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Date post: 06-Apr-2016
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Die Zitadelle Spandau - Konstruktion und Bauwerk Herausgegeben von der GSE Ingenieur-Gesellschaft mbH Saar, Enseleit und Partner
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Die Zitadelle Spandau -Konstruktion und Bauwerk

Herausgegeben von der GSE Ingenieur-Gesellschaft mbH Saar, Enseleit und Partner

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Andrea TheissenDie Geschichte der Zitadelle Spandau 4

Regina Jost Die mittelalterliche Burganlage - Konstruktion und Erhaltung 12Der Juliusturm 13Der Palas 17

Regina JostVon der Burg zur Zitadelle - Entstehung und Erhaltung einer Renaissancefestung 24Über die Entwicklung der architectura militaris 25Die Spandauer Festung 27Die Gründung 30Der Lynarplan 31Das Festungsbauwerk – historische Konstruktionen der Bastionen und Kurtinen 33Kurtinen 33Bastionen 34Schadensbilder und Versagensmechanismen 46Die Maßnahmen zur Sanierung 52

Ulrich SmoltczykGeotechnische Aspekte 56

Christiane Borgelt und Regina JostDie Gebäude auf der Zitadelle 60Vom Festungstor zum Kommandantenhaus 61Die Italienischen Höfe der Bastion Brandenburg 63Das ehemalige Proviantmagazin 68Das neue Zeughaus 74Die ehemalige Kaserne 76

Dieter Nellessen und Ingolf HerbarthDenkmalpflegerische Ansätze 80

Nachwort des Herausgebers 88Autorinnen und Autoren 90 Glossar 92Auswahlbibliografie 94Impressum 95

Inhaltsverzeichnis

Links: Hölzerner Treppenaufgang im Julius turm

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Die Geschichte der Zitadelle Spandau

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In der Mitte des 16. Jahrhunderts beschloss Kurfürst Joachim II. (reg. 1535-1571),

nahe seiner Residenzstadt Berlin am Zusammenfluss von Havel und Spree eine

Festung zu errichten. In seiner Begründung gegenüber den Ständen, also den

Vertretern des Adels, der Städte und der Kirche, von denen er finanzielle Unter-

stützung für die Umsetzung seines außerordentlich kostspieligen Vorhabens be-

nötigte, führte er die Bedrohung seitens „vieler auswertiger unchristlicher fein-

de“, insbesondere der Türken und Moskowiter, ins Feld, warnte aber gleichzeitig

vor Aufständen und inneren Unruhen. Die Festung sollte nach den Prinzipien der

damals fortschrittlichsten, der italienischen Festungsmanier errichtet werden.

Dieser entsprach denn auch der Entwurf des italienischen Architekten Francesco

Chiaramella de Gandino, der 1559 seine Tätigkeit in Brandenburg aufnahm, aller-

dings mit einer Ausnahme. Waren die Festungen in jener Zeit von eher gedrun-

gener Gestalt, um dem Feind, der über Kanonen mit großer Reichweite verfügte,

kein weit sichtbares Angriffsziel zu bieten, wurde diese Bauweise in Spandau nicht

umgesetzt. So blieben zwei Gebäude der mittelalterlichen Burganlage beim Fes-

tungsbau stehen: neben dem Palas auch der 34 Meter hohe Juliusturm, der weit

über die Festungsmauern hinausragte. Warum Juliusturm und Palas nicht ebenso

wie die anderen Burgbauten abgerissen wurden, ist nicht überliefert; es ist aber

anzunehmen, dass sie als Symbole landesherrlicher Macht der neuen Festung

nicht geopfert werden sollten.

Die Burg Spandau, die 1197 erstmals urkundlich erwähnt wurde, unterstand,

nachdem der Askanier Albrecht der Bär das Havelland in der Mitte des 12. Jahr-

hunderts erworben hatte, den Markgrafen von Brandenburg. Oft suchten die Lan-

desherren die Burg Spandau auf, als es noch keine festen Residenzen gab und die

Regierungsgeschäfte an verschiedenen Orten des Landes geführt wurden. Beson-

ders häufig hielten hier zum Beispiel die gemeinsam regierenden Markgrafen Otto

III. und Johann I. zwischen 1232 und 1266 Hof. Bauliches Relikt aus dieser Zeit ist

der Juliusturm, das älteste profane Bauwerk Berlins. Erst Markgraf Friedrich II., der

Sohn Friedrichs I., des ersten Markgrafen aus dem Hause Hohenzollern, machte

in der Mitte des 15. Jahrhunderts Berlin zu seiner Residenzstadt. Juliusturm und

Palas sind jedoch nicht die ältesten Zeugnisse einer Befestigungsanlage an diesem

Ort, denn schon in slawischer Zeit hat hier eine befestigte Siedlung bestanden.

