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33348333 Michael Brose Gobao Atlantis Roman

Date post: 08-Jul-2015
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Dieses E-BOOK ist nur zum nichtkommerziellen Gebrauch bestimmt!

Michael Brose GOBAO Ein Atlantisroman

Michael Brose

GOBAOEin Atlantis-RomanVerlag Ch. Mllmann, Schlo Hamborn 2001 Alle Rechte vorbehalten Copyright by Verlag Ch. Mllmann & dem Autor Umschlaggestaltung nach einem Gemlde von M. K. iurlionis (1875 1911): Sternensonate Andante-1, 1908 ISBN 3-931156-67-23

Michael Brose GOBAO Ein Atlantisroman

ber das Buch: In khnen und packenden Bildern wird der Untergang von Atlantis geschildert. Bertram Curio, ein Mensch unserer Zeit, schafft es vermittels einer Reinkarnationstherapie, sich zu erinnern an die Jahre, da er noch als Snger Ve-Dan den Auftrag bekommen hatte, den Untergang des sagenumwobenen Kontinents vor ber zehntausend Jahren, den er in einem frheren Leben als Augenzeuge miterlebte, aufzuzeichnen. Die von ihm damals verfaten Papyri tauchen in der heutigen Zeit wieder auf, verborgen in geheimnisvollen Amphoren. Es gelingt Curio, sie zu entschlsseln. So trifft er in Ve-Dan auf sein frheres Ich, auf sich selbst. Und je mehr er entziffert, desto plastischer treten die damaligen Geschehnisse wieder vor seine Seele. Wir erleben den gewaltigen Exodus, der schlielich ins Innerste Asiens, ins "Ferne Tal" fhrt, das sich dort befindet, wo drei Gebirge es schtzend umschlieen, am Ufer jenes Meeres, das heute die Wste Gobi ist. Hier machen sich die von hohen Eingeweihten Gefhrten und Geretteten daran, eine neue, die ganze sptere Menschheit impulsierende Kultur aufzubauen. Der Autor: Als Liedermacher und Poet berstand Michael Brose (Jahrgang 1951) die wunderbaren Jahre in der DDR bis kurz vor der Wende 1989. Da er in Weimar leben konnte, betrachtete er als Glcksfall. War es doch der dort waltende poetische Geist, dem er fr seine Entwicklung viel verdankt. Vieles, was ihn bedrckte und bewegte, mute er in Liedern und Lyrik verschlsseln. In politischer Haft erkrankte er an sogenannter paranoider Schizophrenie, aus deren Umklammerung er sich u.a. mit Hilfe der anthroposophischen Medizin, insbesondere der begrifflichen Klrungen durch den Psychiater Rudolf Treichler und durch die geisteswissenschaftlichen Studien des philosophischen Werkes von Rudolf Steiner Die Philosophie der Freiheit letztlich befreien konnte. In seinem 2. Roman greift Brose auf anthroposophisches Ideengut zurck. Steiners Angaben zur Atlantis und die Darstellungen zur Evolution der Erde (Geheimwissenschaft im Umri) inspirierten zu dem Thema, insbesondere zu den Dichtungen der Gesnge und Amphorentexte. Publikationen: Kassandra (1999), Gobao (2001), Tod in Weimar (2008) im Ch. Mllmann Verlag. Schizozoikum (Gedichte & Satiren, 1999), Mein Bruder Ahriman (2002) im Bernd Dietzel Verlag, Weimar.4

Michael Brose GOBAO Ein Atlantisroman

fr Claudia, Thomas, Karl-Josef und Mircea

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Michael Brose GOBAO Ein Atlantisroman

INHALTSVERZEICHNISInhalt . Anstelle eines Vorwortes .. Prolog: Geschichte und Dichtung............................. 1. Kapitel: 4. August 2031 ..................................................... 2. Kapitel: Bertram Curio ....................................................... 3. Kapitel: Die Amphore ........................................................ 4. Kapitel: Bertram Curio II ................................................... 5. Kapitel: Mikaelia .............................................................. 6. Kapitel: Die Akte Curio und noch eine Amphore .................. 7. Kapitel: Eine Idee wird geboren ......................................... 8. Kapitel: Siglinde Sober ..................................................... 9. Kapitel: In Weimar ........................................................... 10. Kapitel: Einen Versuch wert .................................................................. 11. Kapitel: Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit .................. 12. Kapitel: Ein Pckchen und eine Reise .................................................... 13. Kapitel: Ein Brief an Overdijk ................................................................ 14. Kapitel: Die Gobao-Papyri ...................................................................... 15. Kapitel: Ihr Strme ach ihr Strme ........................................................ 16. Kapitel: Auf dem Pfauenberg .................................................................. 17. Kapitel: Der groe Ratschlu und ein Wiedersehen ................................ 18. Kapitel: Am Ufer des Gisou ..................................................................... 19. Kapitel: Neuigkeiten ................................................................................ 20. Kapitel: Der verborgene Tempel ............................................................. 21. Kapitel: Die Papyri der Weimarer Amphore ........................................... 22. Kapitel: Der Ary-Ary-Rhab ..................................................................... 23. Kapitel: Der Berg .................................................................................... 24. Kapitel: Nachricht von Achmed ............................................................. 25. Kapitel: Auf dem Weg nach Egyop ........................................................ 26. Kapitel: Die fnfte Amphore und Egyop ............................................... 27. Kapitel: In dem bewegten Jahr der Steinefluten .................................... 28. Kapitel: Der erwachende Drachen ......................................................... 29. Kapitel: Die Flut und der groe Gesang von den vier Leben Alakivas... 30. Kapitel: Das bewegte Jahr der Steinefluten ............................................ 31. Kapitel: Pieter van Bruk hat recht behalten ............................................ 32. Kapitel: Die Botschaft des Mha-No ........................................................ 33. Kapitel: Umklammert .............................................................................. 34. Kapitel: Unterwegs ins ferne Tal ............................................................. 35. Kapitel: Die siebente Welle ..................................................................... 36. Kapitel: Krosbols Geschichte .................................................................. 37. Kapitel: Im Tal ......................................................................................... 38. Kapitel: Die Zukunft ungewi ................................................................. Verzeichnis wichtiger Worte und Personen ....................................................6

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Anstelle eines Vorwortes Immer wieder wurde versucht, sich dem Thema des rtselhaften Unterganges von Atlantis zu nhern. Der Untergang eines ganzen Kontinentes in der Frhzeit der Erdgeschichte und in der Geschichte der Menschheitsentwicklung. Welche elementaren Gewalten bewirkten diese exemplarische Zerstrung und wodurch wurden sie gespeist? Wer ist in der Lage, uns Heutigen die damaligen Lebensbedingungen und die soziale Lebenskultur in einem nachvollziehbaren Licht zu schildern und zu erhellen? Drngen sich nicht Parallelen auf zu unserer Gegenwart und der nahen Zukunft? Das Geheimnis liegt eingehllt in den Papyri von merkwrdigen Gefen, sogenannten Amphoren mit heilkrftigen Wirkungen, die kurz nach der Jahrtausendwende um das Jahr 2031 von Archologen in verschiedenen Weltgegenden gefunden werden. Die Schrift jener Papyri lt sich jedoch zunchst nicht entschlsseln auch nicht von den TopComputern der Geheimdienste. Ein Auenseiter mit leidvoller biographischer Vorgeschichte ist es, der diese Mitteilungen aus einer versunkenen Kultur allmhlich zu entschlsseln lernt. Bertram Curio, ein Knstler mit reichen Anlagen, ist trotz ausgeprgter Sensitivitt und Intuition in seinem Lebensentwurf scheinbar gescheitert. Seine Biographie beginnt in der ehemaligen DDR. Nach der Trennung seiner Eltern, und ausgelst durch Repressionen des Sicherheitsdienstes, erfhrt er eine Lockerung seiner gesamten Konstitution. In psychotisch-schizophrenen Schben brechen nun mannigfaltige Visionen und Halluzinationen in sein Innenleben ein. Immer wieder sind es Bilder von Untergngen, die ihn heimsuchen. Durch ihren plastisch-bedrngenden Realittsgehalt erschrecken sie Curio derart, da dieser immer wieder die Flucht vor ihnen ergreift, und er sich spter in psychiatrischen Kliniken wiederfindet. Seine berlebensstrategien in diesen Kliniken und die verschiedenen Schicksale seiner mitleidenden Patienten werden eindrcklich erzhlt. Einige Jahre nach der politischen Wende in Deutschland 1989, trifft Curio glcklicherweise auf einen Psychiater, der einen neuen knstlerischen Therapieansatz entwickelte. Klaas Overdijk, der vor seiner Ausbildung zum Psychiater Archologie studierte, nimmt das kreative Potential seiner Patienten in den Psychosen ernst. In einer Art von Archologie der Bewutseinsschichten in diesen traumatischen Erlebnissen, sucht er zusammen mit seinen Klienten zu dem inneren Wahrheitsgehalt der Psychosen, zu deren archetypischen Urbildern vorzudringen. Durch eine vernderte innere Haltung diesem Krankheitsgeschehen gegenber, frdert er die Kreativitt der Patienten und leitet sie an, diese zerrttenden Innenerlebnisse gestaltend nach auen zu stellen, sie knstlerisch zu bearbeiten. Dadurch wandeln sie sich. Aus der Destruktivitt werden sie in gesundende Krfte transformiert und erlst. Die Patienten werden nicht vordergrndig gesund jedoch lernen sie, mit diesen Urgewalten der Krankheit umzugehen, so da sie nicht mehr ausschlielich von ihnen berflutet werden, ihnen nicht mehr nur erleidend ausgeliefert sind.

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Viele Jahre sind vergangen. Bertram Curio und sein ehemaliger Arzt Klaas Overdijk haben sich aus den Augen verloren. Doch zu Beginn der Rahmenhandlung des Romans, am 4. August 2031, bewirken drei gleichzeitig eintretende Katastrophen, da Overdijk sich an deren exakte Voraussage durch Curio vor 20 Jahren erinnert. Wie ein apokalyptischer Dreiklang rtteln sie ihn auf. Erneut studiert er Bertrams Krankengeschichte und nimmt wiederum Kontakt zu seinem Ex-Patienten und Freund auf. Im Verlauf ihrer abermaligen Begegnung kommt ihnen eine erhellende Intuition, die eine Verbindung sucht zwischen den halluzinativen Visionen und einem mglichen Zusammenhang mit den rtselhaften Amphoren-Papyri. In einem Experiment gelingt es, da Bertram Curio diese Texte letztlich entschlsselt. Bruchstcke von ihnen wehten bereits zur Zeit seiner Anfangspsychosen gewitternd durch ihn hindurch und werden jetzt beim Vergleich der Selbstzeugnisse in den Krankenakten wieder aufgefunden. Es sind Texte von derart inspirierter und magischer Sprachkraft, die das Tor aufschlieen helfen zu den Erinnerungen aus der Zeit, als Curio noch als des Knigskindes Snger VE-DAN Zeugnis ablegte vom Untergang des atlantischen Kontinentes und dem enormen Exodus zu unbekannten Welten ... In dem bewegten Jahr der Steinefluten Als sich die Gtter zrnend von uns wandten... Dem Leser bleibt berlassen, sich skeptisch distanziert (und dadurch in Sicherheit whnend) dem Geschehen von wahnhaftem Erleben gegenberzustellen oder fr mglich zu halten, da sich in diesen Grenzgebieten menschlichen Erlebens mglicherweise auch eine tiefere Art von Wirklichkeitserfahrung auszusprechen vermag, und Menschen wie Bertram Curio mitzuschwingen vermgen noch, oder schon wieder empfnglich fr eine andere Daseinsdimension die sich unserem wachen und kritischen Alltagsbewutsein entzieht ...

Carlos

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Prolog: GESCHICHTE UND DICHTUNGAll unser Wissen gleichet einer Kerze Die mhsam flackert im Gewirr der Nacht Und Dunkel ist und was man sieht ist wieder: Dunkel Geh nur zehn Schritte und dich foppt das Unbekannte: Wie dachte Jener, der von Minne sang? Wie jener Knabe, der dem Orpheus lauschte? Was flsterte das Gras zu Zeiten Echnatons? Wir gehen (wie naiv) von unserm Handeln, Unserm Fhlen aus. Wir legen unsre Triebe, Unsre Angst den Schpfern lngst versunkener Reiche unter Und messen ihre Weisheit gar an dem, Wie wir von Wissen uns was gaukeln. Doch da wo ndrung ist, wird ALLES anders. Und nie im starren Takte frit die Zeit den Raum, Der Raum die Zeit. Vielmehr erst ffnen sich Im Sphrentanze wie sich der Rose Bltter ffnen die onen Und jede schwingt in andrem Rhythmus, blht Nach eigenen Gesetzen. So ist Geschichte eines jener Mrchen, das mit dem grten Flitter von Wahrscheinlichkeit Uns unsre Herkunft dreist im Wind befestigt. Und wir beruhigen uns schnell bei ihrem Trdel, mit dem Sie uns ihr Trugbild glauben macht. Schon wie wir selbst als Kind gefhlt, Bleibt uns verborgen. Im Nebel des Gewesnen ist Erinnern: Wahn. Wir hren nicht den Schritt der Wirklichkeit, Begreifen kaum die Reste ihrer Spur. Und so gesellten sorglich uns die Gtter Dem Wissensdrange Sinn fr DICHTUNG bei. Denn wo uns Scherben spttisch-stumm verhhnen, Hilft Phantasie der matten Seele auf. Ihr Flug erschafft, was wir entbehren: Der Wahrheit Kleid das selbst phantastisch glnzt.

