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bolazano
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Die harmonische Stimmung aufgeklärter Bürger Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“* von Markus Arnold, Wien Mehr als ein halbes Jahr vor Veröffentlichung der Kritik der Urteilskraft fand in Frankreich der Auftakt zu jenen Ereignissen statt, die man bis heute unter dem Namen der Französischen Revolution zusammenfaßt: Die bis dahin getrennt tagen- den ‚Generalstände‘ wandelten sich zur Nationalversammlung um und erklärten sich damit zur verfassungsgebenden Versammlung, deren erster Schritt in der De- klaration der Allgemeinen Menschenrechte bestand. Kant verfolgte bekannterma- ßen das Geschehen mit enthusiastischer Anteilnahme, die sich – weit weniger beach- tet – auch in der Kritik der Urteilskraft niederschlug. So findet sich etwa dort in einem Absatz, der sich mit der „Propädeutik zu aller schönen Kunst“ befaßt, eine doppelbödige Referenz vor den sog. „Humaniora“, den Studien des griechisch- römischen Altertums: Am Vorbild der antiken Werke und Schriften solle man sich schulen. Doppelbödig ist die Referenz, da Kant jener künstlerischen sogleich eine politisch-gesellschaftliche Vorbildlichkeit unterlegt. Einerseits fördern die antiken Kunstwerke in uns erfolgreich das „allgemeine Teilnehmungsgefühl“ und das „Ver- mögen, sich innigst uns allgemein mitteilen zu können“. Zwei Eigenschaften, die zu- sammen – wie Kant es noch in der ersten Auflage nennt – eine der Menschheit an- gemessene Geselligkeit begründen. 1 Andererseits sind diese Kunstwerke aber selbst offenbar Produkt einer besonderen Geselligkeit, einer besonderen politischen Kon- stellation, die in Kants Beschreibung nun erstaunliche Ähnlichkeiten mit den neuen politischen Verhältnissen in Frankreich aufweist. Denn von welchem Volk und wel- chem Zeitalter spricht Kant, wenn er, ohne den Namen des Volkes zu nennen, jene Gesellschaft mit den Worten beschreibt: Das Zeitalter sowohl, als auch die Völker, in welchen der rege Trieb zur gesetzlichen Gesellig- keit […] mit den großen Schwierigkeiten rang, welche die schwere Aufgabe, Freiheit (und also auch Gleichheit) mit einem Zwange (mehr der Achtung und Unterwerfung aus Pflicht, als Furcht) zu vereinigen, umgeben: ein solches Zeitalter und ein solches Volk mußte die Kunst der wechselseitigen Mitteilung der Ideen des ausgebildetsten Teils mit dem roheren, die Abstim- mung der Erweiterung und Verfeinerung der ersteren zur natürlichen Einfalt und Originalität Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Projektes des österreichischen Fonds zur Förde- rung wissenschaftlicher Forschung (FWF) zur ‚Harmonie‘ als einem der leitenden theoreti- schen Modelle in der Philosophie. 1 In der zweiten Auflage 1793 ist „Geselligkeit“ durch „Glückseligkeit“ ersetzt worden. Kant-Studien 94. Jahrg., S. 24–50 © Walter de Gruyter 2003 ISSN 0022-8877 *
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  • 24 Markus Arnold

    Die harmonische Stimmung aufgeklrter BrgerZum Verhltnis von Politik und sthetik

    0in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft*0

    von Markus Arnold, Wien

    Mehr als ein halbes Jahr vor Verffentlichung der Kritik der Urteilskraft fand inFrankreich der Auftakt zu jenen Ereignissen statt, die man bis heute unter demNamen der Franzsischen Revolution zusammenfat: Die bis dahin getrennt tagen-den Generalstnde wandelten sich zur Nationalversammlung um und erklrtensich damit zur verfassungsgebenden Versammlung, deren erster Schritt in der De-klaration der Allgemeinen Menschenrechte bestand. Kant verfolgte bekannterma-en das Geschehen mit enthusiastischer Anteilnahme, die sich weit weniger beach-tet auch in der Kritik der Urteilskraft niederschlug. So findet sich etwa dort ineinem Absatz, der sich mit der Propdeutik zu aller schnen Kunst befat, einedoppelbdige Referenz vor den sog. Humaniora, den Studien des griechisch-rmischen Altertums: Am Vorbild der antiken Werke und Schriften solle man sichschulen. Doppelbdig ist die Referenz, da Kant jener knstlerischen sogleich einepolitisch-gesellschaftliche Vorbildlichkeit unterlegt. Einerseits frdern die antikenKunstwerke in uns erfolgreich das allgemeine Teilnehmungsgefhl und das Ver-mgen, sich innigst uns allgemein mitteilen zu knnen. Zwei Eigenschaften, die zu-sammen wie Kant es noch in der ersten Auflage nennt eine der Menschheit an-gemessene Geselligkeit begrnden.1 Andererseits sind diese Kunstwerke aber selbstoffenbar Produkt einer besonderen Geselligkeit, einer besonderen politischen Kon-stellation, die in Kants Beschreibung nun erstaunliche hnlichkeiten mit den neuenpolitischen Verhltnissen in Frankreich aufweist. Denn von welchem Volk und wel-chem Zeitalter spricht Kant, wenn er, ohne den Namen des Volkes zu nennen, jeneGesellschaft mit den Worten beschreibt:

    Das Zeitalter sowohl, als auch die Vlker, in welchen der rege Trieb zur gesetzlichen Gesellig-keit [] mit den groen Schwierigkeiten rang, welche die schwere Aufgabe, Freiheit (und alsoauch Gleichheit) mit einem Zwange (mehr der Achtung und Unterwerfung aus Pflicht, alsFurcht) zu vereinigen, umgeben: ein solches Zeitalter und ein solches Volk mute die Kunst derwechselseitigen Mitteilung der Ideen des ausgebildetsten Teils mit dem roheren, die Abstim-mung der Erweiterung und Verfeinerung der ersteren zur natrlichen Einfalt und Originalitt

    0 Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Projektes des sterreichischen Fonds zur Frde-rung wissenschaftlicher Forschung (FWF) zur Harmonie als einem der leitenden theoreti-schen Modelle in der Philosophie.

    1 In der zweiten Auflage 1793 ist Geselligkeit durch Glckseligkeit ersetzt worden.

    Kant-Studien 94. Jahrg., S. 2450 Walter de Gruyter 2003ISSN 0022-8877

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    der letzteren, und auf diese Art dasjenige Mittel zwischen der hheren Kultur und der geng-samen Natur zuerst erfinden, welches den richtigen, nach keinen allgemeinen Regeln anzuge-benden Mastab auch fr den Geschmack, als allgemeinen Menschensinn, ausmacht.2

    Sei es nun der rege Trieb zur gesetzlichen Geselligkeit, wodurch ein Volk eindauerndes gemeines Wesen ausmacht (die Kantsche Umschreibung der Republik,die auf einer Verfassung grndet), oder sei es auch die schwere Aufgabe, Freiheit(und also auch Gleichheit) mit dem Zwange des Gesetzes zu vereinigen: Kant be-schreibt die politischen Verhltnisse der Antike als Spiegelbild der aktuellen politi-schen Probleme Frankreichs.3

    Da es Kant jetzt am Ende des Methodenkapitels seiner sthetik in erster Linieum Politik und erst in zweiter Linie um die Stellung der Kunst geht, zeigt sich an ei-nem charakteristischen Detail. Kant spricht von einer Erfindung, die ein solchesVolk machen mute, um berhaupt erst jene Kunst der wechselseitigen Mitteilungder Ideen des ausgebildetsten Teils des Volkes mit dem roheren zu ermglichen.Es ist eine Erfindung, die den Mastab auch [sic!] fr den Geschmack abgibt,aber offensichtlich weder auf den Bereich des sthetischen beschrnkt ist noch spe-ziell fr diesen entwickelt wurde. Die Erfindung selbst nennt er ebenso wenig beimNamen wie das Volk. Da er damit aber auf die aus keiner allgemeinen Regel ab-leitbaren Erfindung einer allgemeinen gesetzgebenden Volksvertretung anspielt, je-nem exemplarischen Ort der wechselseitigen Mitteilung der Ideen zwischen allenTeilen des Volkes, der in Frankreich allein schon durch die Deklaration der Allge-meinen Menschenrechte seine Fhigkeit unter Beweis gestellt hatte, einem allgemei-nen Menschensinn Raum zu geben, kann hier als These nur behauptet werden, auchwenn man deren Plausibilitt durch eine Vielzahl an Anspielungen weiter sttzenknnte.4

    2 KU, B 262263 (Hervorhebungen hier wie im Folgenden von M.A.; zit. nach: Kants Werke,hrsg. von Wilhelm Weischedel). Bei einem solchen Satz sollte man nicht vergessen, da ihrAutor wie alle deutschen Philosophen des 18. Jahrhunderts seine Werke von einem Zen-sor approbieren lassen mute, bevor sie in Druck gingen. Zum Einflu der Zensur auf KantsTexte: Iring Fetscher: Immanuel Kant und die Franzsische Revolution. In: Materialienzu Kants Rechtsphilosophie. Hrsg. von Zwi Batscha. Frankfurt a. M. 1976, S. 269290;Domenico Losurdo: Immanuel Kant. Freiheit, Recht und Revolution. Kln 1987.

    3 Eine Ansicht, die von den franzsischen Revolutionren brigens geteilt wurde, haben dochauch diese sich immer wieder auf das antike Vorbild der rmischen Republik berufen.

    4 So etwa durch seine Vorlesungen zur Anthropologie, in denen er gerade als Beispiel fr dieerfindungsreiche Anlage der Menschen die republikanischen Selbstgesetzgebung nennt,deren Erfindung es erst ermglichte, den Privatsinn (einzelner) dem Gemeinsinn (aller ver-einigt) [] zu unterwerfen (Anth, B 326327). Kant betont nach der Franzsischen Revo-lution an verschiedenen Stellen, da die Franzosen das Volk mit dem meisten Geschmacksind, in Ansehung dessen sie das Muster aller brigen Vlker seien, da sie zugleich einansteckender Freiheitsgeist auszeichnet, whrend die Englnder politisch die Hauptgeg-ner der Franzsischen Revolution und Verbndete Preuens in Fragen des Geschmacksund der Geselligkeit diesen nachstehen mten. Ja, in England knne ein Fremder, der inNot geraten ist, auf dem Misthaufen umkommen, weil er kein Englnder, d. i. kein Menschist. (KU, Anm. B 204; Anth [1798], B 299303; vgl. Domenico Losurdo, a.a.O., passim).

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    Unabhngig jedoch von solchen konkreten historischen Bezgen bleibt festzuhal-ten, da die wechselseitige Mitteilung der Ideen zwischen den verschiedenen Teilender Gesellschaft zu der die Kunst ihren Beitrag leisten sollte im 18. Jahrhundertnicht nur ein sthetisches Programm war, sie war zugleich ein erst noch zu verwirk-lichendes gesellschaftliches Projekt von politischer Tragweite.5 Der transzendentaleBeweis der Mglichkeit eines (subjektiv) allgemeingltigen sthetischen Urteils unabhngig von allen Standesschranken enthlt daher auch die Besttigung derMglichkeit eines solchen gesellschaftlichen Projekts. So sollte es auch nicht ver-wundern, wenn Kant im Zusammenhang mit der klassizistischen Pflege der Hu-maniora daran festhlt, da die wahre Propdeutik zur Grndung des Ge-schmacks [nur] die Entwicklung sittlicher Ideen und die Kultur des moralischenGefhls sein kann.6

    Wie die Studien der klassischen Humaniora politisch wirksam werden knnen,mehr noch: wie die Politik selbst mit ihrer Kunst der Mitteilung sittlicher Ideen le-gitimer Gegenstand der sthetik wird, skizziert Kant vom Zensor unbemerkt ineiner seiner Anmerkungen. Erklrt er zuerst noch ganz unverfnglich, da ihm per-snlich

    die Lesung der besten Rede eines rmischen Volks- oder jetzigen Parlaments- oder Kanzelred-ners jederzeit mit dem unangenehmen Gefhl der Mibilligung einer hinterlistigen Kunst ver-mengt war, welche die Menschen als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem Urteile zu bewe-gen versteht.

    So ergnzt er sogleich: Diese Kunst der Manipulation der Menschen jedoch er-hob [] sich nur [sic!], sowohl in Athen als auch in Rom, zur hchsten Stufe zu ei-ner Zeit, da der Staat seinem Verderben zueilte und wahre patriotische Denkungsarterloschen war es also in der Zeit davor durchaus auch eine vorbildliche Art derffentlichen Rede gegeben hatte. Denn es gibt fr Kant eine der Dichtkunst ver-gleichbare Kunst der politischen Rede, die er als Teil der Beredtheit und Wohlreden-

    5 Zur sthetik als spezifisch menschlicher Erkenntnisweise im 18. Jahrhundert: Ernst Cassi-rer: Die Philosophie der Aufklrung (1932). Hamburg 1998, S. 368ff.; vgl. auch: Luc Ferry:Der Mensch als sthet. Stuttgart/Weimar 1992, S. 9139.