Bei Ausgrabungen in den 1980er Jahren sind im Bereich der Westkurtine Reste ei-

ner Holz-Erde-Mauer aus dem 11. Jahrhundert zutage gefördert worden, die heute

neben den Fundamenten der Burgmauer aus dem 15. Jahrhundert im Foyer B zu

besichtigen sind.

Der Bau der Spandauer Festung gestaltete sich als äußerst schwierig und lang-

wierig, was nicht zuletzt mit den Gegebenheiten des Baugrundes zusammenhing,

der für Architekten und Bauleute eine besondere Herausforderung bedeutete und

ein hohes technisches Können und großen Einsatz personeller und materieller

Mittel erforderte. Kurfürst Joachim II. hat die Fertigstellung seiner Landesfestung

nicht mehr erlebt, erst der von seinem Sohn Johann Georg 1578 engagierte Bau-

meister Rochus Graf zu Lynar konnte das gigantische Bauprojekt zu Ende führen.

Manches von dem, was die Renaissancebaumeister geschaffen haben, ist heute

noch zu erkennen, und wenn auch zahlreiche Baumaßnahmen im Laufe der Ent-

wicklung durchgeführt wurden, die das Gesicht der Zitadelle verändert haben, ist

doch die Grundstruktur der Zitadelle mit ihren Bastionen, Kurtinen und der Anord-

nung der den Hof umstehenden Gebäude erhalten geblieben.

Links: Zugang zur Zitadelle Spandau. Blick auf die Bastion König, Torhaus und Südkurtine, dahinter Juliusturm und Palas

Unten: Historische Aufnahme der Bastion König; darunter: Tresortür im Juliusturm aus dem Jahr 1872

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Abb. 3: Grundriss der Festung Spandau um 1685 von Albrecht Faulhaber. Farbige Handzeichnung auf Pergament

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Verbunden mit bedeutenden politischen Ereignissen gab es drei besonders tief

greifende Einschnitte in der Baugeschichte der Zitadelle: die Belagerung von 1813,

die Umbauten im Zuge der Einrichtung der Heeresgasschutzlaboratorien und die

Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Nur einmal in ihrer Geschichte war die Zitadelle umkämpft: im Frühjahr 1813 in

den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Aber nicht die Feinde Preußens belager-

ten und beschossen die Festung. Vielmehr waren es die verbündeten preußischen

und russischen Truppen, die die französische Besatzung vertreiben wollten. Bei

diesem Angriff flog das Pulvermagazin auf der Bastion Königin in die Luft und ver-

wüstete den südlichen Teil der Festungsanlage. Die Wiederherstellung von Basti-

onen und Wällen sowie der Neubau wichtiger Festungsgebäude nahm Jahrzehnte

in Anspruch. Der Ersatzbau für das völlig zerstörte alte Zeughaus, das an der Süd-

Abb. 4 (oben): Zeichnung der Zitadelle vom Turm der Spandauer Nikolaikirche aus gesehen. Zeichnung von Guiseppe Pietro Bagetti aus dem Jahr 1806

Abb. 5 (rechts): Zeitgenössische Darstellung des preußisch-russischen Angriffs vom 18. April 1813 auf die französischen Besatzer der Zitadelle, Stich Campe, Nürnberg 1820

Abb. 6: Lageplan der Zitadelle Spandau mit Eintragungen der Zerstörungen von 1813

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kurtine angebaut war, ist erst 1858 nach Plänen von Baurat Carl Ferdinand Busse

fertiggestellt worden.

