennen und Logik“ erschienen ist. * Kant-Studien 100. Jahrg., S. 285–308 DOI 10.1515/KANT.2009.017 © Walter de Gruyter 2009 ISSN 0022-8877 Unauthenticated | 194.214.29.29 Download Date | 11/9/12 9:16 PM
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Absolute Selbstähnlichkeit in der euklidischen Geometrie.Zu Kants Erklärung der Möglichkeit der reinen Geometrie als

einer synthetischen Erkenntnis a priori*

von Michael Wolff, Bielefeld

Abstract: Kant’s theory of space includes the idea that straight lines and planes can be definedin Euclidean geometry by a concept which nowadays has been revived in the field of fractalgeometry: the concept of self-similarity. Absolute self-similarity of straight lines and planesdistinguishes Euclidean space from any other geometrical space. Einstein missed this fact in hisattempt to refute Kant’s theory of space in his article ‘Geometrie und Erfahrung’. FollowingHilbert and Schlick he took it for granted, mistakenly, that purely geometrical definitions ofthe concepts of straight line and plane are not feasible, except as “implicit definitions”. There-fore Einstein’s criticism is not persuasive.

Keywords: Axioms of intuition, philosophy of geometry, Relativity theory, absolute self-simi-larity.

Nach einer heute herrschenden Meinung erhalten Ausdrücke für geometrischeBegriffe wie die des Punktes, der Geraden und der Ebene nur aufgrund von Datender Erfahrung einen Inhalt. Es ist vor allem Albert Einstein gewesen, der dieseMeinung zur herrschenden gemacht hat. Er hat sie, unter Berufung auf DavidHilberts Grundlagen der Geometrie von 1899, in einem Aufsatz entwickelt, der1921 unter dem Titel „Geometrie und Erfahrung“ erschienen ist.1 Hilbert selbsthat sich in seinen späteren Jahren den in diesem Aufsatz entwickelten GedankenEinsteins weitgehend angeschlossen.2 Auch auf die Philosophie – besondersauf die des logischen Empirismus – haben Einsteins Gedanken einen kaum zuüberschätzenden Einfluß ausgeübt. Michael Friedman hat deshalb dessen Aufsatzvon 1921 als historischen Meilenstein in der Philosophie der Geometrie bezeich-

1 Der vorliegende Aufsatz ist aus Vorträgen hervorgegangen, die ich im Laufe des Jahres 2006an der Universität Oldenburg, an der ETH Zürich und, auf Einladung der NorwegischenKant-Gesellschaft, an der Universität Oslo gehalten habe. Brigitte Falkenburg, Holger Lyreund Oliver Schliemann haben eine frühere Version dieses Aufsatzes gelesen. Ich danke ihnenfür hilfreiche Kritik.

1 Ich zitiere diesen Aufsatz im folgenden nach der Ausgabe in The Collected Papers of AlbertEinstein, hrsg. von Diana Kormos Buchwald, Bd. 7, Princeton 2002, 383–404. Ursprüng-lich war er als erweiterte Fassung eines Vortrags erschienen, den Einstein im Januar 1921 ander Preußischen Akademie der Wissenschaften gehalten hatte.

2 Vergleiche den in David Hilberts Gesammelten Abhandlungen, Bd. 3, 1935, 378–387, nach-gedruckten Aufsatz, der ursprünglich im Jahrgang 1930 der Zeitschrift Naturwissenschaf-ten, 959–963, unter dem Titel „Naturerkennen und Logik“ erschienen ist.

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Kant-Studien 100. Jahrg., S. 285–308 DOI 10.1515/KANT.2009.017© Walter de Gruyter 2009ISSN 0022-8877

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net.3 Einsteins philosophische Argumentation richtet sich hauptsächlich gegenKant, der in seiner Kritik der reinen Vernunft die Ansicht vertreten hatte, daß wirMenschen über eine reine, nicht durch Erfahrung gegebene Anschauung verfügen,die imstande sei, den Begriffen der Geometrie Inhalt zu geben. Seither gilt Kant indiesem Punkt weithin als widerlegt.

Ich möchte im folgenden versuchen plausibel zu machen, daß diese Widerlegungin wesentlichen Hinsichten nicht gelungen ist.

Ich werde zunächst (in Abschnitt 1) darstellen, welche Gegebenheiten der reinenAnschauung es sind, auf denen nach Kants Ansicht Erkenntnisse der reinen Geome-trie beruhen. Im zweiten Teil (in Abschnitt 2) werde ich erläutern, daß und in wel-cher Weise nach Kants Ansicht Erkenntnisse der reinen Geometrie auf nicht-an-schaulichen Daten beruhen. Im letzten Teil (in Abschnitt 3) werde ich schließlich zuzeigen versuchen, warum die seit Einstein übliche Kritik an Kants Erklärung derMöglichkeit der reinen Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori nichtzutreffend ist.

1. Kant hat in § 3 der Kritik der reinen Vernunft (KrV, B 41) die These auf-gestellt, daß reine Geometrie auf reiner Anschauung beruhe. Diese These wird seitHelmholtz oft mißverstanden als die Behauptung, reine Anschauung allein sei im-stande, gültige geometrische Sätze über den Raum und über dessen Eigenschaften zuliefern. Nach diesem Verständnis soll Kants ‚Transzendentale Ästhetik‘ ein Versuchsein zu beweisen, daß die Sätze der euklidischen Geometrie schon deshalb wahrsind, weil es reine Anschauung vom Raum gebe und diese uns zeige, daß er eukli-disch ist.4 Kants ‚Transzendentale Ästhetik‘ soll demnach die Aufgabe haben, deneuklidischen Charakter des physikalischen Raumes aus Daten abzuleiten, die unsMenschen unabhängig von aller Erfahrung mit der Form unserer Sinnlichkeit gege-ben sind. Denn reine Anschauung setzt Kant mit der Form menschlicher Sinnlich-keit gleich.

Ich glaube nicht, daß dieses Verständnis den eigenen Absichten Kants entspricht.Kant vertrat bekanntlich die Meinung, daß „Anschauungen ohne Begriffe“, d.h.Anschauungen ohne Verstandesleistungen, „blind“ sind (KrV, B 75). Nach dieserMeinung wäre es wenig plausibel anzunehmen, reine Anschauung genüge schon für

3 Friedman, Michael: „Geometry as a Branch of Physics: Background and Context for Ein-stein’s ‚Geometry and Experience‘“. In: Reading Natural Philosophy. Essays in the Historyand Philosophy of Science and Mathematics. Hrsg. von D. B. Malament, Chicago 2002,193.

4 So schreibt z.B. Charles Parsons: „I do not see that there could be a Kantian argument forthe conclusion that physical space is Euclidean that did not take as a premise that space asintuited, as described in the Aesthetic, is Euclidean.“ Parsons, Charles: „The TranscendentalAesthetic“. In: The Cambridge Companion to Kant. Hrsg. von Paul Guyer. Cambridge1992, 96, n. 30. – Michael Friedman hat die Ansicht vertreten, nach Kant sei „der Raum derreinen Anschauung“ (the space of pure intuition) „notwendigerweise euklidisch“ (neces-sarily Euclidean). Siehe Friedman: Michael, Kant and the Exact Sciences, Cambridge 1992,82.

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sich genommen, uns Einsicht in die Gültigkeit geometrischer Sätze zu verschaffen.Und doch ist Kant von manchen Lesern so verstanden worden, als habe er beweisenwollen, zur geistigen Ausstattung des Menschen gehöre eine Art unablegbarer„Raumbrille“ (Wittgenstein, Tractatus 4.0412), die die sichtbaren Dinge in eineeuklidische Welt versetze.5

Nach meiner Ansicht ist das Beweisziel der ‚Transzendentalen Ästhetik‘ viel be-scheidener. Daß die Sätze der euklidischen Geometrie a priori gültig und (mit Aus-nahme bestimmter Hilfssätze) synthetisch sind, wird dort einfach vorausgesetzt.Es soll in der ‚Transzendentalen Ästhetik‘ nur gezeigt werden, woran es liegt, daßsolche Sätze möglich sind. Dazu muß gezeigt werden, daß der Raum, auf den siesich implizit beziehen, kein Erfahrungsgegenstand, aber auch kein Hirngespinst ist.Daß er weder das eine noch das andere ist, ergibt sich für Kant aus Argumenten, diedafür sprechen, daß der Raum eine Form der koordinierten (gleichsam synopti-schen) Aufnahme von (gleichzeitigen) Sinneseindrücken ist. Denn – so meint er –wenn der Raum eine Form ist, in der alle Sinneserfahrung von Gegenständen statt-findet, kann er nicht selbst ein Erfahrungsgegenstand sein. Die Vorstellung, die wirvon ihm haben und aus der alle begrifflichen Vorstellungen von Räumen abgeleitetsind, kann demnach nicht bloß eine Teilvorstellung empirischer Begriffe ausgedehn-ter Gegenstände sein. Sie muß vielmehr eine von Erfahrung unabhängige Anschau-ung sein. ‚Anschauung‘ ist dabei Kants technische Bezeichnung für Vorstellungen,die sich wie singuläre Urteile auf Einzelnes beziehen, aber sich von singulären Ur-teilen genau dadurch unterscheiden, daß sie sich unmittelbar (d.h. ohne Vermitt-lung anderer Vorstellungen, nämlich ohne Vermittlung von Subjekt- oder Prädikat-begriffen) auf Einzelnes beziehen. Da der Raum, als die Form des Anschauens vonGegenständen, selbst etwas Einzelnes ist, kann die nicht-begriffliche Vorstellung,die wir von ihm haben, im technischen Sinne ‚Anschauung‘ heißen.6

Kant hat seine Erklärung der Möglichkeit synthetischer Sätze a priori in der Geo-metrie vor allem im Abschnitt ‚Transzendentale Erörterung des Begriffs vomRaume‘ (d.h. in § 3 der zweiten Auflage) abgehandelt. Für diese Erörterung spieltder spezielle Inhalt der euklidischen Geometrie gar keine Rolle. Ebensowenig spieltin ihr die Frage eine Rolle, welche Eigenschaften es sind, die dem Raume zukommenund die zu „bestimmen“ nach Kants Ansicht Aufgabe der Geometrie als „Wissen-schaft“ ist (KrV, B 40). Zwar erwähnt Kant hier einen speziellen geometrischen Satzkommentarlos als Beispiel eines „apodiktischen“ Satzes der Geometrie, nämlichden Satz, daß der Raum nur drei Dimensionen hat (KrV, B 41). Und gewiß handelt

5 Das Bild der Raumbrille stammt von Heinrich von Kleist. H. v. Kleist, Sämtliche Werke undBriefe, hrsg. von H. Sembdner, 2. Bd., München 1984, 634.

6 Die Zeitvorstellung ist nach § 4 der Kritik der reinen Vernunft in demselben Sinne reine An-schauung wie die Raumvorstellung. Sie unterscheidet sich von dieser im wesentlichen darin,daß sie nicht Anschauung einzelner Gegenstände, sondern einzelner Zustände, genauer ge-sagt, einzelner Gemütszustände ist. Sie ist insofern grundlegender als die Raumvorstellung.Da diese nämlich ihrerseits als Gemütszustand auftritt und Vorstellung von gleichzeitig Ge-gebenem ist, ist die Raumvorstellung zeitlicher Anschauung unterworfen.

