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2011 2031 2051 · der tiefere Sinn des Begriffes «Blaubuch » ist. Was ist denn so blau an einem...

Date post: 02-Feb-2019
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56
In die Zukunft: Acht Ärzte an den Schnittstellen zu Leben und Tod Auf die Zukunft: Vier Frauen in erfolgreichen Gesundheitsberufen Aus der Zukunft: Ein 90-jähriger Arzt und seine Enkelin im Gespräch 2011 2031 2051 Medizin an den Grenzen des Lebens AUSGABE 02 | 2011 0-99
Transcript

A u s d e r z u k u n f t

I n d I e z u k u n f t

f ü r d I e z u k u n f t

A u s d e r z u k u n f t

I n d I e z u k u n f t

f ü r d I e z u k u n f t

In die Zukunft: Acht Ärzte an den Schnittstellen zu Leben und Tod

Auf die Zukunft: Vier Frauen in erfolgreichen Gesundheitsberufen

Aus der Zukunft: Ein 90-jähriger Arzt und seine Enkelin im Gespräch

2011 2031 2051

Medizin an den Grenzen des Lebens

A u s g A b e 0 2 | 2 0 11

0 - 9 9

« Jung ist, wer mehr Freude an der Zukunft als an der Vergangenheit hat. »

E d I T o r I A L B L A u B u c h 03

Was ist ein blaubuch?e d I t o r I A l

die reaktionen auf unsere erste Ausgabe waren sehr

positiv. Egal ob sie die journalistische Aufbereitung

oder grafische Gestaltung betrafen. das heft ist

angekommen. Was gleichzeitig Ansporn ist.

Viele Leser haben uns gefragt, was eigentlich

der tiefere Sinn des Begriffes « Blaubuch » ist.

Was ist denn so blau an einem Blaubuch?

Eine interessante Frage. Beginnen wir zunächst

mit dem Volksmund, bei dem Grün die hoffnung

ist und Blau für Vernunft steht. Pustekuchen,

sagen zwei Forscher der university of British

columbia. Blau rege vielmehr die Kreativität an

und fördere so neue Lösungsstrategien und

mutige Innovationen. « Blau ermutigt uns, außer-

halb des gewohnten rahmens zu denken und

kreativ zu sein », sagt Juliet Zhu, eine der beiden

Forscher.

das Blaubuch ist deshalb ständig auf der Suche

nach neuen Konzepten für die Zukunft unseres

Gesundheitswesens. das ist weiter Anspruch und

Programm. In dieser Ausgabe berichten wir über

Ärzte, Patienten und Gesundheitsberufe, die an

den Grenzen des Lebens medizinisch behandeln

und behandelt werden.

Immer jünger — Immer älter. die moderne Medi-

zin ist besser denn je in der Lage, die Grenzen

des Lebens zu erweitern. Wir wollen deshalb mit

Achtsamkeit eine Medizin des Lebens beschreiben.

Wir haben Menschen und orte aufgesucht, wo

der rasante Fortschritt diese Grenzen hinausschiebt,

wo aber auch mit respekt und Würde vor den

Grenzen des Lebens gehandelt wird. Keine Fra-

ge: Es geht um Qualität und Vertrauen, aber auch

um die Sorge der Menschen, dass die Medizin für

den Menschen da ist und nicht umgekehrt der

Mensch für die Medizin. diese Grenze darf nie

überschritten werden.

« Viele Leser haben uns gefragt, was eigentlich der tiefere Sinn des Begriffes Blaubuch ist. Was ist denn so blau an einem Blaubuch? »

Wir suchen Antworten auf die Frage: Was braucht

der Mensch an den Grenzen des Lebens? Egal

ob hochbetagt oder als frühgeborener Mensch.

Welche Zukunftskonzepte nutzen diesen Patien-

ten und wie verbinden sie sich zu einer Medizin

des Lebens? Im Mittelpunkt stehen deshalb in-

novative Therapiekonzepte sowie medizinische

Möglichkeitsräume der Gegenwart. Für ein Ge-

sundheitssystem mit Zukunft. Für eine Zukunft

des Gesundheitssystems.

das blaubuch schreibt über die zukunft. Mutig und innovativ will es über die gegenwart hinausdenken. Mit der farbe blau als kreative brücke in die Welt der Medizin von morgen.W I r W ü n s c h e n v I e l s pA s s M I t u n s e r e M

z W e I t e n b l I c k I n d I e z u k u n f t d e r g e s u n d h e I t.