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Kommt also lat uns wacker schweifen Ins groe dunkle Reich: ES WAR EINMAL ... Spannt khn die Flgel frchtet nicht die Brandung Des riesgen Meeres des Vergangenseins. Lat die Pantoffeln an bleibt nah am Ofen, Legt Leckereien hin und einen guten Trunk Und schliet die Augen, schiebt beherzt die Riegel Vom Tor ins Innre eurer Seele fort. Zehn Schritt hinein schon funkeln fremde Sterne, Geschmeide sinds im Wipfel OUGURRES Darber BAOLIN wer wei es anders? GOBAOS Himmel leuchtet schon fr euch. Darunter ALAKIVA - jene blaue Kugel, Die euch als Erde heute sicher trgt. Nun stlpt die Meere um und holt hervor das Feste, Das mchtge Eiland wie es einstmals war. Seid ihr schon furchtsam? Ist es gar zu fremd? Ihr lehnt am Ofen nichts kann euch geschehn! GOBAO aber mancher nennts ATLANTIS Entrollt sein Schicksal eurem Traumesblick.

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1. Kapitel: 4. AUGUST 2031

O

verdijk fhlte sich nicht besonders, als er aufwachte. Vermutlich war die Sommergrippe, die ihn in manchen Jahren heimsuchte, wieder im Anzug. Er wrde am besten gleich nach dem Frhstck eine Aspirin schlucken. Im ganzen Haus herrschte ungewohnte Stille. Joan war fr vier Tage zu einer Freundin nach Hamburg gefahren. Er angelte nach seinen Pantoffeln. Mal sehen, was im Khlschrank zu finden ist. Die Kaffeemaschine lie ihr bliches cholerisches Blubbern vernehmen, als er im Bad das Schrnkchen durchwhlte und wieder mal sein Rasierzeug nicht fand. Joan hatte aufgerumt. Er unterdrckte den leisen rger und folgte willig SPINOZA, dem Kater, der ihm herausfordernd und klagend zwischen den Beinen herumstrich. Jawohl Verehrtester, Sie kriegen ihr Futter. Gleich, sofort, augenblicklich, ja doch, ja doch... Spinoza ging zielsicher den Weg voraus. Postierte sich vor seiner Schale auf der Terrasse, krmmte tnzelnd die Vorderpfoten, rechts, links, rechts, links...chrr, chrr, miau, mau, mau, maunz, chrr ... Als er heftig schnurrend fra, das machte er immer so, alles gleichzeitig, schnurren und fressen, ging Overdijk wieder ins Bad sein Rasierzeug suchen. Er hatte in der Kche das Radio eingeschaltet. Die Kaffeemaschine, erbittert ber die Konkurrenz, blubberte so laut sie konnte. So hrte Overdijk nur die Hlfte der Acht-Uhr-Nachrichten. Ah, da war sein Rasierzeug und sogar dort, wo es immer lag. ... DIE BESETZUNG DURCH DIE CHINESISCHE ARMEE HAT GESTERN NACHT PUNKT 23 UHR MEZ BEGONNEN... Overdijk horchte auf. Er lief in die Kche, stellte das Radio lauter. ... BEREITS DER 20. BREITENGRAD (NRDLICHER BREITE) VON ELITETRUPPEN BERSCHRITTEN. BETROFFEN SIND BIS JETZT LAOS UND NORD-VIETNAM. AUCH VON DER GRENZE ZU THAILAND WIRD VON HEFTIGEN KMPFEN BERICHTET. WIR MELDEN UNS WIEDER MIT EINER SONDERSENDUNG GEGEN 8.30 UHR. DAS WETTER ... Overdijk stellte das Radio ab, go sich mechanisch seinen Pott mit Kaffee voll, rhrte um, obwohl er weder den gewohnten Zucker, noch die Sahne dazugegeben hatte, lief im Pyjama auf die Terrasse und lie sich in den Liegestuhl fallen. Das riecht nach einer Katastrophe, flsterte er dem von seiner Futterschale verstndnislos aufblickenden Spinoza zu. Er beschlo, am Strand von Scheveningen zu frhstcken und sich unterwegs Zeitungen zu kaufen. Er brauchte jetzt Bewegung. Unrasiert zog er sich eilig an, strich Spinoza kurz ber den Rcken und verlie das Haus. Ein khler, regenfeuchter Wind wehte ihm vom Meer entgegen. Er begegnete nur wenigen Menschen auf der breiten Allee. Fahrradfahrern, einem Postboten mit seinem Wgelchen. Rumpelnd berholte ihn die Straenbahn. Kurz vor dem pompsen Hotelpalast an dem sie endete um in einer Schleife wieder nach Den Haag zurckzukehren, bog er halbrechts ab, erreichte bald die Strandpromenade. Die meisten Restaurants hatten noch geschlossen.11

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Einige hundert Meter jenseits der Meeresbrcke saen schon wenige Frhaufsteher an den im Freien stehenden runden Tischen von Van Galens Snack-Bar. Der Kellner lehnte in langer, weier Schrze in der Tr. Wie immer? Wie immer! Die See wirkte in mrrischem Grau irgendwie brodelnd. Viele kleine Wellenkmme jagten sich, fielen bereinander her, verschwanden, entstanden, quirlten herum in chaotischer Zerfahrenheit. Das kam von dem Wind, der alle Augenblicke seine Richtung zu ndern schien, mal kurz heftig an einem nicht gut verschnrten Sonnenschirm ri, Pappbecher ber den Ufersand scheuchte, dann wieder irgendwo lustlos am Boden zischelte, schlielich fr Momente ganz verstummte, um gleich darauf erneut loszufauchen. Overdijk schlrfte seinen Kaffee, a seine Rhreier, brockte die Hlfte des Croissants ein paar hungrigen Spatzen hin, brannte sich endlich eine Zigarette an und holte die Zeitungen hervor. Zuerst DE HAAGSCHE KURIER. Gleich drei Schlagzeilen unterteilten in breiten Lettern das Titelblatt. EINMARSCH CHINAS IN VIETNAM UND LAOS, las er oben. STARKES ERDBEBEN IN ISTRIEN UNTERGANG VENEDIGS IST BESIEGELT, stand in der Mitte. OTTAWA STRFALL IN KANADISCHEM KERNKRAFTWERK, strzte ihm ganz unten noch entgegen. Was fr ein Tag, murmelte Overdijk lautlos vor sich hin. Dann sah er sich verstohlen um. Hatten die anderen Gste schon Zeitung gelesen? Aber niemand von denen sah sonderlich beunruhigt aus. Overdijk zahlte. Hastig stand er auf. Er wollte laufen, nur laufen und laut nachdenken knnen. Er verlie die breite mit Platten belegte Promenade, ging hinunter zum Strand, stapfte durch den feuchten Sand, nahe am Ufer. Er lief und lief, schttelte fter den Kopf, redete halblaut mit sich selbst, den HAAGSCHEN KURIER in der Rechten, die andern Zeitungen noch ungelesen in der Manteltasche. Auer den Titelzeilen hatte er noch nicht weitergelesen. Eine Erinnerung war in ihm aufgeblitzt. Sie hatte durch sein betroffenes Brten, whrend er den Spatzen geistesabwesend bei ihrer eifrigen Futtersuche zusah die Zeitung noch aufgeschlagen vor sich auf dem Tischchen Zeit gehabt, sich aus seinem Unbewuten zu lsen und aufzusteigen und erreichte ihn schlielich in seinem Grbeln, kurz nachdem er gezahlt hatte, und brachte ihn, kaum da er sie erkannte, dazu, da er aufsprang und davonhastete und lief und lief, und murmelte, kopfschttelte, unglubig-glubig und immer wieder ... was fr ein Tag, was fr ein Tag ... vor sich hinsagend, als wre dieser Satz sein Morgengebet. So schnell wre ihm die merkwrdige Erinnerung auch nicht aufgestiegen, wenn er nicht erst vor wenigen Wochen wieder mal in einer der Akten geblttert htte. Einige Akten, und zwar die von seinen bemerkenswertesten Patienten, hatte er bei sich zu Hause in dem mchtigen alten Bcherschrank seines Studierzimmers untergebracht. Das war nun auch schon wieder bald drei Jahre her.12

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Die psychotherapeutische Praxis in der LANGE VORHOUT, die letzte Zeit gemeinsam mit Doktor Jammes gefhrt, wurde von diesem damals ganz bernommen. Er, Overdijk, behielt sich nur die weitere Betreuung des KABOUTERHUIS vor und fand ansonsten endlich Zeit, sich seinem Buch DIE SECHSTE POSAUNE zu widmen, fr das er schon vor sieben Jahren, in jenem denkwrdigen Frhjahr, als die AMPHORE gefunden worden war, die ersten Ideen niederschrieb. Frhliches Kreischen und Schreien von Kindern ri ihn aus seinen Grbeleien. Sie rannten mit nackten Fen an ihm vorbei, sprangen den leckenden, flachen Wellen entgegen, verfolgten deren Rckzug, nahmen gleich darauf Reiaus, wenn diese sich wieder nherten, und trieben so ihr bermtiges Spiel, von zwei lteren Erzieherinnen lchelnd beobachtet und beaufsichtigt. Ganz in Gedanken war er, ohne es zu merken, weit den Strand entlang gelaufen. Seine Schuhe waren na. Die Zeitung hielt er noch immer in der Rechten. Das Ensemble flacher Backsteinbauten des Kindersanatoriums blinkte ihm hinter den Dnen entgegen. Mein Gott, wie spt ist es? Er mute umkehren. Gegen zehn wurde er im KABOUTERHUIS erwartet. Es blieb ihm noch eine Dreiviertelstunde. Er berlegte, was er zuerst tun sollte. Joan anrufen? Mit Jammes sprechen, oder die Zeitungsartikel der drei Hiobsbotschaften erst einmal lesen? Er beschlo, im KABOUTERHUIS anzurufen und Krasczewski zu bitten, die Besprechung ohne ihn abzuhalten. Spinoza sah ihn vorwurfsvoll, aber schweigend an, als er im Hausflur die nassen Schuhe von den Fen zog. In der Kche war das Plastik-Milchknnchen, das er vergessen hatte, wegzustellen, durchlchert. Spinoza sah ihm mit unschuldiger Miene zu, als er es, da es leer war, in den Mlleimer warf. So, so, Verehrtester. Beliebten Sie, es anzubohren, hin und her zu kugeln und alles ratzeputz wegzulecken, was? Nun, dann knnen Sie nicht mehr allzu hungrig sein, oder? Spinoza tat, als habe er nichts gehrt und stolzierte ins Wohnzimmer. Als er den Artikel ber Chinas Invasion berflogen und gerade die ersten Stze von der berflutung Venedigs gelesen hatte, klingelte das Telefon. Joan klang aufgeregt. Hast Du schon Nachrichten gehrt? Ja! Auch die letzten vor einer halben Stunde? Nein, wieso? Joans Stimme zitterte: Klaas, die Chinesen haben auch Birma angegriffen und sind in Nordkorea einmarschiert... Joan, meinst Du, da das was greres wird? Ich wei nicht, Klaas, ich wei nur, da ich Angst habe. Niemand tut etwas. Auer Protesten und Verlautbarungen rhrt sich nichts. China ist der grte Handelspartner der USA und Europas, Klaas. Sie wollen den groen Tiger nicht reizen, sagen sie. Es gehe um regionale Probleme. So stellen sie das hin, es ist nicht zu fassen! Mir ist ganz schlecht. Es ist fast wie mit Deutschland, Klaas, vor beinahe hundert Jahren. Die Deutschen sind damals in sterreich und in der Tschechoslowakei einmarschiert, haben Polen berfallen und niemand stand dagegen auf. Ich habe so ein komisches Gefhl bei der Sache. Was sollen wir blo tun?13