Besonders einschneidend waren die baulichen Veränderungen nach der Macht-

übernahme der Nationalsozialisten. Seit 1935 fanden Umbauten für die Anforde-

rungen der Heeresgasschutz-Laboratorien statt, eine Einrichtung der Wehrmacht,

in der chemische Kampfstoffe entwickelt, getestet und in kleinen Mengen produ-

ziert wurden. Fast jedes Gebäude der Zitadelle wurde für die Laboratorien genutzt

und dementsprechend in seiner inneren und äußeren Struktur verändert. In dem

noch aus der ersten Bauphase der Festung stammenden Proviantmagazin zum Bei-

spiel wurden sämtliche Zwischendecken entfernt, um Platz für Werkstätten, Ver-

suchsräume und die Kampfstoffproduktion (bis fünfzig Kilogramm) zu schaffen.

Die Kaserne vor der Nordkurtine bekam größere Fensteröffnungen, die Fassade

wurde vollständig grau verputzt. Lange waren die Auswirkungen dieser Zeit noch

zu spüren. Nachdem bereits 1978 erste Giftgasfunde auf der Bastion Kronprinz ge-

macht wurden und man 1983 Reste von Nervengiften entdeckt hatte, begann eine

groß angelegte polizeiliche Suchaktion nach Überbleibseln dieser Gifte. Ab dem

1. Juni 1988 wurden große Bereiche der Zitadelle abgesperrt, so dass für drei Jahre

jegliche Aktivitäten, seien es restauratorische oder kulturelle, verhindert wurden.

Während des Zweiten Weltkrieges hat es keine größeren Zerstörungen gegeben,

und auch in den letzten Kriegstagen kam es zu keinen Kampfhandlungen um die

Zitadelle. Am 1. Mai 1945 kapitulierte die Besatzung schließlich nach zweitägiger

Belagerung durch die Sowjetarmee und zähen Verhandlungen. Nach Freigabe der

Zitadelle durch die britische Armee, zu deren Sektor Spandau gehörte, übernahm

die Baufachschule Otto Bartning 1949 das Regiment. Nun erfolgten Umbauten für

Schulzwecke. Es wurden Werkstätten für Maurer, Zimmerleute, Beton- und Stahl-

betonbauer eingerichtet, Klassenzimmer für den theoretischen und allgemeinbil-

denden Unterricht geschaffen sowie weitere Umbauten historischer Gebäude vor-

genommen, beispielsweise die Kantine im neuen Zeughaus, eine Turnhalle in den

Italienischen Höfen und die Aula im Dachgeschoss der Kaserne an der Nordseite

des Zitadellenhofes installiert. Die Baufachschule hat ihre Spuren auf der Zita-

delle hinterlassen und an der Herrichtung zahlreicher Gebäude mitgewirkt. Das

Paradebeispiel ist wohl die Restaurierung des mittelalterlichen Palas, der am 12.

März 1982, pünktlich zum Jubiläum der Stadt Spandau, feierlich der Öffentlichkeit

übergeben wurde. Nach fast dreißig Jahren Schulbetrieb auf der Zitadelle fand

das Oberstufenzentrum Bau, das heute den Namen Knobelsdorff-Schule trägt, ein

anderes Domizil und bezog 1987 das neue Gebäude an der Nonnendammallee. Für

die Zitadelle aber eröffneten sich neue Möglichkeiten einer adäquaten Nutzung

der einmaligen Festungsanlage.

Zusammen mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz erarbeiteten die Verant-

wortlichen des Bezirks eine Nutzungskonzeption, die 1985 dem Berliner Abgeord-

netenhaus vorgestellt werden konnte. Der Angelpunkt war die Entwicklung der

Zitadelle zu einem kulturellen Zentrum mit überregionaler Ausstrahlung. Dieses

Nutzungskonzept bildete für viele Jahre die Grundlage für die durchgreifende Sa-

nierung von Kommandantenhaus, Palas mit Juliusturm, Kavalier Kronprinz, Zeug-

haus, Exerzierhalle und Italienischen Höfen. Im Kommandantenhaus kann man

sich heute über die Geschichte von Burg und Zitadelle informieren, im Zeughaus

wurde 1992 das Stadtgeschichtliche Museum Spandau eingerichtet, in der Exer-

zierhalle findet der Besucher eine ansehnliche Sammlung historischer Kanonen,

Oben: Palas und Juliusturm mit den Zugängen zu den Foyers A und B

Unten: Reste der Befestigungsanlagen, die im Zuge der Sanierungsmaßnahmen entdeckt wurden

