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A. Koschewnikoff (Alexandre Kojève) - Die Geshichtsphilosophie Wladimir Solowjews (Sonderabdruck,...

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  • 8/7/2019 A. Koschewnikoff (Alexandre Kojve) - Die Geshichtsphilosophie Wladimir Solowjews (Sonderabdruck, 1930 - Writte

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    AI...... .,OEScHlCHTSPHILOSOPHIE WLADIMIR .,;jOv.."" '.ft.. ..IOt,ll!!'.9

    SONDERABDRUC1(

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    WIadimir Solowjewl) (1853-1900)wird gewohnlich alsder groBte russische1lli000toph des XIX. Jahrhunderts bezeichnet. Ohne auf derartige vergleichenderteile groBes Gewicht zu legen und irgendwie dazu Stellung zu nehmen,man doch leider bemerken, daB diese Bezeichnung jedenfalls nicht in demau fzufassen ist, als ob Solowjew ein groBer Philosoph schlechthin, ein

    I J e n t l ~ T allerersten Ranges sei. Will man ihn einen der bedeutendsten Philo:_phf!Jl und daneben etwa Dostojewskij einen der bedeutendsten Schriftsteller" [ AUW l Il l> nennen, so hat man wohl in bezug auf den letzteren, aber nicht inauf den ersteren die Berechtigung, dasWort nRuBlands zu unterdriicken.ar nicht nur weil Solowjew auBerhaJb RuBlands wenig bekannt ist undj ! ! I : ~ f a l l keinen bemerkenswerten EinfluB auf die PhiJosophie im ganzen tat_ ..... ausgeiibt hat, sondern weil er auf einen derartigen EinfluB auch keinenerheben ka n n. Denn wer die Gedankenwelt der europaischen, vordeutschen Philosophie ken nt, wird bei ihm nichts wesent lich Neues,

    . r von ihm ausgesprochene Weltauffassung finden. DaB jeder Philosophdankenarbeit seiner Vorganger immer irgendwie vOJaussetzt, ist aUer slverstandlich, sowie auch, daB sich bei jedem gewisse Uebereinstim- U ! 5 : ~ mit den Lehren anderer Denker vorfinden; als wahrhaft GroBer wirdI I I derjenige gelten konnen, der, wenn auch auf dem Grunde des bereitsY c ~ m r l e . n e n eine Weltanschauung auszubilden vermag, die sieh nicht restlos auforbi ld er zuriickfiihren laBt und eine wesentlich neue Etappe in der ~ r P n ' = t c k i u n g der Menschheit bildet. Das kann man aber von der Weltanolowjews nieht behaupten.

    e1en Einfliissen, die Solowjew erfahren hat, kann man bei Beur._Ig :: 'ner Originalitat absehen, wie z. B. von dem eines Platons, Plotins,6I1JE!I1SllIl5, Kants, Hegels, Schopenhauers, Ed. von Hartmanns u. s. f.2). An sich'ar nicht zu leugnen und werden z. T. auch von ihm selbst ausdriickarJiEaxleltaIm t, aber da die in Frage ko mmenden Lehren entweder zu m Aligemeinernen Kultur geworden sind oder auf Solowjew nur auBerlich und. b ~ ; " ! L ( : b e \ \ ' i r k t haben, oh ne seine Weltanscha u ung wesentlich zu bestimmen,"e An erkennung dieser Einfliisse fur die Wertschatzung Solowjews nur_ I m f l ~ deutung. Es sind eigentlich nur drei Denker, die in diesem Zusammene nDt werden mussen - Bohme, Baader und Schelling, - Denker, die_ R ! : : t a l n d 4 und mit Solowjew bis aufs tiefste wesensverwandt sind. Da jedoch

    c ; n ~ I \ " , , " ; " ' 1 l . 1 ka um ein Gedanke Bohmes oder Baaders anzutreffen ist, dessen".)gem niehl bei Schelling nachzuweisen ware, so bleibt schlieBlich dieserder auf Solowjew den groBten und entscheidendsten EinfluB ausewiB wird man nieht aile seine Gedanken auf diejenigen Schellingskonnen, aber seine Uebereinstimmungen mit diesem sind doch so"eigehend, daB man wohl behaupten kann, daB seine Weltanschauung

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    2 Alexander Koschewnikoffdie Philosophie Schellings voraussetzt oder jedenfalls ihr gegeniiber nichts prinzipiell und wesentIich Neues bedeutets). Diese weitgehende Verwandtschaft mitSchelling erkHlrt und begrUndet nun auch die Tatsache, daB Solowjew, dessenHauptwerke zwar ins Deutsche iibersetzt wurden, in Europa wenig bekannt undeinfluBlos gebJieben ist. Sein EinfluB ware namJich im Grunde genom mennichts andere5 als ein EinfluB Schellings, und der Umweg liber ihn, der in RuB land zweifellos begangen wurde, hat Hir Europa keinen Sinn.Auf die Frage der Beziehungen Solowjews zu anderen Denkern solI wederhier noch im f o l g ~ n d e n naher eingegangen werden, da diese Beziehungen sehrdeutlich sichtbar sind und einem Sachkundigen ohne weiteres auffarJen. DieseBemerkungen sollen nur dazu dienen, die historische Stellung Solowjews anzudeuten; sie werden auch geniigen, urn seine welthistorische Bedeutung zu charakterisieren. Wenn aber diese nicht Oberschatzt werden darf, so dart aufder anderenSeite weder seine Stellung innerhalb der Geschichte der russischen Philosophie,noch seine personliche Bedeutsamkeit unterschatzt werden.Solowjew ist namJichniemals ein bloBer Kompilator, geschweige denn ein Plagiator gewesen, derohne innerliche Berechtigung mit fremden Gedanken operiert. So ist er auchnicht als ein "Schellingianer" zu bezeichnen, wenn man darunter einen Denkerversteht, der nicht von der reaJen oder ihm innerlich gegebenen Welt ausgeht,sondern die Weltauffassung Schellings von vornherein vorausgesetzt und bloBan deren Weiterbi!dung arbeitet. Die Weltanschau ung Solowjews war ihm zweifel los immanent gegeben, und er hat nicht nur eine mogliche Welt beschrieben,sondern in der von ihm beschriebenen Welt auch tatsachlich ge),ebt. DaB seineWeltanschauung mit derjenigen Schellings wesentlich verwandt war, daB er vor .allem bei deren Ausarbeitung oft wenig selbstandig vorging und nicht nur fertigeBausteine, sondern auch ganze Gebaudeteile und Dispositionen von diesementJehnte, mag seine objektive Bedeutung allerdings beeintrachtigen, - subjektiv bleibt er jedenfalls ein bedeutender Mensch, ein Philosoph im wahrenSinne des Wortes. Wenn diese personliche Bedeutsamkeit des Mannes ausseinen Werken nicht genOgend deutlich hervortrate, so wiirde es genOgen,seine Biographie und die Meinungen aller derer, die ihn gekannt haben, kennenzu lemen, urn keinen Zweifel lIIehr daran zu lassen. Diese subjektive Bedeutsamkeit erklart dann auch den groBen EinfluB, den er auf die russische Pft'i1o sophie ausgeiibt hat und qessen Nachball noch heute deutlich zu spiiren ist.Ueberhaupt wird man sagen konnen, daB die wahre GroBe Solowjews nicht sosehr in seinen tatsachlich ausgesprochenen Lehren liegt, sondem in seiner wirkIich interessanten und in gewisser Beziehung groBartigen PersonIichkeit, 1m fol genden soli freilich auf die personJiche Bedeutung Solowjews nicht weiter eiqgegangen werden'), aber man darf sie nicht aus dem Auge verlieren, wenn mansich beim Verfolgen seiner geschichtsphilosophischen Lehren, die an sich, vielleichl, weder sehr bedeutend noch besonders neu erscheinen werden, kein falschesBild des Denkers bilden will.Wenn die Weltanschauung Solowjews demnach in seiner Personlichkeitgegriindet ist, so wird sie in seiner Metaphysik am deutlichsten ausgesprochen.Die eigentIich metaphysischen Schriften bilden freilich nur einen geringen Bruchteil seiner gedruckten Werke; auch mag es richtig sein, daB bei einer psychoI o g i ~ c h e n Analyse manche seiner Lehren (wie z. B. die Philosophie der Liebe)der Metaphysik gegenUber als primar anzusehen sind; fOr eine objektive DarstelIung seiner Philosophie muB trotzdem doch die Metaphysik aJs das systematische Zentrum gelten, von dem aus gesehen aile anderen Lehren nur als Anwendung erscheinen, die von der Metaphysik aus zu interpretieren und zu ver stehen sind.

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    Die Geschichtsphilosophie Wladimir Solow jews 3vor allem von der Oeschichtsphilosophie, die Ubrigens aucb alsIillllKisdl sekundar 2.U bezeichnen ist. Denn das Studium der Oeschicbten tiber das Historische hat im geistigen Leben Solowjewseidende Rolle gespielt, wie ja iiberhaupt das Sich-Vertiefen in

    __iIi!;ch Oegebene ihm von vornherein lernlag. In diesem Sinne ist sein'on dem des modernen "Historismus" ganzlich verschieden. Unda-c.+.>lft, der Oegensatz nicht nu r in bezug auf denjenigen "Historismus",'a Ernst Troeltsch zu kampfen versuchte, flir den namlich das rein

    "DSI:IeStudium mit ausdriicklichem Verzichten auf jeglichen Versuch einererlungdesstudierten Inhaltes zum Selbstzweck geworden ist, sondernug auf den "Historismus" von Troeltsch selbst. Troeltsch sah ja be".-!id: den: positiven Wert der historischen Forschung vor a1\em darin, daBu verhelfen konne, einerseits die Oegenwart besser zu verstehen und

    _ _..on. und anderseits Zukunfts-Ziele und -Hoffnungen zu setzen und zuGaoz anders dagegen Solowjew. Seine Zukunftsideale waren ihm von. . an a priori gegeben, bezw. durch sein religios-metaphysisches Weltbildund bei deren Aufstellung hat die Kenntnis der tatsachlichen Oeschichteeme nennenswerte Rolle gespielt. Auch seine Ste1\ungnahme zur Oegenah nicht auf dem Umwege tiber die Vergangenheit und wurde durch. m anerkannten absoluten religiosen Werte, d. h. unmittelbar wiederumdie Zukunftsideale bedingt. Die Forderung einer moglichst voraussetzungscGeschichtsbetrachtung und einerdara uf immanent begrtindeten Oeschichts..ilo::;ophie ist von ihm nie aulgestellt worden. 1m Oegenleil, genau so wie dieg der Oegenwart war auch die Aulfassung der Vergangenheit durch daseZukunftsideal besti mmt. So kann man wohl sagen, daB er nie Oeschichts