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es sich dabei um einen Satz der euklidischen Geometrie, nämlich um einen Satz ausder Theorie der fünf platonischen Körper (die in Buch 13 der Elemente Euklids wie-dergegeben wird). Aber der Umstand, daß Kant ihn anführt, beruht offensichtlichnur darauf, daß die transzendentale Ästhetik für jeden Satz der euklidischen Geo-metrie voraussetzt, er gelte a priori und sei folglich apodiktisch. Denn Kant bringtfür die Notwendigkeit der Dreidimensionalität des Raumes gar kein eigenes, vonSätzen der Geometrie unabhängiges Argument vor.7

Ähnlich ist die Situation in der ersten Auflage, in welcher zwar der Abschnitt‚Transzendentale Erörterung des Raumbegriffs‘ noch fehlt, dessen Hauptgedankehier aber in einem Textstück ausgesprochen wird, das in der ersten Auflage (KrV, A24) als Artikel 3 der später sogenannten metaphysischen Erörterung des Raum-begriffs aufgeführt und in der zweiten Auflage gestrichen worden ist. Dieses Stückführt außer dem Satz von der Dreidimensionalität des Raumes noch einen Satz an,der in § 42 von Christian Wolffs Anfangsgründen der Geometrie als zweiter„Grundsatz“ der Geometrie aufgeführt wird, nämlich den Satz: „Zwischen zweiPunkten kann nur eine gerade Linie sein“.8 Auch dieser Satz spielt für Kant dieRolle eines Beispiels für apodiktische Sätze der Geometrie. Aber Kant behauptetweder hier noch anderswo, daß seine Geltung oder die Geltung des Satzes von derDreidimensionalität des Raumes aus einer bestimmten Struktur des Anschauungs-raumes folge. Er behauptet lediglich: Wenn die Vorstellung des Raumes „ein a pos-teriori erworbener Begriff“ wäre, dann wäre es „nicht notwendig, daß zwischenzwei Punkten nur eine gerade Linie sei“, und dann würde man „nur sagen können:so viel zur Zeit noch bemerkt worden, ist kein Raum gefunden worden, der mehr alsdrei Abmessungen hätte.“ Auf die Frage, worauf sich die hier behauptete Aprioritätgeometrischer Sätze gründet, werde ich erst später näher eingehen.

Nur an einer Stelle der Kritik – in Artikel 3 von § 2 der zweiten Auflage – scheintKant einen etwas engeren Zusammenhang zwischen Anschauung und apodiktischerGewißheit geometrischer Sätze anzunehmen. Dort spricht er in etwas mysteriöserWeise von einer „Ableitung“ geometrischer „Grundsätze“ „aus“ einer „Anschau-ung“. Wörtlich schreibt er:

7 Daß nach Kants Ansicht der Satz von der Dreidimensionalität des Raums von einem funda-mentaleren, gleichwohl eines Beweises bedürftigen und fähigen geometrischen Satz abhängt,kommt indirekt in § 12 der Prolegomena zum Ausdruck, wo es heißt: „Daß der vollständigeRaum (der selbst keine Grenze eines anderen Raumes mehr ist) drei Abmessungen habe, undRaum überhaupt auch nicht mehr derselben haben könne, wird auf den Satz gebaut, daßsich in einem Punkte nicht mehr als drei Linien rechtwinklicht schneiden können; dieserSatz aber kann gar nicht aus Begriffen dargethan werden, sondern beruht unmittelbar aufAnschauung und zwar reiner a priori, weil er apodiktisch gewiß ist […]“ (Prol, AA 04:284–285). Der „Satz, daß sich in einem Punkte nicht mehr als drei Linien rechtwinklichtschneiden können“, entspricht dem bei Euklid in Buch 13 bewiesenen Satz, daß es nichtmehr als ein reguläres Polyeder gibt, bei dem die Kanten rechtwinklig in einer Ecke zusam-menstoßen; dies sei der Würfel.

8 Wolff, Christian: Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften. Neue, verbesserteund vermehrte Auflage. Frankfurt/Leipzig 1750. Nachdruck Hildesheim 1973, 129.

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So werden auch alle geometrische Grundsätze, z. E. daß in einem Triangel zwei Seiten zusammengrößer sind, als die dritte, niemals aus allgemeinen Begriffen von Linie und Triangel, sondernaus der Anschauung und zwar a priori mit apodiktischer Gewißheit abgeleitet. (B 39/A 25)9

Aber auch hier zeigt der Kontext, daß sich hinter der rätselhaften Annahme einer„Ableitung“ von Sätzen „aus“ einer „Anschauung“, also aus einer nicht-proposi-tionalen Vorstellung, der schlichte Gedanke verbirgt, daß geometrische Grundsätzenicht durch bloße Analyse der Begriffe, die in ihnen vorkommen, einsichtig gemachtwerden können, sondern nur dadurch, daß man sich auf eine Anschauung dessenbezieht, wovon sie handeln.10 Von so etwas wie einer euklidischen Struktur des An-schauungsraums ist daher auch hier nicht die Rede.

Um nicht mißverstanden zu werden: Ich will nicht behaupten, die transzendentaleÄsthetik lege dem Raum der reinen Anschauung keinerlei Prädikate bei. Aber diePrädikate, die sie ihm beilegt, beziehen sich nicht auf metrische, insbesondere nichtauf euklidische Raumeigenschaften. Kant ist natürlich genötigt, prädikative Aussa-gen über den Raum zu machen, um beweisen zu können, daß es reine Anschauungvon ihm gibt. Dieser Beweis macht den Inhalt der ‚Metaphysischen Erörterung desRaumbegriffs‘ (KrV, A 23–25/B 38–40) aus. Er wird ausgeführt in vier dicht ge-schriebenen Absätzen, die der Reihe nach zeigen sollen, daß der Begriff des Raumeserstens kein Erfahrungsbegriff, sondern ein Begriff a priori ist (siehe § 2 Artikel 1und 2), und daß ihm zweitens – ‚ursprünglich‘ – eine nicht-begriffliche, nämlich an-schauliche (d.h. einzelne und unmittelbare) Vorstellung zugrundeliegt (siehe § 2 Ar-tikel 3 und 4). Die vier Raumprädikate, die Kant für seinen Beweis heranzieht, sindder Reihe nach in den folgenden vier Aussagen enthalten: (1) daß der Raum als In-begriff numerisch verschiedener Örter empirischer Gegenstände vorstellbar seinmuß (damit es möglich ist, aus Empfindungen Erfahrungen von Gegenständenzu gewinnen), (2) daß der Raum (widerspruchsfrei) als leer (und unabhängig vonGegenständen) gedacht werden kann, (3) daß der Raum als andere Räume in sichenthaltend gedacht werden kann (die aber nicht seine „Bestandteile“ sind, als ob eraus ihnen zusammengesetzt wäre, sondern nur durch „Einschränkungen“ potentiell

9 Der hier erwähnte Grundsatz gibt wörtlich den Inhalt des zweiten Zusatzes zum zweitenGrundsatz der Geometrie in § 44 von Christian Wolffs „Anfangsgründen der Geometrie“wieder; siehe dessen Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften, 129.

10 Das Wort „ableiten“ gebraucht Kant hier nicht für eine deduktive Schlußfolgerung. Viel-mehr bedeutet der von ihm gebrauchte Ausdruck ‚einen Satz aus der Anschauung ableiten‘soviel wie ‚einen Satz auf eine Anschauung gründen, in der man sich den Gegenstand, vondem der Satz handelt, geben kann‘. Dementsprechend formuliert Kant an späterer Stelle inder „Transzendentalen Ästhetik“ genauer: „Alle eure Bemühung [einen geometrischen Satzaus Begriffen abzuleiten] ist vergeblich, und ihr seht euch genöthigt, zur Anschauung eureZuflucht zu nehmen, wie es die Geometrie auch jederzeit thut. Ihr gebt euch also einen Ge-genstand in der Anschauung; von welcher Art aber ist diese, ist es eine reine Anschauunga priori oder eine empirische? Wäre das letzte, so könnte niemals ein allgemein gültiger,noch weniger ein apodiktischer Satz daraus werden: denn Erfahrung kann dergleichen nie-mals liefern. Ihr müßt also euren Gegenstand a priori in der Anschauung geben und auf die-sen euren synthetischen Satz gründen.“ (KrV, A 47–48/B 65)

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aus ihm hervorgehen, und schließlich (4) daß er „als eine unendliche gegebeneGröße vorgestellt“ wird (KrV, A 25/B 39).

Offensichtlich handeln diese vier Aussagen nicht von geometrischen Eigenschaf-ten, die dem Raum zukommen. Sie handeln vielmehr nur von der Art und Weise, wiewir vom Raum eine Vorstellung haben.11 Die Aussagen (1) und (2) sagen aus, daßwir vom Raum eine Vorstellung haben, die kein von äußeren Erfahrungen abstra-hierter empirischer Begriff sein kann und für uns notwendig ist, um Gegenstände, dievon uns und von einander zu unterscheiden sind, sinnlich vorstellen zu können. DieAussagen (3) und (4) sagen aus, daß unsere Vorstellung vom Raum als Vorstellungeines totum vieler Räume und als Vorstellung einer unendlichen gegebenen Größeeine anschauliche apriorische Vorstellung ist, die nicht aus vielen anschaulichen Vor-stellungen von Räumen zusammengesetzt ist, wohl aber unendlich viele Teilvorstel-lungen in sich enthält. Zusammengenommen sagen die Aussagen (1) bis (4) aus, daßdem Raumbegriff eine weder empirische noch eingebildete Vorstellung zugrunde-liegt, die (als unmittelbare Vorstellung eines einzigen Raumes) reine Anschauung ist.Hieraus folgt die zentrale These der ‚Metaphysischen Erörterung des Raumbegriffs‘,nämlich die These, daß wir über einen Begriff des Raumes verfügen, der nicht, wieempirische Begriffe, ein gemachter Begriff ist, auch nicht, wie die Begriffe der Geo-metrie, konstruiert worden ist, sondern ein Begriff ist, der a priori, nämlich durchreine Anschauung, gegeben ist (KrV, B 38).12

Die letzte der vier betrachteten Aussagen wird nun allerdings manchmal mißver-standen, so als würde sie von einer geometrischen Raumeigenschaft handeln und alswürde Kant mit ihr behaupten, der Raum sei eine unendliche gegebene Größe.13 InWahrheit behauptet Kant weder, daß der Raum unendlich, noch, daß er eine gege-bene Größe ist. Er stellt lediglich fest, der Raum werde vorgestellt als eine unend-liche gegebene Größe. Aus Nachlaß-Aufzeichnungen Kants (HN, AA 20: 419) gehtdeutlich hervor, daß er Wert legt auf den Unterschied, der zwischen einer gegebenen

11 Dementsprechend findet man unter den 1789 entstandenen Bemerkungen „Über KästnersAbhandlungen“, die im Nachlaß Kants enthalten sind, die folgende Beschreibung der Auf-gabe der „Metaphysischen Erörterung des Raumbegriffs“: „Die Metaphysik muß zeigen,wie man die Vorstellung des Raumes haben, die Geometrie aber lehrt, wie man einen be-schreiben, d. i. in der Vorstellung a priori (nicht durch Zeichnung) darstellen könne. In jenerwird der Raum, wie er, vor aller Bestimmung desselben, einem gewissen Begriffe vom Ob-jecte gemäß, gegeben ist, betrachtet; in dieser wird einer gemacht. In jener ist er ursprüng-lich und nur ein (einiger) Raum, in dieser ist er abgeleitet und da giebt es (viel) Räume, vondenen aber der Geometer, einstimmig mit dem Metaphysiker, zu Folge der Grundvorstellungdes Raumes gestehen muß, daß sie nur als Theile des einigen ursprünglichen Raumes ge-dacht werden können.“ (HN, AA 20: 419)

12 Kant vermerkt in seinen Nachlaß-Aufzeichnungen „Über Kästners Abhandlungen“ aus-drücklich, daß der „ursprünglich“ durch reine Anschauung und daher „blos subjectiv gege-bene Raum“ eben darum, „weil es dessen nicht viel giebt“, „unter keinen Begrif gebrachtwerden kan, welcher einer Construction fähig wäre, aber doch den Grund der Constructionaller möglichen geometrischen Begriffe enthält“. (HN, AA 20: 418)

13 So interpretiert z.B. Stig Hareide diese Aussage in seiner Habilitationsschrift Der Erfah-rungsbegriff Kants. Seine Begründung der Wissenschaftsphilosophie. Oslo 2005, 128–131.