    6 KU, B 264. Dies trifft auch auf Johann Joachim Winckelmanns Klassizismus zu, der in sei-ner Geschichte der Kunst des Alterthums apodiktisch feststellte: da es die Freyheit ge-wesen, durch welche die Kunst empor gebracht wurde. (Ders.: Geschichte der Kunst desAlterthums. Dresden 1764, II, S. 316.) Generell lag Winckelmanns Kunsttheorie die ber-zeugung zugrunde, da gerade jene Epochen der Weltgeschichte knstlerisch vorbildhaftseien, in denen die brgerliche Freiheit das politische Leben bestimmt hatte, wie z.B. imklassischen Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr. und in den italienischen Stadtrepubli-ken der Renaissance. Der Winckelmannsche Klassizismus erhob die Forderung, sich ander Kunstproduktion dieser Staaten ein Vorbild zu nehmen, wobei der antiabsolutistischeImpetus in der Vorstellung bestand, da um den Kunsthistoriker Robert Trautmann zuzitieren mit der Nachahmung ihrer Kunstproduktion zugleich ein gesellschaftlicherWandel zu erwarten [sei] (Robert Trautwein: Geschichte der Kunstbetrachtung. Kln1997, S. 98).

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    heit zu den schnen Knsten zhlt.7 Das Kantsche Ideal eines politischen Redners isteiner, der,

    bei klarer Einsicht in Sachen, die Sprache [] in seiner Gewalt hat, und, bei einer fruchtbarenzur Darstellung seiner Ideen tchtigen Einbildungskraft, lebhaften Herzensanteil am wahrenGuten nimmt.

    Dies wre ein Redner ohne Kunst, aber voll Nachdruck mit seiner Fhigkeit,mit Hilfe seiner Einbildungskraft Ideen darzustellen, gleichsam das politische Pen-dant des genialen Dichters.8 Eine politische Rede allein sthetisch zu beurteilen,wre falsch, aber Kant nimmt offensichtlich eine Parallele an zwischen dem politi-schen Verfall des Staates auf der einen Seite und dem sthetischen Verfall der Rede-kunst auf der anderen. Das Geschmacksurteil kme auf diese Weise zumindest indi-rekt in die Lage, in der Volksversammlung ber den Zustand des Staates selbst zuurteilen. Wer versucht, die Brger mit seiner Rede hinterlistig zu manipulieren, ver-sucht ihnen die Freiheit zu benehmen9 und verstt zugleich gegen die vom Ge-schmacksurteil aufgestellten Regeln der schnen Knste. Allein die schne Kunstder Wohlredenheit scheint fhig, obwohl sie die Gefhle der Zuhrer anspricht,dennoch auch deren Freiheit zu achten. Wobei der Geschmack jedoch auf keinenFall die persnliche Moral des Redners beurteilen kann (er knnte betrgen), son-dern allein die Art der durch die Rede hergestellten sozialen Beziehung zwischendem Redner und seinem Publikum. Worauf sich ein solcher Anspruch grndenknnte bzw. in welchem Verhltnis ein solcher zur Gesamtheit der Kantschen s-thetik steht, wre im Folgenden noch im einzelnen zu klren. Denn wie knnen dieschnen Knste mehr sein als blo die uere Verkleidung politischer Inhalte? Wiekann ein interesseloses Wohlgefallen am Schnen sich mit einem Interesse am Poli-tischen verbinden, ohne da das eine durch das andere beschdigt wird? Dochmssen wir fr eine Antwort zuallererst jenes Phnomen betrachten, welches Kantseinen berlegungen zur sthetischen Urteilskraft zugrundelegt. Denn er ging in sei-ner sthetik gleichsam von einem anthropologischen Faktum aus: dem stheti-schen Wohlgefallen, das den Menschen dazu veranlat, ber sinnliche Erscheinun-

    7 Das heute so selbstverstndliche System der Knste, das zwar die Dichtung, aber nicht mehrdie Redekunst als Kunst umfat, war noch nicht der Rahmen, fr den Kant seine Theoriedes sthetischen Urteils schrieb. Fr Kant war sogar noch die Lustgrtnerei Gegenstandder sthetik (KU, B 209). Vgl. zur wechselvollen Geschichte: Paul O. Kristeller: The modernSystem of the Arts. A Study in the History of Aesthetics. In: Journal of the History of Ideas12, 1951, S. 496527, 13, 1952, S. 1746.

    8 KU, B 217218 (Hervorhebung M.A.). Der Vergleich zum Genie des Knstlers ist vonKant selbst nahegelegt, indem er die wahre Rhetorik unter die schnen Knste reiht(Schne Kunst ist Kunst des Genies, B 181), diese Kunst des Redners als etwas beschreibt,das ohne Kunst sei, d. h. den Anschein erweckt, es sei Natur (schne Kunst mu als Na-tur anzusehen sein, B 180) und auf die Notwendigkeit hinweist, da er um die Menschenzu berzeugen, mit seiner Einbildungskraft adquate sinnliche Darstellungen sittlicherIdeen wie etwa der Tugend erzeugen mu, d. h. aber: gerade die nicht-manipulative Rede voreiner Volksversammlung kann auf sthetische Ideen nicht verzichten.

    9 KU, B 216.

  • 28 Markus Arnold

    gen Geschmacksurteile zu fllen.10 In einer transzendentalen Deduktion will er denAnspruch dieses Geschmackurteils auf Allgemeingltigkeit begrnden. Erst die zweiSeiten der Kantschen sthetik die transzendentale Argumentation auf der einenund das anthropologisch vorfindliche Gefhl der sthetischen Lust auf der anderen bilden zusammen ein Ganzes. Im Folgenden werden wir uns jedoch vorwiegend demzweiteren widmen, da letztlich nur hier die Antwort auf die Frage nach der politi-schen Stellung der sthetik gefunden werden kann.

    I. Die harmonische Stimmung der Erkenntniskrfte

    In den Mittelpunkt seiner sthetik hat Kant das Konzept der Harmonie der Er-kenntnisvermgen gestellt, die in einem freien Spiel zwischen Einbildungskraftund Verstand bestehen soll. Da Kant selbst immer wieder auf gesellschaftliche Be-zge seiner sthetik hinweist (meist unter dem Stichwort der sittlichen Ideen), undgerade auch im 20. Jahrhundert prominente aber nicht miteinander vereinbare Versuche vorliegen, mit Kants Theorie der sthetischen Urteilskraft eine Philosophiedes Politischen zu begrnden, scheint es sinnvoll, nach der politischen Dimensiondieses Konzeptes selbst zu fragen.11 Denn erst wenn es sich erweist, da dieses s-thetische Konzept selbst sich gegenber dem Bereich des Politischen ffnet, lt sichernsthaft eine Parlamentsrede als schne Kunst betrachten, ohne damit ihren ge-nuin politischen Charakter zu negieren.

    Was soll man sich daher unter einer solchen Harmonie der Erkenntniskrfte ber-haupt vorstellen? Kant nennt drei Eigenschaften: Erstens ist die Harmonie der Er-kenntnisvermgen vor allem eine Proportion. Diese auf eine lange philosophischeTradition zurckgehende Analogie ist eine mathematische: Von den vielen mg-lichen Proportionen zwischen zwei oder mehreren Zahlen bzw. Strecken sind einigewenige als harmonische ausgezeichnet, da sie mathematisch die Proportionen dermusikalischen Intervalle angeben, wie die der Oktave (2 : 1), der Quinte (3 : 2) oderder Quarte (4 : 3). In der klassischen Philosophie war es vor allem Platon, der diese

    10 Anthropologisch ist die sthetische Lust schon deshalb, da sie nicht wie die Kategorien desVerstandes allen Vernunftwesen zukommt, sondern allein dem Menschen. Auch ist Ge-schmack zu haben und sthetisch zu urteilen etwas, das erst nach einer gewissen bung er-langt werden kann.

    11 Am prominentesten Hannah Arendt, die jedoch annimmt, da Kant selbst die politischeRelevanz seiner sthetik nicht bewut war: Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kantspolitischer Philosophie. Hrsg. von R. Beiner. Mnchen/Zrich 1985 (engl. Orig. 1982); einanderer zum Teil gegen Hannah Arendts anthropologische Interpretation gerichteter Versuch stammt von Jean-Franois Lyotard: Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Ge-schichte. Wien 1988 (frz. Orig. 1986); sowie: Ders.: Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lek-tionen. Mnchen 1994 (frz. Orig. 1991); siehe aber schon Odo Marquards rhetorischeFrage: Ist das Schne bei Kant nun Instrument oder Ersatz der politischen Verwirkli-chung? (Ders.: Kant und die Wende zur sthetik. In: Zeitschrift fr philosophische For-schung 16, 1962, S. 370.)

  • Die harmonische Stimmung aufgeklrter Brger 29

    harmonischen Proportionen in seiner Seelenlehre zur Charakterisierung der tugend-haften Seelen einsetzte.12 Im Gegensatz zu diesem verwendet Kant jedoch die Har-monie nur noch als Metapher fr das Verhltnis der Erkenntnisvermgen zueinan-der, er hlt aber was oft bersehen wird diesem Modell entsprechend daran fest,da es eine Vielzahl mglicher Proportionen zwischen Einbildungskraft und Ver-stand gibt: harmonische und weniger harmonische. Denn die

    Stimmung der Erkenntniskrfte hat, nach Verschiedenheit der Objekte, die gegeben werden,eine verschiedene Proportion. Gleichwohl aber mu es eine geben, in welcher dieses innere Ver-hltnis zur Belebung (einer durch die andere) die zutrglichste fr beide Gemtskrfte in Ab-sicht auf Erkenntnis (gegebener Gegenstnde) berhaupt ist; und diese Stimmung kann nichtanders als durch das Gefhl (nicht nach Begriffen) bestimmt werden.

    Diese eine Proportion ist die harmonische, die wir in der sthetik lustvoll emp-finden, so da wir den Gegenstand, der diese Stimmung in uns erzeugt hat, alsschn bezeichnen. Diese eine Proportion begrndet einen allen Menschen eigenenGemeinsinn, der nicht nur die notwendige Bedingung der allgemeinen Mitteilbar-keit unserer Erkenntnis [ist], welche in jeder Logik und jedem Prinzip der Erkennt-nisse, das nicht skeptisch ist, vorausgesetzt wird, sondern auch die allgemeine Mit-teilbarkeit der sthetischen Lust garantieren soll.13

    Doch welche anderen Verhltnisse zwischen Einbildungskraft und Verstand sindnoch neben dieser einen harmonischen Proportion mglich? Allein in der sthetikwren zu nennen: das mathematisch Erhabene, bei dem gerade der Versuch, eine ad-quate Proportion zwischen beiden Erkenntnisvermgen herzustellen, scheitert was uns erst die Empfindung der erhabenen Gre verschafft. Auch die Fhigkeitdes Genies zur Darstellung sthetischer Ideen verlangt eine spezifische Proportionzwischen beiden Vermgen, die nicht identisch ist mit der Proportion, die dem Ge-schmacksurteil zugrunde liegt.14 Auerhalb der sthetik wre noch die bestim-

    12 Vgl. z.B. Platon: Politeia IV, 443de; diese Tradition kritisch referierend schon Aristoteles:De anima 406b26408a30. Kant selbst setzt sich mit Platons metaphysischen Konzept derHarmonie in 62 der Kritik der Urteilskraft auseinander. Verwandte Vorstellungen einerseelischen Harmonie finden sich in der zeitgenssischen Philosophie bei Shaftesbury undAdam Smith. Vgl. zu dieser Tradition und auch zu Kants Kritik an dieser vom Verf.: DieMacht der Vernunft. Zur Geschichte der Musik als einem Instrument der Philosophie. In:Wiener Jahrbuch fr Philosophie 31, 1999, S. 83125.

    13 KU, B 66 (Hervorhebung M.A.) An anderer Stelle (KU, B 29) weist er dem Verhltnis desfreien Spiels der Erkenntnisvermgen selbst die Aufgabe zu, Voraussetzung zu sein fr dieallgemeine Mitteilbarkeit der (empirischen) Erkenntnis. Denn so knnte man interpretie-ren nur wenn man voraussetzt, da allen Menschen in jenem notwendigerweise der Er-kenntnis vorausgehenden freien Spiel der Erkenntnisvermgen ein und dieselbe harmoni-sche Proportion eigen ist, lt sich mit gutem Grund annehmen, ihre Erkenntnisvermgenseien alle mit demselben Mastab geeicht.

    14 KU, B 198200. Es ist die Seltenheit dieser spezifischen Proportion des Genies, die letztlichnicht wirklich gelehrt, sondern nur durch das Vorbild eines anderen Genies erweckt werdenkann: Die Ideen des Knstlers erregen hnliche Ideen seines Lehrlings [nur], wenn ihndie Natur mit einer hnlichen Proportion der Gemtskrfte versehen hat (KU, B 185; vgl.B 200).