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zum Großteil Leihgaben des Deutschen Historischen Museums. Im Foyer B wer-

den die Reste der mittelalterlichen Burgbefestigung in situ präsentiert, und in den

Kasematten der Bastion Königin sind die kulturhistorisch überaus wertvollen jüdi-

schen Grabsteine, die während der Restaurierungsarbeiten am Palas zutage geför-

dert wurden, ausgestellt. Insgesamt ist damit ein interessanter Museumskomplex

entstanden, die Nutzungskonzeption bis auf einen entscheidenden Punkt, die An-

siedlung des Museums für Vor- und Frühgeschichte, realisiert worden. Nach der

Wiedervereinigung hat die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ihre Museumsplanung

naturgemäß verändert und beschlossen, alle archäologischen Museen auf der Mu-

seumsinsel zu konzentrieren. Damit war die Nutzung von zwei wichtigen Gebäuden

wieder offen, und für die Festungsanlage insgesamt mussten neue Perspektiven

gefunden werden. Dies war umso notwendiger, als zwanzig Jahre nach Erarbeitung

der ersten Nutzungskonzeption finanzielle Fragen mehr Gewicht erhielten und ne-

ben dem Ausbau kommerziell nutzbarer Bereiche die Einbindung der Zitadelle in

das Berliner Tourismuskonzept besondere Bedeutung erlangte. Darin wird dem

Themenfeld „Ausbau der Erlebbarkeit berlinspezifischer Geschichte und Politik“

Priorität eingeräumt. In dieser Hinsicht hat die Zitadelle einiges zu bieten. Von der

Gründung der Mark Brandenburg im Zuge der Landnahme der Askanier 1157 bis

ins 19. Jahrhundert hing Berlins Entwicklung als zentraler Ort staatlicher Macht

maßgeblich von diesem westlich gelegenen Verteidigungs- und Rückzugsort der

Die Italienischen Höfe in der Bastion Brandenburg

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Marmorskulpturen der Siegesallee zwischen Südkurtine und Zeughaus. Im Hintergrund Torhaus, Juliusturm und Palas

Landesherren ab. Die Zitadelle barg den „Reichskriegsschatz“ des preußisch-

deutschen Kaiserreichs und schließlich die zentrale Kampfgasforschungsstelle

der ehemaligen Deutschen Wehrmacht bis zum Kriegsende 1945. Neunhundert

Jahre Geschichte sind somit auf der Zitadelle erlebbar. In diesem Zusammenhang

ist auch der Ausbau der Kaserne aus dem 19. Jahrhundert an der Nordkurtine und

des Proviantmagazins, das in Teilen noch aus dem 16. Jahrhundert stammt, zu

sehen. Gefördert mit Lotto- und EU-Mitteln soll in diesen beiden Gebäuden 2013

die Ausstellung „Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler“ eröffnet werden, in der

Denkmäler, die einst das Berliner Stadtbild prägten und heute in Museumsdepots

und Magazinen verschwunden sind, wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht

werden sollen. Andrea Theissen

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Die mittelalterliche Burganlage – Konstruktion und Erhaltung

Abb. 7: Rekonstruktion der mittelalterlichen Burg - an lage aus der Zeit von etwa 1450 bis 1540, Zeichnung von Bernd Fischer nach Vorlagen von Wolfgang Gehrke

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Die mittelalterliche Burganlage „Castro Spandow“ wurde im Mündungsbereich der

Spree in die Havel auf einer Insel angelegt. An dieser strategisch wichtigen Stelle

hatte sich seit dem 9. Jahrhundert eine slawische Siedlung befunden. Für den Bau

der neuen Burg wurde die gesamte Insel mit einer Umfassungsmauer befestigt.

Neben dem Juliusturm und einem Vorgängerbau des Palas befanden sich mehrere

kleine Gebäude auf dem Gelände.