    -ophie im heutigen Sinne des Wortes, sondern stets nur Oeschichts k0 n- I-t ion getrieben hat 5). Diese historischen oder vielmehr pseudohistorischensuuktionen bilden zwar einen wesentlichen Tei! der Philosophie Solowjews,-ie sind, wie gesagt, immer sekundar, ja sogar tertiar: das metaphysischee' bild bestimmt das Zukunftsideal und erst dieses die Auffassung oder, wennwill , die Konstruktion der Geschichte. Filr die letztere kommt dann nochjeweilige Wertung der Gegenwart als bestimmendes Moment hinzu, eine'ertung, die ihrerseits entweder religios-metaphysisch oder subjektiv-psycho- ch, aber kaum je historisch lundiert ist.Dasselbe Bild tritt uns entgegen, wenn wir die Wandlungen betrachten,i -e die geschichtsphilosophischen Ansichten Solowjews im Laule der Zeit er,

    ren haben. Auch sie sind nicht aus historischen Studien immanent entstanden.er Aenderung des geschichtsphilosophischen Standpunktes geht stets eineend.erung entweder der Oegenwarts- oder Zukunftsauffassung voraus, oder sieird von der Metaphysik aus vorgenommen. So wird man wohl das Wesen derache am besten treffen, wenn man die versch iedenen Etappen der SolowjewschenGeschichtsphilosophie von dem jeweiligen Zustande des metaphysischen Standpunktes und der Oegenwartswertung aus zu deuten und zu verstehen versucht.Solche Etappen kann man drei unterscheiden: 1. Die Oeschichtsphilosophieder .slavophilen" Periode, 2. die der "katholischen" Periode, und 3. der Standpunkt der letzten Schrift Solowjews - der . Drei Gesprache"6).I. Die slavophile Pedode.

    Als Solowjew seine literarische Tiltigkeit begann, war er ein iiberzeugterSlavophile. Diese Tatsache ist insofern bemerkenswert, wei! die Sympathien derdama!igen jungen Generation im allgemeinen eher der positivistischen und mate

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    4 Ale xand e r l( 0 S chew n fk 0 ffrialistischen Denkrichtung galten. Flir Solowjew war dagegen von Anfang aneine reJigios-mystische WeJtauffassung charakteristisch, und seine Philosophiehat bis zuietzt diesen reJigiosen Charakter beibehalten7). Da nun auch der Panslavismus bekanntlich eine reJigios orientierte Bewegung war, die gegen denPositivismus der Westler" kampfte, so war es ganz naturJich, daB SoJowjewsich ihm zunachst angeschlossen hat. Die alteren Slavophilen konnen als un mittel bare Erben der Tradition der deutschen Romantiker und Idealisten angesehen werden, und fur das Denken eines Chomjak6w oder Kirejewskij war derEinfluB Schellings zweifel Ios entscheidend gewesen (obwohl sie die Neigungzeigten, diesen EinfluB zu verschweigen, so daB auch in dieser Beziehung dieSlavophilen mit Solowjew wesensverwandt waren. Endlich teilte er damals nochohne jeden Vorbehalt den den Slavophilen eigentflmlichen Glauben an die welt-

    t historische Mission RuBlands (ein Glaube, der librigens nach Ficht.(!s .Redenan die deutsche Nation" nichts prinzipiell Neues darstellt) und sah mit dlesendie .Orthodoxie", die Selbstherrschaft des Zaren" und den "russischen Volks geist" als absolute Werte an. So kam es, daB er die geschichtsphilosophischeKonzeption des Panslavismus sich damals zu eigen machen konnte und in seinenersten Schriften im Grunde genommen nur die Gedanken der alteren Siavophilenwiederholte. Bei der Abfassung des ersten Entwurfes seiner Geschichtsphilosophie durfte auBerdem noch ein personliches Motiv eine Rolle gespieJt haben.Wie bereits erwahnt, war die zu jener Zeit sowohl in RuBland als in Europaherrschende Stimmung einer religios und mystisch gefarbten Metaphysik imSinne Solowjews im allgemeinen ungi.instig, und so filhlte er das Bedurfnis, vorweg die Moglichkeit, ja sogar Notwendigkeit einer derartigen Metaphysik nachzuweisen. Dleser Aufgabe sind dann auch die meisten seiner Jugendschriftengewidmet. In seiner Magisterdissertation - "Die Krisis der abendlandischenPhilosophie" (1874)8) - versucht er eine allgemeine Geschichte der Philosophiezu geben, in dec er (nach dem Vorbilde Hegels)9) eine notwendige dialektischeEntwicklung zu finden glaubt; diese zieh auf ein religios metaphysisches allumfassendes philosophisches System hin, dessen Entstehung in naher Zukunft, undzwar auf russischem Boden zu erwarten ist. Ohne auf den Inhalt dieser rechtwillkurlichen Darstellung naher einzugehen, bemerkt man, daB schon hier diefilr Solowjews Geschichtsauffassung typischen Zuge deutlich hervortreten: eswird ein zu verwirklichendesZukunftsideal- hierein bestimmtes philosophis"'chesSystem - aufgestellt, und die .tatsachliche" Geschichte als eine dazu mit Notwendigkeit fuhrende Entwicklung konstruiert. Denselben Charakter weist fernerauch die Doktorarbeit - "Die Kritik der abstrakten Prinzi pien" (1877/80) - auf.Hier wird von der chronologischen Folge der philosophischen Systeme abgesehen und auf eine immanent-Iogische Dialektik hingewiesen, die durch dieinneren Unvollkommenheiten der einzelnen, je ein .abstraktes" Prinzip verab. solutierenden Systeme bedingt ist und auf" religiose" Metaphysik und Erkenntnistheorie, ebenfalls .religiose" Ethik und Aesthetik hinzielt. Endlich hat Solowjewin anderen Schriften noch religionsgeschichtliche Fragen behandelt und auchhier auf eine innere Dialektik hingewiesen, die den endgi.iltigen und absolutenWert der christlichen Religion (selbstverstandlich in der Form der ostlichenOrthodoxie) sicherstellt. Was nun schlieBlich die eigentiiche Geschichtsphilosophie Solowjews anbetrifft, so Jag ihre Aufgabe darin, einerseits nachzuweisen,daB auch die historische Entwicklung der Menschheit im ganzen zur Verwirk lichung eines Ideals mitNotwendigkeit filhrt, und anderseitszu zeigen, daB RuB land berufen sei, bei dieser Verwirklichung eine filhrende Rolle zu spielen. DerLasung dieser Aufgabe hat Solowjew eine J877 gehaltene und .Die drei Krafte"betitelte Rede gewidmet, die als Hauptquelle fur die erste Periode seiner Ge

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    Ole Geschlchtsphilosophie Wladimir Solowjews 5schichtsphilosophie gelten kann, und die der nunmehr folgenden narstellungzugrunde gelegt wird 1o , .Fur Solowjew steht es von vornherein fest, daB die Menschheit als ein sichentwickelnder Organismus angesehen werden muB. In der Entwicklung einesOrganismus muB man aber notwendig drei Momente unterscheiden: den Anfangszustand, das Endziel und das Uebergangsmoment von jenem zu diesem.Da nun d:e Entwicklung eines Organismus eine i mman en te ist, so ist klar, daBdieselbe nur in einer Aenderung der Verhaltnisse schon existierender Elementedes Organismus bestehen kann. 1m ursprtinglichen Zustande bilden dieselbeneine unterschiedslose, au Bere Einheit, wahrend das Endziel der Entwicklung dieinnerliche und freie Verbindung der Elemente, d. h. ihre org a n isc he Einheit ist;das Uebergangsstadium muB demnach notwendig durch die Trennung und Verselbstandigung der einzelnen Elemente charakterisiert werden. Diese drei rurjede organische Entwicklung charakteristischen Stadien muB nach Solowjewauch die Menschheit in ihrer Geschichte notwendig durchlaufen. Wie er glaubt,gibt es auch tatsachlich drei Grundkrafte, die die geschichtliche Entwicklungder Menschheit beherrschen. Die erste Kraft sucht das ganze Leben der Menschheit einem einzigen obersten Prinzip unterzuordnen , die Mannigfaltigkeit dereinzelnen Formen in einer abstrakten und unterschiedslosen Einheit zu verschmelzen. Dagegen versucht die zweite Kraft diese tote Einheit zu sprengenund den individuellen Formen tiberall Freiheit zu verschaf,fen. Nun haben diesebeiden Krafte einen ausschlieBlich negativen Charakter, indem die erste aile freieMannigfaitigkeit, jede Bewegung und jeden freien Fortschritt unmoglich macht,wahrend die zweite die Allgemeinheit, das hochste Prinzip und die Solidaritiitdes Ganzen zerstort. Hatten also nur diese beiden Kriifte die Menschheit beherrscht, so konntees uberhaupt zu keiner geschichttici1en Entwicklung kommen .Darum ist es notwendig, daBnoch eine dritte Kraft zu den beiden ersten hinzutritt, welche diese von ihrer Einseitigkeit befreien und die Einheit des hochstenPrinzips mit der Mannigfaltigkeit der einzelnen Formen vereinigt. Es wird gezeigt,daB dlese drei Kriifte in der Oeschichte tatsach lie\) immer zugleich wirken, sodaB der Untersc.hied verschiedener Epochen nur in dem Uebergewicht der einenoder der anderen Kraft bestehen kann. Hier kann man gleich vorwegnehmen,daB nach Solowjew die Herrschaft der ersten Kraft die Vergangenheit, der zweiten- die Gegenwart und der dritten - die Zukunft charakterisiert; er meint auch,daB gegenwiirtig im islamischen Orient und in der westeuropiiischen Kultur diebeiden negativen Krafte zu ihrer hochsten Auswirkung gelangt sind, und daB innaher Zukunft die dritte synthetische Kraft die durch RuBland eingeleitete Kulturentwicklung beherrschen ..vird.Urn nun Solowjews Charakteristik der drei Krafte, bezw. der drei Epochenoder Kulturkreise zu verstehen, muB man einen Blick auf seine Lehre von denallgemeinen Lebensformen der Menscbheit werfell. Er unterscheidet namlichdrei "Sphiiren" des offentlichen Lebens, und zwar 1. "die Sphiire des Schaffens",die das Gefuhl zur psycho!logischen Grundlage und die absolute Schonheit zumhochsten Prinzip hat; 2. "die Sphiire des Wissens", die das Denken zur Grundlage unddie Wahrheit zum Prinzip hat, und 3. "die Sphare der praktischen Tiitigkeit", die sich auf den Willen grUndet und deren Prinzip das allgemeine Wohlist. In allen diesen "Spharen" sind sodann drei "Stufen" zu unterscheiden, dienach einander durch die Herrschaft des materiellen, formellen und absolutenPrinzips bestimmt sind. In der praktischen "Sphare" finden diese "Stufen" in der.okonomischen Gesellschaft" (Semstwo), im Staate und in der Kirche ihre Verkorperung, wlihrend in den "Sphliren" des Wissens und des "Schaffens" ihnenpositive Wissenschaft und Kunsthandwerk, Philosophie und schone KUllst, Theo