  • 30 Markus Arnold

    mende Urteilskraft mit ihrem Schematismus zu nennen, der die Einbildungskrafteinem apriori gegebenen Begriff des Verstandes unterwirft, und daher gerade diezweite Eigenschaft der harmonischen Proportion der Erkenntniskrfte nicht erfllt:das gleichberechtigte Spiel beider Vermgen miteinander zuzulassen. Als Konse-quenz der Vielheit mglicher Proportionen, die im Zuge unterschiedlicher Erfah-rungen und Ttigkeiten unserer Erkenntnisvermgen aufeinanderfolgen, bleibt fest-zuhalten, da diese eine harmonische Proportion sich in der Zeit herstellt undwieder bergehen kann in andere Proportionen, so da die Harmonie nicht nur einetranszendentale ist, sondern auch einen besonderen Zustand des realen Subjekts be-zeichnet.15

    Zweitens ist daher die harmonische Proportion der Erkenntniskrfte entwederselbst schon dieses freie Spiel oder es ermglicht zumindest ein solches. Denndas Harmonische an der Proportion soll gerade das freie Nebeneinander der Er-kenntnisvermgen garantieren, ein Verhltnis, in dem jedes das Seine tut, und dochalle miteinander in bereinstimmung sind. Keine Subordination, nur der lustvollberraschende Fall einer zwanglosen Kooperation aller Erkenntnisvermgen imSubjekt. Die durch kein Gesetz erzwungene Spontaneitt im Spiele der Erkenntnis-vermgen ist letztlich sogar der Grund, warum die sthetik sich als bergang zwi-schen dem Bereich der Natur und dem der Freiheit eignet, da es diese Spontaneittist, welche in uns die Empfnglichkeit des Gemts fr das moralische Gefhl be-frdert.16 Denn das, was den Gemtszustand des freien, sthetischen Spiels ge-genber anderen auszeichnet, ist seine Befreiung von heteronomen Zwngen: Wh-rend ein Erkenntnisurteil immer nur in Abhngigkeit von dem empirisch Gegebenenmglich ist, ist das Spiel zwischen zwei spontanen Erkenntnisvermgen fr sichselbstgesetzgebend (d.i. heautonom).17 Das freie Spiel der Erkenntniskrfte entwik-kelt auf diese Weise eine Dynamik, die sowohl auf die Einbildungskraft als auch aufden Verstand belebend wirken.

    Drittens heit dies jedoch: Anstatt sich zu einem statischen Zustand zu verfesti-gen, bewirkt das durch den Gegenstand in uns induzierte freie Spiel eine sich im-mer weiter fortsetzende wechselseitige Belebung der Erkenntniskrfte, die wir alslustvoll empfinden.18 Denn das Bewutsein der blo formalen Zweckmigkeit imSpiele der Erkenntniskrfte des Subjekts [] ist die Lust selbst; diese hat jedocheine Kausalitt in sich, die bewirkt, da der Zustand der Vorstellung selbst unddie Beschftigung der Erkenntniskrfte ohne weitere Absicht [] erhalten [wird].

    15 Vgl. KU, B XLIVXLV (durch eine gegebene Vorstellung unabsichtlich in Einstimmungversetzt); in diesem Sinne: Leah R. Jacobs, Harmony and free play of the imagination andunderstanding in Kants aesthetics, in: Akten des Siebenten Internationalen Kant-Kongres-ses, 1990, hrsg.v. G.Funke, Bonn 1991, S. 651 (Jacobs hat jedoch da sie keine zeitgens-sischen Kunstwerke heranzieht Schwierigkeiten adquate Beispiele zu finden fr das, wasdie Einbildungskraft im freien Spiel macht).

    16 KU, B LVII (Hervorhebung M.A.).17 KU, B 252.18 KU, B 146 (Hervorhebung M.A.).

  • Die harmonische Stimmung aufgeklrter Brger 31

    Wir weilen bei der Betrachtung des Schnen, weil diese Betrachtung sich selbststrkt und reproduziert19. D. h. ohne einen Zweck damit zu verfolgen, der ber un-sere kontemplative sthetische Lust hinausginge, reproduziert und verstrkt sichdas harmonische Spiel der Erkenntnisvermgen: desto lnger man ein schnes Bildbetrachtet, einen Roman liest oder der Musik zuhrt, desto mehr beleben sich un-sere Erkenntniskrfte und werden zur Ttigkeit angeregt.

    Doch was ist deren Ttigkeit? Was fr eine innere Dynamik entwickeln belebteErkenntnisvermgen angesichts eines schnen Gegenstandes? Da der Gegen-stand selbst als Bild, als Statue oder als Roman gegeben ist, d.h. sich als realer Ge-genstand der Sinne nicht verndert, mssen sich die belebten und sich immer weiterbelebenden Erkenntnisvermgen mit ihrer Ttigkeit schrittweise von diesem lsen:Durch den gegebenen Gegenstand belebt, reproduzieren sie nach kurzer Zeit nichtmehr blo das Gegebene, in ihrem freien Spiel vollzieht sich die Erzeugung von et-was Neuem. Wobei wir hier bewut nicht von der Harmonie als transzendentalerBedingung des Geschmacksurteils sprechen, da uns an dieser Stelle zuallererst KantsVorstellung unserer sthetischen Lust interessiert, d.h. die Frage, was ist angesichtseines konkreten Kunstwerks die Ursache unseres Wohlgefallens?

    Man sollte sich daran erinnern, da Kant an die darstellenden Knste seiner Zeitdachte mit ihren Techniken der erzhlerischen Vor- und Rckblenden in der Litera-tur man denke nur an den von Kant bewunderten Tristram Shandy von LaurenceSterne oder auch der Perspektive in der Malerei. In der Kunst soll es ja die Strukturdes Kunstwerks sein, die das freie Spiel meiner Erkenntnisvermgen bestimmt. FrKants sthetik ist es daher wichtig, sein Verstndnis der Perspektive zu kennen, diefr ihn eine Illusion ist, welche

    bleibt, ob man gleich wei, da der vermeinte Gegenstand nicht wirklich ist. Dieses Spiel desGemts mit dem Sinnenschein ist sehr angenehm und unterhaltend, wie z.B. die perspektivischeZeichnung des Inneren eines Tempels, oder, wie Raphael Mengs von dem Gemlde der Schuleder Peripatetiker (mich deucht von Corregio) sagt: da, wenn man sie lange ansieht, sie zu ge-hen scheinen.20

    Erst die Erzeugung einer solchen Illusion lt sinnvoll zwischen einem freienSpiel, das in mir die Harmonie erzeugt, und einer freien Assoziation unterschei-den, die Kant immer als mechanisch zurckweist.21 Denn wenn sich mir in der Be-trachtung die perspektivische Zeichnung zu einem dreidimensionalen Raum ffnet,

    19 KU, B 37 (Hervorhebung M.A.). Erst durch diese Selbstreproduktion wird aus der sonsteher flchtigen Lust eine rein kontemplative Lust (B 36).

    20 Anth, B 40 (Hervorhebung M.A.). Dieselbe tuschende Wirkung lobt er auch an der Dicht-kunst, die den obersten Rang der Knste einnimmt: Denn sie spielt mit dem Schein, densie nach belieben bewirkt, ohne doch dadurch zu betrgen; [] sie erklrt ihre Beschfti-gung selbst fr bloes Spiel, welches gleichwohl vom Verstande und zu dessen Geschftezweckmig gebraucht werden kann (KU, B 215216).

    21 KU, B 218. (Es ist der Mangel der reinen Musik, da bei ihr im Gegensatz etwa zur Poesie das Gedankenspiel, welches nebenbei dadurch erregt wird, [] blo die Wirkung einergleichsam mechanischen Assoziation ist.)

  • 32 Markus Arnold

    assoziiere ich zu dem zweidimensionalen Bild nichts hinzu, ich gehe auch nichtdurch Assoziation von der Zeichnung ber zu ganz anderen Dingen, im Gegenteil,ich konzentriere mich in der sthetischen Betrachtung auf das Bild, so da ich whrend ich es betrachte beinahe alles andere vergesse, gleichsam in die vom per-spektivischen Bild in mir erzeugte Vorstellung einer Welt eintauche. Diese Erzeu-gung einer sthetischen Tuschung erleben wir als sehr angenehm und unterhal-tend, und diese veranlat uns u.a., ein solches Bild als schn zu beurteilen.

    Doch galt im 18. Jahrhundert die sthetische Tuschung nicht nur als ein Phno-men der perspektivischen Darstellung in der Malerei. Als Beispiel kann uns etwajene fr die damalige Zeit wie der Kunsthistoriker Oskar Btschmann uns best-tigt paradigmatische Beschreibung Johann Joachim Winckelmanns dienen, was inihm sthetisch beim Anblick des Torso im Belvedere zu Rom vorgegangen ist:

    Bey dem ersten Anblick dieses Stckes wird man nichts anders gewahr als einen fast ungeform-ten Klumpen Stein, aber so bald das Auge die Ruhe angenommen, und sich fixiret auf diesesStck, so verliehret das Gedchtnis den ersten Anblick des Steins und scheinet er weichlichezarte Materie zu werden.22

    D. h. obwohl das Auge den Gegenstand genauer fixiert, verwandelt sich der un-mittelbar wahrgenommene Stein in etwas anderes in etwas, das so von keinem Er-kenntnisurteil erfabar wre. Wie bei Kant die Peripatetiker im Bild von Corregiozu gehen scheinen, so wird auch der Stein unter den Augen Winckelmanns durchseine frei spielende Einbildungskraft lebendig, aus dem kopf- und gliederlosenTorso entsteht ein Mensch:

    Mich deucht, es bilde mir der Rcken, welcher durch hohe Betrachtungen gekrmmet scheinet,ein Haupt, welches mit einer frohen Erinnerung seiner erstaunenden Thaten beschfftiget ist;und indem sich so ein Haupt voll Majestt und Weisheit vor meinen Augen erhebet, so fangensich an in meinen Gedanken die brigen mangelhaften Glieder zu bilden: es sammlet sich einAusflu aus dem Gegenwrtigen und wirket gleichsam eine pltzliche Ergnzung.23

    Der sthetische Genu ist offensichtlich nicht sprach- und begriffslos. Jedochkann das, was sich Winckelmann in der sthetischen Erfahrung zeigt, durch keinender Begriffe in Form eines Erkenntnisurteils erfat werden. Whrend die Einbil-dungskraft auf der einen und der Verstand auf der anderen Seite zu immer neuer T-tigkeit angeregt werden, bleibt dem sthetisch genieenden Winckelmann der bloeSchein des dadurch entstehenden Eindrucks bewut. Das Spiel der beiden Erkennt-nisvermgen erzeugt etwas Neues, eine Welt jedoch, die im Modus des Als-ob ver-harrt. Der sthetische Genu entsteht so in einem Proze: Dieser beginnt, indem die

    22 Johann Joachim Winckelmann: Entwrfe zur Beschreibung des Torso im Belvedere im Flo-rentiner Manuskript. In: Kleine Schriften. Hrsg. von W. Rehm. Berlin 1968, S. 281 (Hervor-hebung M.A.). Hier zitiert nach: Oskar Btschmann: Pygmalion als Betrachter. Die Rezep-tion von Plastik und Malerei in der zweiten Hlfte des 18. Jahrhunderts. In: Der Betrachterist im Bild. Hrsg. von Wolfgang Kemp. Kln 1985, S. 204206. Vgl. auch Robert Traut-wein, a.a.O., S. 162ff.

    23 Johann Joachim Winckelmann: Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom. In: Ibid.,S. 172.

  • Die harmonische Stimmung aufgeklrter Brger 33

    Einbildungskraft den steinernen Torso als Vorstellung in sich reproduziert, so wieman ihn mit den Augen wahrnimmt. Diese Vorstellung regt den Verstand an zu Ge-danken24, die Aktivitt des Verstandes wiederum wirkt zurck auf die Einbil-dungskraft, so da der Torso sich zu verwandeln beginnt und als verwandelte Vor-stellung der Einbildungskraft wiederum den Verstand neuerlich anregt zu weiterenGedanken. Das freie Spiel wrde so einem wechselseitigen Zuspiel gleichen, bei demdie entstehende Dynamik von keinem der beiden kontrolliert und gelenkt werdenkann. Solange die Zweckmigkeit beider Seiten zueinander erhalten bleibt, die jeneDynamik im Gleichgewicht hlt, kann die sthetische Lust sich stets erneuern be-lebt sich unser Gemt.