Der Juliusturm

Der Juliusturm stammt aus dem 13. Jahrhundert und ist das älteste Gebäude der

Zitadelle Spandau. Als mächtiger Bergfried der mittelalterlichen Burganlage diente

er nicht nur dazu, Feinde einzuschüchtern oder schon von Weitem auszuspähen

und anzugreifen, sondern auch als Wohn- und Rückzugsort im Belagerungsfall. Mit

guter Sicht auf den damals bedeutenden Handelsweg vom Rheinland über Magde-

burg nach Polen war der runde Turm aus dem 13. Jahrhundert aus wehrtechnischer

Sicht für seine Zeit sehr fortschrittlich, denn erst im Laufe des 14. Jahrhunderts

setzte sich die Erkenntnis durch, dass zylindrische Türme gegen Artillerieangriffe

widerstandsfähiger sind als kubische Türme, da ein frontaler Aufprall auf eine ge-

wölbte Oberfläche weitaus schwerer zu bewerkstelligen ist und einem größeren

statischen Widerstand begegnet.

Der Spandauer Juliusturm hat einen Durchmesser von 12,60 Metern und misst

von der Oberkante seines Fundaments bis zur Mauerkrone 34,60 Meter. Dank der

sorgfältigen Sanierung zeigt er seinen Besuchern heute eine Backsteinfassade,

die aus Ziegeln unterschiedlicher Formen und Farben gemauert ist und seine jahr-

hundertealte Geschichte bezeugt. In den unteren Geschossen sind seine Wände

3,60 Meter dick, nach oben verjüngen sie sich auf 2,30 Meter. Im Inneren hatte

der trutzige Turm einst zwei übereinanderliegende Kuppelgewölbe, wo unter an-

derem die Verliese untergebracht waren. Bewegliche Leitern führten hinauf in

einen 17 Meter hohen Wohnbereich, der früher durch mehrere Zwischenebenen

unterteilt und mit einem Kamin und einem Abort ausgestattet war. Der Haupt-

zugang erfolgte vom Obergeschoss des später entstandenen gotischen Palas.

Durch seine Errichtung, den Bau der Renaissancefestung und durch die schwere

Kriegszerstörung im Jahr 1813, aber auch durch die häufig veränderten Nutzun-

gen – vom Kerker bis zum Hort für den Reichskriegsschatz, für den im Jahr 1872

eine schwere Tresortür in das mehr als zwei Meter dicke Mauerwerk eingefügt

wurde – hat der Juliusturm im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche bauliche Verän-

derungen erfahren.

Um dem Turm, der am Rand der nach Westen abfallenden Talsandinsel in leich-

ter Hanglage positioniert worden war, einen sicheren Stand zu geben, hatten die

Baumeister der Markgrafen von Brandenburg zur Verdichtung des Untergrunds

zunächst unterschiedlich große Feldsteine dicht aufeinander gepackt und acht-

zig Zentimeter hoch in den hellen Sand geschichtet. Auf diese Basis legten sie

den Unterbau des Turms. Er bestand aus sorgfältig behauenen Granitblöcken von

durchschnittlich vierzig Zentimetern Länge und 25 Zentimetern Höhe, die in dicke

Mörtelfugen gebettet wurden. Das darüberliegende Mauerwerk wurde mit Ziegel-

steinen im sogenannten Klosterformat aufgemauert. Diese solide Mischbauweise

von behauenen Findlingen und gebrannten Backsteinen war zu dieser Zeit nicht

nur im Burgenbau, sondern auch im märkischen Sakralbau üblich.

Juliusturm und Palas heute

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+ 32.91 m

+ 30.30 m

+ 40.99 m

+ 47.04 m

+ 66.15 m

+ 57.50 m

+ 35.65 m

+ 31.23 m

88 cm

Grundrissauf Höhe 30.30 ü.NN

Stahlbetonfundament,gegründet aufKleinbohrpfählen

Lotabweichung88 cm

Und doch hat sich der ungefähr 6000 Tonnen schwere Juliusturm seit seiner

Bauzeit stetig in Richtung Westen geneigt. Bereits beim Bau der Festung im 16.

Jahrhundert wurde eine geringe Abweichung festgestellt. Anfang des 19. Jahrhun-

derts trat die Schieflage des Turms schon so deutlich hervor, dass Karl Friedrich

Schinkel beim Wiederaufbau nach der Zerstörung das vorhandene Sandsteinge-

sims der alten Mauerkrone komplett abnehmen ließ, um den neuen Zinnenkranz

auf der Westseite zu erhöhen und mit dem nun waagerechten Abschluss die

Schräglage des Turms ein wenig auszugleichen.