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    6 Alexander Koschewnikofflogie und Mystik entsprechen. In bezug auf diese "Stufen kann man drei groBePerioden in der historischen Entwicklung der Menschheit unterscheiden: in derersten bilden dieselben eine unterschiedslose Einheit, in der zweiten trennen siesich von einander, urn jede flir sich ausgebildet zu werden und erst in der drittenund letzten verbinden sie sichzu einerfreien, organischen, allumfassenden Einheit.Flir die vorchristliche Menschheit war (wenn auch nicht immer und tiberallim gJeichen MaBe) die Herrschaft der ersten Orundkraft, d. h. eine tote Einheitund Einerleiheit charakteristisch. Die drei "Stufen der einzelnen "Spharen,sowiediese selbst, waren von einander nicht getrennt; die .Stufen verschmolzen

    uin den drei u nd ifferen zierten "Spharen"-"Theokratie , "Theosophie" und"Theurgie" - die wiederum eine unterschiedslose, tote Einheit miteinander bildeten. Dasselbe Bild zeigt noch heute der islamische Orient. Alles ist dort einerReligion unterworfen, deren Gott ein unbeschrankter Alleinherrscher ist, demgegentiber der Mensch keine_Bedeutungund Freiheithat. Dementsprechendbildetder soziale Korper des Islams eine undifferenzierte Masse, tiber die sich ein Despot stellt, dem eine unbeschrankte Macht auf allen Oebieten zukommt. Ais eineForge davon ist die geistige und ktinstlerische Armut der islamischen Kulturanzusehen.Dagegen hat die Entwicklung des christlichen Abendlandes zu einem diametral entgegengesetzten Resultate geflihrt. Das moderne Europa steht unterdem vorwiegenden EinfluB der zweiten Kraft. Die Religion war hier von vornherein nicht die einzige Macht, sondern ihr stand der weltliche Staat gegenliber,der sich zuletzt von jeder Beziehung von ihr 10s16ste. Der Trennung von Staatund Kirche folgte dann die Trennung der okonomischen Oesellschaft von derpolitischen. Das politische Leben trennte sich von dem wirtschaftlichen und kirchlichen, und der Staat \'erlor so seine absolute Bedeutung. Ein Vol 'k aber, das sichgegen die Kirche und den absoluten Staat emport, kann seine Einheit nicht bewahren, und so herrscht auch im modernen Europa ein Kampf zwischen den ver schiedenen Nationen und Gesellschaftsklassen. Und Solowjew g\aubt (mit denSiavophilen), daB die Zeit nahe ist, in der die Zerstlickelungdes Lebensim Westenihren Hohepunkt erreichen und alsdann eine al1gemeine Anarchie eintreten wird.Derselbe TrennungsprozeB hat sich auch auf dem theoretischen Gebiete ausge wirkt, und die in Europa vollzogene endgtiltige Trennung von Theologie, Philosophie und Wissenschaft hat einen wahren Fortschritt des Wissens dort unmoglich gemacht.So sieht man, daB weder die Welt des Islam, hauptsachlich durch die erste(thetische) Kraft beherrscht,noch die unterdem tiberwiegenden EinfluB der zweiten(antithetischen) Kraft stehende europaische Kultur als abschlieBende Stadien derWeltgeschichte angesehen werden konnen. Oem allgemeinen Gesetz der organischen Entwicklung iufolge muB diesen beiden einander entgegengesetztenKulturepochen eine dritte folgen, die, von der letzten (synthetischen) Kraft beherrscht, das abschlieBende Stadium der Weltgeschichte bilden wird. Die Auf gabe dieser letzten und hochsten Kulturwird n icht i m Hervorbringen neu er Formenbestehen, sondern in der Vereinigung der voneinander getrennten Elementezueiner organischen Einheit, die von einem absoluten und gottlichen Prinzip beherrscht wird. Ein Volk also, das als Trager dieser dritten Weltkraft auftreten wird,

    I braucht keine besondereschopferische Kraft zu besitzen; dieses Volk soli nur vonallen Einseitigkeiten frei sein, sich den Lockungen der empirischen Welt gegentiber gleichgtiltig verhalten, an Gott glauben und sich seinen Oeboten willigunterwerfen. Diese Eigenschaften kommen nun nach Solowjew den Slaven undvor allem den Russen im hochsten MaBe zu und er zieht daraus den SchluB, daBdie Zukunft der Kultur im SchoBe der von RuBland geleiteten slavischen Welt/'

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    Die Geschicl1tsphilosophie \Vladimir Solowjews 7g t . Er gibt zwar zu, daB RuBland bis jetlt seine Aufgabe nicht erfallt bat, aber,e er glallbt, nur deshalb, weil dafiir die Zeit noch nicht gekommen ar. Ers1etzt sind die orientalischen und europaischen Kulturen zum AbschluB gelangt,od erst jetzt hat "die Stunde der kulturellen Berufung RuBlands geschlageo-.

    Die Aufgabe RuBlands ist nunmehr zugleich die Aufgabe der Menschheit. Es solIem e innere, freie Synthese in allen "Spharen" des Lebens vollzogen werden, d. h.es soil auf dem praktischen Gebiete die "freie Theokratie" als eine Synthese vonKirche, Staat und "Semstwo", auf dem theoretischen - die "freie Theosophie"als harmonische Verbindung der Theologie mit Wissenschaft und Philosophie,ond in der "Sphare" des "Schaffens" endlich die "freie Theurgie" oder die Ver einigung der Mystik mit der Kunst und der Technik verwirklicht werden. Unddiese drei "Spharen" sollen dann wiederum eine innere Einheit, eine neue allgemeine und allumfassende "Sphare" des" totalen Lebens" bilden. Der Tragerdieses all-einheitlichen Lebens wird, wie gesagt, zuna ch st das russische Yolksein, dann aber auch die ganze Menschheit, deren Geschichte damit vollendetsein wird.II. Die Gesc:hic:htsphilosophie del' "katholisc:hen (( Periode.

    Dasldeal des" totalen Lebens, an dessen baldige Verwirklichung der jungeSolowjew fest glaubte, und von dem aus er in den "Drei Kraften" die Weltgeschichte interpretierte, entsprach vollkommen seinen metaphysischen Grundanschauungen.Schon seinem eT!5ten geschichtsphilosophischen Entwllrf lageine im wesentlichen bereits ausgearbeitete Metaphysik zugrunde, und sie wurde von ihm auchin seinen reiferen Jahren - wahrend der "katholischen" Periode, im groBen undganzen beibehalten 11). Da nu n seine Auffassung der Gesch ich te stets durch seinenmetaphysischen Standpunkt bedingt war, so kann man demnach sagen, daB diegeschichtsphilosophischen Ansichten der beiden ersten Perioden sich p r i nz i pi ell von einander nicht unterscheiden. In ha Itl ich jedoch weich en die auf die"Drei Krafte" folgenden Aufzeichnungen sowohl von dieser Schriftals auch untereinander in mancher Beziehung abo Nachdem Solowjew seine metaphysischeGottes- und Weltlehre zu ei nem abgesch lossenen System ausgebildet hatte, konnteer die Geschichtsphilosophie daran unmittelbar anschlieBen, und sie tritt in derTat als ein integrierender Teil der metaphysischen Weltlehre auf, die ihrerseitsnureine Anwendung und Weiterbildung der Lehren vom Absoluten ist. So wurdeSolowjew dazu gefUhrt, den von ihm nur auBerlicn (durch die Vermittlung derSlavophilen) von Hegel entlehnten "Dreiakt-Gedanken" (Thesis-AntithesisSynthesis) der "Drei Krafte" aufzugeben. 1m besseren Einklang mit seiner Metaphysik faBt er nunmehr die Geschichte als eine ~ l i n e a r e " Entwicklung auf, imLaufe deren die Menschheit auf allen Gebieten immer titfer eingreifende undallumfassendere Einheiten realisiert, und dem Absoluten immer naher kommt.Wenn so die Ausbildung der Metaphysik eine Aenderung des allgemeinen Schemas der Geschiclltsauffassung Solowjews herbeifiihrte, so war fiir die Aenderungdes konkret'n Inhaltes seiner Geschichtskonstruktion die veranderte Stellungzum romischen Katholizismus und der damit zusammenhangende Bruch mit denSlavophilen maBgebend.Am Anfang der 80. Jahre veroffentlichte Solowjew zwei Aufsatze,12) inI\i denen er (obne allerdings seine Ueberzeugung vom absoluten Wert der ostlichen\ \Orthodoxie aufzugeben) die gegenwartige Lage der russischen Kirche scharf kritisierte. Damit war sein Bruch mit den Siavophilen eingetreten, und in der Folge kames zu einer erbitterten Polemik, die den Anschein erwecken konnte, als ob er zu

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    Alexander Koschewnikoff8dem entgegengesetzten Lager der nWestler" ilbergetreten wl1re. So darf jedoch dieLage nicht aufgefal3t werden. In Wirklichkeit ist die positivistische Denkrichtungder nWestler" Solowjew immer fremdgewesen, und seine religiOse Weltanschau\ ung blieb d e r j e n i ~ e n der 111 te ren Slavophilen bis zuletzt wesensverwalldt. Was

    II

    I. sich gel1ndert hat, war nur die Wertung der damaligen russischen Verhl1ltnisse,und diese Aenderung brauchte bei Solowjew (und vielleicht bei den l1lteren Slavophilen) eine Verschiebung des prinzipieUen Standpunktes nicht unbedingtherbeizuflihren. Bei den jilngeren Panslavisten wurde hingegen die u nbedingteBilligung alles Russischen zum Dogma erhoben, und s i e konnten demnach dieeinsetzende Kritik Solowjews nur als einen Bruch mit der slavophilen Idee alssoicher empfinden, was sie an und flir sich noch keineswegs war. Wie dem aberauch sei, es steht jedenfalls fest, daB Solowjew die panslavistischen IllusionenIseiner Jugend nach und nach aufgegeben hat. Zuerst fielen ihm die Ml1ngel derr u s ~ i s c h e n Kirche auf, worauf bald der Zweifel an den absoluten Wert der griechischen Orthodoxie ilberhaupt folgte; spl1ter kam die Kritik der politischen LageRuBlands und in den letzten Jahren seines Lebens verschwand schlieBfich auchder Olaube an die Weltmission seines Vaterlandes.Diese in bezug auf die Wertung der Gegenwart sich herausbildende Entwicklung hat auf den Inha It der geschichtlichen Konstruktionen Solowjews einenbedeutenden EinfluB ausgeilbt. Wl1hrend der "katholischen" Periode bleibt zwarder Glaube an die Notwendigkeit der selbstherrlichen Zarenregierung und an