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Joan, Joan, hre mir zu, beruhige Dich erst mal; und dann ist es am besten, Du kommst so schnell wie mglich nach Hause. Ja, Klaas, so denke ich auch. Ich nehme den nchsten Zug. Bis heute Abend, Lieber. Klaas hngte auf, brannte eine Zigarette an. Die Erinnerung scho wieder in ihm hoch, die ihn vom Tischchen von Van Galens Snack-Bar aufgejagt hatte. Natrlich, er wollte nachsehen. Er ging ins Studierzimmer, suchte im groen Bcherschrank. Da standen ja die fnf Patienten-Akten: Yvonne ter Ver Franz Eden Otto Mieler Jennifer Jordan Bertram Curio ah, endlich, da war sie. Er bltterte hastig die numerierten Anamnese-Abschnitte durch: bald fand er die Stelle, die ihm im Gedchtnis hngen geblieben war. Unter 17. Juni 2009 stand zu lesen: Heute ist mein vierzigster Geburtstag. Und noch immer ist meine Krankheit nicht richtig berwunden. Overdijk behauptet, es wre meine letzte Krisis gewesen. Doch ich bin skeptisch. Hatte letzte Nacht, wie meist um meinen Geburtstag herum, einen merkwrdigen Traum. Er ist insofern auergewhnlich, als er von Zuknftigem handelt. Zukunftstrume habe ich selten. Meistens trume ich von der immer gleichen, schrecklichen Erdbebenkatastrophe. Und das so plastisch und realistisch, da ich oft tagelang die furchtbare Angst, die ich jedesmal dabei empfinde, nicht abschtteln kann. Diesmal sagte mir eine Stimme, es sei Anfang August des Jahres 2031. Sie klang wie aus dem Radio. Dann fuhr sie fort: In Kanada sei in einem Atomkraftwerk ein Super-Gau passiert, Venedig sei untergegangen und China habe einen groen Krieg angefangen. Dann schwieg die Stimme und ich sah mich ber einem wsten Wasser schweben, aus dem die pyramidale Spitze des Campanile vom Markus-Platz von Venedig ragte. Da ich in groer Hhe schwebte, bekam ich pltzlich Angst, begann zu fallen und strzte mit enormer Geschwindigkeit auf das Wasser zu. Davon wachte ich schweigebadet auf. Obwohl mir das hier nicht wie ein zu meiner Krankheit gehriger Traum vorkommt eher scheint es eine Art Reflex auf halbverdautes Science-Fiction-Zeugs zu sein, das ich manchmal lese schreibe ich es mit auf, und halte mich damit an das Versprechen, das ich Overdijk gab, ruhig auch Dinge zu notieren, die ich selbst fr unwichtig halte. Overdijk schlo die Augen und sah Curio vor sich, wie er an seinem letzten Tag im KABOUTERHUIS in seinem Arbeitszimmer schweigend, fast bedrckt, aus dem Fenster starrte. Was wirst Du jetzt unternehmen, Bertram? Ich wei nicht recht, Klaas. Mit dem Literaturstipendium kann ich drei Jahre, bescheiden zwar, aber sorgenlos leben. Ich dachte, ich nehme mir ein Zimmer in Weimar und arbeite meine Trume auf. Du hast mich gelehrt, mit ihnen umzugehen. Sie sind nicht verschwunden. Frher war das mein innigster Wunsch gewesen. Ich wehrte mich gegen sie umsonst. Seit ich sie akzeptiere, bin ich ruhiger geworden.14

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Du sagst, ich werde mein Leben lang so trumen. Ich bin nicht gerade begeistert Aber ich habe begriffen, da Nicht-mehr-trumen und Gesundsein nicht unbedingt zusammengehren, sondern mit ihnen richtig umgehen knnen, Heilung verspricht. Sicher hast Du recht. Dennoch bleibt meine Angst. Ich will es versuchen. In Weimar hat alles angefangen, vielleicht ist es auch der rechte Ort, fr immer damit fertig zu werden. Spinoza zwngte sich durch die nur angelehnte Tr, maunzte leise und sprang auf den Schreibtisch. Overdijk bltterte zurck an den Anfang der Akte, fand den chronologischen Lebenslauf. Curio war 1969 geboren, also inzwischen schon 62 geworden. Wie es ihm wohl jetzt ging? Ob er noch lebte? Er hatte das KABOUTERHUIS 2012 verlassen, vor fast 20 Jahren. In den hinteren Teil der Akte war ein ganzer Packen Briefe eingeheftet. Vor ca. 14 Jahren war ihr Kontakt, nach immer sprlicheren Briefen in immer greren Abstnden, schlielich ganz eingeschlafen. Overdijk fand in einem der letzten Briefe eine Telefonnummer. Er whlte sie und wartete gespannt. Die Frauenstimme klang sehr weich: Sommer! Bitte, wer ist da? Overdijk erklrte ihr den Grund seines Anrufs. Nein, sagte sie, Herr Curio wohne nicht mehr hier. Ja, sie htten noch Kontakt, sie shen sich mehrmals im Monat. Er sei vor einem Jahr in Frhrente gegangen und arbeite nebenbei noch an drei Abenden in der Woche am Theater. Ja, als Einlakontrolle. Ob er, Overdijk, seine Telefonnummer wolle? Es gehe ihm gut. Er sei seit zwanzig Jahren nicht mehr krank geworden. Er wird sich bestimmt freuen, von Ihnen zu hren, Professor... Overdijk beschlo, Curio spter anzurufen. Joan wrde, wenn sie gleich den nchsten Zug genommen hatte, in zwei Stunden ankommen. Er wollte noch etwas einkaufen und sie dann von der Central Station abholen. Als er sein Haus in der Middelburgsestraat verlie, die Amsterdamsestraat vorlief, den Badhuisweg berquerte und schlielich die Nieuwe Park Laan erreichte, hielt gerade die Eins in Richtung Stadtzentrum. Overdijk faltete den Haagse Kurier auseinander und las den Artikel ber Venedigs Untergang zu Ende: Ein Seebeben in der oberen Adria im Golf von Venetien habe eine groe Flutwelle ausgelst. Sein Epizentrum befinde sich unweit der Kste von Istrien zwischen Piran und Novigrad. Es habe an Strke die beiden letzten groen Beben in Italien, 1908 in Messina auf Sizilien und 1915 in Arezzano, in der Nhe Roms, bei weitem bertroffen. Experten sprechen von einem Rtsel, da das Beben in einem als tektonisch ziemlich sicher geltenden Bereich stattfand. Richtiger sei es, von einer Seebebenserie zu sprechen. Sie habe gestern Abend mit leichten Erschtterungen begonnen - und gegen ein Uhr Morgens ihre grte Strke erreicht. Betroffen sei vor allem Venedig und sein Industriestandort Mestre, aber auch Chioggia, Triest und sein flaches Umland stnden teilweise unter Wasser. Bis in die frhen Morgenstunden wurden noch ber dreiig Nachbeben gemessen. Nach ersten Schtzungen fielen der Katastrophe bis jetzt ca. 150 000 Menschen zum Opfer. Damit steht es nach dem groen Beben von Kansu 1920 in China, bei dem 180 000 Tote geschtzt wurden, an zweiter Stelle in der Geschichte bekannter Beben. Schon gestern Abend gegen 21 Uhr war mit umfangreichen Evakuierungsmanahmen begonnen worden.

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Solange der Verbindungsweg mit dem Festland, der Ponte della Liberta, sowie der Eisenbahnweg Ponte della Ferrovia noch befahrbar waren, seien pausenlos alle erreichbaren und beschlagnahmten Fahrzeuge, sowie im 20 Minutentakt fahrende Sonderzge zur Rettung von berlebenden eingesetzt worden. Schiffe, Boote, ja selbst die Gondeln transportierten ununterbrochen Katastrophenopfer aus der Innenstadt, vom Lido, von Murano und den nrdlichen Lagunen aufs Festland. Kurz nach ein Uhr seien dann die Strae, Ponte della Liberta und der Schienenweg, Ponte della Ferrovia, die beide die krzesten Verbindungen nach Mestre seien unpassierbar geworden. Die Rettungsarbeiten seien noch immer im vollen Gange. Pausenlos suchen Boote das Stadtinnere nach Opfern ab. Mestre selbst mute zum groen Teil gerumt werden. Das Hochwasser erstrecke sich inzwischen bis in die Nhe Paduas. Ausnahmslos alle in der Adria kreuzenden Schiffe haben ihre Hilfe angeboten und seien unterwegs zum Katastrophenort. Hubschrauber und Wasserflugzeuge untersttzten die Bergungsaktionen. Overdijk sah hoch. Er mute aussteigen. Station Korte Voorhout. Es war frchterlich. Er wrde mit Joan heute Abend die Nachrichten im Fernsehen anschauen mssen. Er lief die Korte Voorhout entlang und bog dann zur Lange Voorhout ein. Bald kam er mit zwei vollen Beuteln wieder aus dem Supermarkt heraus. Die Lange Voorhout war fr diese Zeit merkwrdig menschenleer. Er kam am Antiquariat OUD en GOED vorbei, drckte die Klinke und vom Trgong gerufen, erschien Pieter van Bruk in der Tr zu den hinteren Rumen. Ah, Professor, Sie sinds!, rief van Bruk mit seiner singende Stimme erfreut aus. Treiben Sie die Neuigkeiten von heute auch um? Eine so schlimm, wie die andere. Und alles an einem einzigen Tag. Er bat ihn ins hinterste Zimmer, das wie alle anderen vier Rume bis unter die Decke mit Bchern vollgestopft war. Es hatte ein breites Fenster zum Hof hinaus. Davor standen zwei alte Ungetme von Sessel und ein zierlicher, geschnitzter indonesischer Tisch. Van Bruk stellte Gebck darauf, zwei Tassen und go Kaffee ein. Wenn Sie rauchen wollen, dann rauchen Sie, Professor. Ich wei, da ihnen der Kaffee ohne Zigarette nicht halb so gut schmeckt. Ich selbst habe es vor ein paar Jahren aufgegeben. Aber komischerweise rieche ich den Duft von Zeit zu Zeit noch gern. Was glauben Sie, wird passieren, Pieter?, fragte Overdijk zwischen zwei Zgen. Pieter van Bruk war frher, bevor er Overdijk nach dem Tod von dessen Eltern das von ihnen geerbte Antiquariat abgekauft hatte, Journalist gewesen. Auslandskorrespondent von zwei hollndischen und einer belgischen berregionalen Zeitung. Unter anderem hatte er mehrere Jahre in Peking gelebt. Auch nach seiner Pensionierung verfolgte er leidenschaftlich das aktuelle politische Geschehen in der Welt und es war nicht das erste mal, da er mit seinem Freund Overdijk Ereignisse im Weltgeschehen ausfhrlich diskutierte. Er war ein nchterner Kopf, allem Mystischen und Mythischen abgeneigt. Die unmittelbare Realitt sei schon geheimnisvoll genug, pflegte er lachend zu erwidern, wenn ihn Overdijk fr seine esoterischen Studien erwrmen wollte.

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Was passieren wird, fragen Sie, Professor? Ich wundere mich eigentlich nur, wieso die Chinesen erst jetzt ihrem schon lange gehegten Expansionsdrang nachgeben. Sehen Sie, im letzten Jahrhundert, da hatten sie noch alle Hnde voll damit zu tun, ihren Lebensstandard dem japanischen, amerikanischen und europischen anzugleichen. Und wie Sie wissen, haben sie es auch geschafft. So gegen 2010 war es soweit. Schon in den neunziger Jahren, so ab 1994, schrieben sie jhrlich zweistellige Zuwachsraten. Und wie sie dennoch ihre kommunistischen Grundideen beibehalten konnten, wie sie es fertig gekriegt haben, ihre soziale Philosophie so flexibel zu halten und den modernen Erfordernissen anzugleichen, mu man schon genial nennen. Schlielich sind sie, seit dem Sturz der Diktatur nach Castros Tod auf Kuba, der einzige briggebliebene kommunistische Staat auf der Welt. Professor, ich sage ihnen nichts Neues: Wir sind inzwischen elf Milliarden Menschen auf der Erde. Trotz globaler Wachstumsbeschrnkungen, seit der Pille fr die Mnner, der weltweiten Frderung von Einkindfamilien, der Reform der Verhtungspolitik der katholischen Kirche und vielem anderen mehr. Ohne all das wren wir wahrscheinlich doppelt so viele. Aber dreieinhalb Milliarden davon leben in China, das damit seine Grenzen erreicht hat. Logisch wre es gewesen, wenn der groe Tiger Ruland angegriffen htte. Das ist im mongolischsibirischen Bereich noch immer so ziemlich ein Raum ohne Volk, whrend China ein Volk ohne Raum ist. Doch die Taktik der Chinesen denkt tiefer. Ruland, das noch immer an der maroden Erbschaft seiner kommunistischen ra herumdoktert, ohne so recht auf einen grnen Zweig zu kommen, hat seltsamerweise zu viele Sympathisanten unter den anderen Gromchten. Zugegeben, sie haben endlich ein menschliches soziales Netz einrichten knnen. Niemand mu dort mehr hungern. Aber gemessen an dem chinesischen Wirtschaftswunder, sind Rulands Erfolge eher dem Gang einer Schnecke vergleichbar. Birma, Laos, Thailand, Vietnam sind kleine Fische nicht besonders freundlich gesinnt gegenseitig, aber mit intakten konomischen Systemen. Von Korea ganz zu schweigen, das ja Japan seit Jahren erbitterte Konkurrenz macht. Es kommt mir vor, wie eine Expansionsbung, dieser berfall. Mglich ist er nur gewesen, weil China in diesen Lndern schon seit Jahren in weiten Bevlkerungskreisen wachsende Sympathien geniet. Keine Arbeitslosigkeit, stabile und niedrige Mieten und trotzdem ein ganz akzeptabler Lebensstandard, sind Dinge, die schon so manchem, von der freien Marktwirtschaft Gebeutelten, zu denken gegeben hat. Es ist ein Versuch. Und der Vergleich mit dem Dritten Reich ist gar nicht so abwegig. Niemand von den anderen Gromchten wird im Ernst daran denken, China deswegen den Krieg zu erklren. Man wird abwarten, halbherzig protestieren, Regierungserklrungen abgeben. Und dabei bleibt es. Ich halte es durchaus fr mglich, da wir bald einen russisch-chinesischen Krieg haben werden. Pieter van Bruk schwieg. Overdijk sah geqult aus dem Fenster. Pieter, die Atomwaffen sind weltweit verschrottet, aber ein Problem wre es sicherlich nicht, heimlich wieder welche herzustellen. Das Wissen ist einmal da! Da haben Sie ganz recht, Professor. Aber auch die konventionelle Kriegstechnik Chinas ist der Rulands lngst weit berlegen.