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Größe und der Vorstellung einer gegebenen Größe besteht. Mit der Vorstellungeiner „unendlichen gegebenen Größe“ möchte er sich auf eine Vorstellung beziehen,von der sowohl „Geometer“ als auch „Metaphysiker“ Gebrauch zu machen pflegenund die in der ‚Transzendentalen Erörterung des Raumbegriffs‘ insofern von Inter-esse ist, als sie einen Hinweis darauf enthält, in welchem Sinne es berechtigt ist an-zunehmen, daß der Begriff des Raumes, der alle anschaulich vorstellbaren Räume insich enthält, kein leerer Begriff, sondern die Vorstellung von etwas Gegebenem ist.Kant unterscheidet hier ausdrücklich zwischen zwei Arten des Gegebenen, nämlichzwischen dem „objektiv“ und dem „subjektiv“ Gegebenen. Der „geometrisch undobjectiv gegebene Raum“, z.B. eine Linie oder ein Kreis, sei „jederzeit endlich“;denn er werde „nur dadurch gegeben, daß er gemacht wird.“ (HN, AA 20: 420)Dies gelte auch für jede potentiell unendliche Linie und für jeden potentiell unend-lichen Kreisradius, deren Konstruierbarkeit Euklid mit seinem zweiten und drittenPostulat fordert. Die objektive Gegebenheit eines aktual unendlichen Raumesbraucht dagegen nach Kants Ansicht in der Geometrie gar nicht angenommen zuwerden. Was die Metaphysik angeht, so führt in ihr die Annahme eines objektiv ge-gebenen unendlichen Raumes sogar zu Widersprüchen, wie die erste Antinomiein Kants Kritik zeigen soll. Kant legt nun Wert darauf, daß der Verzicht auf dieVorstellung eines objektiv gegebenen unendlichen Raumes nicht ausschließt, daß inder Geometrie von der „ursprünglichen Vorstellung eines einigen unendlichen,subjectiv gegebenen Raumes“ Gebrauch gemacht wird. (HN, AA 20: 420) Im Ge-genteil, gerade auf diese Vorstellung gründe „der Geometer die Möglichkeit seinerAufgabe, einen Raum (deren es viel[e] giebt) ins Unendliche zu vergrößern.“ (ebd.)Kant will hier nicht etwa behaupten, ein Geometer müsse zur Lösung dieser Auf-gabe (d.h. zur Anwendung des zweiten und dritten Euklidischen Postulats) über dieFähigkeit verfügen, einen aktual unendlichen Raum vorzustellen. Vielmehr meint er,daß der subjektiv gegebene Raum nichts anderes ist als der durch reine Anschauungvorgestellte Raum und daß die in der Geometrie gebräuchliche Beschreibung desRaumes als „unendlich“ eine façon de parler ist, die lediglich bedeute, daß derdurch reine Anschauung gegebene Raum eine „Form der sinnlichen Vorstellungs-art“ sei; denn in dieser Form sei „die Möglichkeit aller Räume, die ins Unendlichegeht, gegeben“. (HN, AA 20: 420–421)14

Kants Nachlaß-Notizen belegen also, daß es nicht seine Absicht war, den Raumder reinen Anschauung mit einem bestimmten geometrischen Raum gleichzusetzenund diesem die Eigenschaft zuzuschreiben, eine aktual unendliche Größe zu sein.Vielmehr möchte er ihn lediglich als eine „Form“ betrachten, „ins Unendliche zu

14 Daß es für Kants Unterscheidung zwischen einem objektiv und subjektiv gegebenen Unend-lichen ein Vorbild in der mathematischen Literatur gegeben hat, zeigt eine von AbrahamKästner wiedergegebene und von Kant (HN, AA 20: 421) zitierte Äußerung von JosephRaphson (1648–1715), nach der „der Mathematiker es jedesmal nur mit einem infinito po-tentiali zu thun habe, und actu infinitum […] non datur a parte rei, sed a parte cogitantis.“

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vergrößern oder zu verkleinern“.15 Man darf deshalb den Schluß ziehen, daß Kantdie Annahme völlig ferngelegen hat, es lasse sich die objektive Geltung euklidischerSätze aus so etwas wie der „Struktur“ der reinen Anschauung herleiten. Vielmehrsetzt Kant diese Geltung in der transzendentalen Ästhetik voraus.

Es würde hier zu weit führen, auf die vier Raumargumente der ‚MetaphysischenErörterung‘ ausführlicher einzugehen, mit denen Kant seine Behauptung des nicht-empirischen und anschaulichen Charakters der Raumvorstellung rechtfertigt. Fürdie Zwecke dieses Aufsatzes mag es genügen, kurz den anti-empiristischen Beweis-ansatz zu skizzieren, den Kant verwendet, um zu zeigen, daß der Begriff des Raumeskein Erfahrungsbegriff ist (§ 2 Artikel 1). Die Linie von Kants schwer zu durch-schauender Argumentation läßt sich nach meinem Verständnis des Textes so wie-dergeben: Wäre der Raumbegriff empirisch, so würde er aus äußeren Erfahrungenabstrahiert sein und auf Raumempfindungen beruhen, die auf empirische Gegen-stände zu „beziehen“ sind, von denen (oder von deren Relation) der Raumbegriffabstrahiert ist. Nun muß man schon, damit man seine Empfindungen auf Gegen-stände „beziehen“ kann, eine Raumvorstellung haben. Denn Gegenstände (als Trä-ger von Empfindungsmerkmalen) kann man nur durch verschiedene Örter im Raumsowohl von einander als auch von sich (und seinen Empfindungen) unterscheiden.Diese Raumvorstellung kann aber nicht auch selber die Vorstellung von einem Em-pfindungsmerkmal sein. Andernfalls müßte es eine Raumempfindung geben, die sichauf Gegenstände in einem Raum zweiter Ordnung beziehen läßt. Aber eine solcheEmpfindung gibt es nicht. Daher kann die Raumvorstellung keine empirische Vor-stellung sein.

Man wird Kants anti-empiristisches Argument überzeugend finden können, wennman bereit ist, mit ihm anzunehmen, daß Empfindungen Zustände entweder desäußeren oder des inneren Sinnes sind, die Unterscheidung zwischen äußerem und in-nerem Sinn also vollständig ist. Letzteres ist dann (und vielleicht nur dann) der Fall,wenn die von Kant in der zweiten Auflage der Kritik entwickelte Theorie der Selbst-affektion richtig ist. Denn nach dieser Theorie kann es aus logischen Gründen nurzwei Arten geben, sinnlich affiziert zu werden, (und dementsprechend nur zwei Sin-nesarten), nämlich (1) die Affektion durch etwas, das sich von uns unterscheidet,und (2) die Affektion durch etwas, das sich von uns nicht unterscheidet.16

15 „Wären Raum und Zeit [als unendlich] etwas an sich [G]egebenes, so müßten sie als unend-liche Größen betrachtet werden. Nun sind sie nichts als Formen, ins [U]nendliche zu ver-größern oder zu verkleinern.“ (Refl 6420, AA 18: 711)

16 Die hier von mir skizzierte Rekonstruktion des ersten Raumarguments unterscheidet sichvon der, die H. E. Allison in seinem Buch Kant’s Transcendental Idealism – Revised and En-larged Edition, New Haven 2004, 100–104, entwickelt hat. Allerdings möchte ich Allisondarin folgen, daß er annimmt, Kants erstes Raumargument wende sich gegen die empiristi-sche Konfusion zweier Bedeutungen des Ausdrucks ‚Gegenstände außer uns‘. – Kants erstesZeitargument in § 4 der Kritik unterscheidet sich aus meiner Sicht vom ersten Raumargu-ment nur dadurch, daß es „irgend von einer Erfahrung“ ausgeht, also innere Erfahrung mit

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Wenn man das anti-empiristische Raumargument gelten läßt und mit Kant an-nimmt, daß der nicht-empirische Raumbegriff nicht leer ist, sondern reine Anschau-ung enthält, so darf man sogleich folgern, daß die Geltung geometrischer Sätze,soweit sie von Konstruktionen in reiner Anschauung handeln, von Erfahrung unab-hängig ist. Die Annahme, daß diese Sätze, als synthetische Sätze a priori, zur eukli-dischen Geometrie gehören, folgt daraus nicht. Dies wird in der ‚TranszendentalenÄsthetik‘, wie gesagt, ohne Beweis vorausgesetzt.

2. Ich wende mich jetzt der Frage zu, wie Kant denn eigentlich begründet, was erim Rahmen der transzendentalen Ästhetik nur voraussetzt, nämlich: daß die Geo-metrie gültige synthetische Sätze a priori enthält. Daß es sich bei diesen Sätzen umsynthetische Sätze handelt, hatte Kant schon in der ‚Einleitung‘ (allerdings erst inder zweiten Auflage (KrV, B 16)) an einem Beispiel klarzumachen versucht, nämlichanhand eines Satzes aus Archimedes’ Abhandlung „Über Kreis und Zylinder“.17

Nach diesem Satz ist die Gerade zwischen zwei Punkten die kürzeste Verbindung.Daß er nicht analytisch ist, seine Geltung also nicht durch Analyse der Begriffe, diein ihm vorkommen, eingesehen werden kann, begründet Kant damit, daß er be-hauptet (KrV, B 16), der Begriff des Geraden sei ein qualitativer Begriff, währendder Begriff des Kürzesten ein quantitativer Begriff sei.18 Kant nimmt also an, daßwegen eines inhaltlichen Unterschiedes der beteiligten Begriffe kein Widerspruchauftreten könne, wenn man den Satz des Archimedes verneine. Daher sei er nichtanalytisch. Man müsse vielmehr schon über eine Anschauung von Geraden verfügen,um seine Gültigkeit einsehen zu können.

Man könnte hier gegen Kants Argument einwenden, daß seine Unterscheidungqualitativer und quantitativer Begriffe nicht scharf genug ist, um den Satz, daß dieGerade die kürzeste Punktverbindung ist, als synthetischen Satz hinstellen zu dür-fen. Kants Behauptung, daß der Begriff der Gerade nichts Quantitatives zum Inhalthabe, ist ja nicht ganz zutreffend. Man bedenke nur, daß Geraden als Linien miteinem Krümmungsgrad = 0 beschrieben werden können und daß die Null als Zahlund damit als quantitative Bestimmung aufgefaßt werden kann. Wie Kant es selbstan späterer Stelle ausführt, können auch Qualitäten eine Größe haben, zwar keineextensive, aber doch eine intensive.19 Kant hätte sich daher präziser ausdrücken undsagen sollen, daß sich der Begriff des Geraden auf eine intensive Größe (d.h. aufeinen Grad) bezieht, während sich der Begriff der kürzesten Länge auf eine exten-

berücksichtigt, und dann sogleich darauf hinweist, daß alles (sukzessive und auf Gleichzei-tiges gerichtete) Wahrnehmen (auf dem innere und äußere Erfahrung beruhen) notwendi-gerweise selbst schon ein zeitlicher Vorgang ist.