    II die welthistorische Mission RuBiands bestehen, aber die Stellung in der Kirchenfrage weicht von derjenigen der ersten Periode entschieden ab. An die Stelle derscharfen Kritik des rOmischen Katholizismus tritt jetzt die Forderung der Ver einigung der christlichen Kirche-n unter der Oberleitung des Papstes, und dieGeschichtewird alsdann alseindazu mit NotwendigkeitfilhrenderProzeB gedeutet.Es ist hier nicht der Ort, die Ursachen der Annl1herung Solowjews an denKatholizismus zu erortern und auf die Frage der Einflusse, die er seitens katholischen Denkern erfahren hat, nl1her einzugehen 13). Filrdie Geschichtsphilosophiefl1l1t vor' allem die Tatsache ins Gewicht, daB Solowjew den katholischen Ge

    _' danken eines theokratische-n Staates Ubernommen hat. Diesem althergebrachtenGedanken gab er jedoch eine eigentUm liche, panslavistisch gefarbte Wendung:' der theokratische Weitstaat soli durch RuBland verwirklicht werden; in ihm soli1\ I die Menschheit unter der politischen Leitung des Zaren und der geistigen Filhrungdes Papstes vereinigt sein. So sieht man, daB Solowjew von den drei Pfeilerndes slavophilen Dogmas - Qrthodoxie, t i e , Volksgeist - die beiden Jetz teren vorll1ufig beibehielt und nur an die Stelle des ersteren die Forderung desAnschlusses an die katholische Kirche stellte. Dies geniigte zwar, urn den Bruchmit den ihm zeitgenossischen Panslavisten herbeizufUhren, aber als eine prinzipielle Aenderung seines allgemeinen Standpunktes kann das wohl kaum angesehen werden. Und zwar schon deshalb nicht, wei! fiir Solowjew die Theokratiewesentlich nichts anderes bedeutete, als die l1uBere Form der Organisation jenestotalen Lebens", von dem er bereits in seinen efsten Schriften gesprochen hat.Schon damals war Ubrigens auch von einer "freien Theokratie" die Rede. Wl1h rend er sich jedoch friiher mit ganz abstrakten Ausflihrungen begnUgte, suchter jetzt einen engeren AnschluB an die konkrete Wirklichkeit : die Verbindungder politischen Macht RuBlands mit der geistigen Autoritl1t des Papstes und derOrganisation der romischen Kirche scheint ihm dazugeeignet, die Verwirklichungseines Ideals herbeizufUhren. DaB freilich auch diese neue nkonkrete"Wendungseines Gedankens eine reine Utopie war, braucht nicht besonders hervorgehobenzu werden. Die Talsache, daB er die Krl1fte seiner besten Jahre der Werbung flirdiesen Gedanken widmete und daB er an die praktische MOglichkeit einer Ver

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    Die Geschichtsphilosophie Wladimir So(owjews 9wi rklichung seines Ideals glaubte, beweist nur. daB er ffir konkrete historischeVerhl1ltnisse kein sonderliches Verstl1ndnis hatte.Mit Recht oder Unrecht, war SOlowjew jedenfalls wl1hrend der zweiten Penode von der Wichtigkeit und praktischen Brauchbarkeit seiner theokratischenf(onzeption fest ilberzeugt. Das Zukunftsideal nahm fiir ihn die Form der Theokratie an, und da er die Vergangenheit slets von der Zukunft aus interpretierte,muBte ihm die Geschichte nunmehr als die Geschichte der Theokratie erscheinen.In der Tat wird dies von Solowjew an mehreren Stellen wortlich behauptet, unddie Dhistorischen" Ausfiihrungen seiner katholich orientierten Schriften sind indiesem Sinne abgefaBt.Doch hat diese Tatsache eigentlich eine untergeordnete Bedeutung, da sienur den konkreten lnhalt seiner Geschichtskonstruktion bestimmt. Prinzipiellist der auf die Ausbildung der Metaphysik folgende geschichtsphilosophischeStandpunkt dadurch charakterisiert, daB Solowjew jetzt die historische Entwicklung als eine allml1hliche Wiederherstellung der All-einheit auffaBt, der AII einheit die am Anfang und am Ende der Geschichte als ewiges Gottmenschentumsteht. Die Geschichte im weitesten Sinne des Wortes ist fUr ihn im Grunde genom men nichts anderes, als eine Ausbreitung des zeitlosen Absoluten in der Zeit.'Die seit aller Ewigkeit bestehende Vereinigung der Sophia (d. h. der ideellenMenschheit und Natur) mit Gott im Gottmenschentum tritt in der Oeschichte alsein zeitlicherProzeB auf, in dem immer innigere Formen der durch die Annaherungan Gott bedingten Einheit der Welt und der Menschheit erzielt werden. Willman den Standpunkt SOlowjews in einem Satze ausdrilcken, so kann man sagen,daB filr ihn die empirische Welt werdende Sophia, die wirkliche Geschichte werdendes Gottmenschentum ist.Es wilrde zu weit fiihren, auf die mit diesem Standpunkte zweifellos verbundenen metaphysischen Schwierigkeiten nl1her einzugehen. Wie eine zeitlicheTransposition des zeitlos Bestehenden in die Zeit ilberhaupt moglich ist, wieinsbesondere das Verhl1ltnis des ewigen Oottmenschentums zum individuellenOottmenschen Jesus Christus gedacht werden muB, wie ferner das vorherbestimmte Ziel der Oeschichte mit der ausdrilcklich behaupteten Freiheit desMenschen und der Menschheit zu vereinigen ist usf., - all das sind Fragen,auf die, trotz ihrer prinzipiellen metaphysischen Wichtigkeit, Solowjew nichtnur keine befriedigende Antwort gegeben hat, sondern die von ihm nicht einmalaufgeworfen wurden 14). Wl1hrend der uns hier beschl1ftigenden Peri ode wird erwohl diese Schwierigkeiten auch noch nicht als solche empfunden haben, und sokann man derartige innere Antinomien seiner Metaphysik auf sich beruhen lassen.Hervorzuheben wl1ren nur die geschichtsphilosophischen Konsequenzenseines allgemeinen Standpunktes. Dies sind vor allem zwei Momente von prinzipieUer Bedeutung. Erstens besteht fiir Solowjew kein wesentlicher Unterschiedzwischen der "kosmogonischen" Naturentwicklung und dem historischen ProzeBim eigentlichen Sinne des Wortes. Das ist zwar nicht so zuverstehen, als ober die Geschichte materialistisch, als eine notwendige, bloB nattirliche Entwicklung auffaBte. Vielmehr ist nach ihm schon die" kosmogoniscbe" Evolution eineFolge der f re ien Annl1herung der gefallenen Sophia

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    10 Alexander Koschewnikoflglaubte. Das Ideal so lite nach ihm in de r Z e i t verwirklicht werden: inn erh a I b der Geschichte wird die ge sam t e empirische Wirklichkeit ihre ideale Vollendung erlangen, und die darauf unmittelbar folgende endgtiltige Wiedervereinigung mit Gott bildet den naturlichen und notwendigen AbschluB des historischen Prozesses. Das Bose und Chaotische der endlichen Welt wird restlos imLaufe der Geschichte tiberwunden, und der (eigentlich Pseudo) Dualismus derempirischen Wirk!ichkeit wird Wr immer aufgehoben.

    Eben in bezug auf diesen zweiten Punkt hat Solowjew spiiter seinen Standpunkt grundsiitzlich geandert. Und das unterscheidet seine Geschichtsphilosophie der letzten P e r i o d ~ von derjenigen der zweiten (und ersten) prinzipiell.Demgegentiber kommt den verschiedenel1 Formen, in die er die Geschichtskonstruktionen seiner zweiten Periode gekleidet hat, keine we!-:entliche Bedeutung zu; es mag schlieBlich gleichgtiltig sein, ob er die allmiihliche Wiederherstellung der AIl-einheit von dem mehr katholischen Standpunkte der Tqeokratieoder sonstwie interpretiert haP5). Denn die verschiedenen, inhaltlich in manchen Punkten von einander stark abweichenden historischen Aufzeichnungender zweiten Periode sind aile aus demselben Geiste entstanden.

    Will man von den kleineren Schriften und nur gelegentlichen AeuBerungenabsehen, so sind es vor allem drei Werke, die als Hauptquellen fUr die Kenntnisder uns hier interessierenden Geschichtsphilosophie in Frage kommen. Die nochim slavophilen Sinne gehaJtenen, aber wegen ihres prinzipiellen Standpunkteszur zweiten Periode gehorenden Ausflihrungen der nVorlesungen tiber das Gottmenschentum" (1877/80),16) und die beiden katholisch orientierten Werke: nGeschichte und Zukunft der Theokratie" (1885/86) und nLa Russie et l'Eglise Un iverselle" (1889). Da aber die an zweiter Stelle geI1annte (tibrigens unvollendete)Schrift in der Form eines Bibelkommentars geschrieben ist (was wohl die meistenAbweichungen von den in anderen Werken vertretenen Ansichten erkliirt), sowird hier auf sie, urn sich nicht in Einzelheiten zu verlieren, nicht naher eingegangen. Aus demselben Grunde werden tiberhaupt die inhaltlichen VariationenmogJichst unterdrtickt und nur der allgemeine Gedankeng'cfng hervorgehoben.Da jedoch dieser sich nur im Rah men der Metaphysik ganz verstehen laBt, sosoli zuerst der wesentJiche Inhalt derselben kurz angedeutet werden 17).