04 B L A u B u c h I n h A LT

2 0 5 1

Medizin an den grenzen des lebens Menschen und themen 02 | 2 0 11

M o b I l I t ä t s t r A I n e r

t e l o M e r e

M A r k u s M ü s c h e n I c h

p ä d I At r I e

g e r I At r I e

2 0 1 1

2 0 3 1

e I n g e s p r ä c h

s u p e r M A r k e t - b A s e d M e d I c I n e

g e s u n d h e I t s v e r s I c h e r e r

1 . 0 0 0 - t o n n e n - s p I e l

W o r k - l I f e - b A l A n c e

u t z k A p p e r t

r u t h s t r A s s e r

s I x t u s A l l e r t

r A I n e r n e u b A r t

p s Y c h o o n k o l o g I n

e r g o t h e r A p e u t I n

h e b A M M e

b e g l e I t e n

M o t I v I e r e n

k I n d e r r A d I o

e r z I e h e r I n

f r ü h g e b u r t

p r ä n AtA lt h e r A p I e

k l I n I k u M l I c h t e n b e r g

n e u e k I n d e r k r A n k h e I t e n

d I e n e u e n A lt e n

r e h A b I l I tAt I o nl e b e n s g l ü c k

s c h ö n h e I t I M A lt e r

M A r k e e I g e n b A u

n A s e n j o s e p h

k r A n k e n h A u s h A M e l n

d o r I A n g r AY

l e b e n s q u A l I t ä t

M u lt I M o r b I d I t ä t

v e r h A lt e n s s t ö r u n g

k I n d e r . h e I l . k u n d e .

s c h l A f A p n o e

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v I e r l I n g e

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k l I n I k u M d u I s b u r g

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b e W e g e ns A M A n t h A g I M b e l

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I n h A LT B L A u B u c h 05

InhaltE d I T o r I A L W A S I S T E I n B L A u B u c h ? S E I T E 0 3

I M P r E S S u M S E I T E 5 5

l e b e n s g l ü c k

M A r k e e I g e n b A u

k r A n k e n h A u s h A M e l n

l e b e n s q u A l I t ä t

h e r z k l A p p e

g e n e

f e s t h A lt e n

0 6 2 0 5 1

0 8 Mit 90 ist noch lange nicht schluss Backcasting: ein Gespräch aus der Zukunft

über die Gesundheit der Zukunft.

1 6 2 0 1 1

1 8 nahaufnahme die Medizin rund um zu früh geborene Babys wird

immer besser. Eine duisburger Klinik legt aber nicht

nur Wert auf allerbeste Intensivmedizin, sondern

sorgt auch für größtmögliche nähe zwischen Eltern

und Kind.

2 4 herzensangelegenheit Bei über 80-Jährigen wird oft altersbedingt auf eine

herzoperation verzichtet. In dresden sieht man

das anders. die devise: Es gibt keine Altersgrenze,

hochbetagten mit modernster oP-Technik das Leben

zu verlängern.

3 0 schwer beladen Früher hatten Kinder Mumps, röteln, Masern.

heute heißen die Kinderkrankheiten Übergewicht,

Allergien und Verhaltensstörungen. Eine Klinik in

Berlin-Lichtenberg hat sich auf den Wandel einge-

richtet und berät überforderte Eltern und Kids.

3 4 zurück nach vorne Ältere Menschen haben oft große Angst vor einem

Klinikaufenthalt. In einer Berliner Klinik geht man

neue Wege. Ziel ist die höchstmögliche Autonomie

und Lebensqualität der Patienten.

3 8 Altersschön Schönheitsoperationen auch im höheren Alter? Kein

Problem, sagen Klinikärzte in hameln. Sie wollen

das Grundrecht auf gutes Aussehen und Lebens-

glück in jedem Alter garantieren.

4 4 2 0 3 1

4 6 das leben lieben Sabine Petri begleitet schwerstkranke Patienten auf

ihrer letzten Lebensetappe. Ihre Medizin ist das

Zuhören, der respekt und die psychische Stärkung

der Patienten.

4 8 das leben begrüßen Sandra Geltl ist hebamme aus Leidenschaft.

Täglich fährt sie viele Kilometer, um im entschei-

denden Augenblick vor ort zu sein. dann sind

Einfühlungsvermögen und durchsetzungskraft

gleichermaßen nötig.