17 The Works of Archimedes. Edited in Modern Notation with Introductory Chapters byT. L. Heath, Cambridge 1897, 3.

18 Der Gedanke, daß Geradheit und Krümmung Qualitäten sind, wird bereits von Aristotelesausgesprochen. Siehe Cat. 8, 10 a 11.

19 Kant knüpft auch mit dieser Ausführung stillschweigend an einen Gedanken in Aristoteles’Kategorienschrift an. Siehe Cat. 10 b 26.

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sive (d.h. additive) Größe bezieht, und daß deshalb der in Archimedes’ Satz an-genommene Zusammenhang zwischen der intensiven und extensiven Größe vonPunktverbindungen nicht durch Begriffsanalyse, sondern nur durch Anschauungeinsichtig gemacht werden kann. Mit dieser Korrektur wird man Kants Argumentvon seinen eigenen Voraussetzungen her vielleicht plausibel machen können.20

Nach diesem Argument beruht der synthetische Charakter geometrischer Sätze ganzallgemein darauf, daß Anschauung nötig ist, um ihre Gültigkeit einzusehen.

Ich möchte diesen Punkt hier nicht weiterverfolgen, sondern die für mein Themawichtigere Frage stellen, warum Kant synthetische Sätze wie den des Archimedes füra priori gültig hält. Kants Antwort dürfte sein: Solche Sätze gelten genau deshalba priori, weil sie entweder Axiome oder ableitbar aus Axiomen sind. Der erwähnteSatz des Archimedes kann als Folgesatz eines anderen Satzes betrachtet werden, denKant ausdrücklich als Beispiel eines Axioms anführt und den ich im folgenden alsdas ‚Geradenaxiom‘ bezeichnen werde. Dieser Satz lautet: „Zwischen zwei Punktenist nur eine gerade Linie möglich.“ (KrV, A 163/B 204) Er macht eine Grund-annahme explizit, die implizit mit dem Inhalt des ersten Postulates in EuklidsElementen verknüpft ist und die daher in einigen neuzeitlichen Darstellungen dereuklidischen Geometrie explizit als Axiom formuliert worden ist.21

Warum ist ein solches Axiom a priori gültig? – Kants Antwort auf diese Frageist komplex, und sie muß mit einiger Mühe dem Text der ‚Transzendentalen Logik‘und dem Text der ‚Methodenlehre‘ entnommen werden, zwei umfangreichen Text-stücken, die auf die ‚Transzendentale Ästhetik‘ folgen. Ich möchte versuchen, dieseAntwort möglichst kurz, aber doch verständlich zusammenzufassen.

Sie lautet: Axiome sind a priori gültig, wenn sie erstens auf Definitionen beruhen,die nicht rechtfertigungsbedürftig sind und in denen lediglich die Begriffe erklärtwerden, die in ihnen als Definienda auftreten, und wenn sie zweitens von reinen An-schauungen handeln, die, qua Anschauungen, extensive Größen sind.

Zur Erläuterung: Nehmen wir das Geradenaxiom als Beispiel. Es enthält nurdie Begriffe des Punktes und der Geraden. Wie diese zu definieren sind, darüber sagtKant nicht viel. Aber er sagt ausdrücklich, daß Definitionen an der Spitze einesAxiomensystems stehen müssen, so daß das Verständnis seines begrifflichen Inhaltsvollständig von Definitionen abhängt.22 Außerdem sagt Kant in den Prolegomena,

20 Man beachte aber auch den Einwand, den Hegel in seiner Wissenschaft der Logik gegenKants Behandlung des Archimedischen Grundsatzes erhoben hat. Siehe Georg WilhelmFriedrich Hegel: Gesammelte Werke, hrsg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke,Bd. 21, Hamburg 1984, 199.23–200.24.

21 Zum Beispiel als zweiter „Grundsatz“ in Christian Wolffs „Anfangsgründen der Geome-trie“, § 42, 129: „Zwischen zween Puncten kann nur eine gerade Linie seyn.“ Euklids erstesPostulat fordert, es solle möglich sein, von irgendeinem Punkt zu irgendeinem anderenPunkt eine Gerade zu ziehen.

22 KrV, A 731/B 759: „Dagegen haben wir in der Mathematik gar keinen Begriff vor derDefinition, als durch welche der Begriff allererst gegeben wird, sie muß also und kann auchjederzeit davon anfangen.“

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Absolute Selbstähnlichkeit in der euklidischen Geometrie 295

die unmittelbare Gewißheit des Geradenaxioms könne man sich dadurch klar-machen, daß man „in Gedanken von einem Punkte zum andern allerlei Linien“zieht und dann feststellt, daß man „nur eine einzige [Linie] ziehen [kann], die sich inallen ihren Theilen (gleichen sowohl als ungleichen) ähnlich ist.“ (Prol, AA 04: 370)Aus diesem Zitat ist zu entnehmen, daß Kant eine Definition der Geraden vorAugen hat, nach der sie eine Linie ist, „deren Teil der ganzen Linie ähnlich ist“. Diesist wörtlich Christian Wolffs Definition.23 Mit ihr schreibt Wolff geraden Linieneine Eigenschaft zu, die ich im folgenden als Selbstähnlichkeit bezeichnen möchte.Selbstähnlich möchte ich eine Linie genau dann nennen, wenn sie nur aus Teilenbesteht, die ihr (und daher auch einander) ähnlich sind. Tatsächlich lassen sichGeraden durch genau diese Eigenschaft eindeutig von nicht-geraden Linien unter-scheiden. Bei der kreis- oder gleichförmigen Spirallinie z.B. sind zwar gleichfallsTeile einander ähnlich, aber jeweils nur die, die gleiche Länge haben. Der Viertel-kreis z.B. unterscheidet sich in seiner Gestalt vom Halbkreis und dieser vom Voll-kreis. Bei der Geraden sind dagegen auch alle ungleichen Teile ähnlich. Das heißt,sie haben dieselbe Form und Gestalt.24

Ich gebrauche hier den Ausdruck „Selbstähnlichkeit“ in Anlehnung an seinenGebrauch in der fraktalen Geometrie. „Selbstähnlich“ („self-similar“) nennt mandort Linien, deren Teile, wie klein sie auch sein mögen, wieder Teile enthalten, diemit größeren Teilen der Linie ähnlich sind, z.B. die sogenannte Koch-Kurve oder

23 „Eine gerade Linie AB ist, deren Theil der gantzen ähnlich ist.“ Wolff, „Anfangsgründe derGeometrie“, § 8, „Die vierte Erklärung“, 119. In einem Brief, den Leibniz am 14. Februar1706 an des Bosses geschrieben hat, findet man bereits denselben Gedanken: „Continuumin infinitum divisibile est. Idque in Linea Recta vel ex eo constat, quod pars ejus est similistoti.“ Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hrsg. von C. I. Ger-hardt, Bd. 2. Berlin 1879, Nachdruck Hildesheim 1978, 300. In seinen durch ChristianWolff angeregten Initia rerum Mathematicarum metaphysica definiert Leibniz später dieGerade als „den einfachsten Weg von einem Punkt zu einem anderen“ und behandelt denSatz, daß die Gerade „im Inneren überall sich selbst ähnlich“ sei, als Korollarium. SieheLeibniz, Gottfried Wilhelm: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. hrsg. vonE. Cassirer, Bd. 1, Hamburg 1966, 65f.

24 Man könnte hier vielleicht einwenden, es hänge von der Euklidizität des Hintergrund-raumes einer selbstähnlichen Linie ab, ob sie von einer gekrümmten Linie unterscheidbarist. In Wahrheit wird aus dem Parallelenaxiom ein gültiger Satz genau dann, wenn mandie Begriffe der Geraden und der Ebene definiert mit Hilfe des Begriffs der Selbstähnlichkeit.Es existiere in einer Ebene eine Gerade a, die in zwei verschiedenen auf ihr liegenden Punk-ten P und P' denselben Abstand hat zu einer derselben Ebene zugehörigen zweiten Geradena'. Dann bedeutet dies gemäß den Definitionen der Geraden als selbstähnlicher Linie undder Ebene als selbstähnlicher Fläche, daß a und a' überall, d.h. in allen Punkten der Ebene,zu der a und a' gehören, denselben Abstand haben und bei beliebiger Verlängerung behal-ten. Zugleich bedeutet dies, gemäß der Definition, mit der Christian Wolff den Begriff derParallelen festgelegt hat, daß a parallel zu a’ ist. Siehe dessen Elementa Geometriae, Halle1743, § 81, Def. 44. Auch kann es in dieser Ebene keinen Punkt geben, durch den mehr alseine zu a parallele selbstähnliche Linie laufen. Denn wenn a in diesem Punkt mehrere Paral-lelen hätte, so wären diese nicht selbstähnlich, weil ihr Abstand zu a in diesem Punkt nichtgleich den Abständen wäre, die sie in anderen Punkten zu a haben.

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das „Apfelmännchen“.25 Auch Geraden sind in diesem Sinne selbstähnlich. IhreSelbstähnlichkeit übertrifft aber noch die von selbstähnlichen Fraktalen. Denn inGeraden gibt es nicht nur Teile, zu denen es ähnliche Teile in jedem ihrer anderenTeile gibt. Vielmehr gilt für jeden Teil der Geraden, daß er jedem ihrer anderen Teile(und sogar ihr selbst als ganzer) ähnlich ist. Daher darf man die Gerade, mit größe-rer Präzision, als absolut selbstähnlich bezeichnen, während Linien der fraktalenGeometrie nur relativ selbstähnlich sind. (Es besteht, wie man leicht erkennt, einlogischer Unterschied zwischen absoluter und relativer Selbstähnlichkeit.) Im fol-genden werde ich nur von absoluter Selbstähnlichkeit sprechen.26

Christian Wolffs Definition der Geraden als absolut selbstähnlicher Linie ist ausdem Versuch einer Verdeutlichung der Geradendefinition Euklids hervorgegan-gen.27 Nach Euklids Elementen (Buch 1 Def. 4) ist die Gerade genau diejenige Linie,die (wie es in wörtlicher Übersetzung heißt) „in gleicher Stellung auf ihren Punktenliegt“ (���« �� ��� ��« �� � ��« �������« ��� �), was nach der Paraphrase imEuklid-Kommentar von Sir Thomas L. Heath so viel bedeutet wie: daß die Geradediejenige Linie ist, „which presents the same shape at and relatively to all pointson it, without any irregular or unsymmetrical feature distinguishing one part or sideof it from another.“28 Nach dieser Erläuterung nimmt im Grunde schon Euklid an,daß Geraden absolut selbstähnliche Linien sind. Denn Ähnlichkeit ist Identitätder Form oder – allgemeiner – Identität der Qualität. Genau analog zur Geraden

25 Man bezeichnet – nach dem schwedischen Mathematiker Helge von Koch (1870–1924) –als Koch-Kurve die Grenzkurve eines Streckenzuges, die auf folgende Weise entsteht. Einedurch zwei Endpunkte festgelegte Strecke wird in drei Abschnitte geteilt, von denen dermittlere anschließend durch zwei Schenkel eines gleichseitigen Dreiecks ersetzt wird. Dasso beschriebene Verfahren kann ad infinitum auf jede Teilstrecke angewandt werden, diemit ihm erzeugt wurde. – Als „Apfelmännchen“ bezeichnet man die computergraphischeDarstellung der sog. Mandelbrot-Menge, benannt nach dem französischen MathematikerBenoît B. Mandelbrot. In seinem Buch Die fraktale Geometrie der Natur, Basel 1987, 425f.bekennt sich Mandelbrot zu seiner „Leibniz-Manie“ und weist darauf hin, daß man Leib-niz’ Behauptung, nur die Gerade besitze die Eigenschaft, eine „Kurve“ zu sein, „deren jederTeil dem Ganzen ähnlich sei“, heute beweisen könne.