    In der Gotteslehre befolgt Solowjew die Methode der in einzelne Etappenzerfallenden niiheren Bestimmung des Absoluten. Zuniichst wird das Absoktteganz abstrakt als vollkommene Einheitgedeutet. Alsdann wird gezeigt, daB estiber dem Sein herrscht, daB das Sein, als dessen Inhalt, ihm als .das Andere",als ein nzweites Absolutes" entgegensteht. Das Absolute ist aber die Einheitseiner selbst und des nAnderen"; es ist nicht nur eine Einheit, sendern eine dieToialitiit des Seins umfassende AlI-einheit. Das nAndere, der Inhalt des Absoluten, wird als ein Ideenkosmos, als das Reich der ewigen Seinsformen niihercharakterisiert. In der zweiten Etappe wird ferner yom Absoluten als von demdreieinigen Gott gesprochen, der in einem dreifachen Verhiiltnisse zu seinemInhalte steht. In der ersten Hypostase will Gott seinen Inhalt, in der zweitendenkt Er und in der dritten Whit Er ihn, und das Ideenreich wird dadurch zumhochsten Gut, zur absoluten Wahrheit und vollkommenen Schonheit. In derdritten und letzten Etappe wird endlich die Dreieinigkeit als lebendiger, personlicher Gott und zugleich auch die Ideenwelt als ein freies Individuum - dieSophia oder ideelle Menschheit - betrachtet. Demnach erscheint das Absolutenicht als eine abstrakte AIl-ein heit, sondern als Gottmenschentum - als einefreie Vereinigung Gottes und der Sophia, des person lichen Absoluten mit derTotalitat des ideellen Seins. Da nun eine vollkommene freie Vereinignng nach

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    11Die Geschichtsphilosophie Wladirnir Solowjews

    Solowjew nur in der Liebe mog1ich ist, so kann er mit dem Apostel sagen, daBdas Wesen des Gottmenschentums, das heiBt GoUes und des Absoluten,Liebe sei.Neben der Gotteslehre steht die metaphysische Weltlehre Solowjews. Urndas Bestehen der empirischen Welt zu erklaren, nimmt er einen (freien) Abfallder Sophia von Gott an. Wie die Moglichkeit und Wirkliehkeit eines solchenAbfalls neben dem ewigen Bestehen des Gottmenschentums naher zu denkenist, dartiber gibt Solowjew begreiflicherweise keine A u s k u n f t l ~ ) Es geniigt zuwissen, daB der Abfall vollkommen frei geschah, und daB dadurch der Anfangder Zeit, der empirischen Welt und deren Entwicklung verursacht wurde. Wiees geschah, das weiB man nieht; daB es aber geschah, das beweist die Tatsachedes Bestehens der endlichen Welt. Dieselbe Tatsache beweist aber ferner, daBder Abfall absoluter war, denn sonst in diesem Faile miiBte die Sophiazum leeren Nichts werden. Solowjew nimmt also an, daB sozusagen "gleichzeitig" mit dem Abfalle der SophiEJ der ProzeB ihrer Wiedervereinigung mit Gottbegann. Auch diese Ann1!herung an Gott ist eine freie Tat der Sophia; da dieletztere jedoch ihre nur durch die Vereinigung mit Gott gegebene Einheitliehkeit verloren hatte, so konnte die WiederherstelJung des Idealzustandes nichtsofort" geschehen, sondern es muBte ihr die allmahliche Verwandlung der chaotischen Materie in einen allumfassenden Kosmos vorangehen. Die abgefalleneSophia ist nieht mehr das "zweite Absolute" in actu, sondern nur in potentia:sie ist das "werdende Absolute". Sofem sie abgefallen ist, ist sie die" materiaprima", die wahre Grundlage der empirischen Welt; und sofern sie frei (wennauch zunachst nur un bewuBt) zu Gott zuriickstrebt, ist sie die "Weltseele","I'ange gardien du Monde", die die Einheit der Welt bedingt und die Entwieklung und allmahliche Vervollkommnung derselben verursacht. Den zunachst .noch unbewuBten (wenn auch freien) Strebungen der Weltseele entsprechen dieEinwirkungen des gottlichen Logos und diese (man mochte sagen partielIen")Wiederherstellungen des Gottmenschentums auBern sich in der:. verschiedenenEinheitsformen der endlichen Welt: der Raum, die kosmischen Korper, das Lieht,das organische Lebensprinzip usf.Diese allmahliche Wiederherstellung der Einheit der Welt macht das Wesender .kosmogonischen" Periode der Weltgeschiehte aus, die ihren AbschluB mitdem Erscheinen des ersten Menschen, de 5 Adam der Bibel, findet. Es war dieClbgefallene Sophia (Weltseele), die in Adam zum ersten Male das SelbstbewuBtsein wieder erlangte, und so war er kein Einzelmensch ,im gewohnlichen Sinnedes Wortes, sondern ein alleiniges, die gesamte Menschheii umfassendes Individuum. Es bestand fur ihn die Moglkhkeit, sich mit Gott endgiiltig zu vereinigenund damit die Weltentwieklung zum AbschluB zu bringen, aber er hat das niehtgetan. Dieser zweite, wiederum vollig freie und daTUm nicht weiter erklarbareAbfall macht das Wesen der Erbslinde aus, und die Folge davon war der Ver lust der von der Sophia am Schlusse der "kosmogonischen" Periode erlangtenEinheit. Da jedoch die bewuBtseinslose Natur an Adams Sunde nieht beteiligtwar, so hat diese flir sie auch keine unmittelbare Foige gehabt; nur die in Adamverkorperte Menschheit hat ihre Einheit verloren und zerfiel in eine chaotischeVielheit von Einzelindividuen. Doch ist der zweite Abfall ebensowenig wie dererste endgultig gewesen, und die in der empirischen Menschheit verkorperteWeltseele fangt von neuem an zu Gott zuruckzustreben. Das Endziel der Entwieklung ist nach wie vor die vollkom.mene Wiedervereinigung der Menschheit(und der Natur) mit Gott, und der dazu flihrende, die Zeit zwischen dem zweitenAbfalJ der Sophia und dem Ende der endliehen Welt ausfiillende ProzeB ist das,was man WeJtgeschichte im eigentlichen Sinne des Wortes nennP9).

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    12 Alexander Koschewnlkoff

    Nach dem S!1ndenfall und der Entstehung der empirischen Menschheit istdie Weltseele (Sophia) in eine Vielheit von Einzelseelen zerfallen. Jeder Menschist zwar ein freies und in seinem BewuBtsein alleinheitJiches Wesen, aber erunterscheidet sich in zwei wesentlichen Beziehungen von dem AllmenschenAdam. Erstens besi,tzt er zunachst noch nicht das wahre Wissen Gottes, undzweitens ist er nur idea liter, im BewuBtsein, und nicht realiter einheitlich. Uinzu Gott zur!1ckkehren lU konnen, muB er also zuerst die adaquate Gotieserkenntnis erlangen, aber auch dann w!1rde seine Hingabe an Gott noch nicht das Endedes Weltprozesses bedeuten, denn die personliche Bekehrung jedes einzelnenist mit der Bekehrung der Menschheit nicht identisch. Einegewisse pote n z i e lIeEinheit kommt zwar auch der empirischen Menschheit zu, aber die WiederherstelJung des Gottmenschentums kann nur dann geschehen, wenn die gesamteMenschheit ein wirkliches bewuBtes und freies Allwesen wird. Die historischeEntwicklung muB demnach in zwei einander erganzenden Richtungen verlaufen:erstens muB die wahre Gotteserkenntnis wiedererlangt, und zweitens die wirkliche Einheit der Menschheit wiederhergestellt werden.Wie die gefalJene Weltseele wahrend der "kosmogonischen" Peri ode zumverlorenen SelbstbewuBtsein hinstrebte, so strebt sie, als gefalJene Menschheitdanach, die verlorene Gotteserkenntnis wieder zu gewinnen. d h. sich ideal iter,im BewuBtsein, mit dem gottlichen Logos zu vereinigen. Dieses Streben verursacht einen langen, .theogonischen" ProzeB, dessen verschiedene Etappen alsbesondere Religion en erscheinen, die nichts anderes als eine Stufenfolge immervolJkommener Offenbarungen der Gottheit sind. Die erste Epoche bilden diesog. Naturreligionen, in denen die Weltseele die durchgemachte .kosmogonischeEntwicklung im BewuBtsein der Menschheit wiederholt. Der mechanischen Einheit des Kosmos entsprechen die .astralen. der dynamischen - die .solaren",und der organischen - die. phalJischen" Religionen, die die dreistufige Reiheder Naturreligionen abschlieBen. Alsdann beginnt die zweite, wiederum dreistufige Epoche. Zur ersten Stufe gehoren die indischen Religionen, in denenGott rein negativ, als das, was er nicht ist, als Nicht-Welt, erkannt wurde. Hierbildet der Buddhismus den Hohepunkt und Absc.hluB, indem er den Negativismus auf die Spitze treibt und .Alles fllr ein Nichts erklart". Die Weltseele konntejedoch bei dieser rein negativen Auffassung des Absoluten nicht stehen bleiben,und in der antiken Weltanschauung (zweite Stufe) gelangt sie zur positiven Be- /Istirn mung desselben. Platon schaute Gott als allumfassenden Ideenkosmos, unddie Griechen suchten in ihrer Kunst, Philosophie und Ethik das absolut Schone,Wahre und Gute zu erreichen. Aber die antike Weltanschauung blieb in zweiHinsichten unvolJkommen: erstens faBte sie das Absolute noch abstrakt undunpersonlich auf, und zweitens wurde in ihr zwischen dem Ideenreich und derendlichen Welt keine Einheit hergestellt. Diese Mangel traten bei dem dieseEpoche abschlieBenden Neuplatonismus deutlich zutage, denn die Neuplatonikerbegn!1gten sich mit dem extatischen Schauen des abstrakten Absoluten undstrebten eine vollige Auflosung in Gott an, ohne auf die empirische Welt Rucksieht zu nehmen 20) . Dagegen haben die Juden Gott immer als lebendige Personlichkeit erkannt, sie suchten auch immer das endliche Dasein den gottliehenGeboten zu unterordnen, und darum bildet die Religion lsraels die letzte undhOchste Stufe des .theogonischen" Prozesses. 1m Alten Testament ist die Geschichte einer personlichen Beziehung des Logos (Jehova) mit den Vertreterndes j!1dischen Volkes erzahlt, in der sich drei Perioden unterscheiden lassen:die alten Patriarchen glauben an den person lichen Gott und leben in diesemGlauben; Moses, David und Salomo empfangen wirkliche Offenbarungen, bemiihen sich, dieselben im Leben durchzufUhren, cnd durch sie schlieBt Gott einen