5 0 das leben hören Karmen Zabel macht radiosendungen mit kranken

Kindern. das hilft, deren Ängste zu lindern. und

macht ihnen Mut, den Aufenthalt im Krankenhaus mit

positiven Aktivitäten zu verbinden.

5 2 das leben erleichtern Samantha Gimbel sorgt dafür, dass Patienten

beweglich bleiben. Körperlich und geistig. Ziel ist

so viel rundum-Lebensqualität wie möglich.

06 B L A u B u c h 2 0 5 1

2 0 5 1deutschland ist ein Viel-Generationen-Land, in dem mehr Ältere

und hochbetagte denn je mit Jüngeren und Jungen zusammenleben.

Wir haben ein Gespräch aus der Zukunft aufgezeichnet. Ein fiktives

Gespräch, das Brücken zwischen den Generationen schlägt.

2 0 5 1 B L A u B u c h 07

08 E S S AY M A r K u S M Ü S c h E n I c h 2 0 5 1

b l I c k I n d I e z u k u n f t

Mit 90 ist noch lange nicht schlussBackcasting: ein Gespräch aus der Zukunft über die Gesundheit der Zukunft.

2 0 5 1 M A r K u S M Ü S c h E n I c h E S S AY 09

dr. Markus Müschenich ist seit 2009 Medizi-nischer Vorstand der Sana Kliniken AG. der 50-jährige Kinder-arzt und Gesundheits-wissenschaftler ist Mitbegründer von «concepthospital», das sich mit Szenarien der Krankenhäuser von morgen beschäftigt.

der noch bei guter Gesundheit zu verbringenden

Lebensjahre korreliert. Lange Telomere im mittle-

ren Lebensalter bedeuteten ein von Krankheiten

wie diabetes und herz-Kreislauf-Erkrankungen

weitgehend freies Leben. nun — so stellte sich bei

weiteren Forschungen heraus — ist die Verkürzung

der Telomere keineswegs nur schicksalshaft und

arithmetisch auf die gelebten Jahre gleich verteilt.

Als erste ursache für eine Verkürzung der Telomere

wurde chronischer Stress identifiziert. Stress, wie

er an den Arbeitsplätzen der republik und damit

auch projiziert auf die Familien zu hause von Jahr

zu Jahr zugenommen hatte. diese Entdeckung

war damals eine Sensation, hatte man doch ei-

nen ersten Schlüssel zur Lebensverlängerung bei

gleichzeitig guter Gesundheit gefunden. und mit

eben dieser Information ausgestattet ging es in

den Wahlkampf. nach dem wenig überraschenden

Wahlsieg wurde das Wahlversprechen tatsächlich

eingelöst. Es kam zur Einführung von Wunschar-

beitszeitmodellen.

Praktiziert habe ich meinen Beruf bis 81. und

wie es der Zufall will, hat meine Enkelin Johan-

ne, selber Kinderärztin, vor 14 Tagen einen Sohn

geboren. Paulinus heißt er. Wir sind per iView

verabredet. dazu schalte ich mein neo-handy

ein und aktiviere die iView-Funktion meiner Brille.

Statt ein display oder einen Bildschirm vor sich

zu haben, schaut man heute einfach durch seine

Brille und sieht seinen Gesprächspartner scharf

und angenehm großformatig. Johanne wohnt in

9. Juni 2051. Ein warmer Freitagnachmittag in

Berlin. Mein name ist Markus Müschenich. Ich

bin Kinderarzt und habe viele Jahre als Zukunfts-

forscher und Topmanager im Gesundheitswesen

gearbeitet. heute feiere ich meinen 90. Geburtstag.

Ich gehöre jetzt offiziell zu den hochbetagten. Mit

mir sind das über zwei Millionen in diesem Land.

Zum Vergleich: Im Jahr 2010 gab es gerade einmal

400.000 Menschen in der Generation 90 plus. Wir

sind jetzt viele.

Im Gegensatz zu früher ist der Freitag nicht mehr

der letzte Tag vor dem Wochenende. Trotz der

Proteste von Gewerkschaften und Kirchen hat man

ab 2025 die feste Einteilung von Wochenarbeits-

tagen und Wochenende abgeschafft. Stichwort:

Work-Life-Balance. Begonnen hatten damit Firmen,

die schon früh das Thema Familienfreundlichkeit

auf ihre Fahnen schrieben und für die Mitarbeiter

Möglichkeiten schufen, die Arbeitszeiten mit ihrem

Familienleben zu harmonisieren. Berücksichtigt

wurde dabei nicht nur die Versorgung der Kinder,

sondern — die demografie ließ bereits grüßen — auch

die zunehmende Pflege von Angehörigen. 2025

zog eine der großen Volksparteien dann in den

Bundestagswahlkampf mit der Aussicht auf ein

Familienarbeitsgesetz.