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Ach Du meine Gte, gleich halb sechs! In einer Viertelstunde kommt Joan mit dem Zug aus Hamburg an. Ich mu mich beeilen! Overdijk sprang auf und strzte aus dem Laden. He, Professor, ihre Beutel, rief ihm van Bruk nach. Overdijk ergriff sie dankend und eilte zum Bahnhof. Als er zgig die groe Halle durchquerte, sah er an der Anzeigetafel, da die Ankunft aus Hamburg sich um zehn Minuten verspten werde. Es blieben also noch vier Minuten. Endlich rollte der Euro-Trans-Rapid aus Deutschland am Gleis 3 ein. Gleich nach den 20 Uhr Nachrichten zeigte das Fernsehen in einer Sondersendung des Auslandmagazins ausfhrlichere Bilder von den drei Katastrophen. Sie wirkten, man merkte es sogar dem Berichterstatter an, wie ein Schock, wie ein warnendes Menetekel auf das aufgestrte Bewutsein. Joan war ihm auf dem Bahnsteig entgegengestrzt. Sie umarmten sich wortlos. Joan weinte leise. Sie nahmen ein Taxi. Joan wollte nichts, als nach Hause. Und hier saen sie nun vor dem Fernseher, versuchten, ihre traumaartige Betroffenheit zu kanalisieren, indem sie, begierig auf Konkretes, die Sendung verfolgten. Zuerst kamen die Bilder aus China. Da die Chinesen Nachrichtensperre verhngt hatten, war man auf Satellitenaufnahmen und heimlich aus dem Krisengebiet geschmuggelte Videokassetten angewiesen. Viele Journalisten aus Europa und Amerika waren beim Vormarsch der Chinesen verhaftet und an unbekannten Orten interniert worden. Dem Westen versprach man, da sie nach einigen Formalitten in ihre Heimatlnder abgeschoben werden wrden. China hatte noch vor einigen Wochen in seiner Sdprovinz Guangxi ein groes Militrmanver veranstaltet; auerdem war der Zusammenzug starker Truppenverbnde um Kunming beobachtet worden. Da China aber des fteren mit Vorliebe Manver an seiner Grenze zu Vietnam in den letzten Jahrzehnten abgehalten hatte, wunderte es niemanden, zumal wegen dem Spannungsverhltnis zwischen beiden Vlkern, das seit dem Ende des Vietnamkrieges im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, nie ganz zur Ruhe gekommen war. Vietnam war hauptschlich durch die chinesische Marine besetzt worden. Bodentruppen drangen mit unzhligen Panzern, nachdem sie Nordvietnam berrollt hatten, unterhalb von Hanoi in Laos ein und hatten schon am spten Nachmittag Thailand erreicht. Burma wurde massiv aus der Luft angegriffen, whrend ein Teil der vorrckenden Bodentruppen ber Thailand von Sden her eindrang. Korea wurde zu Wasser, zu Land und aus der Luft attackiert. Das Chinesische Fernsehen begrndete die Annexion damit, da die betroffenen Lnder im Begriff gewesen seien, eine militrische Allianz gegen Grochina zu bilden, mit dem Ziel, China frher oder spter, mit heimlicher Untersttzung der USA und Westeuropas, anzugreifen, da China diesen Mchten, wegen seiner blhenden Wirtschaft und dem leuchtenden Weg des Kommunismus ein Dorn im Auge sei. Dem habe das Land, als einzige, wahre Hterin des Marxismus, entgegentreten mssen. So etwas kann man auch nur den Chinesen weismachen!, sagte Joan wtend. Das reicht auch. Die Meinung der brigen Welt war ihren Machthabern noch nie wichtig, antwortete Overdijk.

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Dann kamen die Bilder von Venedig. Luftaufnahmen von einem Rettungsflugzeug, das Schlauchboote, Schwimmwesten und Verpflegungspakete ber dem Gebiet abwarf. Es sah nicht ganz so aus, wie in Curios seltsamen Traum vor fast zwanzig Jahren. Der Campanile war noch halb zu sehen, ebenso der obere Teil der Dcher der Markuskirche und des Dogenpalastes. Einige Kirchenspitzen, Dcher grerer Palste. berall wimmelte es von Booten, groen und kleinen, bis zu den Gondeln. Der Sprecher sagte, da immer noch leichtere Nachbeben registriert wrden. ber die Ursachen wisse man bis jetzt nach wie vor keine Erklrung. Endlich kam der Bericht von Ottawa, der beiden, Joan und Klaas bis jetzt gar nicht recht zu Bewutsein gekommen war. Von einem Gau war bis jetzt vorsichtig die Rede, einem Strfall, mglicherweise stehe er an Konsequenzen dem von Tschernobyl im letzten Jahrhundert nicht nach. Was heit hier: m g l i c h e r w e i s e, regte Joan sich auf. Und wenn er nur halb so schlimm ist, reicht es auch noch!, rief Klaas aus. Das betroffene Gebiet liege etwa 150 Kilometer nordwestlich von Ottawa und sei zunchst in einem Radius von 6o Kilometern grorumig abgesperrt. Alle in diesem Gebiet lebenden Einwohner wrden evakuiert. Der Verlauf der radioaktiven Wolke werde noch erforscht ... Das Telefon klingelte. Valentina, die einzige Tochter der Overdijks war am Apparat. Tientje, wie geht es Dir?!, rief Joan in den Hrer, fast schrie sie es. Wie ist das Wetter in Florida? Gott sei Dank, da Du anrufst. Hast Du schon Nachrichten gehrt? Deshalb rufe ich an, Mama. Aber bitte reg Dich nicht auf! Ich bin nicht in Florida! Waaas? Nicht? Wo zum Kuckuck steckst Du dann? Klaas sah sie fragend an. Joan stellte auf Lauthren. Bitte bleib ganz ruhig, lie sich Tientje wieder vernehmen. Ich bin mit Freunden nach Kanada eingeladen worden fr ein paar Tage. Ich habe mich gefreut: wollte mir die Strae ansehen, wo Paps gewohnt hat und die Uni, in der er studierte. Jetzt kommen wir hier nicht raus. Um Panik zu vermeiden, haben sie Ottawa unter Quarantne gestellt. Der Ausnahmezustand ist ausgerufen worden. Vor dem Verlassen der Stadt, was nur fr die erlaubt ist, die nicht zurckkehren, also nach Hause wollen, mu man sich auf Strahlenschdigung untersuchen lassen. Ich komme also erst nchste Woche nach Hause ... Die Leitung wurde unterbrochen. Sicher telefonierte halb Ottawa. Joan sank auf den Stuhl neben dem Telefontischchen. Klaas schwieg erschttert. Morgen rufe ich Curio an, dachte er. Morgen, gleich morgen.

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2. Kapitel: BERTRAM CURIO

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verdijk ist ein merkwrdiger Mensch. Ich knnte auch Klaas sagen. Wir sind inzwischen per Du. Aber hier bei meinen Erinnerungen, zu denen er mich angeregt hat, ist mir Overdijk lieber. Irgendwie verhilft es mir zu mehr Sachlichkeit, seinen Familiennamen zu verwenden. uerlich ein typischer Hollnder. Wasserhelle Augen, schmaler Kopf, schiefe Zhne; lange, schlaksig herumschlenkernde Glieder, aufreizend legerer Gang. Geistig beeindruckt mich seine auerordentliche, aber warmherzige Wachheit. Und die befhigt ihn, zuhren zu knnen. Ich meine wirklich zuhren. Und was fast noch wichtiger ist: nicht zu urteilen. Eigentlich habe ich es satt, immer wieder diese Anamnesen zu verfertigen, die bis heute nichts gebracht haben auf die aber alle Psychotherapeuten ganz versessen zu sein scheinen. Es wird auch das habe ich mir geschworen das letzte Mal sein. Punkt. Doch wer Overdijk kennt, wei, wie schwer es ist, ihm etwas abzuschlagen. Schreib auf, was Dir einfllt. Achte nicht auf Ordnung und Reihenfolge. Das hemmt und verschttet blo. Erzhle nur, was Du erzhlen willst. Zwinge Dich zu nichts ... Nun, das hat er nett gesagt und auch schlau es steckt beinahe ein therapeutisches Prinzip darin. Nicht nur fr Anamnesen, sondern fr alles Schreiben. Jedenfalls bei mir. Pardon, ich mu mich vorstellen: Curio, Bertram. Geboren am 17. Juni 1969, in einem Dorf bei Weimar, ehemalige DDR. Overdijk wird hinnehmen mssen, da ich diesen Faktenkram etwas ironisch wiederkue. Mein Geburtsdatum ist nicht irgendeins, sondern wie mir scheint, auch schon eine Ironie. Sozusagen der 16. Jahrestag des Juni-Aufstandes 1953 in der damals noch nicht ideologisch durchsklerotisierten DDR. Und kurz vor dem 8. Jahrestag des Mauerbaus. berhaupt zu einem quirligen Zeitpunkt bin ich auf die Welt geraten: Studentenunruhen, Prager Frhling, Jesus Poeple, Vietnam-Krieg ... alles Ereignisse, deren Vibrationen irgendwie in mir gewirkt haben mssen. Hier und heute erscheint das alles ziemlich exotisch. Den guten Hollndern knnte ich genauso gut von irgendeinem Guerilla-Aufstand in Panama erzhlen, oder einem Erdbeben auf den Fidschi-Inseln ... Wieso kann ich Erdbeben nicht genauso gelassen, wie Marmelade oder Scheveningen oder Bronchitis hinschreiben? Das wei ich bis heute nicht. Aber es ist so. Eine geheimnisvolle Beunruhigung geht fr mich von diesem Wort aus; ja ich habe eine ganze hbsche kleine Sammlung solcher Worte, die mich erschttern, so oft ich sie auch benutze. Dazu komme ich noch. Achte nicht auf Ordnung und Reihenfolge... Sehr gut. Habe auch gar keine Lust, gleich von der DDR mit ihren erlaubten und verbotenen Jahrestagen zu erzhlen. Auch nicht von Erdbeben und anderen Problemen. Es sei mir gestattet, mich erst mal in der Gegenwart umzusehen. KABOUTERHUIS das Wort ist wahrlich nicht schlecht gewhlt. Wie Overdijk darauf gekommen ist? Wir sechs, die wir hier in diesem ehemaligen Zweifamilienhaus leben, haben in der Tat einiges von Zwergen und Kobolden in uns oder an uns, je nach dem.