26 Der Unterschied zwischen absoluter und relativer Selbstähnlichkeit läßt sich auch dadurchangeben, daß man sagt: Geraden (ebenso wie Ebenen) sind gegenüber kontinuierlichen Ska-lentransformationen invariant, während die Invarianz von Fraktalen nur gegenüber diskre-ten Transformationen besteht.

27 Vergleiche Christian Wolff: Mathematisches Lexicon, Leipzig 1716, ReprographischerNachdruck Hildesheim 1965, 805: „Euclides beschreibet eine gerade Linie, daß sie dieje-nige sey quae ex aequo interjacet suis extremis, welche alle Theile gleich hinter einander lie-gen hat: allein er erkläret nicht, woraus man erkennet, daß alle Theile gleich hinter einanderliegen. Solcher gestalt seine Erklärung nicht deutlicher als die Sache, so er erklären soll.“Wolff orientiert sich hier an einer allzu wörtlichen lateinischen Übersetzung von Definition 4in Buch 1 der Elemente Euklids. – Ähnlich wie Wolff verwirft Leibniz Euklids Geraden-definition als „obscure“. Siehe dessen Nouveaux Essais IV, 12, § 4., Die philosophischenSchriften, hrsg. von C. J. Gerhard, Bd. 5, 1882, Nachdruck Hildesheim 1965, 433f.

28 The Thirteen Books of Euclid’s Elements. Translated with Introduction and Commentaryby Sir Thomas L. Heath. Second edition. Vol. 1. New York 1956, 167.

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setzt Euklid die Ebene mit absolut selbstähnlichen Flächen gleich (siehe Buch 1Def. 7). Denn seine Definition der Ebene unterscheidet sich von seiner Definition derGeraden nur dadurch, daß ihr Definiens statt von Punkten von Geraden handelt.29

Definiert man die Gerade als absolut selbstähnliche Linie, so ist das Geraden-axiom genau deshalb evident, weil es möglich ist einzusehen, daß es zwischen zweiPunkten nur eine absolut selbstähnliche Linie geben kann.30 Nach Kants Ansicht be-ruht die Möglichkeit dieser Einsicht offenbar auf zwei Tatsachen. Die erste Tatsachebesteht darin, daß mathematische Begriffe (wie die der Geraden und der Ebene)dadurch ausgezeichnet sind, daß sie überhaupt definierbar sind. Aufgrund einer De-finition können mathematische Begriffe willkürlich (durch „willkürliche Synthe-sis“, wie Kant sagt) erzeugt werden: Sie lassen sich „in der reinen Anschauung kon-struieren“.31 Definitionen, die in diesem Sinne „Konstruktionen“ mathematischerBegriffe zugrunde liegen, sind einer Rechtfertigung weder fähig noch bedürftig.„Denn“, so schreibt Kant in den Prolegomena, „in der Mathematik kann ich allesdas durch mein Denken selbst machen (construiren), was ich mir durch einen Be-griff als möglich vorstelle.“ (Prol, AA 04: 370)

Die zweite Tatsache, auf der nach Kant die Möglichkeit der Evidenz und derapriorischen Geltung von Axiomen beruht, besteht darin, daß Anschauungen exten-sive Größen sind. Kant nennt den Satz, der diese Tatsache wiedergibt, – „AlleAnschauungen sind extensive Größen“ – das „Prinzip der Axiome der Anschau-ung“ (KrV, B 202). Er unternimmt es sogar, diesen Satz (als einen der sogenannten‚Grundsätze des reinen Verstandes‘) zu beweisen.32 Diesen Beweis kann ich hiernicht ausführlich kommentieren. Es mag für den Zweck dieses Aufsatzes genügen,seinen Grundgedanken kurz zu erläutern. Extensive Größe nennt Kant „diejenige,

29 Für Christian Wolff ergibt sich die absolute Selbstähnlichkeit der Ebene daraus, daß er siedefiniert als Fläche, „darauf man von einem jeden Puncte des Umbfanges zu einem jeden an-deren Puncte desselben eine gerade Linie ziehen kann.“ Mathematisches Lexicon, 1065.Leibniz formuliert in seinen Initia rerum Mathematicorum metaphysica als Korollariumeiner Definition, „daß die Ebene überall sich selbst ähnlich ist.“ Hauptschriften Bd. 1, 68.

30 Vermutlich hätte Kant eine Definition der Geraden, nach der sie die kürzeste Verbindungzwischen zwei Punkten ist, als formal unkorrekt angesehen, da sie eine Aussage enthält,die aus dem ersten euklidischen Axiom ableitbar ist. Vgl. seine Ausführungen über formalfehlerhafte mathematische Definitionen in KrV, A 731–732/B 759–760. Zur Kritik an der(seit Proklos [S. 110 ed. Friedlein] fälschlicherweise oft dem Archimedes zugeschriebenen)Definition der Geraden als kürzester Punktverbindung siehe schon Leibniz’ Ausführungenin § 4 von Kapitel 12 in Buch 4 seiner Nouveaux Essais, 4, 12, § 4.

31 KrV, A 729–730/B 757–758: „Also [bleiben] keine andere Begriffe übrig, die zum Definirentaugen, als solche, die eine willkürliche Synthesis enthalten, welche a priori construirt wer-den kann, mithin hat nur die Mathematik Definitionen. Denn den Gegenstand, den siedenkt, stellt sie auch a priori in der Anschauung dar, und dieser kann sicher nicht mehr nochweniger enthalten als der Begriff, weil durch die Erklärung der Begriff von dem Gegenstandeursprünglich, d.i. ohne die Erklärung irgend wovon abzuleiten, gegeben wurde.“

32 Genauer gesagt, handelt es sich bei dem erwähnten Grundsatz nach Kants Ansicht um einPrinzip, aus dem die „Möglichkeit der Axiomen überhaupt“ (sofern sie evidente Grundsätzeder Mathematik sind) und damit „die Möglichkeit der Mathematik“ einsichtig gemachtwerden kann. Siehe KrV, A 733/B 761.

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in welcher die Vorstellung der Theile die Vorstellung des Ganzen möglich macht.“(KrV, A 162/B 203) Das Prinzip der Anschauungsaxiome besagt demnach so vielwie: Anschauungen sind Größen, deren Vorstellung auf der Vorstellung ihrer Teileberuht. Nach diesem Prinzip sind Geraden (als reine Anschauungen) extensive Grö-ßen. Dieser Umstand erklärt die Möglichkeit der Evidenz des Geradenaxioms. Ichhatte ja schon gesagt, daß die Evidenz des Geradenaxioms dann zustandekommt,wenn man erstens definitorisch festlegt, daß Geraden absolut selbstähnlich sind,und wenn man zweitens, „in Gedanken“, von einem Punkt zu einem anderen eineabsolut selbstähnliche Linie zieht. Gedankliches Ziehen einer geraden Linie heißtdemnach: eine Linie so erzeugen, daß ihre sukzessiv erzeugten Segmente ihr selbstähnlich sind.

Es würde hier zu weit führen, wollte ich versuchen, die von mir bisher dargelegtenGrundgedanken Kants auf alle euklidischen Axiome anzuwenden. Gewiß war esKants Überzeugung, daß sich die Evidenz (und damit die apriorische Geltung) die-ser Axiome einsehen läßt, wenn man erstens geeignete Definitionen heranzieht unddabei zweitens Rücksicht nimmt auf den Umstand, daß Anschauungen, auf die sichdiese Definitionen beziehen, extensive Größen sind. Ich hoffe, mit Hilfe des Bei-spiels des Geradenaxioms schon jetzt deutlich gemacht zu haben, daß man KantsRechtfertigung der euklidischen Geometrie als einer nicht-empirischen Wissen-schaft des Raumes verständlich und einsichtig machen kann, wenn man außer der‚Transzendentalen Ästhetik‘ noch die ‚Transzendentale Logik‘ mit heranzieht. Erstvon hier aus zeigt sich nämlich, daß reine Anschauung für Kant nicht die einzigeGrundlage der reinen Geometrie ist, daß vielmehr – wie er selbst es ausdrücklichfeststellt (KrV, A 163/B 204) – die „Synthesis der produktiven Einbildungskraft“und damit die Tätigkeit des Verstandes hinzukommen muß; denn auf dieser Synthe-sis „gründet sich die Mathematik der Ausdehnung (Geometrie) mit ihren Axiomen[…].“33 Auch liefern nur beide Teile der ‚Elementarlehre‘ der Kritik der reinenVernunft zusammengenommen hinreichende Ansätze zur Erklärung des Umstandes,daß die euklidische Geometrie a priori gültige, evidente Sätze liefern kann. KantsDefinitionstheorie, nach der die apriorische Geltung von Axiomen auf (expliziten)Definitionen beruht, ist ein ganz wesentliches Fundament dieser Erklärung.

Die durch Einstein inspirierte Kritik an Kant beruht indessen auf der Voraus-setzung, (explizite) Definitionen seien in der Geometrie unter allen Umständen ent-behrlich. Daß diese Voraussetzung fragwürdig ist, werde ich im folgenden versu-chen deutlich zu machen.

3. Einstein hat in seinem Aufsatz „Geometrie und Erfahrung“ Kants Ansicht vonder apriorischen Geltung geometrischer Sätze mit klaren und scharfgeschliffenenSätzen zurückgewiesen. Diese Zurückweisung beruht freilich darauf, daß EinsteinKants Unterscheidung von reiner und angewandter Geometrie durch eine neuartige,heute geradezu kanonisch gewordene Unterscheidung ersetzt hat. Auf diese Unter-

33 KrV, A 163/B 204.

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scheidung muß ich daher zunächst kurz eingehen. Nach ihr besitzt reine GeometrieReinheit nur dann, wenn sie ein deduktives System ist, das mit „inhaltsleeren Be-griffsschemata“ arbeitet.34 In Einsteins Augen liefert nicht mehr Euklid das Para-digma für reine Geometrie, sondern die von David Hilbert geschaffene formaleAxiomatik. Charakteristisch für diese Axiomatik ist es, daß sie auf Definitionenganz verzichtet, im Verzicht auf die Festlegung des Inhalts geometrischer Begriffesogar so weit geht, daß sie anstelle von Axiomen Axiomenschemata verwendet, d.h.Ausdrücke einer Sprache, in der interpretationsbedürftige, leere Zeichen vorkom-men. Hilbert selbst nennt seine Axiomenschemata zwar noch Axiome. Er formuliertsie sogar noch in einem begrifflichen Vokabular, zu dem Wörter wie ‚Punkt‘,‚Gerade‘ und ‚Ebene‘ gehören. Aber er sagt auch, daß statt dieser Wörter genauso-gut Wörter wie ‚Liebe‘, ‚Gesetz‘ und ‚Schornsteinfeger‘ (oder ‚Stuhl‘, ‚Tisch‘ und‚Bierseidel‘) verwendet werden dürften.35 Dies zeigt, daß Hilbert die Ausdrücke desgeometrischen Vokabulars im Rahmen seiner formalen Axiomatik als bloße Prädi-katenvariable verstanden haben will. Einstein bezeichnet sie mit Recht als „inhalts-leere Begriffsschemata“. Damit sind die von Hilbert so genannten Axiome nicht alsSätze, sondern nur als Satzformen zu verstehen. Sie können als solche weder einenBezug auf Gegenstände noch anschaulichen Inhalt, geschweige denn so etwas wieEvidenz, haben. Sie müssen, wie Einstein sagt, „rein formal, losgelöst von jedemAnschauungs- und Erlebnisinhalte“ aufgefaßt werden.36