Erst über einhundert Jahre später entdeckte man die Ursache für die Schieflage

des Turms. Nachdem Anfang der 1950er Jahre erste Sicherungs- und denkmalpfle-

gerische Instandsetzungsmaßnahmen erfolgt waren, förderten Grabungen wichti-

ge Hinweise auf die Ursache der Gebäudeschäden zutage. Bei der Untersuchung

des Baugrunds wurde eine Vielzahl wertvoller archäologischer Funde und bau-

historischer Zeugnisse wie z.B. Ofenkacheln aus der Renaissance oder gotische

Formsteine entdeckt, die sorgfältig freigelegt und geborgen werden mussten, so

dass erst zwanzig Jahre später detaillierte Bodenuntersuchungen bestätigten, was

die Fachleute und Ingenieure längst vermutet hatten: Westlich des Juliusturms be-

findet sich unterhalb der Sandlinse eine etwa 1,50 Meter dicke, keilförmige Faul-

schlammschicht, so dass der Sandboden trotz der mühevollen Bodenverdichtung

aus dem 13. Jahrhundert keinen dauerhaft tragfähigen Untergrund bildet.

Im September 1977 beschloss der Senat von Berlin, „die herausragenden Bau-

denkmale der Zitadelle nach historischen Befunden zu restaurieren“ und dafür

Baumittel in Höhe von achtzig Millionen DM aus dem Zukunfts-Investitions-Pro-

gramm (ZIP) zur Verfügung zu stellen. Bedingung jedoch war, dass die Zitadelle als

kultureller Veranstaltungsort für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht und eine

uneingeschränkte Nutzbarkeit nach der gültigen Berliner Bauordnung ermöglicht

werden sollte, wobei die Verwendung moderner bautechnischer Mittel und Metho-

den ausdrücklich empfohlen wurde.

Da zu befürchten war, dass der fast 800 Jahre alte Juliusturm – auf seiner Aus-

sichtsplattform mittlerweile schon 81 Zentimeter aus dem Lot – sich weiter in

Richtung Spandau bewegen würde, entwickelten die Ingenieure der Ingenieurge-

meinschaft Saar, heute GSE, den Vorschlag, die äußere Schale des Naturstein-

fundaments im Bereich der nachgebenden, weichen Faulschlammschicht durch

ein halbkreisförmiges Stahlbetonfundament zu ersetzen und dieses durch sechzig

Bohrpfähle mit einem Durchmesser von etwa 15 Zentimetern und einer durch-

schnittlichen Länge von zwölf Metern nachzugründen.

Zunächst wurden im Halbkreis westlich vor dem Turm eine circa zwei Meter

tie fe Baugrube ausgehoben und der Turm für die Bauarbeiten gesichert. Den aus-

gewählten Bereich unterteilten die Ingenieure in sieben Segmente und ließen ihn

abschnittsweise herstellen. Das freigelegte Feldsteinmauerwerk wurde von außen

um etwa einen Meter verjüngt. Danach brachte man die erforderliche Anzahl von

Kleinbohrpfählen unterhalb des neu geplanten Stahlbetonrings in der errechneten

Länge und Ausrichtung in ihre Position so ein, dass jeder Pfahl den tragfähigen

Grund unter der Faulschlammlinse erreichte. Neun Pfähle wurden durch die gesam-

te Stärke der Turmwand bis zum Fußboden des Verlieses geführt. Sie haben deswe-

gen eine Länge von 16 Metern (Abb. 8). Ausgestattet mit einem sicheren Stand auf

tragfähigem Grund konnte nun der neue, rund zwei Meter hohe und einen Meter

breite Halbring abschnittsweise betoniert und mit dem historischen Mauerwerk

Wandöffnung im Juliusturm

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Abb. 8: Juliusturm Schematische Darstellung der Sanierungsmaßnahmen in Grundriss und Schnitt. Die neue Stahlbetongründung ist in Grün dargestellt, die Kleinbohrpfähle in Blau.

+ 32.91 m

+ 30.30 m

+ 40.99 m

+ 47.04 m

+ 66.15 m

+ 57.50 m

+ 35.65 m

+ 31.23 m

88 cmLotabweichung Juliusturm

Stadtarchiv

Stadtarchiv20. Jh.

14. Jh.

Längsschnitt Palas Schnitt Juliusturm 20. Jh.