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    Die Oeschichtsphilosophie Wladlmlr Solowjews 13auBeren Bund mit Israel; zuletzt erkennen die Propheten das Ungenugendedieses nur auBern Bundes und verkunden eine innere Vereinigung Gottes mitdem Menschen; sie verkiinden die Ankunft des Messias, des GottmenschenJesu ChristL Mit Christus endet aber die" theogonische" Entwicklung, dl:!nndurch ihn wird die absolute, wahre Religion der Menschheit geoffenbart.Gleichzeitig mit dem ideellen theogonisehen"ProzeB ging der reale Proze6der Vereinheittichung der Menschheit vor sich, der aueh heute noeh nicht abgesehlossen ist. Was insbesondere die vorchristliche Menschheit anbetrifft, sowar sie nur der Potenz nach ein aJleiniger Organismus, wahrend sie in Wirklichkeit in eine Reihe von einander getrennte Volker und Nationen zerfie!. Nunhaben zwar einige dieser Nationen eine Weltmonarchie angestrebt - "was schoneine Antizipation der kunftigen Einheit war", - aber diese Bestrebungen sinderfolglosgeblieben21).Auf der anderen Seite ist jedoch nach Solowjew jede menschlicheGesellschaft ein all-einheitliehes Ganzes, denn in jeder wird, wenn auch sehrunvollkommen, das theokratische,drei- und somit alleinige Prinzip verwirklicht.Der Fortschritt besteht in dieser Beziehung nur darin, daB einerseits innerhalb jederGesellschaft das theokratische Prinzip immer mehr zur Geltung kommt und anderseits sich in der Menschheit immer umfassendere theokratische Einheiten bildenoSchon das bloB natiirliche, tierische Leben der Menschheit ist in sich dreieinig oder, was nach Solowjew dasselbe ist, - all-einheitlich. Das dreieinigePrinzip wird durch die vergangene, gegeuwl1rtige und zukiinftige Generationvertreten, da jedoeh dieselben zeitlich auseinanderfaJlen, so ist hier ihre Einheitnur illusorisch. Aber jede mensctJliche Gesellschaft flihrt neben ihrem nattirlichenauch noch ein ideelles Dasein, und indiesem werden die drei zeitlich auseinanderfallenden Generationen vereinigt. .Die Gegenwart ist stets an die beiden anderenTerme durch ein inneres geistiges Band gebunden, das die Vergangenheit undZukunft festlegt, und das, wenn es den Strom des materiellen Lebens auch nichtzum Stillstartd bringt, ihn doch in eine bestimmte Bahn zwing1. Die schleehteUnendlichkeit der natiirlichen Zeitfolge wird in ein System der historischen Entwicklung verwandelt. In jeder Gesellschalt gibt es eine religiose T r a d iti 0 n undein prophetisches Idea l. Die Vergangenheit wird als die Grundlage und dauern de Sanktion der Gegenwart pietatsvoll aufbewahrt, und die Zukunft als ihrwah res Ziel herbeigerufen. An der Spitze jeder Gesellschaft steht also immer. eine mehr oder weniger differenzierte "Drei-einigkeit der ffihrenden Klassen".Die Vergangenheit wird durch die Priester vertreten, und in der primitiven Gesellschatt treten die"Vater", die Mitglieder der alten Generation als Priester auf;sie verbinden das Vergangene mit dem Gegenwartigen, die verstorbenen " Vater"(die A h n ~ n ) werden selbst als Gotter verehrt, und durch sie werden die Menschenmit dem Gottlichen vert;>unden. Dagegen reprasemieren die Krieger die Gegenwart; sie sind AngehoJige der gegenwartigen Generation, die "Sohne". Endlichsind die "Propheten" Vertreter der Zukunft, aber gliicklicherweise sind sie nichtdie kiinftigen Kinder, sondern Menschen verschiedenen Alters und sozialer Stellung, .diedie 4ukunftder Menschheit antizipierten undden idealen StrebungenderGesellschaft, in der sie lebten, einen adaquaten Ausdruck gaben". All das giltschon von der primitivsten Gesellschaft, aber wah rend hier jeder Vater" einPIiester, und jeder "Sohn" ein Krieger ist, tritt im Laufe der historischen Entwicklung allmahlich eine Differentiation ein. Die Priester bilden eine besonderereligiose Gemeinschaft (Kirche), die in sich gegliedert und einem Oberpriesterunterworfen ist, und der aktive Teil der BevoJkerung (Krieger) gruppieren sichurn einen Fuhrer tKonig), der nicht nur wah rend des Krieges herrscht, sondernauch das friedliche Leben der Gesellschaft ordnet, wobei er vor allem als RichterHitig ist. So entstehen Kirchen und Staaten, und das Ziel des historischen Pro

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    -14 Alexander K:oschewnikoffzesses besteht einerseits in der Vervolikommnung der .drei theokratischen Gewalten" (Kirche, Konigtum, Prophetentum) in sich selbst und andererseits inder vollkommenen Vereinigung derselben in der Welttheokratie.Neben dieser allgemeineil allmahlichen Verwirklichung des theokratischenIdeals hat die Theokratie in der vorchristlichen Zeit noch eine besondere Ge- .schiehte gehabt, und zwar ist dies die Geschichte des judischen Volkes 22 ). Nurdie Juden haben das theokratische Ideal noch vor Christus klar und deutlich erfaBt und strebten bewuBtdanach, dasselbe im Leben zu verwirklichen. AuBerdemstelltt die Religion Israers die hochste vor der christlichen Offen barung moglicheStufe der Gotteserlcenntnis dar, und ihre Propheten haben die Ankunft Jesu Christierschaut und verkilndet. Aus all den Grunden JaBt sieh, nach Solowjew, die Tatsache erklaren, daB der Heiland als Jude auf Erden geboren wurde, der Heiland,der die wahre Retigion verkundet, das theokratische Ideal in sich verkorpert unddas Gottmenschentum wiederhergestellt hat 23).Es wurde zu weit Whren, die hierher gehorende Christologie Solowjewszu besprechen. Es soli nur hervorgehoben werden, daB-die Erscheinung JesuChristi flir ihn das Zentrum der Geschiehte und der Weltentwicklung uberhauptbedeutet. Mit Christus wird die" theogonische" Periode abgeschlossen, genauso wie mit Adam die "kosmogonische" Entwicklung zum AbschluB kam. Schoninsofern kann Er als "der zweite Adam" bezeichnet werden, aber Er ist diesauch noeh in dem Sinne, daB die Sophia (als der Men sch Jesus) in Ihm zuerstdie Mogliehkeit wiedergewonnen hat, sich mit Gott vollkommen zu vereinigen.Nach der Ueberwindung der drei Versuchungen wurde der Mensch Jesus mitdem gottlichen Logos eins, und dadurch wurde Jesus zum Christus und zugleichzum wahren Priester, Konig und Prophet. Diese Wiederhersteliung des Gottmenschentums und Verwirklichung der Theokratie haben jedoch nieht die voliigeAufhebung der empirischen Welt zur Folge gehabt, denn sie blieben individueliund umfaBten nicht die gesamte Menschheit. Dies widerspricht zwar den metaphysischen Ansichten Solowjews, aber die Tatsache des Weiterbestehens derWelt konnte er offen bar nieht leugnen, und so kam es (obwohl er selbst ausdrucklich das Gegenteil behauptet), daB die irdische individuelle Erscheinungdes Oottmenschen innerhalb seines Systems als ein ratione II nicht zu erfassendesWunder erscheint. Wie dem aber auch sei, so bestimmt jedenfalls diese Erscheinung den gesamten historischen ProzeB; wie die vorchristliehe Entwicklung nurdie Vorbereitung der Ankunft des Heilands war, so konnte die nachchristlichelEpoche nur ein Ziel haben, namlich die individuelle Tat Jesu universell zuwiederholen. Da jedoch die absolute Wahrheit durch Christus geoffenbart wurde,so konnte die "ideelle" Entwicklung nur einerseits in der Ausbildung und Formulierung des christliehen Dogmas und anderseits in der allmahlichen Bekehrung der ganzen Menschheit zum Christentum bestehen. Den wesentlichen Inhalt der neuen Oeschiehtsperiode bildet aber nieht dieser "ideelle", sondern der"reale" ProzeB der Verwirklichung des theokratischen Weltstaates, in dem dieendgiiltige Wiedervereinigung der abgefallenen Sophia mit Oott im universellenGottmenschentume moglich sein wird.DaB die nichtch ristlichen Religionen, die zur Zeit ihrer En tsteh ung notwendigund (relativ) wahr waren, nach der Verkundung des Christentums ihre Daseinsberechtigung verloren haben und spater oder frUher verschwinden muBten, war flirSolowjew von Anfang an klar. Viel schwieriger war dag-egen das Problem derverschiedenen christlichen Konfessionen - vor allem das Problem" Ortho-doxie -Katholizismus", und er hat ihm bekanntlich zwei verschiedene Losungen gegeben.In den" Vorlesungen tiber das Gottmenschentum" steht er in dieser Fragenoch auf dem slavophilen Standpunkte. Hier spricht er von der Kirche als von