    Gegen diese Interpretation einer Prsenz von Gedanken innerhalb des Spielsder Erkenntnisvermgen liee sich jedoch einwenden, da Kant immer wieder be-tont, der Verstand wrde ohne Begriffe auf die Einbildungskraft zurckwirken.Aber man darf nicht bersehen, da Kant allein die Mitteilbarkeit sthetischerUrteile begrnden will, wenn er sagt:

    Nur da, wo Einbildungskraft in ihrer Freiheit den Verstand erweckt, und dieser ohne Begriffedie Einbildungskraft in ein regelmiges Spiel versetzt: da teilt sich die Vorstellung, nicht als[sic!] Gedanke, sondern als inneres Gefhl eines zweckmigen Zustandes des Gemts, mit.25

    Das schliet nicht aus, da der erweckte Verstand Gedanken produziert, sondernnur, da diese Gedanken nicht als Begriffe auf die Einbildungskraft zurckwirkendrfen. D. h. beide Vermgen sind in ihrer Wechselwirkung autonom, der Verstandbestimmt mit seinen Begriffen nicht das Verhltnis zwischen beiden Vermgen (wieim Erkenntnisurteil). Kants Zurckweisung der Begriffe soll klarstellen, da demsthetischen Urteil kein begriffliches Prinzip zugrunde liegt, es sind Aussagen berdie Funktion der Begriffe, aber nicht ber ihre reale Prsenz in der sthetischen Er-fahrung selbst.26 Denn im sthetischen Urteil wird die Vorstellung zwar nicht aufeinen bestimmten Begriff,

    gleichwohl aber doch auf Begriffe, obzwar unbestimmt welche, bezogen [] wodurch das Ver-mgen der [] Einbildungskraft, bei einer gegebenen Anschauung mit dem Vermgen der Be-griffe des Verstandes [] in Einstimmung betrachtet wird.27

    24 Zur Anregung von Gedanken siehe z.B.: B 194195.25 KU, B 161 (Hervorhebung M.A.).26 Auch die beiden Feststellungen, da die Allgemeingltigkeit des sthetischen Urteils ohne

    Begriff gewhrleistet ist und die Zweckmigkeit ohne Begriff eines Zweckes empfundenwird, sprechen von der Funktion der Begriffe in der sthetik. In beiden Fllen geht es um dietranszendentale Feststellung, da die Mitteilbarkeit des sthetischen Urteils allein durch dasGefhl der Lust gewhrleistet wird und nicht durch einen diskursiven Begriff.

    27 KU, B 74 (Hervorhebung M.A.); bezeichnenderweise spricht Kant im Plural von Begrif-fen, die jedoch weder von der Vorstellung der Einbildungskraft empirisch bestimmt wer-den, noch selbst die Vorstellung der Einbildungskraft bestimmen: ihre Beziehung wre einersich frei herstellenden Korrelation zu vergleichen, deren Zustandekommen lustvoll empfun-den wird als eine sich scheinbar zufllig einstellende wechselseitige Zweckmigkeit zwi-schen den Gedanken und den sinnlichen Vorstellungen.

  • 34 Markus Arnold

    Es wre ja auch kein freies Spiel mehr, wenn die Erkenntniskrfte eingeschrnktwren, wenn etwa dem Verstand bestimmte Gedanken verboten wren: Ein freispielender Verstand hat keine Skrupel, Begriffe ins Spiel zu bringen. Er ist nur ge-zwungen, den Status des freien Spiels aufrechtzuerhalten, d.h. als Verstand nichtjene Stellung und Funktion gegenber der Einbildungskraft fr seine Gedanken zubeanspruchen, die ihm nur in einem Erkenntnisurteile zustehen. Seine Aussagensind blo Teil des Spiels der Erkenntnisvermgen. So ist sich ja auch Winckelmannbewut, da der Torso, den er betrachtet, ein lebloser Stein ohne Kopf und Glied-maen ist, doch hindert dieses Wissen seinen Verstand nicht, im freien Spiel sichdem sthetischen Schein zu berlassen, es sei der Leib eines lebendigen Menschen,der vor ihm sitzt und dies auch auszusprechen. Und ist uns das Kunstwerk erst alsliterarischer Text gegeben, kann an der Prsenz der Worte und Begriffe gar keinZweifel sein, da diese ohne bestimmend zu sein berhaupt erst die Vorstellungenunserer Einbildungskraft anregen mssen, damit den Stzen der Erzhlung irgendetwas in der Einbildungskraft entspricht.28

    Ohne eine solche klare Unterscheidung zwischen der legitimen Prsenz von Ge-danken innerhalb des Spiels der Erkenntnisvermgen und der sich nicht auf Begriffesttzenden transzendentalen Deduktion der Allgemeingltigkeit des sthetischenUrteils droht Kants Theorie des Geschmacksurteils jede Verbindung zu den anderenTeilen seiner sthetik zu verlieren: Eine sthetische Idee etwa, die jene Vorstellungder Einbildungskraft [ist], die viel zu denken veranlat, ohne da ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adquat sein kann, wre mit ihrer Wirkungnicht mehr Teil des freien Spiels der Erkenntnisvermgen und was noch schlimmerwre sie wre gerade in dieser Fhigkeit, uns zu denken zu geben, nicht mehr s-thetisch beurteilbar durch unseren Geschmack. Aber auch Kants Satz: Man knnedie Schnheit berhaupt als den Ausdruck sthetischer Ideen bezeichnen, verlreihren Sinn.29

    Festzuhalten bleibt: Fr Winckelmann war die Fhigkeit des steinernen Torso imBelvedere, unsere Einbildungskraft unwillkrlich anzuregen, das blo Dargestelltelebendig werden zu lassen, d. h. aus dem rezeptiv Wahrgenommenen aktiv eine tu-schende andere Welt zu erschaffen, ein Zeichen seiner knstlerischen Qualitt. Undauch bei Kant lt sich diese Fhigkeit als dessen leitende Vorstellung einer gelin-genden sthetischen Rezeption finden. Denn wie heit es in seiner berhmten Defi-

    28 Begriffe von Gegenstnden veranlassen oft, ihnen ein selbstgeschaffenes Bild (durch pro-duktive Einbildungskraft) unwillkrlich unterzulegen. Wenn man das Leben und die Tateneines dem Talent, Verdienst, oder Rang nach groen Mannes liest, oder sich erzhlen lt,so wird man gemeiniglich verleitet, ihm in der Einbildungskraft eine ansehnliche Statur zugeben. Es ist das, was Kant hier als verleiten bezeichnet, da die Beziehung zwischenEinbildungskraft und literarischen Begriffen beschreibt: es ist kein Erkenntnisurteil (obwohlein Bild einem Begriff unterlegt wird), es beruht auch nicht blo auf einer uerlichen As-soziation, statt dessen so knnte man in Analogie zur sthetischen Idee sagen hat die Ein-bildungskraft die Worte der Erzhlung durch ihre sinnlichen Vorstellungen gleichsam er-weitert (Anth, B 77, Hervorhebung M.A.).

    29 KU, B 204205.

  • Die harmonische Stimmung aufgeklrter Brger 35

    nition des Kunstschnen: die Kunst kann nur schn genannt werden, wenn wir unsbewut sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht.30

    Womit wir in einer Art erstem Resmee auf die politische Relevanz zumindesteiner Eigenschaft dieser Harmonie und ihres freien Spiels der Erkenntniskrftebereits verweisen knnen: Es ist diese sich im Subjekt durch eine wechselseitige Be-lebung der Erkenntniskrfte31 beinahe autark reproduzierende Dynamik, die in-nerhalb des realen Subjekts, und d.h. innerhalb der von der physikalischen Kausa-litt bestimmten Erscheinung, gleichsam einen Ort subjektiver Autonomie erzeugt.Denn das Verhltnis der beiden Erkenntnisvermgen zueinander liee sich beschrei-ben als eine sich in ihrem Zustand selbstreproduzierende Wechselwirkung: dieEinbildungskraft erweckt in ihrer Freiheit den Verstand, worauf der Verstandwiederum die Einbildungskraft in ein regelmiges Spiel versetzt. Ein Spiel derEinbildungskraft, das neuerlich geeignet ist, den Verstand zu erwecken usw.32

    Dieser sich selbsterhaltende, zweckmige Zustand des Gemts kommt innerhalbder Erscheinungen dem, was man politisch wie auch sittlich Autonomie und Frei-heit nennt, am nchsten.33 Ist der Mensch selbst auch als Bewohner dieser Welt derphysikalischen Kausalitt ausgesetzt, d.h. den heteronomen Wirkungen andererphysikalischer Objekte, so erffnen ihm die sich wechselseitig belebenden Erkennt-nisvermgen den subjektiven Genu einer vorbergehende Autarkie von der Exi-stenz der Dinge. Nicht umsonst erzeugt sie den Gemtszustand jenes interesselosenWohlgefallens, das sich nicht wie noch das Angenehme von der Existenz derDinge abhngig macht, um sie lustvoll genieen zu knnen. In diesem Zustand ist esdem Menschen pltzlich mglich, sich bedenkenlos einem Gefhl der Lust hinzuge-ben, ohne zugleich seine Freiheit zu gefhrden.34 Dieses im sthetischen Genieen

    30 KU, B 179 (Hervorhebung M.A.). Wie Oskar Btschmann (a.a.O.) mit vielen Zitaten belegt,ist diese Vorstellung, man msse das tote Kunstwerk in der sthetischen Betrachtung leben-dig werden lassen, neben Kant und Winckelmann auch Grundlage der sthetischen Theorieneines Diderot, Rousseau, Herder, Sulzer und Hegel, aber auch von Knstlern wie Kleist,Schiller und David.

    31 KU, B 146 (Hervorhebung M.A.).32 KU, B 161.33 Der Begriff der Wechselwirkung ist zwar ein genuin Kantscher Begriff, gehrt aber selbst

    nicht der sthetik an, sondern ist ein Begriff der teleologischen Urteilskraft. Zur Deutungdessen, welche Aktivitt sich in einem zweckmigen Zustand des Gemts whrend dessthetischen Wohlgefallens entfaltet, ist er jedoch geeignet, um die Kantschen Bestimmun-gen auf einen Begriff zu bringen. Denn die teleologische Urteilskraft stellt ganz allgemein dieMetasprache bereit, in der Kant die Grundlagen des sthetischen Wohlgefallens erlutert.Die Feststellung, etwas sei zweckmig bzw. wechselseitig, ist keine sthetische, son-dern eine teleologische Reflexion ber die Beziehung zweier oder mehrerer Teile zueinan-der. Zur wechselseitigen Beziehung der Teile zueinander im Bereich der Teleologie: vgl.KU, B 291; zu dem Begriff der Wechselwirkung im 18. Jahrhundert (Its first use seems tobe due to Kant): Gerhard H. Mller: Wechselwirkung in the Life and other Sciences. In:Romanticism in Science. Hrsg. von St. Poggi und M. Bossi. Dordrecht 1994, S. 114.

    34 Zum Angenehmen, das sowohl eine Neigung als auch eine Begierde in uns erzeugt, dieuns an die Existenz des Gegenstandes bindet: KU, B 910 und B 1516. Zur Herkunft desBegriffs Interesselosigkeit aus der Ethik und der Theologie: Werner Strube: Interesselosig-

  • 36 Markus Arnold

    entstehende Desinteresse an der Existenz der Dinge berwindet vorbergehendauch jedes Privatinteresse an ihrem Besitz. Man will sogar diese Lust, die eine sub-jektive Allgemeingltigkeit fr alle Menschen beanspruchen kann, mit anderen tei-len. Es ist die mit dem sthetischen Genu einhergehende berwindung des eigenenEgoismus, die jenes vor allem von Hannah Arendt herausgearbeitete utopischeMoment an diesem ausmacht: Zumindest als sthetisch Urteilende scheinen sich alleMenschen in Freiheit zu einer friedlichen Gemeinschaft vereinigen zu knnen. Nichtdurch Zwang, sondern vermittels einer von allen geteilten Lust.35

    II. Das sittliche Ideal und die Schnheit als Symbol

    Doch bevor wir uns weiter der Frage nach der politischen Relevanz der schnenKnste innerhalb des allgemeineren Rahmens des Projektes der Aufklrung zuwen-den knnen, gilt es noch einige offene Fragen zu klren. Denn auch wenn es ohneweiteres einleuchtet, wieso ein perspektivisch gemaltes Bild vom sthetischen Rezi-pienten verlangt, mit seiner Einbildungskraft das Sichtbare des Bildes produktiv zuergnzen, so da, obwohl wir uns bewut sind, sie sei Kunst, [] sie uns doch alsNatur aussieht36 so erklrungsbedrftig ist noch, was in uns vorgeht, wenn wirnicht Kunst, sondern die Natur selbst sthetisch betrachten. Denn das Naturschnegilt Kant ja als Vorbild des Schnen in der Kunst. In welcher Weise knnen aber hierunsere belebten Erkenntnisvermgen sich ihrem Spiel hingeben? Ist in diesem po-litikfernen Bereich der sthetik etwas zu finden, das bereits auf jene in der schnenKunst der politischen Rede vollzogene Verknpfung von Politik und sthetik ver-weist?

    Was wir laut Kant in einer sthetischen Erfahrung der Natur entdecken sollten,wre eine Chiffreschrift [], wodurch die Natur in ihren schnen Formen figr-lich zu uns spricht.37 Denn in der Natur sind die

    Modifikationen des Lichts (in der Farbgebung) oder des Schalles (in Tnen) [] die einzigenEmpfindungen, welche nicht blo Sinnengefhl, sondern Reflexion ber die Form dieser Mo-difikationen der Sinne verstatten, und so gleichsam eine Sprache, die die Natur zu uns fhrt,und die einen hhern Sinn zu haben scheint, in sich enthalten. So scheint [z.B.] die weie Farbeder Lilie das Gemt zu Ideen der Unschuld [] zu stimmen.38

    keit. Zur Geschichte eines Grundbegriffs der sthetik. In: Archiv fr Begriffsgeschichte 23,1979, S. 149.