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Auer einem Bett und einem Stuhl fr jeden gibt es hier noch kaum Mbel. Gestern waren wir auf dem Flohmarkt. Verstauten grinsend einige Unikate auf unsern kleinen Lieferwagen das ganze Zeug steht noch unten im Gemeinschaftsraum. Morgen wird der Streit losgehen, wer was bekommt. Wir haben zu tun: Tren und Fenster mssen gestrichen werden. Die Wasserleitung ist defekt. Mehrere Lampen funktionieren nicht. Der Garten ist ein Unkrautdschungel. Natrlich machen wir das alles selber. Das sind so Overdijks putzige Einflle. Das Haus hat ihm ja erst vor kurzem einer seiner dankbaren Patienten geschenkt. Es steht in guter Lage. Wirklich. Zehn Minuten bis zum Strand von Scheveningen und acht Haltestellen mit der Tram bis in Den Haags Zentrum. Endlich ist Oktober. Im Herbst, finde ich, zeigt sich Den Haag von seiner schnsten Seite. Beinahe so schn wie Weimar. Oh je, nun bin ich doch wieder in die Vergangenheit gerutscht. Wieso kann ich diese merkwrdige Stadt nicht vergessen? Immerhin ist es bald zwei Jahrzehnte her, da ich sie verlassen habe, damals nach der Trennung von Simone, zwei Monate nach dem Fall der Mauer. Oude Kaas: Simone, Mauerfall und der heftige Drang, endlich die Welt zu sehen. Sie hat die schwersten Perioden mit mir zusammen erlebt. Die trostlose DDR-Realitt, meine Angstanflle, Schbe, mein Untertauchen fr Wochen. Es mu sie furchtbar geschlaucht haben, als ich pltzlich verschwunden war, und sie nicht wute, ob ich berhaupt noch lebe. Ebenso wird es FU ergangen sein, spter, als sie mich auf Rgen fanden, an meinem Lieblingsplatz im Wald zwischen Binz und Sellin, wo mich meine rtselhaftesten aber auch besten Trume heimsuchten, die ich je gehabt habe. Achte nicht auf Ordnung und Reihenfolge ... Aber die Erinnerungen strmen jetzt in so einem Wirbel auf mich ein, sie springen wie ffchen von einem Zeitast zum anderen, da ich doch versuchen will, ein wenig Ordnung zu halten, von damals zu heute in einer lockeren Linie. Wobei ich mir selbstverstndlich Abschweifungen erlauben werde. Ich habe zwei Geschwister. Bin aber so gut wie nicht mit ihnen im Kontakt. Von Markus wei ich nur, da er auf irgendeinem Kaff in Mecklenburg ein Haus gebaut haben soll. Er war immer der Nchternste von uns Dreien, lernte Maschinenschlosser, was Pa damals mchtig aufregte, trat bald in die SED ein, was endgltig dazu fhrte, da die Familie seine Existenz verdrngte. Mit Vierzehn war er auf eigenen Wunsch von Onkel Hermann ausgezogen und hatte um Aufnahme in ein Heim, ein Schulinternat gebeten. Onkel Hermann ist einer der beiden Brder meiner Mutter. Nach der Scheidung wurden wir Drei: Ruth, Markus und ich dem Vater zugesprochen. Aber Pa war denkbar ungeeignet, Kinder aufzuziehen. So berredete er Hermann, Markus zu sich zu nehmen. Ruth kam zu Pflegeeltern nach Hiddensee und ich blieb die ersten Jahre nach der Scheidung bei Pa. Immer war Mutter die starke Persnlichkeit in ihrer Ehe gewesen. Sie hatte einen heftigen Hang zu religisen Dingen. Man sagte von ihr, sie bese das zweite Gesicht. Ich konnte damals nichts damit anfangen. Stellte mir vor, da sie noch irgendwo im Schrank ein Ersatzgesicht habe, das sie zu feierlichen Anlssen aufsetzen konnte. Es mu so um 1976/77 gewesen sein, da kam sie Pa auf die Schliche. Er hatte eine Freundin im Orchester. Habe ich vergessen zu erwhnen, da Pa lange Jahre Konzertmeister an der Weimarer Staatskapelle war?21

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Mutter wirkte meistens krftig und ausgeglichen. Sie strahlte unentwegt Wrme und Herzlichkeit aus. Aber in ihrem Innern brodelte ein Vulkan. Solange sie keinen Anla fand, kam die Glut nur ertrglich dosiert an die Oberflche und sorgte fr behagliches und gtiges Klima. Dagegen kam Pa nie an. Auch seine neurotischen Zustnde zerschmolzen unter ihrer lchelnden Ruhe. Pa konnte reizbar, tragisch aufgeregt und weinerlich sein. Dann schlo ihn Mutter meist schweigend in ihre Arme, strich ihm ber sein widerspenstiges Haar und brummte dazu einen Gassenhauer, den sie beide zum Schieen komisch fanden, und der seine Wirkung auf Pa nie verfehlte. Aber sie war ein Vulkan. Und als sie Beweise fand, da Pa ihr untreu war, erlebte ich einen Ausbruch von ihr zum ersten mal bewut. Sie zertrmmerte an jenem Tag fast unser gesamtes Geschirr. Pa stand hnderingend hinter ihr und wollte sie beschwichtigen. Doch das machte sie nur noch wtender. Und dann? Dann fate sie einen Entschlu. Und wenn Mutter einmal etwas beschlo, gab es nichts mehr, was sie davon abbringen konnte. Pa und wir erfuhren ihn erst zwei Tage spter. So lange dauerte das drohende Schweigen, in das sie nach dem zertrmmerten Geschirr verfiel. Wir schlichen diese frchterlichen Stunden in der Wohnung umher wie Geister. Dann endlich teilte sie in aller Seelenruhe Pa mit, was nun werden wrde: Hier kann ich nicht mehr leben, verkndigte sie ihm. Das war zu arg, Eduard. Ich mache Platz. Die Koffer habe ich schon gepackt. Noch heute werde ich Euch verlassen und mir irgendwo ein Zimmer suchen. Wage nicht, mich zu fragen, wo ich hingehe. Pa schwieg sowieso. Er dachte nicht im Traum daran, sie zu unterbrechen. Also, Eduard, Du kannst Deine Freundin zu Dir holen, sie hier einziehen lassen. Und wenn sie Dich liebt, wird sie Dir auch helfen, Deine Kinder grozuziehen. Ich verzichte auf sie. Ich reiche die Scheidung ein. Du wirst von mir hren. Dann verstummte sie entschlossen, drehte sich auf dem Absatz um und lie den verdutzten Pa stehen. Und tatschlich hrten wir, die wir die Tr zum Kinderzimmer nur angelehnt hatten, um lauschen zu knnen, eine Viertelstunde spter die Wohnungstr ins Schlo krachen. Und dabei blieb es. Niemand wute, wo sie war. Ein halbes Jahr lang erhielt Pa nur amtliche Briefe von einem Anwalt. Dann im Juni 1978 kam auch Post fr uns. Wir haben alle im Juni Geburtstag. Ruth am 2., Markus am 30. Und ich, wie schon erwhnt am 17.! Mutter schickte ein riesiges Paket mit Geschenken. Und fr jeden nur einen kurzen Gru mit Ermahnungen: Wir sollten Pa keinen rger machen und wenn wir alt genug sein werden, wrden wir auch verstehen. Es war die Zeit, da Pa mit uns ans Ende seiner Krfte geriet. Seine Freundin, die viel jnger als er war, und die wir nie anders als mit Frulein Zobel anredeten, hatte vor kurzem das Handtuch geworfen und war wieder ausgezogen. Wir ahnten noch nicht das ganze Drama. Nicht, da Pa seit einiger Zeit bei einem Nervenarzt in Behandlung war. Freunde rieten ihm schlielich, die Kinder zu verteilen. Und so kam es.

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Fast jedes Jahr waren wir frher, als Mama noch bei uns war, an die Ostsee gefahren. Meist nach Rgen, wo ein Kollege von Pa ein schmuckes, einfaches Holzhuschen direkt am Steilufer an der Kste zwischen Binz und Sellin besa. Bei einem Besuch auf Hiddensee verliebten sich Mama und Pa in diese kleine, schmale Insel, die wie eine Nadel vor der Westkste Rgens liegt. Sie fanden in Neuendorf Unterkunft und wechselte von da an, von Rgen meist noch vierzehn Tage nach Hiddensee. Unsere Gastgeber, ein kinderloses Ehepaar, vernarrten sich von Anfang an in die kleine Ruth. Sie ist zwei Jahre jnger als ich, Markus zwei Jahre lter. Sie behandelten sie, als wre sie ihre eigene Tochter. Ruth war damals drei. Jetzt war sie sieben und sollte in die Schule kommen. Pa entschlo sich, whrend der Theaterferien mit uns noch einmal nach Hiddensee zu fahren. Wir wurden von den Hellers mit grter Herzlichkeit empfangen. Gleich am nchsten Tag erffnete ihnen Pa, was passiert war, schilderte auch seine Situation und man wurde sich einig. Pa sollte Ruth, selbstverstndlich unter Zahlung einer bestimmten Summe, den Hellers zur Pflege berlassen, bis sich sein Gesundheitszustand gebessert haben wrde; mindestens aber fr die ersten drei Jahre, damit das Kind nicht durch dauernden Wechsel konfus wrde. In den Ferien sollte sie, wenn sie wollte, nach Weimar kommen. Markus kam zu Onkel Hermann. Onkel Hermann hatte eine Kneipe in Berlin, genauer in Knigs-Wusterhausen, am oberen Ende der Luckenwalderstrae. Eine waschechte urige Berliner Eckkneipe mit Billardzimmer. Er war eine Seele von Mensch, aber leider, was damals noch niemand wute, fast jeden Abend blau, ein Alkoholiker. So blieb Markus sich selbst berlassen. Onkel Hermann machte ihm keine Vorschriften, konnte ihm auch nicht viel helfen bei seinen Problemen des Heranwachsens. Markus nahm die Trennung von Mama und Pa sehr ernst und er fhlte sich, als er zu Onkel Hermann kam, von Pa abgeschoben. Schweigsam, wie er immer gewesen ist, sagte er kein Wort davon zu niemandem. Er schrieb nicht und wollte Pa auch nie besuchen kommen. Pa respektierte das. Wenn ich es recht betrachte, hatte Ruth es von uns drei Geschwistern am besten getroffen. Ich blieb frs erste bei Pa. Es ging mir gut und auch nicht. Pa behielt die nun riesengroe Wohnung. Fnf Zimmer, das war fr damalige DDR-Verhltnisse ein Privileg. Aber da ihm das Wohnungsamt nichts Vernnftiges anderes bieten konnte, war es Pa recht. Sie lag gnstig. Im obersten Stock einer der gerumigen Villen in der Belvederer Allee. Ich hatte mein Zimmer nach vorne raus, konnte ber die Wipfel der Platanen direkt auf den Goethe-Park sehen. Neben dem meinen, lag das groe, salonartige Zimmer, in dem der alte Bechsteinflgel stand. Es konnte durch eine Schiebetr in zwei kleinere Rume unterteilt werden. Daran schlo sich das kleine, schmale Zimmer, eigentlich nur eine Kammer an, das im Sommer, aber auch zu anderen Zeiten, von einem der Teilnehmer der so zahlreichen Weimarer Tagungen bewohnt wurde. In Weimar war immer etwas los: Shakespeare-Tage, Theaterworkshops, Musikseminar, internationale Germanistentagung ...

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Ich kann mich an einige interessante Gestalten erinnern: Einem Herrn Kuchido aus Japan, der fr eine Zeit im Nietzsche-Archiv arbeitete, welches aber damals fr uns DDRBrger immer noch geschlossen war, ja tabu blieb bis zum Fall der Mauer. Ferner kam zweimal ein Edward Timms, Germanist aus Cambridge bei uns unter. Ein schmaler Mensch von liebem Wesen, der mir Fotos zeigte von seiner trkischen Frau Aishe und seinen fnf Kindern, von denen zwei adoptiert waren. Pa schlief zur Hofseite hinaus, im Eckzimmer. So konnte er bequem in sein Arbeitszimmer gelangen, das daneben lag. Der andere Eckraum war unsere Kche. Ich war neun geworden, als ich pltzlich mit Pa alleine leben mute. Niemand machte mir mehr das Frhstck. Zur Schule fuhr ich alleine mit dem Stadtbus, der unweit unseres Hauses hielt. Pa stand meist spt auf und kam spt, wenn ich schon schlafen sollte, oft auch tatschlich schon schlief, vom Dienst nach Hause. Wer das Knstlerleben am Theater kennt, wei, da man nach der Vorstellung meistens noch so aufgekratzt ist, da man das Bedrfnis hat, die Anspannung des Abends irgendwo noch bei einem Bier und Schwatz ausklingen zu lassen. Zum Glck gab es gleich gegenber des Personalausgangs den Theaterclub, oder nur einige Minuten weit, den Theaterstammtisch im Alt Weimar. So war es keine Seltenheit, da Pa erst gegen ein Uhr nach Hause kam. Die ersten Monate frchtete ich mich allein in der groen Wohnung. Ich lie aus Angst vor der Dunkelheit in allen Zimmern das Licht brennen, hockte mich im Schlafanzug in Pas Arbeitszimmer und schmkerte in Bchern aus seinem Regal. In dieser Zeit mu ich auch die ersten Sachen ber Atlantis gelesen haben. Aber wirklich fasziniert hat mich das erst spter. Ich war ein blliches Kind mit Sommersprossen und dnnen, seidigen, hellblonden Haaren. Meine Ohren waren abstehend, weshalb ich mein Haar lang tragen durfte, damit es den Eindruck etwas mildern half. So habe ich zu jener Zeit eher ausgesehen, wie ein Kind auf Gemlden von Philipp Otto Runge. Ich lernte leicht, aber in einigen Fchern, die nun neu auf mich zukamen wie Physik, Chemie und Russisch, lustlos. Deutsch, besonders der Literaturunterricht und Englisch, das fakultativ war, dann noch Musik und Geschichte, gefielen mir am besten. Schularbeiten erledigte ich schnell um in meinen geliebten Park zu kommen. Dort schweifte ich mit meinen zwei Freunden, die ich damals hatte, Martin Weingart und Lars Poser, herum. Wir hatten in einem Versteck unsere Holzschwerter und durchzogen als die drei Musketiere die Bsche und Wldchen links und rechts der Ilm. Martin war Halbwaise und seine Mutter aber, Mia Weingart, eine echte Dichterin, was mich damals sehr beeindruckte und meine Phantasie beschftigte. Eine Zeitlang hatte ich sogar die fixe Idee, ich wrde in Wirklichkeit nur als eine Gestalt aus einem ihrer Romane existieren. Sie schrieb auch Gedichte. Hauptschlich aber Kinderbcher, wovon sie ganz gut leben konnte. Lars Poser lebte bei seiner Gromutter. Seine Eltern hatten vor zwei Jahren die Ausreise erhalten, nachdem man sie verhaftet und wegen staatsfeindlicher Hetze angeklagt hatte. Die Gromutter war Anthroposophin und mir ein wenig unheimlich. Ich wute auch nicht so recht, was das sein sollte, dachte aber nicht weiter darber nach. Oft gingen wir auch bis nach Schlo Belvedere hinauf, wo die Musikschule untergebracht war, hinter der sich eine wunderbare Parkanlage hinzog.