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    Die Geschichtsphllosophie Wiadimir Solo\\'jews 15dem nLeibe Christi", der nicht nur die gesamte Menschheit, sondern auch dieganze Natur in sich vereinigen und mit Gott ebenso verbinden soil, \Vie der Lei-bJesu mit dem Logos in Christus verbunden wurde. Aber die historische Kirc hehat diese idea Ie Vollendung noch nicht erreicht. "Das irdische Dasein der Kirchein unserer Zeit entspricht dem Leibe Jesu wahrend seines irdischen Lebens(vor der Auferstehung), einem Leibe, der wohl in einzelnen Fallen wunderbareEigenschaften offenbarte, aber doch im allgemeinen ein sterblicher physischerLeib war. Aber wie in Christus alles Schwache und Irdische durch seine Wiedergeburt im geistigen Leibe vernichtet wurde, so muB dasselbe auch in seinemWeltenleibe, in der Kirche, geschehen, wenn sie zu ihrer Fulle gelangt sein wird."Da die Entwicklung der Kirche eine universelle Wiederholung des Lebens JesuChristi ist, so unterliegt sie auch den drei Versuchungen Jesu, nur daB diese hiernicht bloB vorgestellte Moglichkeiten bleiben, sondern objektive Realitat gewinnen, indem ein Teil der Kirche Ihnen unterliegt und erst durch eigene Erfahrung das falsche des eingeschlagenen Weges erkennt. Die Christen, die dasChristentum nur auBerlich aufgenommen haben, konnen zunachst leicht in die(erste) Versuchung geraten, die dem Christentum feindliche Welt gewaltsam zuChristus zu fiihren. nDieser Versuchung, aus religiosen Grunden Macht habenzu wollen, unterlag ein Teil der Kirche, der von der romischen Hierarchie geleitet wurde und den groBten Teil der Menschen des Westens in der ersten gewaltigen Periode ihres historischen Daseins, im Mittelalter, nach sich zog."Der Hauptmangel des von dem Katholizismus eingeschlagenen Weges bestehtin dem Unglauben, der ihm zugrunde liegt, denn die christliche Wahrheit mitGewalt durchsetzen zu wollen, heiBt eben nichts anderes als an die Macht desGuten und deshalb an Gott nicht zu gJauben. Und dieser Unglaube, der demKatholizismus von Anfang an anhaftete, wird im Jesuitismus - "diesem reinstenAusdruck des romisch-katholischen Prinzips" - ganz offen bart, weil hier nichtmehr derchristliche Eifer,sonderngeradezu Herrschsu cht zum treibenden Momentwurde. Dieser Irrweg des Katholizismus wurde jedoch auch im Westen erkannt,und diese Erkenntnis fand im Protestantismus ihren vollen Ausdruck. Der Protestantismus ist eine berechtigte Reaktion gegen den Katholizismus gewesen,aber sein eigener Weg war an sich auch fa ,lsch, denn hier ist das Prinzip desbloB subjektiven Glaubens ohne aile Tradition verabsolutiert worden. Dieser reinpersonliche Glaube bedarf aber eines Kriterium5 seiner Wahrheit und als einsolches trat die Bibel auf j diese muBte nun verstanden und erklart werden, wozueine personliche Verstandestatigkeit notwendig war, die dann schlieBlich als dieeinzige reale Quelle re ligioser Wahrheiten angesehen wurde. So mundet der Protestantismus mit Notwendigkeit in einen Rationalismus, der zuletzt die Selbstgeniigsamkeit der Vernunft behauptet und dessen reinsten Ausdruck die Hegelsche Philosophie darstellt. So verfiel die westliche Menschheit im Protestantismus und in dessen auBersten Konsequenz - dem Rationalismus der zweitenVersuchung - der Sunde des Hochmutes. Nach dem Zusammenbruch der Hegelschen Philosophie und der Niederlage der fral170sischen Revolution - desVersuches, das Leben auf das bloB Rationelle zu grunden - wurde der Irrtumauch dieses Weges von der Menschheit erkannt, doch nicht urn zur Wahrheit zukommen, sondern urn der dritten Versuchung zu verfallen: nach der rationalistischen Peri ode gelang namlich in Europa der Materialismus sowohl in der theoretischenals auch in der praktischen Sphare zur Herrschaft. Solowjew meintenun, daB diese neue Periode zu seiner Zeit noch nicht abgeschlossen war, wiesaber darauf hin, daB die besten Kopfe Europas das falsche dieses Weges bereitseingesehen haben. Er glaubte, daB "die Menschheit des Westens, nachdem siedurch Erfahrung den Irrtum der drei Wege erkannt, und die Enttauschung der

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    Alexander KoschewnlkoH16drei groBen Versuchungen erlebt hat, sich frliher oder spater der Wahrheit desGottmenschentums zuwenden muB". Und diese Wahrheit wird sie in der ostIichen Kirche finden konnen, die keiner der drei Versuchungen verfallen ist unddie christliche Wahrheit in voller Reinheit aufbewahrt haUe. Wenn aber die ostliche Kirche die christliehe Wah r h ei t bewahrt hat, so konnte sie doch andererseits der antichristlichen Kultur des Westens keine christIiche Kultur gegenliberstellen. Und zwar konnte sie dies deswegen nieht tun, weil diese Kultur einefreie Vereinigung g6ttIicl1er und menschlicher Elemente forderte, wAh rend imOsten das rein menschliche Element vie l zu wenig entwickeIt war, urn in einesolche freie Vereinigung eingehen zu k6nnen. Die ostliehe Menschheit war vielzu schwach, urn das Gottliche in der Natur durchzusetzen und so kam es, daBdie Wahrheit, die im Westen verworfen wurde, im Osten zwar erhalten aber unverwirklicht blieb. Von hier aus gesehen, erscheint also die Entwicklung derwestIichen Menschheit als notwendige Bedingung filr die endgultige Rettungder Welt. Osten und Westen sind in sich beide unvollkommen, da irrt ersterendas menschliche durch das GottIiche verdrAngt wurde, wah rend im letzteren umgekehrt das Menschliehe das Gottliche verdrangtej die volle Wahrheit kann alsonur in der Synthese dieser beiden entgegengesetzten Kulturen bestehen24) , unddiese Synthese so lite durch RuBland vollzogen werden.Auf einem gaOl anderen Standpunkte steht dagegen Solowjew in seinennkatholischen" Werken (nRussie" u. a.). Hier behauptet er, daB die Trennung deruniversellen Kirche in eine ostIiehe und westliche auf keinen inneren Grundenberu ht, und daB die Sch uld filr diese Trenn ung der ostlichen Kirche zugeschriebenwerden muB. Solowjew meint zwar niehl, daB die griechische und russische Kircheirgend welche dogmatische Fehler begangen hat, sondern ihr Verschulden ist,daB sie sich der weltlichen Macht der byzantinischen Kaiser unterworfen unddadurch ihre eigene Macht und Autoritat verloren hat. Als die wahre Kirche giltihm jetzt die von dem Papst geleitete katholische Kirche, aJs das nachste Zielbetrachtet er die Vereinigung aller Kirchen mit ihr, und fordert dazu die allgemeine Anerkennung der Autoritat des Papstes. Wenn aber Solowjew die romische Kirche fUr die einzige hiett, die yom EinfluB der weltliehen, nationalenHerrscher unabhangig geblieben ist, dadurch ihre volle Autoritat bewahrte undso als die universelle Kirche auftreten konnte, sosah er anderseits in dem durch denorthodoxen Zaren regierten RuBland das einzige Land; das imstande sei, diereligiose geislige Autoritat des Papstes auch mit real en Mitteln zu unterstutzenjerst durch die Vereinigung dieser beidengroBten Machte der WeI t soIl te die Theokratie verwirklieht werden. Diesen Gedanken hat Solowjew zwar nirgends naherausgeflihrt, aber aus gewissen Andeutungen kann man schlieBen,daB er sich inder Zukunft eine Weltmonarchie gedacht hat, in der die geistige Macht demPapste und die weltliehe dem russischen Zaren gehoren sollte. Nach der Herstellung dieses theokratischen Weltstaates erwartete er sodann die Wiedervereinigung der Protestanten mit der Kirche, die Bekehrung der Juden zum Christentum, sowie die allgemeine Verbreitung desselben. Und durch die gemeinsameArbeit der ganzen Menschheit unter der obersten Leitung des Papstes, des Zarenund der Propheten muB schlieBlich das theokratische Ideal ganz verwirklieht unddas Reich Gottes auf Erden hergestellt werden.Was die fernste Zukunft anbetrifft - das Gottesreieh, die Wiederherstellungdes Gottmenschentums und das absolute Ende der Geschichte - so besteht indieser Beziehung zwischen den slavophilen und katholischen Schriften keinWiderspruch. Flir die beiden ersten Pedoden bleibt zweierlei charakteristisch:erstens der Glaube an das Gottesreich auf Erden, zu dem die historischeEntwicklung ununterbrochen hinzielt, und zweitens die Behauptung,daB di e

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    Die GeschichtsphUosophie Wladimir Solowjews 11ganze Wirklichkeit, die gesamte Mellschheit.und. N a t u ~ ~ C h l i e ~ l i i d e a l ~ s i e r t und mit Gatt im Gottmenschentum auf aile EWIgkelt verelmgt wlfd. Erst mlt derdritten Peri ode findet eine radikale Aenderung dieses von Solowjew S9 langebeibehaltenen Jugendglaubens statt 25) .

    Ill. Del' Standpunkt del' "Dl'ei Gespdidie".Das einzige Werk Solowjews, in dem sein neuer Standpunkt mit vollerDeutliehkeit ausgesprochen wird, ist seine letlte groBere Schrift .Die drei Gesprilche" (1900) 26). Freilich wird auch hier weder eine systematische Darstellungder Metaphysik. noch eine solche der Geschichtsphilosophie gegeben, aber sowohl die allgemeine Stimmung des Werkes, als auch die den Hohepunkt desGanzen bildende eschatologische Zukunftsvision laBt die radikale Aenderungdes metaphysischen und geschichtsphilosophischen Weltbildes Solowjews klarhervortreten.Es geht tiber den Rahmen der hier behandelten Aufgabe hinaus, den In- .halt dieser nieht sehr langen, aber glanzend geschriebenen Schrift w i e d e r z ~ g e b e n , einer Schrift, die vielleicht das Tiefste und Wirkungsvollste von all dem 1st, wasSolowjew je veroffentlicht hat. Jeder, der sich ftir Solowjews Gedankenwelt interessiert, sollte sie gelesen haben. Es gentigt nur diejenigen Punkte ~ e r v o r z u h e b e n , in denen der Gegensatz zu der frUheren Auffassung am entscheldendsten ausgedrilckt wird.Was e rs tens die Kirche anbetrifft, so gibt zwar Solowjew den Gedankender Kirchenvereinigung nicht ganz auf, aber dieselbe bildet jetzt nicht mehr denAusgangspunkt der historischen Entwicklung, die zur vollen Verwirkliehung destheokratischen Ideals fiihrt, sondern sie wird an das Ende der Geschichte verlegt. Erst am Ende der Tage treffen sieh in der Wilste die Haupter der orthodoxen, katholischen und protestantischen Kirchen (von denen jede eine not

    wendige und gleichberechtigte Riehtung des Christentums vertritt) und reichensich die Hand. Wahrend derganzen historischen Entwicklung bleiben die Kirchenalso getrennt, verlieren allmahlich aIle reale Macht und schlieBlich bleiben ihnennur noch ganz wenige ihrer Adepten treu. Daraus sieht man, daB Solowjewseinen Glauben an die Verwirklichung des theokratischen Weltstaates aufgegebenhat. Zweitens geht aber aus der Schrift hervor, daB er auch den Glauben .andie Weltmission RuBlauds verloren hatte: im XX. Jahrhundert erwartete er ememongolische Invasion, im XXI. die Befreiung Europas und die Bildung einerUnion demokratischer Republiken, in die auch RuBiand als ein unbedeutendesGJied eintritt es wird weder von dem absoluten Wert der Zarenregierung nochvon der b e s o ~ d e r e n kulturellen und politischen Bedeutung RuBlands gesprochen.Drittens endlich (und das ist filr uns der wichtigste Punkt) glaubt Solowjewnicht mehr daran, daB die Geschichte im stetigen Fortschritt zur Verwirklichungdes "totalen Lebens, des .Gottesreiches auf Erden" fiihrt und mit ditser Verwirklichung ihren natOrlichen AbschluB findet. Er nimmt jetzt im Gegenteil an,daB die Geschichte in der Bildung eines Weltreiches endet, das aber nur einZerrbild der Theokratie ist, denn es wird durch das in der Gestalt des Antichristen verkorperte bose Prinzip geieitet. Aeuf!erlich wird dieses Reich denSchein einer absoluten Vollkommenheit haben, und nur wenige Getreue werdensieh dem Antichristen (der sich Christus bewuBt entgegenstellt und da?Christentum bekiimpft) nieht unterwerfen. SchlieBlich kommt es zu einem endgilltigenKampfe zwischen den wenigen Christen und den BOrgern des gottiosen Staates:die Lage der Christen wird verzweifelt, aber dann greifen die Juden in denKampf ein, das Reich des Bosen wird durch himmiische Machte vernichtet, warauf endlich die Wiederkunft Christi und der Untergang der endlichen Welt er