    35 Doch schon 1945 interpretierte Lucien Goldmann: Das Geschmacksurteil eines jeden istfrei [] [und] trotzdem ist es gesetzmig; denn es fordert die allgemeine Anerkennung allerMenschen. Spontane Freiheit und gesetzmige Allgemeingltigkeit; die Vereinigung dieserbeiden Elemente macht [] die ideale Gemeinschaft aus. [] In der sthetischen Beur-teilung ist sie uns schon jetzt gegeben. (Ders.: Mensch, Gemeinschaft und Welt in der Phi-losophie Immanuel Kants. [Neuauflage] Frankfurt a. M./New York 1989, S. 193.)

    36 KU, B 179.37 KU, B 170 (Hervorhebung M.A.).38 KU, B 172 (Hervorhebung M.A.).

  • Die harmonische Stimmung aufgeklrter Brger 37

    Es scheint schon die Harmonie der Vermgen selbst zu sein, die in ihrem freienSpiel zu den Vorstellungen der Einbildungskraft konsonierende sittliche Ideen pro-duziert. Denn dieses Zusammenstimmen von sittlicher Idee und sinnlicher Vorstel-lung ist nichts, was erst durch komplizierte Verstandesschlsse begrndet werdenmte. Es ist sogar dem gemeinen Verstand selbstverstndlich, da wir

    schne Gegenstnde der Natur, oder der Kunst, oft mit Namen [benennen], die eine sittliche Be-urteilung zum Grunde zu legen scheinen. Wir nennen Gebude oder Bume majesttisch undprchtig, oder Gefilde lachend und frhlich; selbst Farben werden unschuldig, bescheiden,zrtlich genannt, weil sie Empfindungen erregen, die etwas mit dem Bewutsein eines durchmoralische Urteile bewirkten Gemtszustandes Analogisches enthalten.39

    Die scheinbare sittliche Beurteilung von Blumen, Bumen oder auch Gebudenist durch Empfindungen unseres Gefhls vermittelt, aber dennoch nicht willentlichgesteuert: Unwillkrlich empfindet der sthetische Betrachter bei dem Anblick einerweien Lilie ein Gefhl, das jenem gleicht, das die Unschuld in uns hervorzurufenfhig ist. Mehr noch: obwohl er zugleich wei, da eine Blume zu keiner Sittlichkeitfhig ist, vermeint er doch, in der weien Blume die sittliche Idee der Unschuld zusehen. Die Gleichzeitigkeit des Wissens und des ihm widersprechenden Empfindenslst Kant semiotisch mit dem Verhltnis einer Symbolisierung auf. Das Schne alssolches

    ist das Symbol des Sittlichguten; und auch nur in dieser Rcksicht (einer Beziehung, die jeder-mann natrlich ist; []) gefllt es, mit einem Anspruche auf jedes anderen Beistimmung.40

    Bedenkt man es genau, kann fr Kant wirklich nichts natrlicher sein: Akzeptiertman erst, da eine Einbildungskraft mit einem Verstand (als dem allgemeinen Ver-mgen der Begriffe) harmonisch spielt, so knnen prinzipiell zwischen den sinnli-chen Gestalten der Einbildungskraft und den Begriffen nur Beziehungen der Analo-gie und der Symbolisierung entstehen: das eine wird durch das andere angeregt,beide sind daher miteinander verknpft, aber dennoch nicht identisch.

    Doch Kant selbst scheint eine weit kompliziertere Erklrung fr die Entstehungeiner Symbolisierung zu geben: Sie sei eine indirekte Darstellung vermittels einerAnalogie,

    in welcher die Urteilskraft ein doppeltes Geschft verrichtet, erstlich den Begriff auf den Ge-genstand einer sinnlichen Anschauung, und dann zweitens die bloe Regel der Reflexion berjene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist,anzuwenden.41

    Auf den ersten Blick hat dies nichts mit Empfindungen zu tun. Die Analogiescheint das Produkt einer mehrstufigen intellektuellen Operation zu sein. Doch mudies mit der oben zitierten Stelle in Beziehung gesetzt werden, in der Kant die sthe-tische Erfahrung angesichts schner Gegenstnde der Natur und der Kunst be-

    39 KU, B 260 (Hervorhebung M.A.).40 KU, B 258 (Hervorhebung M.A.).41 KU, B 256 (Hervorhebung M.A.).

  • 38 Markus Arnold

    schreibt. Dort hatte er gesagt, wir wrden deren Schnheit mit sittlichen Namen be-legen, weil sie Empfindungen erregen, die etwas mit dem Bewutsein eines durchmoralische Urteile bewirkten Gemtszustandes Analogisches enthalten. Das, wasdurch ein komplexes Verhltnis von Reflexionen erklrt werden mu, entsteht of-fensichtlich in der sthetischen Erfahrung dennoch allein ber die Analogie vonEmpfindungen. Das symbolische Verhltnis zwischen der Schnheit und dem Sitt-lichguten wird somit zwar nicht vom reinen Geschmacksurteil begrndet, ist aberdennoch legitimer Teil unserer unmittelbaren sthetischen Erfahrung.42

    Betrachten wir also das doppelte Geschft der Urteilskraft bei der Symbolisie-rung etwas genauer. Denn an diesem hngt und entscheidet sich letztlich auch dieStellung des Politischen innerhalb der Kantschen sthetik: Ist ihr das Sittliche nureine uerliche Zutat, die man von dieser auch ablsen kann, ohne ihre Substanz zubeschdigen, oder verweist sie in ihrer Erfahrung des Schnen notwendigerweiseauch auf das Sittliche in den Handlungen der Menschen? Was tut also die Urteils-kraft bei der Symbolisierung? Es lassen sich zwei (auch zeitlich getrennte) Schritteunterscheiden: Zuallererst hat die Urteilskraft offenbar ein moralisches Urteil zufllen, indem sie eine Erscheinung als sittlich kennzeichnet (z.B. die Haltung oderHandlung eines einzelnen Menschen). Dieses Urteil bzw. die Empfindungen, dieman in diesem Moment hat, wenn man das moralische Urteil fllt, bleiben im Ge-dchtnis erhalten neben vielen anderen erinnerten Empfindungen. Wird man sp-ter nun der Schnheit eines Gegenstandes gewahr, d. h. berlt man sich erfolg-reich dem freien Spiel der Vermgen und den Empfindungen, die dieses in unsauslst, entdeckt die reflektierende Urteilskraft eine Analogie zu jener Empfindung,die man hatte, als man glaubte einem sittlichen Menschen gegenberzustehen unddessen Haltung als sittlich beurteilte. D.h. die Urteilskraft veranlat die Vernunft,als spielerische Reminiszenz die Idee des Sittlichguten ins Spiel zu bringen43, die ver-mittels der hnlichkeit der Empfindungen unmittelbar an der Schnheit mitemp-funden wird: die weie Farbe der Lilie erscheint uns in ihrer scheinbaren Un-

    42 D. h. nicht, da alle Symbolisierungen ber die Analogie der Empfindungen des Gefhls derLust und Unlust vermittelt werden: Kant fhrt selbst das Beispiel einer Analogiebildungber die hnlichkeit der Regel, ber beide und ihre Kausalitt zu reflektieren, an, um dieSymbolisierung des absolutistischen Staates durch eine Maschine [] (wie etwa eineHandmhle) zu begrnden (KU, B 256). Damit eignet sich die Maschine zwar als Attributdes Absolutismus, d. h. sie kann mit diesem zusammen eine sthetische Idee bilden, die zudenken gibt; jedoch ist ihre Analogie nicht wie beim Schnen als dem Symbol des Sittlichenber die Empfindungen des Geschmacksurteils vermittelt.

    43 Zu erinnern ist, da die reflektierende Urteilskraft selbst zwischen Einbildungskraft unddem Verstand als allgemeinem Vermgen der Begriffe vermittelt, d.h. da die Ttigkeit derUrteilskraft hier mit dem freien Spiel (als der spezifischen Vermittlung zwischen Einbil-dungskraft und Verstand) zusammenfllt. So kann die Analogie herstellende (zweite) Refle-xion mit der Ttigkeit des freien Spiels der Erkenntnisvermgen selbst identifiziert werdenbzw. etwas genauer letztere als der spezifische Zustand der ersteren genommen werden(vgl. die Ttigkeit der reflektierenden Urteilskraft als bloes Vorstellungen und Begriffevergleichen und zusammen [] halten, Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Ur-teilskraft, H 16).

  • Die harmonische Stimmung aufgeklrter Brger 39

    schuld.44 So hat auch bei dieser Analogie die Urteilskraft ein doppeltes Geschftzu vollfhren, jedoch geschieht die Verknpfung beider Urteile in diesem Fall un-willkrlich als Teil des freien Spiels der Erkenntnisvermgen.

    Betrachtet man die Struktur dieses Arguments, mit dem Kant das Schne als Sym-bol des Sittlichguten begrndet, so entdeckt man, da Kant dieses doppelte Ge-schft der Urteilskraft auch an einer anderen Stelle seiner sthetik in den Mittel-punkt seiner berlegungen gestellt hat: in 17 im Zusammenhang mit seinerTheorie des Ideals der Schnheit. Denn fr Kant ist das Ideal des Schnen jenersichtbare Ausdruck sittlicher Ideen, die den Menschen innerlich beherrschen.Das, was wir als Seelengte, oder Reinigkeit, oder Strke, oder Ruhe usw. in kr-perlicher uerung (als Wirkung des Innern) wahrzunehmen glauben, erscheintuns als Ausdruck des Sittlichguten, weil dieses nach unserer Erfahrung immer inVerbindung mit Ruhe, Strke und Seelengte auftritt.45 Und gerade ein solcher Aus-druck sei Vorbild und Muster aller Schnheit.

    Ohne an dieser Stelle auf die Struktur der zweifachen Reflexion im einzelnen ein-zugehen, vergit Kant auch hier nicht, darauf hinzuweisen, da dieses Ideal desSchnen selbst durch kein ganz reines, sondern von einem zum Teil intellektuiertenGeschmacksurteil beurteilt wird, somit auch eine Beurteilung nach dem Idealeder Schnheit kein bloes Urteil des Geschmacks sein kann.46 Diese Bemerkungenwurden meist als Rechtfertigung genommen, um das Ideal ebenso wie die Sym-bolisierung des Sittlichguten vom reinen Geschmacksurteil gnzlich zu separie-ren. Doch wird man damit der argumentativen Stellung dieser Theorie innerhalb derKantschen sthetik nicht gerecht. Denn ist auch das Urteil ber das Ideal des Sch-nen selbst kein reines Geschmacksurteil, so ist es zugleich doch das hchste Mu-ster, das Urbild des Geschmacks. Es ist dieses Muster,

    wonach [] [ein jeder] alles, was Objekt des Geschmacks, was Beispiel der Beurteilung durchGeschmack sei, und selbst den Geschmack von jedermann, beurteilen mu.47

    D. h. obwohl selbst ein zum Teil intellektuiertes Urteil, ist es dennoch das Urbildund Muster aller und somit notwendigerweise auch das Muster aller reinen Ge-schmacksurteile.

    Die Frage ist daher: Warum bedarf das reine Geschmacksurteil einer Ergnzungdurch ein solches intellektuiertes Urteil? Sicher bedarf es dessen nicht, um seineAllgemeingltigkeit zu begrnden. Das reine Geschmacksurteil kann alleine vermit-tels der harmonischen Proportion der Erkenntnisvermgen die allgemeine Mitteil-barkeit ihres Wohlgefallen begrnden. Da alle Menschen ber dieselbe Ausstattung

    44 Das freie Spiel der Vermgen arbeitet mit Erinnerungen, d.h. die sittlichen Ideen werdendurch kein aktuelles moralisches Urteil begrndet, vgl. hierzu die Rezeption sthetischerIdeen: KU, B 196.

    45 KU, B 5960 (zur Ruhe als Ausdruck des Sittlichguten vgl. weiter unten).46 KU, B 55 und B 61 (Hervorhebung M.A.).47 KU, B 54 (Hervorhebungen hier und im Folgenden von M.A.).