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Weimar im Herbst. Ich sehe noch die schattige Belvederer Allee, die uralten Bume, das dichte Laub auf den Wegen, das niemand wegrumte und das bei jedem Schritt raschelte. Atme noch die wrzige Luft, stemme mich gegen den Wind, und beobachte aus meinem Zimmerfenster in aller Frhe die scheuen Eichhrnchen. Mit Ruth hatte ich einen kindlichen Briefwechsel angefangen. Es ging ihr gut. Als sie uns besuchen kam, sah sie gesund und krftiger aus. Sie konnte inzwischen gut schwimmen, was ich nie richtig gelernt habe; und sie hatte allmhlich den norddeutschen Dialekt angenommen. Das fand ich putzig. Die Zeit verging. Pa und ich hatten uns an unser Leben gewhnt. Manchmal erzhlte er mit etwas von frher, als er und Mama noch zusammen waren, und wie ihn seine Dummheit von damals jetzt reue. Ich wollte wissen, ob Mama nun fr immer gekrnkt sei. Das wei ich nicht, sagte er traurig, das wei ich wirklich nicht. Mglich wre es schon. Sie ist so ein Feuerkopf. Wrdest Du denn wieder mit ihr zusammenleben wollen, fragte ich weiter. Da sah er mich merkwrdig berrascht an. Auf die Idee schien er noch gar nicht gekommen zu sein. Dann ging er pltzlich schnell aus dem Zimmer. Das htte ich ihn wohl nicht fragen sollen, dachte ich damals betrbt. Heute wei ich, da es ganz richtig war, davon anzufangen. In meinem dreizehnten Jahr erschtterten mich zwei bedeutsame Erlebnisse. Um Weihnachten 1981 wachte ich mitten in der Nacht durch frchterliche Kopfschmerzen auf. Auerdem war mir schrecklich schlecht. Ich ging ins Bad und erbrach mich. Pa wollte ich nicht wecken. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach drei in der Nacht. Also legte ich mich wieder ins Bett. Aber der Kopfschmerz wurde immer schlimmer. Wieder ging ich ins Bad, wieder erbrach ich mich. Ich fing an, vor Schmerzen zu wimmern. Pa mute irgend etwas gehrt haben. Als er mich sah, erschrak er tief. Junge, wie siehst Du denn aus? Bleib ganz ruhig, ganz ruhig, ich hole einen Arzt. Er zog sich eilig an und verlie das Haus. Nach einigen Minuten, die mir endlos vorkamen, kehrte er zurck. Die Telefonzelle war zum Glck nicht weit. Bald klingelte es und eine Notrztin untersuchte mich. Dann gab sie mir eine Spritze. Ich kann es noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber es besteht Verdacht auf Meningitis. Ein Krankenwagen brachte mich ins Sophienhaus. Ich will nicht weiter in den Schmerzen und ngsten, die ich im Folgenden durchmachte, herumstochern. Nur die wiederholten Rckenmarkspunktionen sind mir noch in grausiger Erinnerung. Im Frhjahr 1982 ging es mir endlich wieder sprbar besser. Doch irgendwas in mir hatte sich verndert, ohne da ich zu sagen gewut htte, was es war. Im Mai erhielt ich einen Brief von Mama. Sie schrieb, da es sehr viel zu erzhlen gbe, soviel, da es ein viel zu langer Brief werden wrde, aber wenn ich Lust htte, knnte ich sie ja mal besuchen. Pa hatte nichts dagegen. Und so fuhr ich in der zweiten Juli-Woche nach Wrlitz. Wrlitz ist ein kleines Stdtchen in der Nhe von Dessau im heutigen Sachsen-Anhalt. Berhmt ist es wegen seinem Park, den sogar Goethe besucht hatte. Ich war sehr erstaunt, als mich ein Mann, den ich nach Frau Curio fragte, zum Kirchturm wies. Die Kirche grenzte direkt an den Park. An der dicken Holztr unten am Turm stand kein Name an der Klingel. Ich drckte den Knopf. Nichts rhrte sich. Doch dann rief es ber mir.25

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Ich mute einige Schritte zurckgehen und endlich erkannte ich Mama, die ganz oben aus einem gotisch spitz zulaufenden Fenster sah. Sie warf etwas herunter. Es war der Schlssel. Ich ffnete und begann hinaufzusteigen, dabei die Stufen zhlend. Die berraschung, da Mama auf einem Kirchturm lebte, war gelungen. Mit keinem Wort hatte sie davon etwas in ihrem Brief erwhnt. Der Absender hatte statt der Strae nur ein Postfach gehabt. Ich solle in der Strae, wo der Bus halten wrde, einfach nach ihr fragen, hatte sie geschrieben. Schon nach der dreiigsten Stufe kam eine Tr in Sicht, dann wieder eine bei der Hundertundzehnten, schlielich noch eine bei der Hundertvierzigsten, doch erst nach hundertundfnfundsechzig Stufen stand Mama in der offenen Tr. Wir umarmten uns, mir kamen die Trnen, die ich tapfer verbi. Gro bist Du geworden, Bertram. Komm rein, na komm schon. Ich hatte das Gefhl, ins Mittelalter versetzt zu sein. Erst mute ich drei Stufen hinuntersteigen, durch einen kleinen Gang zwischen zwei vollgestopften Bcherregalen hindurch, dann ffnete er sich zum Zimmer. Die gotischen Fenster, die sich gegenberlagen, waren in Schulterhhe und hatten Fensterbretter, breit wie Tische, die mit Kissen belegt waren. Man gelangte ber eine kleine Leiter hinauf. Ich setzte mich in eins der Fenster und geno den wunderbaren Ausblick. Mama lie mich in Ruhe und werkte in dem kleinen, durch halbhohe Kommoden abgeteilten Raum. Der ihr als Kche diente. Dann deckte sie den Tisch. Bertram, ich mu noch einige Besorgungen machen. In einer Stunde bin ich wieder da. Hier ist der Schlssel fr die Rume weiter oben. Dort wirst Du auch schlafen. Wenn Du willst, schau Dich indessen nur tchtig um, ja? Ich nickte. Wie Mama nur auf diesen Kirchturm geraten war? Und wovon lebte sie? Wie sie mir am Abend erzhlte, als wir, nachdem wir gegessen hatten, noch, ohne Licht zu machen, beisammen saen und plauderten, bis die Dmmerung ganz allmhlich zu Dunkelheit zerronnen war, arbeitete sie im Park mit, als Mdchen fr alles. Sie machte Fhrungen, hielt mit die Wege und Anlagen sauber, sa an der Kasse des Schlomuseums, oder bei der Kahnvermietung. Mit dem Pfarrer war sie gut befreundet, schon bevor sie auf den Turm zog, und noch in der Strae, in der der Bus gehalten hatte, zuerst in einem mblierten Zimmer wohnte. Als ihr die Idee kam, auf den Turm zu ziehen, hatte der Pfarrer nichts dagegen. Es she nur sehr wst darin aus und wrde einige Arbeit kosten, bis er wohnlich sei. Und so hatte sie denn begonnen, aufzurumen. Eimerweise Taubenmist, Dreck und Germpel htte sie an der groen Holzwinde herabgelassen. Abenteuerlich sei es gewesen, die Mbel heraufzuschaffen, teils mit der Winde, mit der sie heute noch ihr Trinkwasser hinauftransportiere. Gleich morgen knne ich ihr dabei helfen. Die Lichtleitung habe ihr ein Schlohandwerker repariert, und die obere Schlafkammer, die ich ja vorhin gesehen habe, sei von einem Tischler aus dem Ort so schn gezimmert worden, mit dem Alkovenbett und den Regalen. Sogar ein Lautsprecher von ihrem Radio und Plattenspieler, beide sehr altertmliche Modelle, wre dort oben angeschlossen und ihre Gste, sie habe oft interessante Gste, knne sie so morgens, wie ich es selber erleben werde, mit schner Musik wecken, am liebsten mit Bach, den wrde ich doch inzwischen sicher kennen? Ich nickte bejahend.

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Von Papa und Weimar sprachen wir an diesem Abend nichts, und ich fand es ganz in der Ordnung so. Vielmehr interessierte mich, wie sie sich ihr neues Leben eingerichtet hatte. Dann gab sie mir Handtcher und Bettwsche und einen Gutenachtku und ich stapfte irgendwie erlst und entrckt noch fnfzehn Stufen weiter nach oben in mein neues Reich fr vier Tage. Die oberen Rume fand ich noch schner als Mamas. Nach einem kleinen Vorflur, dessen linke Seite ein riesiger altertmlicher Garderobenspiegel einnahm, und der im ganzen hchstens zwei Quadratmeter ma, gelangte man in einen groen Raum, der an drei Seiten riesige Fenster besa. Ein ovaler Tisch mit geschnitzten Beinen stand an der Lngswand, ein Schaukelstuhl nebst kleinem runden Tischchen am linken Fenster. Rechts in der Ecke ein Vertiko und auf dessen Aufsatz der Lautsprecher. Gleich neben der Tr eine Emailleschssel auf einem Drahtgestell, daneben auf einem Hocker ein ebenfalls emaillierter Krug mit Wasser zum Waschen gefllt. Wiederum rechts vom Vertiko fhrte eine Tr in die Kammer mit dem Alkovenbett. Sie war kaum lnger als dieses Bett und hatte nur an seinem Fuende eine in die Fensternische eingefgte Schreibplatte mit einem Stuhl davor. Die ganze Lngsseite des Bettes nahm ein zweites Fenster ein, dessen Fensterbrett ein wenig ber das Bett berstand, als Ablage geeignet. Am Kopfende war bis an die Decke ein regelrechtes Bcherregal eingefgt, in dem eine ganze Reihe interessanter Lektre stand. Die Wnde waren teils mit warmgelbem Stoff und teils, etwa von der Hfthhe bis zum Boden, mit Bastmatten bespannt. Den Fuboden bedeckte ein Kokoslufer. Ich knipste die kleine Leselampe ber dem Kopfende an, bezog mein Bett, ffnete die beiden Fenster weit und legte mich, nachdem ich in meinen frischen Pyjama geschlpft war, den ich aus Weimar mitgebracht hatte, hinein. Seltsame Empfindungen durchzogen mich. Ich hatte das Licht wieder gelscht und lauschte auf die Gerusche unten im Park. Der Wind wehte, die Bltter der groen Platanen, Eichen und Buchen rauschten. Ab und zu hrte ich Stimmen mir unbekannter Vgel. Dann setzte, sanft wie ein Adagio, ein warmer Sommerregen ein. Bald fielen mir, ohne da es mir bewut war, die Augen zu, und ich geriet in einen Traum, um dessentwillen ich eigentlich die ganze Episode so detailliert bis hierher geschildert habe: Zuerst sah ich Papa und Mama, aber viel, viel jnger als jetzt, in wunderbar bestickten, bis zum Boden reichenden, bunten Gewndern eine lange Allee entlanggehen. Die Zweige der mir gnzlich fremden Bume waren lang und gebogen. Sie bildeten oben ber der Allee ein rundes Dach, und waren so dicht ineinander verflochten und verwachsen, da nur sanftestes, schattiges, grnes Licht durchzuschimmern vermochte. Ich sah sie von hinten und sie gingen ohne Eile von mir weg, in diese endlose Allee hinein. Sie drehten sich nicht um und ich hatte das Gefhl, da sie von meiner Existenz noch gar nichts wuten. Ich wollte sie rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Auf einmal merkte ich, da ich in einiger Hhe auf einem dicken Ast eines gewaltigen Baumes sa. Der Ast war so breit wie ein Pfad. Seine obere Seite war geglttet, also nicht mehr rund, und an seinen beiden Seiten waren Gelnder aus Tauen und Lianen, an denen man sich festhalten konnte. Ich lief den Ast vor, bis zum Stamm des Baumriesen und dieser war so hoch, da ich nicht vermochte, bis zu seinem Wipfel zu sehen.27