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    19Ole Geschldltspbftosophle Wladlmlr Solowjewsvon Solowjew lange unverandert beibehaIten, aber es muBte schlieBlich eine Zeitkommen, wo der metaphysische Optimismus neben der veranderten Haltung derWirklichkeit gegenilber nicht mehr zu hallen war. In der DRechtfertigung desGuten" (1894196) spricht Solowjew auch tatsiichlich davon, daB erdie Absicht hat,ein neues metaphysisches und geschichtsphilosophisches Werk zu schreiben, indem das Problem des BOsen behandeIt werden soIl. Diese Plane sindjedochunausgefilhrt geblieben und auch seine letzte Schrift legt nur "on seiner neuenpessimistischen Stirn mung ein Zeugnis ab, ohne einen Entwurf des ihr entsprechenden metaphysischen Systems zu enthalten.Wenige Monate nach dem Erscheinen der .Drei Gesprache" ist Solowjewgestorben. Es ist milBig, danach zu fragen, wie die ungeschrieben gebliebeneMetaphysik und Geschiehtsphilosophie ausgefallen ware, falls er noch Hingergelebt hatte. Aber das eine steht jedenfalls fest: daB namlich die neue Geschiehtsphilosophie von der aIten grundsatzlich verschieden sein muBte. Denn jetzt istdie Geschiehte filr SOlowjew nieht mehr die alJmahliche Wiederherstellung desGottmenschentums und die Ri.ickkehr der abgefallenen Sophia zu Gott, sondernein fortwahrenderKampfdes bOsen Prinzips mit dem Guten, ein Kampf, der zwarm i t dem Siege des letzteren endet, aber zugleich auch die Vernichtung des groBtenTeiles der empirischen Welt zur Folge hat: das Gottesreich wird jenseits der Oeschichte verlegt und diese eigentIich der Herrschaft des Bosen preisgegeben.Es mag sein. daB Solowjew auf diesem Standpunkte dem spezifischen Wesendes Historischen naher kommen. dessen selbstandige Bedeutung besser erfassenund die seiner frilheren Methaphysik anhaftenden inneren Antinomien tiberwinden wiirde. aber davon wissen wi r, wie gesagt, nichts.

    Anmerkungen.1) Seln Name wird verschieden transkribiert. Aussprechen soll man ihn etwa wie Ssalawjoff',mit Betonung der letzten Silbe. 2) Dieses Namenverzeichnis kOnnte man leicht fortsetzen; dochwird damlt nlchts geklllrt. S) Es 1st psychologisch interessant, daB die Namen der oben erwllhntendrei Denker in den Werken Solowjews (abgesehen von den historischen) nicht zu Bnden sind.Die Bedeutung B()hmes wird nur in einem Briefe anerkannt, der EinfluB Schellings dagegen (ineinem Jugendbriefe) sogar ausdriicklich gelellgnet. Da eine Unehrlichkeit seitens Solowjews kaumanzunehmen ist, so IlIBt sich dies nur so erklilren, daB seine innere Verwandtschaft mit Schellingelne derart innlge war, daB er dessen Gedanken gar nicht mehr als fremde empfunden hat. 4) Eineersch()pfende und Solowjew wirklich gerecht werdende Biographle ist bis Jetzt noch nlcht geschrieben. Elnen kurzen AbriB des lIuBeren Lebenslaufes findet man unter anderem bei Steppuhn,W. SsolowjewZeitschrlft fiir Phllos. und philos. Kritik ", 1910, Bd. 138 Heft 1-2, S. 1 -79 und239-291. 6) Methodo\oglsch wiirde demnach die Geschichtsphilosophle Solowjews mehr derjenlgen Hegels als Schellings entsprechen. Inhaltllch kommt sle dagegen der Geschichtsphllosophie Schellings nahe und 1st von der Hegelschen prinzipiell verschieden. Geschichtsphilosophie1m Sinne l'iner erkenntnlstheoretischen oder methodologlschen Untersuchung hat Solowjew niegetrieben. Das mag als ein Zeichen dafiir gelten, daB er fiir die Historle als solche wenig Interessehatte. 8) Eine genaue chronologische Fixierung dieser drel Etappen ist kaum mOglich. Zur ungefllhren Orientierung seien fiir die erste Periode etwa die Jllhreszahlen 1873-1885, fiir die zwelte1885-1897 und fur die dritte 1897-1900 gegeben. '1) Von der athelstischen und materialistischenPerlode. die Solowjew, nach selnem eigenen Zeugnis, In selner friihesten Jugend durchlebte,braucht man In diesem Zusammenhange kelne Nollz zu nehmen, da seine damallgen Stimmungenliterarlsch nicht fixlert wurden. S) Mit dem bezeichnenden Untertltel: "Gegen den Positivismus ' .9) Hier, wle In der glelch zu erwllhnenden Kritik der abstrakten Prinzipien", bezieht sich derElnfluB Hegels wiederum nur auf die Methode. Die Ergebnisse, zu denen Solowjew gelangt,. sind dagegen von; -, im Sinne Schellings, obgleich der letztere wenig !:>eriicksichtlgt und in der Krisls' bloB als eine Uebergangserscheinung zwischen Fichte und Hegel behandelt wlrd. Die.Positlve Philosophle", die auf Solowjew am meisten gewlrkt hat, wlrd gar nicht erwllhnt.10) Dlese Schrift 1st bls jetzt nicht iibersetzt. Eine ausfiihrliche Inhaltsangabe fin de! man bei St eppuhn, a. a. O. AuBerdem Vgl. zum folgenden : .Dle philosophischen Grundlagen des totalenWissens"; auch diese Schrift ist nicht iibersetzt. ll} Von der schlieBlich eingetretenen prinzipiellenAenderung des Standpunktes Solowjews wlrd 1m drill en gehandelt. 12) Ueber die gelstigeMacht In RuBland t1881} und .Ueber den Raskol" (1882). Uehers. von KOhler; .Solowjews aus

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    A. W. Koschewnikoff20gew. Werke" (StuttgJrt, Verlag .per kpmmende Tag") Bd.IV, S.244 ff. 13) Hier diidte vor allemder ElnnuB des BischOfs StroBmeyer in Frage kommen. Die Beziehungen zwischen Solowjewund Strotlmeyer sind bls jetzt wenig untersucht worden; dieser Ftage ist elne Dissertation HerrnStremouchoffs(Paris) gewidmet, die bald erschelnen 5011. '4) Aehnliche Schwierigkeiten findetman fibrlgens auch bel den groBen deutschen Vorgangern Solowjews. 16) In diesem Sinne solltedie zweite Periode eigentlich nicht als die . katholische" , sondern Heber sis die .nachmetaphy.$1sche" bezelchnet werden, 16) Uebers. von K6hler; .Ausgew. Werke", Bd. 111. 1'1) Auf genaueQuellennachweise wird aus technischen Griinden verzirhtet. 18) In der Russle" spricht Solowjewallerdlngs (im Gegensatz zu den. Vorlesungen") von einer Weltsch6pfung. Aber das widersprichtsowohl seinem sonstigen allgemeinen Standpunkt, als den Ausfiihrungen der .Russie" selbst undkann dadurch erklllrt werden , daB seine franz6sische Schrift fiir Katholiken bestimmt war, unddaB er darin deshalb merkJich elnen engeren AnschluB an das Dogma such!. 19) Bei der obigenDarstellung ist auf die etwaigen (meistens unwesentllchen Abwelchungen der verschledenen ,metaphysische Probleme beriinrenden Schriften Solowjews keine Riicksicht genommen. 20) Mannndet bei Solowjew noch eine andere Auffassung : der Neuplatonismus erschelnt als eine Syntheseder griechischen und jiidischen Weltanschauung; Got! wird hier sowohl als Ideenreich als auchals lebendige Personlichkeit aufgefaSt und so eine TriniUl.tslehre entwickelt, die sich mit der christlichen vollkommen deckt. Es ist iibrigens leicht zu sehen, daB die rellgionsgeschichtlichen Konstruktionen Solowjews nur Transpositionen der von ihm in der Gotteslehre befolgten Methodesind. 21) Man sieht, daB wirkliche historische Geschehnisse Solowjew wenig interessieren; auf siewird nirgends eingehende Riicksicht genommen. 22) Dariiber handp' t Solowjew ausfiihrlich in dernGeschichte und Zukunft der Theokratie". 2S) Von der Frage, w;.rum die Juden nicht Christengeworden sind, von der RoUe derselben in der zukfinftigen Theokratie, und von deren Stellunginnerhalb des russischen Reiches handelt Solowjew in seiner Schrift: .Das Judentum und diechristliche Frage", auf die ich hier nur hinweisen kann. 2') Diese Anerkennung des absolutenWertes der abendlllndischen Kultur widersprach den Anslchten der mit Solowjew zeitgenOssischenSiavophilen, sowie den Ansichten seiner Jugendjahre. 26) DaB der Glaube an die notwendigeErlOsung aUer Menschen (auch der Siinder) mit der Behauptung der absoluten Freiheit jedesEinzelmenschen eine Antinomie bildet, ist kiar. Wilhrend der beiden ersten Perioden scheintSolowjew dlese Schwierigkeit nicht als solche empfunden zu haben, aber es mag sein. daB siemit der zuietzt eingetretenen Aenderung des metaphyslschen Standpunktes beigetragen hat.28) Die Schrift ist ins .Deutsche, Franzosische und Englische iibersetzt. Z. B, ven Konler: .Solowjews ausgew. Werke", Stuttgart. Verlag .Der kommende Tag), Bd.1. 27) Spuren des Zweifelswerden se it ctwa 1894 bemerkbar; dann wird aber in einem Aufsalze aus dem Jahre 1896 dieWeltmission Rufllands und seines Zaren wieder ausdriicklich behauptet ; doch schon in denSonntagsbriefen" (1897) wird die Frage aufgeworfen, ob es RuBland gelingen wird, seine Missiontatsllchlich zu erfiiUen, und die .Drei Gesprllche" (1900) geben dann eine verneinende Antwort darauf.

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