  • 40 Markus Arnold

    der Erkenntnisvermgen verfgen, kann man prinzipiell von jedem erwarten, unsersthetisches Wohlgefallen mit uns teilen zu knnen. Auch wenn wir aus Erfahrungwissen, da nicht wirklich jeder unser sthetisches Urteil teilt. Der Geschmack isteine Art sensus communis, also das, worin alle Menschen prinzipiell bereinstim-men mten. Wer Geschmack hat, hat im Bereich des sthetischen gelernt,

    sich ber die subjektiven Privatbedingungen des Urteils [] wegzusetzen, und aus einem allge-meinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, da er sich in den Standpunkt an-derer versetzt)

    zu urteilen. Eine Fhigkeit, die nicht nur sittlich als berwindung des eigenenEgoismus bedeutsam ist, sondern auch politisch als jener Schritt, der im Bereich dersthetik dem politischen bergang vom Bourgeois zum allgemeinen Standpunktdes Citoyen am nchsten kommt.48

    Doch eines kann aus der Beschaffenheit einer blo reflektierenden Urteilskraftnicht erklrt werden: Warum das Gefhl im Geschmacksurteile gleichsam alsPflicht jedermann zugemutet werde.49 Denn sind auch die Bedingungen fr das Ge-schmacksurteil von Geburt an jedem Menschen gegeben, so mu er sich doch zumGeschmack erst bilden. Ist doch die berwindung des sinnlich Angenehmen durcheine sthetische Lust an der Harmonie der Erkenntnisvermgen nichts weniger alsdie berwindung der subjektiven Privatbedingungen seines Urteils zugunsten einesallgemeinen Standpunkts. Und dieser gegen den Widerstand des eigenen Egoismuszu entwickelnde Geschmack kann selbst niemanden dazu verpflichten, das Bedrf-nis nach dem Angenehmen durch die Lust am Schnen zu ersetzen. Htte der Ge-schmack nicht eine Untersttzung, so wre eine Welt denkbar, wo alle Menschenzwar prinzipiell zu einem Geschmacksurteil fhig sind, aber keiner bereit wre, dieMhe auf sich zu nehmen, diese Fhigkeit auch zu entwickeln. Kant war sich be-wut, da die sthetik nichts Selbstverstndliches ist, es braucht einen eigenenGrund, um sie zu entwickeln.50 Kurz: Das Geschmacksurteil braucht einen Verbn-deten, der die Menschen zu etwas verpflichten kann, es braucht die Untersttzungder sittlichen Vernunft.51 Diese gewinnt sie jedoch nur, wenn es ihr gelingt, ein In-teresse der Vernunft an dem Schnen zu wecken.

    48 Zu Kants Verwendung dieser beiden Begriffe vgl. ber den Gemeinspruch: Das mag in derTheorie richtig sein, taugt aber nicht fr die Praxis, A 245.

    49 KU, B 161 (Hervorhebung M.A.).50 Vgl. die von Rousseau deutlich beeinflute Erzhlung von der Entwicklung des Ge-

    schmacksurteils: KU, 4142.51 Hier liegt ein entscheidender Unterschied zu Friedrich Schillers Konzept einer sthetischen

    Bildung: im Gegensatz zum Kantschen Spiel der Erkenntnisvermgen ist der anthropolo-gisch verstandene Spieltrieb der Schillerschen Briefe ber die sthetische Erziehung desMenschen auf keine Untersttzung dieser Art angewiesen, um sich zu entwickeln (zur Dis-kussion weiterer Unterschiede vgl. die noch immer instruktive Arbeit von Wolfgang Dsing:sthetische Form als Darstellung der Subjektivitt. Zur Rezeption Kantischer Begriffein Schillers sthetik. In: Friedrich Schiller. Zur Geschichtlichkeit seines Werkes. Hrsg. vonK. L. Berghahn. Kronberg 1975, S. 197239).

  • Die harmonische Stimmung aufgeklrter Brger 41

    Kant knpft den Anspruch des Geschmacksurteils auf Beistimmung an das Idealdes Schnen.52 Indem er in jedem Schnen eine Analogie zu dem am Menschenwahrnehmbaren Ausdruck sittlicher Ideen zu finden meint, weist er erst seiner zwei-ten These, das Schne sei ein Symbol des Sittlichguten, seinen spezifischen Ort in-nerhalb seiner Theorie des sthetischen Geschmacksurteils zu: Nur aufgrund dieserBeziehung kann ein Mensch zur Bildung seines Geschmacks verpflichtet werden,kann Kant die Entwicklung sittlicher Ideen und die Kultur des moralischen Gefhlsals die wahre Propdeutik zur Grndung des Geschmacks beanspruchen. DieFhigkeit zu einem sthetischen Geschmacksurteil so lt sich schlieen ist frKant immer auch Zeichen sittlicher Reife, obwohl das reine Geschmacksurteil selbstnichts mit der sittlichen Vernunft zu tun hat.

    Um dieses Argument nher zu erlutern, mu noch einmal zwischen dem Spiel derVermgen innerhalb eines realen Menschen und dem Problem einer transzendentalenBegrndung des reinen Geschmackurteils klar unterschieden werden: Fr die Begrn-dung der (subjektiven) Allgemeinheit des reinen Geschmackurteils gengt die lustvollempfundene harmonische Proportion zwischen der Einbildungskraft und dem Ver-stand (im engeren Sinne). Doch was fr die transzendentale Deduktion eine reineHarmonie, kann doch im realen Gemt eines Menschen noch eine Dissonanz sein.Denn lt sich in der Theorie von der Existenz der Vernunft abstrahieren, so ist in derrealen Erfahrung eines Menschen die Vernunft als Vermgen immer prsent. Kantweist auf dieses Problem hin, indem er sich dem besonderen Fall widmet, wo uns zwarin der Kunst die Empfindung eines reines Geschmacksurteils die Schnheit einer Vor-stellung entdecken lt, diese jedoch nicht [] mit moralischen Ideen in Verbindunggebracht werden kann. Das Resultat ist, da, obwohl das Kunstwerk vom Stand-punkt des reinen Geschmacks als schn bezeichnet werden mu, dieses dennoch

    das Gemt, durch das Bewutsein seiner im Urteile der Vernunft zweckwidrigen Stimmung,mit sich selbst unzufrieden und launisch macht.53

    Denn das Problem unseres Gemts ist es, da es die Beziehungen zwischen seinenVermgen nicht einfach suspendieren kann: Vernunft, Verstand und Einbildungs-kraft stehen immer in irgendeinem Verhltnis, haben immer zueinander eine Pro-portion54 in der sthetik heit dies: entweder eine harmonische oder aber eine

    52 Kant gibt ja nicht nur die dem Geschmacksurteil zugrundeliegende Harmonie der Vermgen,sondern in gleicher Weise auch die Tatsache, da das Schne [] das Symbol des Sittlich-guten ist, als Ursache dafr an, da man das Geschmacksurteil mit einem Anspruche aufjedes andern Beistimmung fllt (vgl. fr die Symbolisierung: KU, B 258; fr die Harmonieder Vermgen: KU, B 2931, B 6566). Das Sittlichgute ist das Intelligible, worauf [] derGeschmack hinaussieht, wozu nmlich selbst unsere oberen Erkenntnisvermgen zusammen-stimmen (KU, B 258, Hervorhebung M.A.). Zu einer Deutung dieses Satzes vgl. Klaus D-sing: Die Teleologie in Kants Weltbegriff [KSEH 96], 2. erw. Aufl., Bonn 1986, S. 231ff.

    53 KU, B 214 (Hervorhebung M.A.).54 Die Vernunft kann in unterschiedlichen Funktionen und Verhltnissen bei der Urteilsbil-

    dung teilnehmen, sei es bei einem Erkenntnisurteil oder einem moralischen Urteil, sie kannjedoch nie als Vermgen stillgestellt werden.

  • 42 Markus Arnold

    zweckwidrig dissonante. Etwas Drittes kann es fr die sthetische Empfindungnicht geben. Hat daher eine schne Vorstellung nichts, was die Vernunft in einezweckmige Stimmung versetzen knnte, so da sie am freien Spiel der Gemts-krfte teilnehmen kann, erzeugt dies eine zweckwidrige Stimmung. Ist die Vernunftdaher auch nicht fr das reine Geschmacksurteil zustndig, so mu sie doch in dassthetische Spiel der Vermgen einbezogen werden, damit sie nicht die lustvolleStimmung des Gemts beendet und den an sich schnen Gegenstand uns nach undnach anekelnd macht.55

    Dies gilt sowohl fr die Schnheit der Natur wie fr die der Kunst. Doch ein sol-cher Konflikt zu der Stimmung der Vernunft kann dem Geschmacksurteil nur beimKunstschnen passieren, die Schnheit der Natur ist fr Kant immer mit der Ver-nunft in Einklang.56 Denn im Gegensatz zur Schnheit eines Kunstwerks wissen wirbei der Natur nie, warum sie schn ist. Die formale Zweckmigkeit ihrer Gegen-stnde knnen wir uns durch keinen Begriff erklren, was erst der Vernunft jeneFreiheit gibt, mit ihren sittlichen Ideen zu spielen: Nur weil wir nicht wissen, warumeine weie Lilie so schn ist, kann die sittliche Vernunft (harmonisch gestimmt) ihrjederzeit eine Unschuld zusprechen so, als ob die Schnheit der Ausdruck und so-mit Folge von etwas Sittlichem wre. Doch jede Analogie bezieht sich auf ein Vor-bild, jedes Als-ob verweist auf eine Realitt als ihr Muster: Hinter der versitt-lichten Lilie steht daher der sittliche Mensch als Modell, hinter jedem Symbol desSittlichguten der reale Ausdruck sittlicher Ideen, so da sich auch jedes Ge-schmacksurteil noch auf das Ideal des Schnen bezieht.

    Man knnte sich sogar fragen, ob die Strung durch eine zweckwidrige Stimmungzur Vernunft nicht sogar gravierend genug wre, um die Schnheit als solche zu be-eintrchtigen, wenn man liest, wie Kant gerade nicht davon spricht, da das Schneals Symbol verwendet werden kann, sondern apodiktisch erklrt: Das Schneist das Symbol des Sittlichguten, und im selben Ton: Man kann berhaupt Schn-heit [] den Ausdruck sthetischer Ideen nennen.57 Wobei daran erinnert sei, dadie einzige von Kant erwhnte Aufgabe sthetischer Ideen in der sinnlichen Darstel-

    55 KU, B 214.56 Wir beschrnken uns hier auf das Schne. Erwhnt sei nur, da beim mathematisch Erha-

    benen die asymmetrische Differenz wieder aufbricht. Dort ist es jedoch die dissonante Pro-portion zum Verstand, die durch die harmonische Stimmung zur Vernunft kompensiertwird, so da die Vernunft gerade im Scheitern der Einbildungskraft in ihrer Beziehung zumVerstand (d. h. in ihrem Versuch, in der Vorstellung eine Einheit zu erzeugen) eine Darstel-lung der undarstellbaren Sittlichkeit zu finden meint. D.h. aber: Auch im Erhabenen pas-siert die Darstellung des Sittlichen unwillkrlich, es ist daher irrefhrend, wenn Jean-Fran-ois Lyotard von einer aktiven Vergewaltigung der Einbildungskraft durch die Vernunftspricht, da er damit die Selbstndigkeit der Einbildungskraft beseitigt die laut Kant imErhabenen ein Selbstopfer begeht und nicht wie bei Lyotard geopfert wird. (Ders.: DieAnalytik des Erhabenen, Mnchen 1994, S. 208212 und passim.) Zu den theoretischenHintergrnden von Lyotards Interpretation siehe Gernot Bhme: Lyotards Lektre des Er-habenen. In: Kant-Studien 89, 1998, S. 205218.

    57 KU, B 204205 (Hervorhebung M.A.).

  • Die harmonische Stimmung aufgeklrter Brger 43

    lung der Ideen der Vernunft liegt.58 In beiden Fllen sowohl als Symbol des Sitt-lichguten wie auch als Ausdruck sthetischer Ideen wre somit eine Beziehung desSchnen zu den Ideen der Vernunft die Bedingung, ihr Scheitern, so mte manschlieen, kme einer Gefhrdung der Schnheit selbst gleich.

    Wenn dennoch zurecht von einem reinen Geschmacksurteile gesprochen werdenkann, ist dies dem freien Spiel der Vermgen zu verdanken, das unwillkrlich Sym-bolisierungen und somit Nachbildungen des Ideals des Schnen erzeugt, ohneda das reine Geschmacksurteil selbst etwas dazu beitragen mte.59 Unwissentlichund ohne Absicht hat es teil an der Symbolisierung des Sittlichguten, hat es teil ander Versittlichung seiner Gegenstnde. Und obwohl selbst nicht eingeweiht,gewinnt es doch in dieser Konstellation die Berechtigung, ihr eigenes Urteil allenMenschen als Pflicht anzusinnen. Denn die zwanglos im Spiel sich ergebenden Sym-bolisierungen des Sittlichen garantieren auch dem reinen Geschmacksurteil das in-tellektuelle Interesse der (sittlichen) Vernunft.60 Das Ideal des Schnen selbst wirderst thematisch, wenn man sich von der unmittelbaren sthetischen Erfahrung di-stanziert und wie Kant nach einer theoretischen Erklrung sucht fr die unmit-telbar erhobenen Ansprche der Empfindungen des sthetischen Wohlgefallens imeigenen Geschmacksurteil.

    Fr die unmittelbare sthetische Erfahrung hingegen gengt eine einzige kurzeGedichtzeile, um Kants Theorie der sthetischen Symbolisierung und seinem Idealdes Schnen paradigmatisch Ausdruck zu geben. Kant zitiert sie, um zu erlutern,wie durch einen intellektuellen Begriff eine sinnliche Vorstellung belebt werdenkann, d. h. aber auch, wie die Einbildungskraft von einer Idee der Vernunft ange-regt wird ohne jedoch von diesem in der eigenen Ttigkeit bestimmt zu werden.Es ist die Beschreibung eines schnen Morgens:

    Die Sonne quoll hervor, wie Ruh aus Tugend quillt.