Einen Inhalt können Hilberts Axiomenschemata nach Einsteins Ansicht nurdurch eine empirische Interpretation erhalten. Das kann nur dadurch geschehen,daß an die Stelle der Begriffsschemata Ausdrücke empirischer Begriffe treten, so daßz.B. aus dem Schema des Geradenaxioms sogleich ein Satz wird, der von starrenMaßstäben oder von Lichtwegen handelt. Empirische Interpretation verwandelt in-dessen das formal aufgefaßte System geometrischer Axiome und Lehrsätze sogleichin eine empirische Naturwissenschaft. Denn was den Begriffsschemata „Inhalt gibt,gehört nicht zur Mathematik“, wie Einstein ausdrücklich feststellt. Nach seinerMeinung ist für eine mathematische (nämlich rein geometrische) Interpretation derAxiomenschemata gar kein Platz, vielmehr ist angewandte Geometrie ein Zweig derPhysik, reine Geometrie ein Zweig der formalen Logik. Das „Logisch-Formale“ derGeometrie muß, so formuliert es Einstein, vom „anschaulichen Gehalt sauber ge-trennt“ werden, denn „der mit dem Logisch-Formalen verknüpfte anschauliche […]Inhalt“ ist „kein Gegenstand der Mathematik“.37

Demnach entscheidet nur Erfahrung darüber, aus welchen Axiomenschemataüberhaupt inhaltsvolle, gültige Sätze gemacht werden können. Nicht der Mathema-

34 Einstein: „Geometrie und Erfahrung“, 387.35 Siehe Hilberts Brief an Frege vom 29. 12. 1899, abgedruckt in: Frege, Gottlob: Nachgelas-

sene Schriften und Wissenschaftlicher Briefwechsel. Bd. 2: Wissenschaftlicher Briefwechsel.Hrsg., bearb., eingel. und mit Anm. vers. von G. Gabriel, H. Hermes, F. Kambartel, C. Thielund A. Veraart. Hamburg 1976, 65–68.

36 Einstein: „Geometrie und Erfahrung“, 386.37 Ebenda, 386.

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tiker, sondern der Physiker hat darüber zu entscheiden, welche Sätze der euklidi-schen Geometrie gelten. Dessen Entscheidung ist freilich niemals definitiv. Sie be-ruht, wie Einstein betont, „im wesentlichen auf Induktion“ und liefert daher immernur vorläufige, revisionsbedürftige Aussagen.38 So gelangt Einstein zu seinem viel-zitierten Spruch:

Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, undinsofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit. („Geometrie und Er-fahrung“, 385f.)

Einstein sieht im Inhalt dieses Satzes die wahre Auflösung des von Kant beant-worteten „Rätsels“: wie es möglich ist, daß Mathematik „auf die Gegenstände derWirklichkeit so vortrefflich paßt“, obwohl sie doch „ein von aller Erfahrung unab-hängiges Produkt des menschlichen Denkens“ zu sein scheine.39 In dieser Hinsichthabe erst die von Hilbert eingeschlagene Richtung der modernen Axiomatik „volleKlarheit über die Sachlage“ gebracht.40

Einstein vermerkt außerdem dankbar – und dies ist ein besonders interessanterPunkt –, ohne die durch Hilberts Formalismus ermöglichte Auffassung der Geome-trie wäre es ihm „unmöglich gewesen […], die [Allgemeine] Relativitätstheorie auf-zustellen“.41 Der Nutzen, den dieser Formalismus für die Relativitätstheorie hat,liegt aus Einsteins Sicht auf der Hand. Nach seiner Beschreibung „säubert“ die mo-derne Axiomatik „die Mathematik von allen nicht zu ihr gehörigen Elementen“.42

Zu diesen Elementen gehören insbesondere definitorische Festlegungen für Begriffs-inhalte. Das heißt: die moderne Axiomatik entzieht der reinen Geometrie die Kom-petenz, Wörtern wie ‚Punkt‘, ‚Gerade‘ und ‚Ebene‘ unabhängig von aller ErfahrungInhalt zu geben. Diese Kompetenz soll nicht mehr der reinen Geometrie, sondernder Physik zufallen, die nunmehr selbständig darüber entscheiden darf, ob z.B. kür-zeste Punktverbindungen auch dann noch Geraden sind, wenn die Punkte auf ge-krümmten Oberflächen liegen.

Soviel zur Erläuterung der neuartigen Unterscheidung zwischen reiner und ange-wandter Geometrie.

Nun wird man den von Einstein beschriebenen Nutzen der modernen Axiomatikfür die Physik nicht in Zweifel ziehen müssen und doch fragen können, was vonseiner Zurückweisung einer auf Definitionen gestützten Geometrie eigentlich derSache nach zu halten ist. Ich möchte fragen: Wie gut sind Einsteins Vorbehalte ge-gen rein geometrische Definitionen eigentlich begründet?

Einstein führt in dürren Worten eigentlich nur einen Grund an: Es hafte, so sagt er,„der Grundlage der Mathematik“ mit ihren Definitionen ein „mystische[s] Dunkel“an, das „beseitigt“ werden müsse.43 Dieser Grund scheint mir bei genauerem Hin-

38 Ebenda, 388.39 Ebenda, 385.40 Ebenda, 386.41 Ebenda, 388.42 Ebenda, 387.43 Ebenda, 387.

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Absolute Selbstähnlichkeit in der euklidischen Geometrie 301

sehen kaum tragfähig zu sein. Definitionen, wie man sie in traditionellen Geo-metriebüchern findet, mögen zwar oft an Klarheit und Deutlichkeit zu wünschenübriglassen. Aber was spricht systematisch gegen den Versuch, bestehendes Dunkeldurch bessere Definitionen zu beseitigen? Schon zwischen Gottlob Frege und DavidHilbert hat es über diese Frage eine interessante, leider abgebrochene Diskussion ge-geben, die Einstein vermutlich nicht gekannt hat.44 Ich habe bereits auf das BeispielChristian Wolffs hingewiesen, der, ebenso wie Leibniz, die schwer verständliche Ge-radendefinition Euklids durch eine einfache und leicht faßliche Definition ersetzthat.45 Sie stellt in meinen Augen eine wirkliche Verbesserung dar, und sie zeigt, daßman nicht, wie Empiristen manchmal meinen, auf mehr oder weniger untaugliche,aus Erfahrung stammende Beispiele, etwa auf Lichtstrahlen oder gespannte Saiten,angewiesen ist, um notdürftig zu erklären, was Geraden sind.

Einsteins Ablehnung geometrischer Definitionen ist aber nicht nur unzureichendbegründet, sondern auch inkonsequent. Er ist nämlich bereit, die HilbertschenAxiomenschemata als „implizite Definitionen“ anzuerkennen.46 Schon Hilberthatte angenommen, daß diese Schemata in der Lage seien, Wortbedeutungen festzu-legen. Damit war nicht gemeint, daß jedes einzelne Axiomenschema eine Definitionsei, wohl aber, daß das gesamte axiomatische System den semantischen Inhalt derWörter ‚Punkt‘, ‚Gerade‘ und ‚Ebene‘ bestimme. Nach dieser Meinung ändert sichz.B. sogleich der semantische Inhalt des Wortes ‚Gerade‘, wenn das Schema des Pa-rallelenaxioms durch das Schema eines nicht-euklidischen Axioms ersetzt wird. Ein-stein hat für den Hilbertschen Typ semantischer Inhaltsbestimmung die von MoritzSchlick eingeführte Bezeichnung ‚implizite Definition‘ übernommen.47

Einsteins Meinung, es gebe in der reinen Geometrie implizite Definitionen, ver-trägt sich allerdings kaum mit seiner Meinung, daß nur empirische InterpretationenHilbertschen Begriffsschemata Inhalt verschaffen können. Denn diese Meinungschließt die Möglichkeit impliziter Definitionen aus, die ja als bloße Satzformen kei-nen empirischen Inhalt haben können. Schon Frege hat gegenüber Hilbert darauf

44 Freges diesbezüglicher Briefwechsel mit Hilbert ist abgedruckt in Frege, WissenschaftlicherBriefwechsel, 58–80. Die unter dem Titel „Über die Grundlagen der Geometrie“ im Jahresbe-richt der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 12, 1903, 319–324 und 368–375, bzw.Bd. 15, 1906, 293–309, 377–403 und 423–430, erschienenen Artikelserien sind wiederabge-druckt in: Gottlob Frege: Kleine Schriften, zweite Auflage, herausgegeben und mit Nachbemer-kungen zur Neuauflage versehen von I. Angelelli, Hildesheim 1990, 262–272 und 281–323.

45 Im Unterschied zu Christian Wolff behauptet Clemens Thaer ohne Angabe von Gründen, daß„der Wortlaut“ der Geradendefinition Euklids „dunkel“ sei. Siehe Thaers Anmerkungen zuEuklid: Die Elemente, nach Heibergs Text aus dem Griechischen übersetzt und herausge-geben von C. Thaer, siebte unveränderte Auflage, Darmstadt 1980, 418. – Die Meinung, esgebe keine brauchbare Geradendefinition, findet man bereits bei Zeitgenossen Kants, z.B.bei Abraham Kästner. Siehe dessen Brief an Pfaff vom 2. August 1789, zitiert bei F. Engel undP. Stäckel: Die Theorie der Parallellinien von Euklid bis auf Gauss, Leipzig 1895, 140.

46 Einstein: „Geometrie und Erfahrung“, 387.47 Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin 1918, 30–37. Zu den Beziehungen zwi-

schen Schlick und Einstein vgl. den oben in Fußnote 3 angeführten Aufsatz von MichaelFriedman.

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hingewiesen, daß dessen Axiomenschemata nicht imstande sind, Wortbedeutungenfestzulegen. Diese Schemata enthalten nur Variable, Quantoren, Junktoren undGleichheitszeichen. Ein System solcher Schemata kann daher Wörtern keine Bedeu-tung verschaffen. Man pflegt heutzutage diesem Umstand dadurch Rechnung zutragen, daß man, statt von impliziten Definitionen zu sprechen, es vorzieht zu sa-gen, ein Hilbertsches System von Axiomenschemata gebe eine ‚Struktur‘ wieder, diesich auf alle Modelle dieses Systems, d.h. auf alle wahren Interpretationen diesesSystems übertrage. Dabei ist aber klar, daß diese Struktur nichts Geometrisches ist,sondern etwas, das sich ausschließlich in der abstrakten Sprache der wahrheitsfunk-tionalen Quantorenlogik (mit Identitätszeichen) wiedergeben läßt. Das heißt, daßdie inhaltliche Bedeutung von Wörtern wie ‚Punkt‘, ‚Gerade‘ und ‚Ebene‘, auf diesich implizite Definitionen beziehen sollen, durch ein System von Axiomenschematanicht festgelegt oder auch nur näherungsweise bestimmt werden kann.