13. Jh.

19. Jh.

Kleinbohrpfähle durch-dringen die Faulschlamm-linse und tragen die Lasten auf tragfähigenBaugrund

Faulschlammlinse

Betonpolster

Westkurtine

früherunterteilt in

mehrereWohnebenen

Saal

Die Schräglage des Turms ist heute noch mit bloßem Auge zu erkennen

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Treppenanlagen im Juliusturm, die zur Aussichtsplattform hinter dem Zinnenkranz führen. Links die innenliegende Wendeltreppe, rechts der Aufgang entlang der Außenwände

verbunden werden. Nach Abschluss der Maßnahme ließ man den Turm auf sein

neues Fundament rutschen, wodurch er sich exakt nach den statischen Berech-

nungen der Ingenieure um weitere sieben Zentimeter gen Spandau neigte und sich

um wenige Millimeter verkürzte. Der Turm steht nun dauerhaft leicht schief, wird

jedoch seine jetzige Neigung von 1,4 Grad nicht mehr verändern und die Schieflage

des Turms von Pisa von vier Grad glücklicherweise niemals erreichen.

1963 hatte der Juliusturm eine neue Innenerschließung erhalten. Die beiden

übereinanderliegenden Kuppelgewölbe wurden nach historischem Vorbild mit ei-

ner kreisrunden Wendeltreppe aus Holz verbunden. Die kunstvoll gedrechselte

Spindel der Treppe endet rund zwanzig Zentimeter über einer vergitterten Öff-

nung, unter der sich früher das untere Verlies befand. Die Spindel stützt sich auf

zwei diagonale hölzerne Streben, die wiederum auf polierten Granitquadern ru-

hen. Der darüberliegende ehemalige Wohnbereich des Juliusturms sollte in seiner

gesamten Höhe erfahrbar gemacht werden. Reste vorhandener Zwischenebenen

wurden entfernt. Die Besucher werden heute auf einer hölzernen Stiege entlang

der runden Außenwand hinter den Zinnenkranz geführt, wo sich eine Besucher-

plattform befindet. Die Treppenwangen mit ihren aufgesattelten Holzstufen sowie

die umlaufenden Stege sind auf Holzkonsolen aufgelegt. Die Holzkonsolen – nach

alter Handwerkstradition zusammengefügt – tragen ihre Last nach unten auf neue

Granitkonsolen ab, die mit dem vorhandenen Mauerwerk kraftschlüssig verbun-

den wurden. In horizontaler Richtung werden sie unterstützt durch angeklammer-

te, schmiedeeiserne Bänder, die in das Mauerwerk eingespannt sind.

Der Schinkel’sche Zinnenkranz erhielt eine statische Ertüchtigung in Form ei-

nes unsichtbaren Stahlbetonringankers inmitten der historischen Mauerkrone und

die gewölbte Steinkuppel eine Öffnung, die mit einem Stahlbetonoval ausgesteift

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wurde. Durch sie treten die Besucher auf eine Aussichtsplattform, die einen gran-

diosen Ausblick auf die Festung in der Havellandschaft, auf die historische Altstadt

von Spandau und auf Berlin bietet.

Der Palas

Das ehemalige markgräfliche Schloss aus dem Mittelalter war das erste Gebäude

der Zitadelle, das in den 1950er Jahren eine zivile, öffentliche Nutzung erhielt. Da

der sogenannte Palas in den 1930er Jahren erst aufwendig zum Offizierskasino um-

gebaut worden war, schien er zunächst keine baulichen Mängel aufzuweisen und

benötigte er für seine neue Nutzung als Ausstellungsbereich nur wenige Instandset-

zungsmaßnahmen. Bereits 1954 zog das Spandauer Heimatmuseum ein und stellte

dort seine regionalen Kunst- und Kulturschätze aus. 1956 wurden jedoch bei ersten

Bausicherungsmaßnahmen im Sockelbereich des Gebäudes zwischen den gemau-

erten Findlingen größere Granitblöcke mit hebräischen Schriftzeichen gefunden,

die sich als jüdische Grabsteine aus dem 13. bis 15. Jahrhundert identifizieren lie-

ßen. Kurze Zeit später entdeckte man hinter einem Riss im Außenputz gemauerte

Fenstereinfassungen aus gotischer Zeit. Nach diesen aufsehenerregenden Funden

entschloss sich der Senat von Berlin, alle vorhandenen originalen Gebäudefragmen-

te freizulegen und die fehlenden Bauteile nach historischem Vorbild zu ergänzen.