    58 Vgl. KU, B 194.59 Die Symbolisierung des Sittlichguten im Schnen als nicht-intentionale Folge des freien

    Spiels der Vermgen zu begreifen, hat den Vorteil, sowohl die Symbolisierung, wie auch dasIdeal des Schnen mit dem reinen Geschmacksurteil innerhalb der sthetik verknpfen zuknnen, ohne die Autonomie des reinen Geschmacksurteils zu opfern. Welche Probleme esbereiten kann, die Einheit der sthetik aufrechtzuerhalten, wenn man diese besondere Formder Symbolisierung, die explizit ber eine Analogie der Empfindungen vermittelt ist, mit denanderen Symbolen gleichsetzt, die ber eine intellektuelle Analogie entstehen, hat indirektJens Kulenkampff gezeigt, der gezwungen ist, das Geschmacksurteil gnzlich von dem Sitt-lichen zu separieren, um dessen Autonomie noch wahren zu knnen (ders.: Kants Logik dessthetischen Urteils. Frankfurt a. M., 2. erw. Aufl. 1994).

    60 Vgl. KU, 42. Das mittelbare empirische Interesse am Schnen, das fr die Entwicklungdes Geschmacks uerst wichtig ist, mu hier trotz seiner Bezge zur Politik aus Platz-grnden ausgespart werden (vgl. 41). Fr das intellektuelle Interesse der Vernunft an demSchnen ist es wichtig zu unterscheiden zwischen der Symbolisierung des Sittlichguten imSchnen, die durch eine harmonische Stimmung der Vermgen entsteht und dem Interesseder Vernunft am Schnen selbst, das sich erst nachtrglich auf Grund dieser Symbolisierungentwickeln kann. Nur so kann von einem Interesse an dem interesselosen Geschmacksurteilgesprochen werden, ohne die Autonomie der sthetik zu gefhrden.

  • 44 Markus Arnold

    Nichts Geringeres als das Ideal des Schnen selbst soll hier als Attribut die Schn-heit des Sonnenaufgangs vermitteln was umgekehrt die Schnheit des Sonnenauf-gangs zum Symbol des Ideals des Schnen erhebt.61 Das Besondere an diesem Bei-spiel ist nur, da hier dieses Verhltnis explizit gemacht wird. Denn wenn Kant rechthat, da der Ausdruck sittlicher Ideen an der menschlichen Gestalt das allgemeineMuster und Vorbild ist fr die Schnheit als solche, dann zeigt sich nicht nur imSonnenaufgang dieses Ideal sittlicher Ruhe.

    Das Schne ffnet sich jedoch nicht nur gegenber dem Sittlichen im engerenSinne, es bezieht sich damit auch auf den Bereich des Politischen. Dabei ist es garnicht notwendig, die These des Historikers Reinhart Kosellecks zu kennen von derTugend als Instrument der indirekten politischen Gewaltnahme durch die brger-lichen Aufklrer im 18. Jahrhundert, um in der von Kant mit dem Sonnenaufgang inVerbindung gebrachten Tugend auch einen politischen Anspruch mitzuhren.62

    Es gengt zu wissen, da die zur Zeit der Niederschrift stattfindende FranzsischeRevolution die Tugend zu ihrem Motto erhob, wie auch Rousseau schon lange zu-vor die Staatsform der Republik zur Forderung der Tugend erklrt hatte.63 Kantselbst kommentiert die sthetische Wirkung dieser Gedichtzeile bezeichnenderweisemit den Worten:

    Das Bewutsein der Tugend, wenn man sich auch nur in Gedanken in die Stelle eines Tugend-haften versetzt, verbreitet im Gemte eine Menge erhabener und beruhigender Gefhle, undeine grenzenlose Aussicht in eine frohe Zukunft, die kein Ausdruck, welcher einem bestimmtenBegriffe angemessen ist, vllig erreicht.64

    Ohne hier nher zu erlutern, in welche frohe Zukunft uns das Bewutsein derTugend denn nun blicken lt. Jedoch gibt er zumindest einen Hinweis auf denGrund seines Schweigens. Denn wie er anmerkt, ist vielleicht

    nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhebender ausgedrckt worden, als in jenerAufschrift ber dem Tempel der Isis (der Mutter Natur): Ich bin alles was da ist, was da war,und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt.

    Dieser Schleier der Isis war immerhin ein Jahr zuvor vom Kantianer Karl Leon-hard Reinhold in seinem freimaurerischen Traktat Die hebrischen Mysterien oderdie lteste Freimaurerey zitiert worden, um das sich der ffentlichkeit und vor al-lem der Zensur entziehende Mysterium der Freimaurer und Deisten zu bezeichnen.Die politische Rezeption und Bedeutung des Schleiers der Isis im 18. Jahrhundertkann aber auch mit Friedrich Schiller belegt werden, der zur selben Zeit durch denTraktat seines Freundes Reinhold angeregt wurde, Moses als Eingeweihten des Isis-

    61 KU, B 197 (Hervorhebung M.A.); Ruhe als Ausdruck des Sittlichguten im Ideal des Sch-nen: KU, B 5960.

    62 Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der brgerlichenWelt. Frankfurt a. M. 71992.

    63 Vgl. Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischenFreiheitsbegriffs. Frankfurt a. M. 71993.

    64 Dieses und das folgende Zitat: KU, B 197 (Hervorhebung M.A.).

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    Mysteriums und geheimen Aufklrer zu beschreiben, der sich gegen gyptische Des-poten und aberglubische Priester wendet, um dem israelitischen Volk zum Besitzder Unabhngigkeit und einer Staatsverfassung in einem eigenen Lande zu verhel-fen ohne dabei seine eigenen berzeugungen der israelitischen ffentlichkeitgnzlich preisgeben zu knnen.65

    III. Die politische Tugend und die reine sthetik

    Wenn ein Sonnenaufgang uns an die Ruhe gemahnt, die ein tugendhafter Menschempfindet; wenn der Sternenhimmel ber uns, die Blumen und sogar einzelne Far-ben in der Chiffreschrift figrlicher Formen zu uns spricht, so da wir verleitet wer-den, ihnen sittliche Prdikate beizulegen an unsere sittlichen Empfindungen ange-sichts von Historiengemlden, Theaterstcken und hnlichem wollen wir hier erstgar nicht denken , wenn also diese Dinge, die einem Erkenntnisurteil als gnzlichnicht-menschlich sowie jedem moralischen Urteil als gnzlich amoralisch geltenmssen, dem sthetischen Betrachter dennoch sittlicher Attribute wert erscheinen:wie lt sich dann eine solche Erfahrung charakterisieren? Die Differenz zwischeneinem sittlichen Urteil und einer sittlichen Lektre der Vorstellungen mu jeden-falls die unbersteigbare Differenz markieren zwischen einer Ethik und einer davonunabhngigen sthetik. Beide sind in ihrer Verwendung sittlicher Ideen nahezu soverschieden wie Dostojewskis Roman Schuld und Shne von dem Text des Straf-gesetzbuches. Denn der Roman erffnet mit seiner Erzhlung vor dem interesselo-sen Leser das, was man einen sittlichen Wahrnehmungs- und Empfindungsraumnennen knnte; die Ethik versucht hingegen Richtlinien zu formulieren, um mitHilfe des Begehrungsvermgen gem sittlicher Einsicht in diesem sittlich bzw. po-litisch handeln zu knnen. Die Differenz zwischen Ethik und sthetik ist dahernicht einzuebnen, die propdeutische Funktion einer sthetik im Kantschen Sinnejedoch auch nicht zu bersehen. Denn erst wer fhig ist, den sittlichen Raum alssolchen wahrzunehmen, der sich angesichts des Schnen und des Erhabenen unse-

    65 Friedrich Schiller: Die Sendung Moses (1790). In: Smtliche Werke. Hrsg. von G. Fricke undH. G. Gpfert. Bd. IV, Mnchen 1980, S. 803 (Der Schleier der Isis: S. 792). Die verbor-genen Wahrheiten denen auch Moses anhing hatten ihren Sitz in den Tempeln der Isisund des Serapis und waren das Vorbild, wonach [] in neueren Zeiten der Orden der Frei-maurer sich gebildet hat (ibid., S. 7912). Schillers Text lt sich als Reflexion eines deut-schen Intellektuellen lesen angesichts der eigenen Euphorie ber die politischen Umwlzun-gen in Frankreich und der gleichzeitigen Bedrohung durch die Zensur deutscher Frsten.Siehe auch Kants Ratschlge an Fichte, wie man die Zensur umgehen kann, im Brief vom2. Februar 1792. (Abgedruckt in: J. G. Fichte: Briefwechsel. Hrsg. von H. Schulz. Hildes-heim 1967, S. 219220.) Zur Rezeption des Motivs der verschleierten Isis im 18. Jahrhun-dert bei Reinhold, Kant und Schiller vgl. Jan Assmann: Moses der gypter. Mnchen/Wien1998, S. 173210; aber auch: Christine Harrauer: Ich bin, was da ist []. Die Gttin vonSais und ihre Deutung von Plutarch bis in die Goethezeit. In: Wiener Studien: Zeitschrift frklassische Philologie und Patristik 1078, 1994/95, S. 337355.

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    rem Gefhl mitteilt, erst dieser ist auch fhig, bewut nach den fr sein Handeln ad-quaten sittlichen Kriterien zu suchen.66

    Umgekehrt verlangt das interesselose Wohlgefallen an den Erscheinungen zwarvom Betrachter keine sittliche Entscheidung, aber dennoch eine sittlich gebildeteVernunft. Man mu z.B. kein Anhnger der Jakobiner sein, um angesichts Jacques-Louis Davids Tod des Marat ein sthetisches Wohlgefallen zu empfinden, aberohne ein Wissen um die Freiheit (und was alles zu ihrem Verstndnis gehrt) bleibtdessen menschliche Tragdie dem Betrachter gnzlich verschlossen; so wie jede Tra-gdie sei sie Shakespeares Hamlet oder der Oidipus Tyrannos und auch jedes Hi-storiengemlde dem Betrachter sthetisch verschlossen bleibt, wenn es ihm nichtmglich ist, dessen Darstellungen sthetisch innerhalb eines sittlichen Rahmens zubetrachten. Nicht, ob das Gesehene nun moralisch gut oder verwerflich ist, hat ihnsthetisch zu interessieren, allein die Prsenz eines sittlichen Handlungsraumes, in-nerhalb dessen das Dargestellte situiert ist, hat der Betrachter zu empfinden, da die-ser erst Marats Tod von dem vollkommen untragischen Tod einer Pflanze oder einesTieres unterscheidet.

    Jedoch wie wir zu Beginn am Beispiel der politischen Rede schon zeigten wen-det sich Kant nicht gegen eine sthetische Beurteilung des Politischen. Ist ja auchganz allgemein im 18. Jahrhundert das Politische in Historiengemlden und Por-trts groer Mnner selbstverstndlicher Gegenstand der Kunst wie auch dieDarstellung sittlicher Ideen bis heute selbstverstndliche Aufgabe jeder Politik zusein hat, die sich am Sittlichen orientiert.67 Doch dies mu noch przisiert werden.Denn jeder Versuch, der sthetik im Bereich des Politischen ein Aufenthaltsrecht zugeben, sieht sich heute dem von Walter Benjamin formulierten Diktum gegenber, essei der Faschismus, der als Strategie eine sthetisierung der Politik betreibe.68

    Gerade das von Kant konstatierte empirische und intellektuelle Interesse am Sch-nen und am Erhabenen knnte diese so liee sich argumentieren auch prinzipiellinteressant machen fr diejenigen, die nach Mitteln suchen zur Manipulation undzum wirtschaftlichen und politischen Marketing. Doch Kant kann sich mit seinersthetik vor einem solchen Mibrauch sicher fhlen. Die Kritik der Urteilskraftwendet sich gerade gegen jede instrumentelle Verwendung des Schnen als Mittel

    66 Zur propdeutischen Funktion von Erzhlungen in der sittlichen Bildung vgl. KpV,A 277280.

    67 Kant ist es daher auch selbstverstndlich, da selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung undHeiligachtung der brgerlichen Rechte gefhrt wird, [] etwas Erhabenes an sich hat unddie Denkungsart des Volks, welches ihn auf diese Art fhrt, nur um desto erhabener [er-scheint], je mehreren Gefahren es ausgesetzt war, und sich mutig darunter hat behauptenknnen (KU, B 107).

    68 Diese These Walter Benjamins findet sich in seinem mittlerweile klassischen Artikel: DasKunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1934/35). Fr eine allge-meine Diskussion des Hintergrunds dieser These Benjamins in Verbindung mit HannahArendt und J.-L. Lyotard: Martin Jay: Hannah Arendt und die Ideologie des sthetischenOder: Die sthetisierung des Politischen. In: Die Zukunft des Politischen. Ausblicke aufHannah Arendt. Hrsg. von Peter Kemper. Frankfurt a. M. 1993, S. 119141.