Dies kann aber auch nicht durch das empirische Modell eines solchen Systems ge-schehen. Nehmen wir an, die Allgemeine Relativitätstheorie liefere ein empirischesModell für ein bestimmtes System Hilbertscher Axiomenschemata. Dann sind alleVariablen in diesen Schemata durch Ausdrücke der Relativitätstheorie zu ersetzen.An die Stelle einer Variablen (wie ‚Gerade‘) wird dann z.B. das Wort ‚Lichtweg‘ tre-ten können. Es ist aber klar, daß durch eine solche Ersetzung keine Wortbedeutungerklärt werden kann. Was eine Gerade ist, kann durch Ersetzung des Wortes ‚Ge-rade‘ durch ‚Lichtweg‘ nicht erklärt werden.

Deshalb kann mit Hilfe empirischer Modelle auch nicht darüber entschieden wer-den, ob bestimmte Sätze der Geometrie gültig sind oder nicht.48 Nehmen wir an, es

48 Ich überspringe hier die Frage, ob es auch nicht-empirische, nämlich rein mathematische Mo-delle eines Systems geometrischer Axiomenschemata geben kann. Von einem empiristischenStandpunkt aus kann es sich bei solchen Modellen, da diese für sich Wahrheit in Anspruchnehmen, nur um Systeme von Wenn-so-Sätzen handeln. Deren Vordersätze haben anzugeben,welche geometrischen Objekte die Variablen des Systems vertreten sollen. Deren Nachsätzeordnen bestimmten Axiomenschemata einen der beiden Wahrheitswerte zu. Ein solchesModell besteht also aus Sätzen wie: „Wenn Ebenen Kugeloberflächen, Punkte geometrischeÖrter auf solchen Flächen und Geraden Großkreise (d.h. kürzeste Verbindungen solcher Ör-ter) sind, dann ist das von solchen Objekten handelnde Parallelenaxiom ein falscher Satz.“Mit solchen Sätzen wird über die Existenz geometrischer Objekte nichts behauptet. Vielmehrwird mit ihnen nur ausgesagt, daß kein Widerspruch entsteht, wenn mit einer bestimmtengeometrischen Interpretation eines Systems von Axiomenschemata ein bestimmter Wahr-heitswert bezüglich eines dieser Schemata verknüpft wird. Modelle werden gebraucht, um diesemantische Konsistenz nicht-euklidischer Geometrien aufzuzeigen. Ein konsequenter Empi-rismus kann freilich nicht-empirische mathematische Modelle nur unter Vorbehalt anerken-nen. Denn wenn uns nicht-euklidische Räume, wie es z.B. Kugeloberflächen sind, nur durchErfahrung gegeben werden können, so können uns ihre Eigenschaften gleichfalls nur durchErfahrung bekannt werden. Z.B. wird es dann nicht auszuschließen sein, daß eines Tages dieEntdeckung gemacht wird, daß es zu irgendeinem Großkreis in Wahrheit doch eine Parallelegibt. Es müßte dann mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß eines Tages durch Erfahrungherauszufinden ist, daß das euklidische Parallelenaxiom auch für bestimmte nicht-euklidischeRäume gilt. Will man diese Möglichkeit ausschließen, ist man ohnehin genötigt, mit dem Ge-brauch mathematischer Modelle einen nicht-empiristischen Standpunkt zu beziehen.

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Absolute Selbstähnlichkeit in der euklidischen Geometrie 303

lasse sich aufgrund von Erfahrung zeigen, das Schema des Parallelenaxioms sei keinBestandteil eines Systems, von dem die Allgemeine Relativitätstheorie ein Modellliefert. Dann ist damit die Frage, ob das Parallelenaxiom gültig ist oder nicht, nochgar nicht beantwortet. Denn das Schema des Parallelenaxioms läßt viele Interpreta-tionen zu, von denen – worauf Frege aufmerksam gemacht hat – jede Interpretationdann als ein Parallelenaxiom angesehen werden darf, wenn nicht durch expliziteDefinition festgelegt ist, was mit den Wörtern ‚Gerade‘, ‚Ebene‘ und ‚parallel‘ ge-meint ist.49 Nur wenn der Inhalt dieser Wörter durch explizite Definition bestimmtist, ist es sinnvoll, von ‚dem‘ Parallelenaxiom zu sprechen. Und nur unter dieser Vo-raussetzung kann man über die Frage entscheiden, ob ‚das‘ Parallelenaxiom giltoder nicht gilt.

Mir scheint aus diesem Grund Einsteins Ansicht nicht haltbar zu sein, daß expli-zite Definitionen in der Geometrie nicht benötigt werden, wenn es möglich sein soll,die Gültigkeit geometrischer Sätze zu prüfen.

Heißt dies aber, daß es falsch wäre, mit Einstein anzunehmen, daß geometrischeAusdrücke wie ‚Gerade‘ und ‚Ebene‘ nur dann eine Bedeutung haben, wenn sie aufErfahrungsdaten bezugnehmen, und daß Sätze der Geometrie nur dann wahr sind,wenn sie auf Erfahrungsgegenstände zutreffen? – Diese Frage darf nicht ohne wei-teres mit Ja beantwortet werden. Jedenfalls sind im Hinblick auf sie die AnsichtenKants mit denen Einsteins durchaus verträglich.

Diesbezüglich ist es nötig, auf einige grundlegende Unterscheidungen zu achten, aufdie Kant Wert gelegt hat. So schreibt er im Abschnitt ‚Phaenomena und Noumena‘:

Nun kann der Gegenstand einem Begriffe nicht anders gegeben werden, als in der Anschauung,und wenn eine reine Anschauung noch vor dem Gegenstande a priori möglich ist, so kann dochauch diese selbst ihren Gegenstand, mithin die objective Gültigkeit nur durch die empirische An-schauung bekommen, wovon sie die bloße Form ist. Also beziehen sich alle Begriffe und mitihnen alle Grundsätze, so sehr sie auch a priori möglich sein mögen, dennoch auf empirische An-schauungen, d. i. auf data zur möglichen Erfahrung. Ohne dieses haben sie gar keine objectiveGültigkeit, sondern sind ein bloßes Spiel, es sei der Einbildungskraft oder des Verstandes,respective mit ihren Vorstellungen. Man nehme nur die Begriffe der Mathematik zum Beispieleund zwar erstlich in ihren reinen Anschauungen. Der Raum hat drei Abmessungen, zwischenzwei Punkten kann nur eine gerade Linie sein etc. Obgleich alle diese Grundsätze und die Vor-stellung des Gegenstandes, womit sich jene Wissenschaft beschäftigt, völlig a priori im Gemütherzeugt werden, so würden sie doch gar nichts bedeuten, könnten wir nicht immer an Erschei-nungen (empirischen Gegenständen) ihre Bedeutung darlegen. (KrV, A 239–240/B 298–299)

Dieses Textstück zeigt, daß Kant nicht bereit gewesen ist, die Evidenz (d.h. dieapodiktische Gewißheit), die er den Axiomen der Geometrie (und ihren von Axio-men abhängigen Sätzen) zuschreibt, mit der Wahrheit (d.h. mit der objektiven Gül-tigkeit) dieser Sätze einfach gleichzusetzen. Auch deutet dieses Textstück an, daßKant Wert legt auf die Unterscheidung zwischen dem Inhalt, der Begriffen durchDefinition beigelegt werden kann, und der Bedeutung, die Begriffe erst dadurch er-halten, daß sie Anwendung auf in der Erfahrung gegebene Gegenstände finden.

49 Siehe Frege, Briefwechsel, 75f.

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Diesen Unterscheidungen entspricht es, daß Kant der reinen Geometrie nichtuneingeschränkt die Fähigkeit zu objektiver Erkenntnis einräumt. Erkenntnis vonGegenständen kann sie in seinen Augen nur bedingt liefern, nämlich nur sofernvorausgesetzt werden darf, daß es Gegenstände gibt, die in der Form des äußerenSinnes (d.h. im Raum) angeschaut werden.

Sich einen Gegenstand denken und einen Gegenstand erkennen, ist also nicht einerlei.Zum Erkenntnisse gehören nämlich zwei Stücke: erstlich der Begriff, dadurch überhaupt einGegenstand gedacht wird (die Kategorie), und zweitens die Anschauung, dadurch er gege-ben wird; […]. Sinnliche Anschauung ist entweder reine Anschauung (Raum und Zeit) oderempirische Anschauung desjenigen, was im Raum und der Zeit unmittelbar als wirklich,durch Empfindung, vorgestellt wird. Durch Bestimmung der ersteren können wir Erkennt-nisse a priori von Gegenständen (in der Mathematik) bekommen, aber nur ihrer Form nachals Erscheinungen; ob es Dinge geben könne, die in dieser Form angeschaut werden müssen,bleibt doch dabei noch unausgemacht. Folglich sind alle mathematische Begriffe für sich nichtErkenntnisse, außer so fern man voraussetzt, daß es Dinge giebt, die sich nur der Form jenerreinen sinnlichen Anschauung gemäß uns darstellen lassen. Dinge im Raum und der Zeitwerden aber nur gegeben, so fern sie Wahrnehmungen (mit Empfindung begleitete Vorstel-lungen) sind, mithin durch empirische Vorstellung. (Transzendentale Deduktion § 22 (KrV, B146–147))

Kant unterscheidet hier einen formalen („der Form nach“ bestehenden) und einenmaterialen Aspekt geometrischer Erkenntnis. In seinen Augen liefert die reine(gleichwohl anschauliche) Geometrie, sofern sie ein System evidenter (d.h. apodik-tisch gewisser) Sätze enthält, lediglich formale Erkenntnis empirischer Gegenständeim Raum. Diese Sätze handeln eigentlich nicht von Gegenständen, sondern nur vonmöglichen Formen, in denen uns Gegenstände gegeben sind. Reine Geometrie liefertin dieser Hinsicht keine materiale Erkenntnis von Gegenständen. Das heißt, ihreSätze sind wahr (d.h. objektiv gültig) nur unter der Voraussetzung, daß die Gegen-stände existieren, auf deren Form sie sich bezieht. Aus Kants Sicht ist es nichtAufgabe der reinen Geometrie aufzuzeigen, daß diese Voraussetzung erfüllt ist.Dazu bedarf es vielmehr der Erfahrung von Gegenständen. Erst sie kann objektiveErkenntnis liefern. Nur sofern wir voraussetzen dürfen, daß der Raum, als Formdes äußeren Sinnes, Gegenstände möglicher äußerer Erfahrung umfaßt undGeometrie eine „Wissenschaft“ ist, die „die Eigenschaften des Raums“50 „a prioribestimmt“ (KrV, § 3), dürfen wir annehmen, daß die Sätze dieser Wissenschaft Evi-denz und Wahrheit (i. e. objektive Gültigkeit) besitzen. Demgemäß ist es Aufgabe

50 Kant folgt Christian Wolffs Bestimmung der Geometrie als einer „scientia extensorum“(Elementa Geometriae § 1 Def. 1, Gesammelte Werke, 2. Abt., Bd. 29, hrsg. von J. F. Hof-mann, Hildesheim 1968, 121) in seiner Eingrenzung ihres Sachgebiets als „Mathematik derAusdehnung“ (KrV, A 163/B 204). Durch diese Eingrenzung sind raum-zeitliche Größenwie Bewegung und Geschwindigkeit aus ihrem Sachgebiet ausgeschlossen. Nach Lehrsatz 1der „Phoronomie“ in Kants Metaphysischen Anfangsgründen sind nämlich Bewegung undGeschwindigkeit als intensive Größen nicht additiv. Es ist ein Irrtum Hilberts, wenn er inseinem Aufsatz „Naturerkennen und Logik“ (siehe oben Fußnote 2), 385, meint, Kanthabe das durch Einstein widerlegte Theorem der Addition von Geschwindigkeiten geltenlassen.