Dies war der Auftakt zu einer langjährigen, mühevollen, doch äußerst erfolgreichen

Zusammenarbeit von Archäologen, Bauhistorikern, Denkmalpflegern, Architekten

und Ingenieuren. Archäologische Grabungen wurden in die Bauabläufe der Baumaß-

nahmen integriert und deren Ergebnisse von Bauhistorikern aufgearbeitet, so dass

sie in die Planungen der Architekten und Ingenieure einfließen konnten. Stück für

Stück traten wertvolle Hinweise auf die Entstehungszeit des Palas und seine wech-

selhafte Baugeschichte zutage, aber auch frühere Zeugnisse der slawischen Gelän-

debefestigungen aus Holz, der mittelalterlichen Ringmauer sowie Fundamentreste

der alten Kernburg, die zusammen mit dem Juliusturm errichtet worden war.

Der Palas ist das zweitälteste Gebäude der Zitadelle. Er wurde Ende des 14.

Jahrhunderts als Wohn- und Regierungssitz der Markgrafen von Brandenburg im

gotischen Baustil errichtet. Im Hauptgeschoss befand sich eine etwa fünf Meter

hohe, offene Halle mit einer mächtigen Holzbalkendecke, die von zwei gemau-

erten Rundstützen getragen wurde. Darüber befanden sich ein Ober- und zwei

Dachgeschosse, in denen Wohn- und Arbeitsbereiche für den gräflichen Tross und

die Familie untergebracht waren. Ein Zugang zum Juliusturm in zwanzig Metern

Höhe sicherte seinen Bewohnern im Angriffsfall Rückzug und Zuflucht. Ein zwei-

einhalb Meter hohes Kellergeschoss, das in Längsrichtung mit zwei tonnenartigen

Gewölben überdeckt war und separate Zugänge zum Burghof hatte, diente der La-

gerung von Gütern und hauswirtschaftlichen Zwecken. Eingeschlossen zwischen

zwei Wasserläufen der Havel wurde die mittelalterliche Anlage damals auf Holz-

pfähle gegründet. Je nach Lage zum Wasser waren diese bis zu zwei Meter lan-

gen, sogenannten Spickpfähle aus Eichen- oder Kiefernholz in einem Abstand von

zehn bis vierzig Zentimetern nebeneinander angeordnet. Darüber befand sich ein

Balkenrost aus Holz, auf dem ein vier Meter hoher Gebäudesockel mit bis zu zwei-

einhalb Meter dicken Außenwänden aufgemauert war. Das Mauerwerk bestand

aus behauenen und unbehauenen Feldsteinen und innen aus gebrannten Ziegeln,

die miteinander verzahnt und in ein dickes Mörtelbett gelegt wurden. Über dem

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ISBN 978-3-88506-472-5

Die Zitadelle Spandau gilt als eine der schönsten und besterhaltenen Renaissancefestungen Europas. Im Mündungsbereich von Havel und Spree wurde sie im 16. Jahrhundert inmitten von Sumpf und Wasser errichtet. Doch ihre Geschichte beginnt schon im frühen Mittelalter mit dem Bau einer befestigten Burg-anlage. Der Standort war zwar strategisch gut, aber bautechnisch gefährlich, denn der Baugrund besteht aus einer Mischung aus Faulschlamm und angeschwemmtem Sand. Die über fünfzigjährige Geschichte ihrer Erhaltung und Rekonstruktion aus ingenieurtechnischer Sicht ist eine aufschlussreiche Reise durch viele Jahrhunderte Konstruktionsgeschichte. Anhand von anschaulichen Skizzen, Plänen und Fotografien beschreibt dieses Buch das Bauwerk und seine Erhaltung aus historischer, denkmalpflegerischer, geotech-nischer und baulicher Sicht und erläutert die einfallsreichen Sanierungsmaßnahmen der Berliner Bauinge-nieure GSE Ingenieur-Gesellschaft mbH Saar, Enseleit und Partner.

Die

Zita

delle

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Bauw

erk

Herausgegeben von der GSE Ingenieur-Gesellschaft mbh Saar, Enseleit und Partner, Von-der-Gablentz-Straße 19, 13403 Berlin