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    der berredung.69 Allein das Wissen, da die Schnheit in der Werbung einenZweck verfolgt, mu schon gengen, um jener Gestalt in den Augen des Betrachtersauch den letzten Anschein einer Zweckmigkeit ohne Zweck zu rauben: es zer-strt unser sthetisches Wohlgefallen und damit das Schne selbst. Das Wissen umihren instrumentellen Charakter beseitigt jedes Interesse der Vernunft, ohne demwir laut Kant nur selten solche Gestalten auch nur eines zweiten Blickes wrdigen.Gerade weil das sthetische Wohlgefallen in seinem freien Spiel der Gemtskrfteauch gegenber den Einwirkungen der Vernunft offensteht, kann eine Aufklrungber die verborgenen Zwecke das Schne vor einer solchen Instrumentalisierung be-wahren. Das Politische an Kants sthetik besteht ja gerade in ihrem Insistieren aufder Haltung eines mndig Urteilenden, der nicht der Manipulation anderer erliegt.Ihr politischer Anspruch wenn man ihn so nennen will besteht nicht, weil sie ei-ner sthetisierung der Politik das Wort redet oder gar einer Politisierung derKunst, sondern ganz im Gegenteil, weil sie gerade gegen eine solche Form der s-thetisierung und Politisierung den Betrachter immun zu machen hofft. Kant selbstfhrt als ein Beispiel jene Touristen an, die nachdem sie den Betrug des Vogelimi-tators entdeckten dem Gastgarten des betrgerischen Wirten den Rcken kehren,um woanders nach der intentionslosen Schnheit der Natur zu suchen.70 Ebensohtte die Erkenntnis des propagandistischen Zwecks eines nationalsozialistischenParteitages den kantschen sthetiker allein schon aus sthetischen Grnden dieFlucht aus der Feldherrenhalle antreten lassen.

    Dies gilt auch fr dessen erhabenen Inszenierungsformen. Denn nicht nur dasSchne, auch das Erhabene soll sich laut Kant einer manipulativen Indienstnahmeentziehen. Die einzige sthetische Reaktion die er akzeptiert, ist eine Distanzierungvon der berwltigenden Gre und Macht des Erhabenen: So gro diese auch ist,die Einsicht in unsere weit erhabenere Fhigkeit, sittlich und frei zu handeln, ver-hindert, da wir flschlicherweise der Macht irgendeiner Erscheinung auch eineGewalt ber uns zugestehen.71 Der Bann einer psychologischen Identifikation mitder Gre und Kraft des Wahrgenommenen wie es etwa die politische Dramatur-gie faschistischer Parteitage vorsieht wre auf diese Weise sthetisch gebrochen;die Freiheit aufgeklrter Brger auch angesichts einer erhabenen Dramaturgie desPolitischen gewahrt.

    69 Die Problematik einer klaren Trennung wird jedoch an Jacques-Louis Davids Tod des Maratdeutlich, bei dem nicht klar ist, ob die Schnheit der Leiche des Politikers Marat nun demKnstler David zu verdanken ist oder jenem Propagandisten David, der der offizielle, vonden Jakobinern eingesetzte Kommissar fr die Knste und Mitglied des Komitees fr f-fentliche Unterweisung war und als solcher zustndig fr die Organisation aller wichtigenFeste und Zeremonien der Franzsischen Revolution (zu Davids Marat: Werner Busch:Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst und die Geburt der Moderne. Mnchen1993, S. 8091; Jean Starobinski: 1789. Die Embleme der Vernunft. Mnchen 1989,S. 5970).

    70 Vgl. KU, B 173.71 Zum Unterschied von Macht und Gewalt im dynamisch Erhabenen vgl.: KU, B 103109.

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    Kant war offenbar der berzeugung, das Erhabene selbst entziehe sich einer in-strumentellen Indienstnahme durch Regierungen und Parteien: Die Einsicht in unsersittliches Wesen, das weit grer ist als alles, was uns im Sinnlichen begegnenknnte, mten (nicht-republikanische) Regierungen frchten. So fat Kant selbstseine Theorie des Erhabenen zusammen in einem Lob des jdischen Bilderverbots(Du sollst dir kein Bildnis machen), das erst den Enthusiasmus erklrt, den dasjdische Volk in seiner gesitteten Epoche fr seine Religion fhlte.72 Und dies giltauch fr die Darstellung des moralischen Gesetzes und die Anlage zur Moralitt inuns, da die Unerforschlichkeit der Idee der Freiheit [] aller positiven Darstellunggnzlich den Weg abschneidet. Aber es ist gerade die Verweigerung einer Darstel-lung fr das Nicht-Darstellbare, die fhig ist, den Menschen so mitzureien, da,wenn man den Schwung seiner Einbildungskraft nicht migt, dieser sich bis zumEnthusiasm fr die Idee der Sittlichkeit steigern wrde. Daher sei es falsch, wennRegierungen behaupten, nur aus Furcht vor [der] Kraftlosigkeit dieser Ideen zuderen Untersttzung in Bildern und kindischem Apparat Hlfe zu suchen. Nichtdie Wirkung sittlicher Ideen zu untersttzen, sie zu hemmen, ist die Aufgabe ihrerpositiven Darstellung in Bildern. Denn aus Angst vor dem sittlichen Enthusiasmus

    haben auch Regierungen gerne erlaubt, die Religion mit dem letzteren Zubehr reichlich ver-sorgen zu lassen, und so dem Untertan die Mhe, zugleich aber auch das Vermgen zu beneh-men gesucht, seine Seelenkrfte ber die Schranken auszudehnen, die man ihm willkrlich set-zen, und wodurch man ihn, als blo passiv, leichter behandeln kann.73

    Erinnert man sich an die von uns zu Beginn zitierten uerungen Kants zu derschnen Kunst der politischen Rede im Parlament, so sollte einem nun deren theo-retischer Hintergrund verstndlich sein: Die Darstellung der Idee der Sittlichkeit istauch Aufgabe politischen Redens. Hierbei hat der Politiker gleichsam die knstleri-sche Aufgabe zu leisten, sthetische Ideen zur Darstellung sittlicher Ideen zu finden,die nicht unsere Empfindungen der Erhabenheit des Sittlichen in (positiven) Bil-dern erstickt, sondern sich der Kunst der indirekten Darstellung bedient sei sieeine blo symbolische im Schnen oder auch eine die Einbildungskraft an ihre Gren-zen fhrende erhabene Darstellung.74 Denn die sthetischen Ideen scheinen geradefr eine die Freiheit ihrer Brger achtende Republik unverzichtbar. Ist doch das be-sondere an diesen, da sie als Darstellungen von Vernunftideen auch auf das Gefhlder Lust und Unlust der Menschen wirken knnen, ohne diese einem heteronomenZwang auszusetzen. Indem sthetische Ideen das harmonische Spiel der Gemts-krfte anregen, verhelfen sie den Zuhrern der Rede, gleichsam zu sich selbst zu

    72 Dieses und die folgenden Zitate: KU, B 125126.73 KU, B 125 (Hervorhebung M.A.); Im selben Sinne: Die schnen [] Knste, welche das

    Volk zum Teil schwchen, um es besser regieren zu knnen, wrden mit Eintretung einesrauhen Lakonizismus der Absicht der Regierung gerade zuwider wirken (Anth, B 201).

    74 Denn das moralische Gefhl ist doch mit der sthetischen Urteilskraft und deren formalenBedingungen sofern verwandt, da es dazu dienen kann, die Gesetzmigkeit der Handlungaus Pflicht zugleich als sthetisch, d.i. als erhaben, oder auch als schn vorstellig zu machen,ohne an seiner Reinheit einzuben (KU, B 114, Hervorhebung M.A.).

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    kommen, d. h. das eigene innere Ma der harmonischen Proportion zu empfinden.Es sind die sthetischen Ideen, die zwischen mndigen Menschen eine soziale Bezie-hung der autonomen Nachfolge und nicht die einer von Abhngigkeit geprgtenNachahmung erzeugt. Dieses soziale Modell bestimmt alle sozialen Beziehungeninnerhalb der Kantschen sthetik sei es die Beziehung zwischen einem Knstlerund seinem Schler (welcher zum Gefhl seiner eigenen Originalitt aufgewecktwird), sei es zwischen dem das eigene Kunstwerk beurteilenden Knstler und sei-nem Publikum oder sei es zwischen allen sthetisch Urteilenden selbst (nicht [[]durch] Stimmensammlung und Herumfragen bei andern). Fr jede dieser sozialenBeziehungen gilt: Die

    Nachfolge, die sich auf einen Vorgang bezieht, nicht Nachahmung, ist der rechte Ausdruck frallen Einflu, welchen Produkte eines exemplarischen Urhebers auf andere haben knnen; wel-ches nur soviel bedeutet, als: aus denselben Quellen schpfen, woraus jener selbst schpfte,und seinem Vorgnger nur die Art, sich dabei zu benehmen, ablernen.75

    Damit ist auch die zu Beginn von uns gestellte Frage beantwortet: Nur ein mitHilfe der exemplarischen Darstellung sthetischer Ideen argumentierender Parla-mentsredner kann die Gefhle seiner Zuhrer mitreien, ohne dabei durch unlau-tere Manipulation ihnen die Freiheit zu benehmen.76 Allein schon an seinen dar-stellerischen Mitteln ist daher zu erkennen, da er seine Zuhrer nicht zu eineropportunistischen Nachahmung verleiten will, sondern auf deren autonome Nach-folge hofft.

    In Kants Argumentation lassen sich daher zwei Schnittpunkte ausmachen, die eserst ermglichen, die beiden sonst so heterogenen Felder der Politik und der sthe-tik in einer schnen Kunst zu verbinden: Zum einen kann allein die Schnheit einerRede diese bereits zu einem Symbol des Sittlichguten erheben, so da in den Zuh-rern ein Interesse der Vernunft geweckt wird. Zum anderen ist es jedoch gerade im18. Jahrhundert als noch kein Fernsehen die Ereignisse in alle Wohnzimmer ber-trug eine der wichtigsten Aufgaben ffentlicher Reden und Schriften, von den po-litischen Ereignissen zu berichten. Solche genuin politischen Darstellungen, die vonEreignissen erzhlen, um im Zuhrer sittliche Ideen zu erwecken, bentigen s-thetische Ideen. Auf diese Weise knnen sich in einer politischen Rede sthetischewie auch sittliche Normen ineinander verschrnken: Da die Verwirklichung politi-scher Freiheit allein mit knstlerischen Mitteln zu frdern und zu bewahren ist,kann zumindest der sittliche Politiker auf die schne Kunst der Beredsamkeit nichtverzichten.

    Das spezifische Pathos der Aufklrung: Selbstdenken, der eigenen Erfahrung undden eigenen Empfindungen bei seinem Urteil vertrauen und (anstatt in der Einsam-keit des Solipsismus zu enden) gerade auf diese Weise den Weg zur Gemeinschaft al-

    75 KU, B 139 (Hervorhebung M.A.). Zur Beziehung des Knstlers zu seinem Schler: B 200;zur Beziehung des Knstlers zu seinem Publikum: B 137; zur Beziehung der sthetisch Ur-teilenden zueinander (einschlielich der Knstler): B 135138.

    76 KU, B 216.

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    ler Menschen zu finden durchzieht die gesamte Kantsche sthetik. Ihr fester Haltund Wegweiser ist dabei das von der Natur geeichte Ma der Harmonie der Er-kenntnisvermgen, das fhig ist, die sthetischen Empfindungen aller Menschen zuvereinigen. Zu dieser inneren, genuin menschlichen Harmonie findet man wederdurch Befehle noch durch Vorschriften, denn verlassen darf man sich dabei alleinauf das eigene Gefhl der Lust und Unlust. Wie Kant daher mitten im Paragraphenber die Eigentmlichkeit des Geschmacksurteils festhlt: Es kann nie durch allge-meine Vorschriften, die man [] von Priestern oder Philosophen bekommen, oderauch aus sich selbst genommen haben mag, so viel ausgerichtet werden, als durchein Beispiel der Tugend [], welches, in der Geschichte aufgestellt wurde.77

    Womit wir schlielich wieder dort angekommen sind, wo wir begonnen hatten: beider sthetischen Betrachtung des Ausdrucks sittlicher Ideen an der Gestalt einesMenschen, sei es in knstlerischen Darstellungen oder auch am Beispiel realer Er-eignisse und historischer Handlungen einschlielich der performativen Selbstdar-stellungen des Sittlichen in den Handlungen der Politik oder auch in deren Reden imParlament.

    77 KU, B 139 (Hervorhebung M.A.). Sinngem auch schon in der Kritik der praktischen Ver-nunft: wo Kant detailreich zeigt, auf welche Weise das Erzhlen einer historischen Ge-schichte, wie z.B. die Erzhlung vom tugendhaften Widerstand eines Mannes gegen Hein-rich VIII. zugunsten der verfolgten Anna von Bolen, auf das Gemt des Zuschauers diegrte Kraft habe (KpV, A 277280).