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Seine ste waren so weit voneinander entfernt, da ich den nchsten nicht erreichen konnte, um mich hochzuziehen. Aber ich wollte diesen Baum doch so gerne hinaufklettern. Da entdeckte ich, da in seinen Stamm kleine, rechteckige, dicke Brettchen gefgt waren, in einer Spirale um den Stamm fhrend, auf denen man hinaufsteigen konnte, und eben so ein Seil oberhalb dieser Brettchen herumfhrte, an dem man sich festhalten konnte. Ich mu eine ganze Weile so immer hher gestiegen sein, als ich in dem immer noch ungeheuer dicken Stamm eine regelrechte Tr vor mir sah. Sie war von weiter unten nicht zu sehen, hatte eine ovale Form und war von auen mit der dicken Rinde des Baumes versehen. Ich drckte dagegen und sie ffnete sich. Ich befand mich augenblicklich in einem runden Raum von vielleicht vier bis fnf Metern Durchmesser. In fast regelmigen Abstnden, lieen Schlitze, die man in die Wnde geschnitten hatte, gedmpftes Licht herein. An den Innenwnden fhrten wieder so kleine Brettchen und ein Halteseil in Spiralen weiter nach oben. Dann kam ein breiterer Schlitz, durch den man hinaus auf einen hnlichen Ast gelangte, wie schon unten. Dieser Ast fhrte, ebenfalls an der Oberseite abgeplattet, in einigen rechts und links ausbiegenden Windungen und teilweise auch auf und nieder gehenden Wellen ein ganzes Stck durch diese merkwrdige, berall von Wachstum umgebene, Welt. Ein anderer dicker Ast, von einem nchsten ungeheuren Baum war mit diesem durch Lianen verbunden, auf dem ich bequem weiter gehen konnte. Auch dessen Stamm ragte weit hinauf und noch immer konnte ich keinen Wipfel sehen. Erst jetzt sah ich mich richtig um. Ringsum mchtige Bume, von denen nicht nur Lianen, sondern auch Blumengirlanden in den wunderbarsten Farben hingen. Und von allen Bumen fhrten solche Astwege zu ihren Nachbarn. In verschiedener Hhe waren sie mit dieser ovalen Tr versehen, oder den einfacheren Schlitzen, durch die man sich zwngen konnte. Manche der ste waren so gewaltig, da, wenn mehrere von ihnen zusammenfhrten, auf diesem Boden ein ganzes, aus gelblich schimmerndem, ineinander verflochtenem Pflanzenmaterial geformtes Haus stand. Ein solches war von stattlicher Hhe, wobei die nchst hheren und scheinbar in ihrem Wachstum wie kunstvoll zusammengefhrten ste das Dach bildeten. So stieg ich abwechselnd immer hher oder wanderte waagerecht und Asthuser, runde Zimmer im Bauminnern, Brettchenstufen und Astwege nahmen kein Ende. Es schien ein ganzes Dorf, ja eine ganze Stadt zu sein, aus Bumen und Pflanzen gebildet, deren Wachstum man nur behutsam gelenkt hatte, so da sich darin auch Huser und Wege harmonisch einfgten, von ihnen in Material und Farbe nicht unterschieden. Aber mein Wunsch, endlich einen Baumwipfel zu erklimmen, war so gro, da ich, wie mir schien so sehr weit oben, einen der Bume nicht mehr verlie, sondern an ihm hinaufstrebte, immer weiter und weiter. Er wurde auch schon etwas dnner, und ich sah ein erstes Funkeln hellerer Lichtspritzer schlielich kam wieder eine ovale Tr, daraus sah ein Mdchengesicht von solchem Liebreiz, da mir das Herz heftig zu schlagen begann ... und davon, zu meinem grten Bedauern, wachte ich auf.

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Die Sonne schien hell in mein Alkovenbett, im groen Zimmer fluteten die Tne einer Orchestersuite von Bach mit dem Licht wetteifernd durch den Raum. Mein Herz schlug noch immer heftig und es dauerte eine ganze Zeit, bis ich mich wieder zurechtfand. Oh, dieser Traum durfte kein Ende haben. Mein inbrnstiges Wnschen war fast wie ein Gebet. Traurig und froh zugleich, kleidete ich mich rasch an, wusch mir nur flchtig das Gesicht, und sprang die Treppen hinunter zu Mama. Meine Enttuschung war gro, als ich weder die nchste Nacht, noch die darauf folgende wieder so trumte, wie in der ersten. Tagsber begleitete ich Mama zu ihrer Arbeit, kassierte Eintrittsgeld im Schlo. Dann rechten wir Heu zu groen Haufen zusammen. Dabei erzhlte sie mir, da sie Pa immer noch liebe, aber ihn nicht wieder heiraten wolle, obwohl sie ihm nicht mehr bse sei. Ich habe jetzt hier meine Aufgabe, sagte sie ernst. Komm, wir steigen mal bis zur Turmspitze! An meinem Quartier vorbei, stiegen wir noch hher hinauf. Mama ffnete eine Klappe ber unseren Kpfen, und wir gelangten auf eine Aussichtsplattform. Bis dahin durften Sonntags auch Besucher steigen. Mama betreute den Turm. Dafr konnte sie darin mietfrei wohnen. Sie war sehr religis geworden. Wir beteten vor und nach jeder Mahlzeit. Als Mama und Pa noch zusammenlebten, hatten wir von Religion nicht viel gesprt. Sie glaubten wohl beide an ein hchstes Wesen. Verehrten es aber ohne Kirchgang, einfach als das Prinzip des Guten und als Offenbarung in der Natur. Wir muten zu keinem Religionsunterricht, da sie beschlossen hatten, uns in diesen Dingen ganz frei zu lassen. Wir sollten selber entscheiden, was wir als richtig annehmen wollten, wenn wir gro genug dafr sein wrden. Jetzt erzhlte sie mir, da sie gleich in der ersten Zeit, als sie hier auf den Turm gezogen sei, ein Erlebnis gehabt habe, eine Begegnung mit einem Lichtwesen, damals, als sie mit hohem Fieber lag, wovon sie niemandem etwas erzhlte. Dieses Erlebnis habe sie von Grund auf verndert. Seitdem wisse sie von Gottes berwltigender Realitt und Gte. Von da an kam ihr immer strker der Gedanke, den Turm nicht nur fr sich zu nutzen. Ich htte ja die erste Tr ungefhr nah der vierzigsten Stufe gesehen, und auch die, an der wir eben weiter unterhalb der Plattform vorbeigekommen seien. Dort habe sie Rume eingerichtet fr Menschen, die Ruhe suchten, und welche die Frage nach Gott und danach, wie wir in seiner Gegenwart leben sollen, bewege. Mit ihnen studiere sie die Bibel und denke ber die heutige Zeit nach. Dafr habe ich jetzt Verantwortung, sagte sie. Ich kann das nicht alles einfach stehen und liegen lassen. So, wie es gekommen ist, scheint es mir nun fr alle das Beste. Wenn ich ein- zweihundert Jahre frher geboren worden wre, htte ich sowieso in einem Kloster gelebt. Und was sollte Pa wohl mit einer Nonne anfangen, als die ich mich jetzt fhle? Die letzten Stze verstand ich nicht recht. Ich sprte nur, wie ernst es Mama war und da sie erfllt und glcklich in ihrem jetzigen Leben war. Es war mein letzter Tag auf dem Turm und Zeit, Abschied zu nehmen. Morgen frh wrde ich nach Weimar zurckkehren. Insgeheim hoffte ich immer noch, da der Traum wiederkehren wrde, doch dies geschah nicht. Mama hatte mich zum Bus gebracht, und ich war fast dem Weinen nahe, auch noch, als ich schon im Zug von Dessau nach Leipzig sa, wo ich umsteigen mute. Pa holte mich in Weimar ab.

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Die folgenden Jahre verliefen ruhiger. Pa hatte sich gefestigt. Ruth war von Hiddensee wieder zu uns zurckgekehrt. Sie wurde langsam eine Frau und ich freute mich heimlich, eine so schne Schwester zu haben. In der neunten und zehnten Klasse entwickelte ich richtig Freude am Lernen. Ich machte grndlich, und mit einem Gefhl groer Leichtigkeit, meine Hausaufgaben. Dabei mute ich mich nicht sonderlich anstrengen, die Dinge flogen mir zu. Gerade war das Problem der Jugendweihe, an der mich die Lehrer natrlich drngten, teilzunehmen, von mir auf meine Art gelst worden. Pa sagte nur, er wolle mir da nicht drein reden. Ich solle es selbst entscheiden. Allerdings msse ich mit Schwierigkeiten rechnen, eventuell auch damit, das Abitur nicht machen zu drfen. Die Jugendweihe war eine sozialistische Zeremonie an der Schwelle zum Erwachsenwerden, bei der man auf die Fahne der DDR Treue zum Staat und den zehn Geboten der sozialistischen Moral gelobte. Dann erhielt man ein Geschenk und wurde von da an mit Sie angeredet. Die Lehrer bedauerten sehr, da ich nicht mitmachen wollte. Ich gehrte inzwischen zu den besten Schlern. Aber mich stie dabei ab, da die Teilnahme daran, wie eine Art freiwilliger Zwang gehandhabt wurde. Auch hatte ich seit dem Besuch bei Mama begonnen, mich fr Gott und religise Fragen zu interessieren. Etwas naseweis, aber entschlossen, begrndete ich meine Ablehnung der Jugendweihe mit Glaubensmotiven. Dabei war ich gar nicht so sehr christlich. Nur manchmal, wie es sich gerade ergab, ging ich in die eine oder andere Kirche, mit einem Gemisch aus Scheu und Neugier. Hrte die Predigten, von denen ich nicht viel verstand. Nher waren mir die Ablufe der verschiedenen Rituale. Ich fand sie geheimnisvoll. Ein paar Monate zuvor hatte ich begonnen, das Alte Testament zu lesen, einfach von vorn nach hinten. Dabei blieben mir die meisten Stellen Rtsel. Zu Mama fuhr ich noch einmal nach den Prfungen. Es war natrlich gekommen, wie Pa gefrchtet hatte. Schon in der neunten Klasse verkndete mir mein Klassenlehrer, da ich das Abitur nicht machen drfe. Warum, wute ich ja. Als mich der Direktor auf dem Schulhof sah, hielt er mich an und drckte mir sein Bedauern ber meine Einstellung aus. Wie ich, bei meiner Intelligenz, an einen Gott glauben knne, wollte er wissen. Wo Gott denn nach meiner Meinung zu finden sei? In den Bumen? Oder vielleicht in den Wolken? Er sei ja nicht zu sehen! Ich erwiderte, da er, der Herr Direktor doch sicher fter denke? Er nickte und wollte wissen, was das mit Gott zu tun habe. Nun, was Sie denken, Herr Direktor, kann auch niemand sehen und trotzdem ist es eine Tatsache, entgegnete ich. Da blickte er mich verblfft an und lie mich schlielich grulos stehen. Da ich das Abitur nicht machen durfte, schmerzte mich mehrere Jahre. Ich fhlte, da studieren das Richtige fr mich gewesen wre. Ich wute auch, was. Ein Sprachenstudium, Germanistik oder Slawistik war es, was ich mir gewnscht htte. Nun mute ich mit Pa beratschlagen, was ich nach der Mittleren Reife mit meinem Leben anfangen wolle. Auf keinen Fall in die Produktion, sagte Pa. Also blieb in Weimar eigentlich nur Schriftsetzer oder Buchbinder brig. Ich entschlo mich fr das Letztere. Ich wrde mit Bchern zu tun haben, das gab den Ausschlag. Und so begann ich im Herbst 1985 meine Buchbinderlehre in der Landauer-Werkstatt in der Erfurter Strae. Auch mein Freund Lars Poser fing bei Landauer seine Ausbildung an.30