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Absolute Selbstähnlichkeit in der euklidischen Geometrie 305

der transzendentalen Ästhetik, zu erklären, wie es möglich ist, daß aus formalergeometrischer Erkenntnis materiale Erkenntnis folgt.

Es entspricht Kants Unterscheidung zwischen formaler und materialer Erkennt-nis, daß er außerdem zwischen dem (definitorischen) Inhalt und der Bedeutung geo-metrischer Begriffe unterscheidet. Für Kant ist Bedeutung etwas, das einem geome-trischen Begriff nur durch Erfahrung, nämlich nur durch empirische Anschauunggegeben werden kann. Dagegen besteht der Inhalt eines geometrischen Begriffs inetwas, das er nur dadurch erhalten kann, daß er „konstruiert“, d.h. mit Hilfe einergeeigneten Definition auf reine Anschauung bezogen wird. Aus Kants Sicht ist esAufgabe weder der Geometrie noch einer empirischen Wissenschaft, sondern alleinder Transzendentalphilosophie, zu erklären, wie es kommt, daß Begriffswörter wie‚Punkt‘, ‚Gerade‘ und ‚Ebene‘ nicht nur einen definitorischen Inhalt, sondern aucheine Bedeutung (d.h. einen Bezug auf Gegenstände) haben können.

Nachbemerkung:

Ich habe in diesem Aufsatz versucht, deutlich zu machen, daß und inwiefernKants Ansichten durch die zum Empirismus neigenden Einwände Einsteins nichtwirklich getroffen werden. Indessen könnte man meinen, diese Ansichten seiengleichwohl gescheitert, – wenn nicht am Empirismus Einsteins, so doch an physika-lischer Erfahrung, durch welche mittlerweile Einsteins Relativitätstheorie gut bestä-tigt worden ist: Diese Erfahrung habe gezeigt, oder doch wahrscheinlich gemacht,daß es einen empirischen Raum nicht gibt, auf den die Sätze der euklidischen Geo-metrie uneingeschränkt zutreffen. Vielmehr existiere aus Sicht der modernen Physikein vierdimensionales Raum-Zeit-Kontinuum, in dem absolut selbstähnliche Gera-den oder Ebenen genauso wenig möglich sind wie absolut selbstähnliche Linien aufeiner überall gekrümmten Oberfläche.

Die Ansicht, der nicht-euklidische Charakter des Raum-Zeit-Kontinuums könnedurch Erfahrung eingesehen werden, ist aber in zweierlei Hinsicht nicht wirklichbewiesen. Erstens besteht heute ein Konsens darüber, daß mit Hilfe empirischerBefunde die Frage nicht zu entscheiden ist, ob Messungen, die physikalischer Erfah-rung zugrundeliegen, im Gebrauch variabler Maßstäbe und Uhrengänge in einem‚flachen‘ vierdimensionalen Hintergrund-Kontinuum bestehen oder ob, bei ‚ge-krümmter‘ Raumzeit, diese Maßstäbe in Wahrheit starr und die Uhren isochronsind.51 Zweitens beruht die Unterscheidung zwischen ‚flacher‘ und ‚gekrümmter‘Raumzeit auf einer metaphorischen Sprechweise, die zwar suggestiv die Vorstellungnahelegt, ein flacher dreidimensionaler Raum könne in ein gekrümmtes Raum-Zeit-Kontinuum ebensowenig eingebettet sein, wie eine absolut selbstähnliche Linie aufeiner nach allen Richtungen gekrümmten Oberfläche liegen kann. Aber diese Vor-stellung stellt sich bei genauerem Hinsehen als unbegründet heraus. Selbst wenn

51 Kanitscheider, Bernulf: Das Weltbild Albert Einsteins. München 1988, 175.

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man durch Erfahrung ausschließen könnte, daß das Hintergrund-Kontinuum phy-sikalischer Messungen eine flache Raumzeit ist, würde daraus noch längst nicht dieUngültigkeit der Sätze der euklidischen Geometrie folgen.

Ich möchte diesen Sachverhalt kurz erläutern.‚Flach‘ nennt man ein Raum-Zeit-Kontinuum dann, wenn dessen Metrik quasi-

euklidisch ist, wie dies nach Hermann Minkowski von der vierdimensionalen, mitimaginärer Zeitkoordinate dargestellten Raumzeit der Speziellen Relativitätstheorieangenommen wird. ‚Quasi-euklidisch‘ heißt diese Metrik deshalb, weil sie dieGröße raum-zeitlicher Abstände durch eine Definitionsgleichung festlegt, die ausder Abwandlung einer differentialgeometrischen Formel hervorgeht, mit der manden als Satz des Pythagoras bekannten 47. Lehrsatz Euklids wiedergeben kann.Diese Formel legt die Größe des Abstands ds im zweidimensionalen Raum als qua-dratische Funktion der Koordinatendifferentiale fest, und zwar durch die Gleichung

(1) ds2 = dx2 + dy2.

Für Abstände im dreidimensionalen Raum gilt analog die Gleichung

(2) ds2 = dx2 + dy2 + dz2.

Während diese beiden Gleichungen eine euklidische Metrik festlegen, definiert dieFormel

(3) dw2 = dx12 + dx2

2 + dx32 + dx4

2,

mit x4 = ß?–1 ct als imaginärer Zeitkoordinate, den raum-zeitlichen Abstand im vier-dimensionalen Kontinuum der Speziellen Relativitätstheorie und legt damit keineMetrik fest, die die Bezeichnung ‚euklidisch‘ verdienen würde. Ähnlich wie dieFormeln (1) und (2) die Größe räumlicher Abstände als quadratische Funktion vonKoordinatendifferentialen angeben, stellt zwar Formel (3) die Größe raumzeitlicherAbstände als Funktion von vier Koordinatendifferentialen dar. Aber diese Formelunterscheidet sich von den Abstandsformeln (1) und (2) in zwei Hinsichten grund-legend. Erstens insofern, als Formel (3) mit x4 eine bloß imaginäre Koordinate ein-führt. Der imaginäre Charakter der Zeitkoordinate ist eine Folge davon, daß For-mel (3) aus der Umformung eines Ausdrucks für die Konstante der Geschwindigkeitder Lichtausbreitung im Vakuum gewonnen wurde, nämlich des Ausdrucks

c = ds / dt,

in dem ‚s‘ für den Weg steht, den das Licht pro Zeiteinheit zurücklegt. Wegen derKonstanz der Lichtgeschwindigkeit gilt sogleich auch

ds2 – c2dt2 = 0.

Da im dreidimensionalen Raum ds2 nach Formel (2) mit der Summe dx12 + dx2

2 +dx3

2 gleichzusetzen ist, und da ‚– c2dt2‘ nichts anderes bedeutet als in Formel (3) derAusdruck ‚dx4

2‘, der in dieser Formel das Quadrat des Differentials der imaginärenZeitkoordinate ß?–1 ct vertritt, ist ‚ds2 – c2dt2‘ gleichbedeutend mit der rechten Seite

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Absolute Selbstähnlichkeit in der euklidischen Geometrie 307

der Gleichung (3): Dieser Ausdruck gibt ebenso wie ‚dx12 + dx2

2 + dx32 + dx4

2‘ eineFunktion wieder, deren Wert für das Licht gleich Null ist. Zweitens unterscheidetsich die Koordinate x4 von den übrigen Koordinaten durch ihren empirischen Cha-rakter. Dieser ergibt sich aus dem Auftritt der empirischen Größe c in der Gleichungx4 = ß?–1 ct. Wegen des imaginären und empirischen Charakters von x4 kann Formel(3) aus den Grundsätzen der euklidischen Geometrie nicht abgeleitet werden. Siefolgt aus diesen Grundsätzen allerdings nicht einmal in Verbindung mit dem empi-rischen Gesetz der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Formel (3) soll nämlich dieAnnahme zum Ausdruck bringen, daß dw, genauso wie die Größe ds in den Formeln(1) und (2), eine Größe ist, die, mit dw2 = ds2 – c2dt2, eine „reale Bedeutung“ auchdann noch behält, wenn sie „nicht verschwindet“, d.h. nicht gleich Null ist.52

Diese Annahme kann aus den Grundsätzen der euklidischen Geometrie in Verbin-dung mit dem Gesetz der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit allein nicht abgeleitetwerden. Sie widerspricht freilich diesen Grundsätzen auch nicht. Es ist sogar sinn-voll, die auf ihr beruhende Metrik als quasi-euklidisch zu bezeichnen, da sie dieGültigkeit der Gleichung (2) voraussetzt und nach Gleichung (3) dw mit ds zusam-menfällt, wenn dt = 0 ist. Da diese Metrik aber eben nur quasi-euklidisch ist, ist siegenaugenommen weder euklidisch noch nicht-euklidisch ist. Es besteht lediglicheine gewisse Strukturähnlichkeit zwischen der metrischen Formel (3) und den ausder euklidischen Geometrie ableitbaren Abstandsgleichungen (1) und (2).

Diese Strukturähnlichkeit geht verloren in der Riemannschen Metrik, die Einsteinmit seiner Revision der Speziellen Relativitätstheorie für die Raumzeit in der Um-gebung von Massen eingeführt hat. Die Allgemeine Relativitätstheorie modifiziertdie Definitionsgleichung (3) für die Größe raum-zeitlicher Abstände so, daß denIndividuenvariablen x1 bis x4 an allen Stellen ihres Auftritts Koeffizienten g�� beige-fügt werden, deren Größe nur empirisch bestimmbar ist. Die Größe eines raum-zeit-lichen Abstands dw ist nach dieser Modifikation keine quadratische Funktion dervier Koordinatendifferentiale mehr, sondern durch die Gleichung

(4) dw2 = �

g�� dx�dx�

festgelegt, bei der über alle Indexkombinationen von 11 bis 44 zu summieren ist.Nur in Grenzfällen geht diese Gleichung in die Abstandsformel der Speziellen Rela-tivitätstheorie über. Die in ihr gebrauchte Metrik verliert damit ihre Allgemein-gültigkeit. Die Raumzeit mit Riemannscher Metrik gilt insofern nicht als ‚flach‘,sondern als ‚gekrümmt‘.

Diese Zuschreibung von ‚Krümmung‘ und ‚Riemannscher Metrik‘ wird meistensso verstanden, als werde mit ihr die Geltung der euklidischen Geometrie außer Kraftgesetzt. Indessen wird die Riemannsche Metrik in der Allgemeinen Relativitätstheo-rie so gebraucht, daß sie nicht die aus den Abstandsgleichungen (1) und (2) folgende

52 Albert Einstein: „Das Äther-Raum- und Feld-Problem der Physik“, in: Forum Philosophi-cum 1930, wiederabgedruckt in: ders.: Mein Weltbild, hrsg. von Carl Selig, Zürich 1979,145.

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euklidische Metrik, sondern nur die durch Gleichung (3) festgelegte, weder euklidi-sche noch nicht-euklidische Minkowski-Metrik ersetzt. Da diese Formel aus denGrundsätzen der euklidischen Geometrie nicht ableitbar ist, impliziert ihre Vernei-nung nicht die Aufhebung der Gültigkeit euklidischer Grundsätze. Der Umstand,daß die in der Allgemeinen Relativitätstheorie gebrauchte Metrik nicht euklidischist, bedeutet daher nicht, daß mit ihr die Geltung der euklidischen Geometrie außerKraft gesetzt würde.

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