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Da wir beide die Schule mit Ausgezeichnet verlassen hatten, setzte man groe Erwartungen in uns. Doch irgendwie stand die Lehre fr mich unter keinem guten Stern. Ich konnte nicht verwinden, da ich nicht studieren durfte, und begann, die DDR mit sehr kritischem, ja ablehnenden Augen zu sehen. Martin Weingart hatte die Jugendweihe mitgemacht und ging jetzt aufs Internat in Bad Berka bis zum Abitur. Er wollte Journalist werden, doch unsere Beziehung khlte sehr ab und bald verlor ich ihn ganz aus den Augen. Nun mu ich von Simone berichten. Simone Hebestreit. Ihr Vater war Pfarrer in Niedergrunstedt, einem Drfchen sdwestlich von Weimar. Sie war zierlich, hatte flinke, braune Augen und fast so dnnes, hellblondes Haar wie ich. Aber sie trug es sehr kurz, lief gern in alten Jeans und einer ledernen Motorradjacke herum. Oft, wenn ich ber den Theaterplatz ging, sah ich sie in einer Gruppe Jugendlicher stehen. Sie hatten Rotwein- und Bierflaschen bei sich und alle waren, gemessen an den normalen Brgern und den zahlreichen Touristen, die hier mit Kameras herumschlenderten, ziemlich abenteuerlich gekleidet. Jedesmal, wenn ich vorbei kam, konnte ich nicht anders, als sie verstohlen beobachten. Eines Tages fate ich Mut und steuerte auf die Gruppe zu. Das Kennenlernen war problemloser, als ich dachte. He Alter, willstn Bier?, fragte mich ein schmales Brschchen und hielt mir seine halbvolle Flasche hin. Das war der erste Alkohol, den ich in meinem Leben getrunken habe. Ich nahm beherzt einen krftigen Schluck und reichte ihm die Flasche zurck. Simone blickte nicht ein einziges Mal zu mir. Um so fter lie ich meine Augen in ihre Richtung wandern. Als ein Polizeiauto langsam ber den Platz fuhr, entschied sich die Gruppe, in den Goethepark auszuweichen. Ich blieb bei ihnen. Gestern haben sie Okker hier ins Bullenschiff gezerrt. Er ist noch nicht wieder aufgetaucht, erklrte mir der Schmale. Spielsten Instrument?, wollte er wissen. Wir suchen noch Verstrkung fr unsere Hausband in der Gerberstrae. Ich gestand, da ich ein bichen Klavier knne. Haarscharf gnstig, Alter. Wir suchen einen Keyboarder. Haste Lust? Heute Abend so gegen acht, Gerberstrae 9. Brauchst blo nach Kuli fragen, okay? Das war kein schlechter Einstieg und um Simone fter zu sehen, sogar phantastisch. Ich verlie die Gruppe an der Ackerwand und ging nach Hause, die Tasche ablegen. Pa sa in seinem Arbeitszimmer. Er schrieb seit einem Jahr an einer musikwissenschaftlichen Abhandlung. Na, was macht die Kunst?, wollte er wissen. Wie immer, antwortete ich, so lala, Pa. Ich habe heute Spielfrei, Berto. Hast Du Lust, mit mir Essen zu gehen, ins AltWeimar, ich lad Dich ein? Heute nicht, Pa. Hab schon was vor. Ein andermal, ja? Komm nicht so spt nach Hause, Groer ... Aber ich war schon auf dem Treppenhaus, hielt die Klinke in der Hand. Nein, nein, Pa, mach Dir keinen Kopf!, rief ich zurck.

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Es begann mir Spa zu machen, in Cafs zu sitzen, die Leute zu beobachten, oder meinen Gedanken nachzuhngen. Gleich neben Landauers Werksttten lag das Caf Mosligg. Sie machten die besten Eclairs von Weimar. Hinter dem Konditoreiladen diente ein schmaler Raum als Caf, das meistens berfllt war. Ich ersphte ganz hinten noch einen freien Stuhl und balancierte mein Tablett dorthin. Einige Busfahrer unterhielten sich laut, fast schreiend. Ein Mtterchen lffelte an einer Schwarzwlder Kirschtorte. Niemand beachtete mich. Wieder, wie so oft in der letzten Zeit, stieg das Bild von Simone in mir auf. Das heit, um diese Zeit wute ich noch gar nicht, wie sie hie. Das dauernde Denken an sie und mein klopfendes Herz, wenn ich sie sah, und das aufgeregte Wonnegefhl in ihrer Gegenwart sagten mir, da ich mich wohl bis ber beide Ohren verliebt hatte. Ein Duft von Abenteuer umgab mich. Es gab also noch mehr, als Lernen, brav die Lehre machen, und den alltglichen Trott auf der Welt. Ruth neckte mich schon, ob meiner Geistesabwesenheit. Sie war ein uerst schner Backfisch geworden und da ich ihren Spott frchtete, erwhnte ich meinen Zustand mit keinem Wort. Um die Sache abzukrzen: Ich ging an diesem Abend in die Gerberstrae. Der Band sagten meine Klavierknste, die sich auf dem Keyboard seltsam genug ausnahmen, zu. Ich wurde engagiert. Auch Simone war da, und ich erntete von ihr zum ersten mal einen wachen, bewundernden Blick. Wir fanden zusammen. Immer fter war ich jetzt in dem heruntergekommenen Haus, das die Gruppe mit noch anderen sozusagen besetzt hatte und mit abenteuerlichem Ambiente ausstattete und bewohnte. Sogar eine eigene Art Kneipe hatten sie unten eingerichtet. Ich erlebte die Erfllung meiner ersten Liebe mit allen Ingredienzien der Romantik. Gesegnet sei Weimar, das sich fr solche Gelegenheiten vorzglich eignete. Den ganzen Corona-Schrter-Weg vorbei an Goethes Gartenhaus bis zum Bienenmuseum in Oberweimar kten wir uns an einem Abend, nachdem sie mich keck gefragt hatte, ob ich mit ihr n bichen Spazierengehen wolle. Sie hatte die Initiative ergriffen. Ich selbst war in meiner tumben Verliebtheit viel zu schchtern, um mehr zustande zu bringen, als sie nur immer und immer wieder anzustarren. Das zweite Lehrjahr hatte angefangen. fter war ich jetzt bis spt nachts in dem Haus in der Gerberstrae; gewhnte mich an die drhnende Musik, trank mein Bier und hatte nur im Sinne, Simone nahe zu sein. Von meiner neuen Umgebung bernahm ich, die Lehre, ja berhaupt das brgerliche Leben verchtlich zu betrachten. Es gab ja keine Zukunft, fr die es sich lohnte, sich anzustrengen. Schon gar nicht in der trben DDR. Null Bock und No Future waren Slogans, die mir bald ebenso leicht und berzeugt von den Lippen kamen, wie meinen Kumpanen. Das waren und blieben sie einige Zeit in der Tat fr mich: Kumpane! Denn wirkliche Freunde gewann ich dort nicht. Was uns zusammenhielt, war der Ha auf das SYSTEM, unsere trotzigen Glaubensinhalte, jenseits des Spieertums, wie wir glaubten und die Unlust, in irgendeiner Form geregelt zu leben. Pa ahnte von alle dem nichts. Ich richtete es geschickt immer so ein, da ich noch vor ihm zu Hause war und legte mich schleunigst ins Bett. Die Ohren drhnten mir von dem stundenlangen Krach in der Szene-Kneipe, und ich hustete fter vor dem Einschlafen noch herum, von dem vielen Zigarettenqualm , den ich passiv eingeatmet hatte.32

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Einige Zeit spter, kurz vor dem Weimarer Zwiebelmarkt, hatte ich ein Erlebnis, das in seiner Folge eine Serie rtselhafter und angsteinflender Trume auslste. Obwohl der Inhalt der Trume nichts mit diesem Erlebnis zu tun zu haben schien, sondern es nur der Auslser fr sie wurde, was ich heute fr ganz gewi halte. Und vorbereitet wurden sie natrlich auch von dem ganz und gar fr mich ungeeigneten Lebensstil, dem ich mich, um Simones Willen, hingab. Simone hatte am Abend zuvor, wie sie sagte: sturmfreie Bude. Ihre Eltern waren fr eine Woche weggefahren. Also nahmen wir schon nachmittags den Bus nach Blankenhain, stiegen an der Bedarfshaltestelle, Abzweigung Niedergrunstedt aus, liefen eng umschlungen, uns immer wieder kssend die Landstrae bis ins Dorf. Die Hebestreits bewohnten ein gerumiges Pfarrhaus. Simone legte im Wohnzimmer eine Platte mit Seelenstreichelmusik auf. Wir tanzten und tranken Rotwein. Kurz, es kam, wie es kommen mute, Simone entjungferte mich an diesem Abend. Danach lag ich die halbe Nacht wach neben ihr, die zufrieden schlief. Sehr gemischte Gefhle beherrschten mich und lieen mich nicht zur Ruhe kommen. Irgendwie zerschmolz in diesen durchwachten Stunden zum ersten mal der rosarote Schleier vor meinem Blick auf Simone. Was ich fr Liebe bis dahin gehalten hatte, und was mich diese merkwrdige Zeit himmelhoch-fliegende Gefhle haben lie, enthllte sich mir nun einfach als ein triebhaftes Begehren, von dem ich bis dahin kaum die ersten Begriffe hatte. Und das erfllte mich mit einem rtselhaften Schmerz, den ich nicht klar zu artikulieren vermochte. Ich war nur uerlich und halb bei ihr am nchsten Tag. Sie gab sich rhrend Mhe, brachte mir Frhstck ans Bett, dann badeten wir zusammen und etwas, das sich in mir wie abspaltete, hrte uns erstaunt zu, wie ich mit Simone Plne schmiedete, wie wir nach meiner Lehre zusammenziehen wollten, aber natrlich kein Kind in diese verdammte Welt setzen wrden usw. usf. Dieses in mir Abgespaltene hrte sich unser Gerede spttisch an. Ich kannte mich selbst nicht mehr, kam zu keiner Klarheit und lie die Dinge zunchst irgendwie lahm und willenlos laufen. Wir fuhren mit dem Bus zurck nach Weimar. Gegen sechs Uhr abends wollte sich die Band zur Probe treffen. Ich habe schon meine ganze Kindheit durch, etwa seit dem zehnten Lebensjahr, ab und zu Gedichte geschrieben. Auch kleine Geschichten, meistens mit phantastischem oder mrchenhaften Inhalt. Als ich Pa mal eines der Gedichte zeigte, fragte er mich nur, wo ich das abgeschrieben htte. Seitdem verheimlichte ich ihm meine Erzeugnisse, schrieb sie nur in mein Tagebuch. Die Band wollte Texte vertonen, nach Art der Liedermacher - und sie sollten, wie wir uns ausdrckten fetzen und einschlagen. Ich drechselte zu Hause einige Sachen zusammen, ber unser Leben, das Null Bock und No Future und fand damit zu meinem Erstaunen groen Beifall. Mehrmals waren wir schon damit in evangelischen Gemeinden in Thringen aufgetreten, mit Erfolg. Ich wurde wer in der Szene. Das machte mich stolz und ich kam mir bedeutend vor. Wir hockte also im Keller des Gerberstraenhauses vor unseren Instrumenten. Simone sa mit Freundinnen in der Ecke und hrte unserem Krach, vermischt mit brllendem Gesang, enthusiastisch zu. Da wurde die Tr aufgestoen und ein ganzer Trupp Bullen, mit Schlagstcken in der Hand, brach in den Kellerraum ein. Die anderen waren oben zu sehr damit beschftigt gewesen, abzuhauen, oder schon von den Polypen eingekeilt worden, um uns noch warnen zu knnen.33

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Ich bekam einen heftigen Schlag auf die Schulter, wurde von zwei beleibten Hnen hochgerissen und auf die Strae hinaus in ein Bullenschiff gezerrt. Vllig berrascht hockten wir wie die Kaninchen im Auto. Auf dem VPKA Hauptquartier, unweit des Bahnhofs, wurden wir getrennt und jeder einzeln in ein anderes Zimmer zum Verhr gebracht. Das sei eine Klrung eines Sachverhalts, wurde mir von einem griesgrmigen, lteren Beamten mit Schnauzer erffnet. Es sei das beste fr mich, wenn ich alle Fragen wahrheitsgem beantworten wrde, dann knnte ich vielleicht noch mal mit einem blauen Auge davonkommen! Seit wann ich diese staatsfeindlichen, die DDR und die Werkttigen verunglimpfenden Texte schriebe, wollte er wissen. Ich fragte kleinlaut zurck, welche Texte er meine. Stell Dich nicht dmmer, als Du bist, Brschchen!, fuhr er mich an. Sonst ziehen wir andere Saiten auf, fgte er drohend hinzu. Er holte einige Seiten Papier aus dem Schreibtisch, hielt sie mir unter die Nase. Es waren Entwrfe zu Texten, die ich geschrieben hatte. Wie kamen sie dazu? Ich mute sie nach der Abschrift ins Reine, achtlos irgendwo liegen gelassen haben. Ist das Deine Schrift?, wollte er wissen und sein Ton war scharf und drohend. Es hatte keinen Zweck, das zu leugnen. Die Texte waren in Schreibschrift entworfen und es wre fr sie ein Leichtes, mir zu beweisen, da diese Verse von mir waren. Also gab ich es zu. Nun, das reicht aus, sagte er fast frhlich. Weit Du, was auf staatsfeindliche Hetze steht? Du bist noch nicht volljhrig, aber ein Jhrchen Jugendstrafvollzug knnte schon fr Dich dabei herausspringen. Ich zitterte innerlich. Es sei denn, fuhr er fort... Es sei denn, was?, fragte ich atemlos dazwischen... Siehst Du, grinste er, jetzt wirst Du vernnftig. Wenn man jung ist, nicht wahr, redete er auf einmal fast gtig weiter, dabei holte er ein Pckchen F6 aus der Schublade. Rauchst Du? Ich nickte. Ich machte ein paar Zge ... dann fuhr er fort: also wenn man jung ist, weltanschaulich noch ungefestigt und zudem aus brgerlichen Kreisen stammt, dann kann es einem schon mal passieren, da man ahnungslos verfhrt und verhetzt wird dur


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