Was auf den ersten Blick schien wie reine Wahl-

kampftaktik, hatte tatsächlich einen gesundheitswis-

senschaftlichen hintergrund. die Wissenschaft hatte

sich längst auf den Weg gemacht, die Mechanismen

des Alterns zu erforschen. dabei war man auf die

sogenannten Telomere gestoßen. diese bestehen

aus Proteinen und dnA, sitzen wie Kappen auf den

Enden unserer chromosomen und schützen so das

Erbgut jeder einzelnen Zelle vor der Zerstörung

durch äußere Einflüsse. Mit dem Alter werden diese

Telomere immer kürzer. die Geschwindigkeit, mit

der sich die Telomere verkürzen, ist von Person

zu Person unterschiedlich. Forscher fanden he-

raus, dass die Länge der Telomere mit der Anzahl

« Mit mir gibt es über zwei Millionen hochbetagte in diesem Land. Zum Vergleich: Im Jahr 2010 gab es gerade einmal 400.000 Menschen in der Generation 90 plus. Wir sind jetzt viele. »

München — also keine Zeitverschiebung — , ein

kleiner Segen in unserer globalisierten Welt. und

so kann es losgehen.

hebammen wissen oft mehr

Hallo, Großvater, das ist schön, dass du anrufst.

Meine allerherzlichsten Glückwünsche zum Ge-

burtstag. Schade, dass du noch in Berlin bleiben

musst, aber wir feiern hier groß nach!

Johanne, wie freue ich mich, dich zu sehen und

zu hören. Gut siehst du aus. und wie geht’s dem

neuen Erdenbürger?

Paulinus ist ein fröhliches Bürschchen. Obwohl

wir ja bei der Geburt ein paar bange Minuten

überstehen mussten. Gott sei Dank hat sich

die Hebamme durchgesetzt. Der Arzt wollte ja

schon den guten alten Kaiserschnitt ansetzen,

aber die Hebamme meinte, das Baby würde sich

noch drehen. So kam es dann auch.

Ja, ein Glück, dass hebammen heute viel mehr

Mitspracherecht als früher haben. Ihr Erfahrungs-

wissen ist genauso viel wert wie das medizinische

Apparatewissen. heute gibt es zwar das Wissen

von 1.000 Arztjahren per download, aber die ei-

gene Erfahrung ist dann doch etwas, was einen

wirklichen Experten ausmacht. und da sind die

hebammen, die mehr Geburten begleitet haben als

so mancher Arzt, ein gutes Beispiel. Ich erinnere

mich nur zu gut: Wie oft wurde ich als Kinderin-

tensivarzt zu einem notfall-Kaiserschnitt in den

Kreißsaal gerufen. Wir konnten bereits am Schritt

der hebamme erkennen, in welcher Gefahr das

Baby war. Wenn sie rannte und das Baby, das in

ein oP-Tuch gewickelt war, nicht schrie, war Ge-

fahr im Verzug. Wenn man aber in dem oP-Tuch

das Kind gar nicht richtig sehen konnte, weil es

so winzig war, dann wussten alle, dass die Lage

extrem ernst war. Aufgeatmet haben wir, wenn die

hebamme normalen Schrittes unterwegs war und

das Baby ein kräftiges Schreien hören ließ — dann

waren wir Kinderärzte eigentlich überflüssig.

Du, Großvater, wie war das eigentlich früher?

Wenn man heute die Frühchenmedizin anschaut,

können die schon 200 Gramm schwere Mensch-

lein in den neuen Inkubatoren aufpäppeln.

na ja, hier hat sich der medizinische Fortschritt ex-

trem weiterentwickelt. So um die Jahrhundertwende

galt die Faustregel: ab der 26. Schwangerschafts-

woche. heute ist es ab der 20. Woche. Apropos

medizinischer Fortschritt. Wenn wir uns das mal

allgemein anschauen: das große umdenken in der

Medizin begann eigentlich Ende der 2010er-Jahre.

damals war klar, dass infolge ungesunder Lebens-

führung Krankheiten wie Übergewicht, diabetes

mit den schlimmsten Folgeerkrankungen, demenz,

herzinfarkte und Schlaganfälle, altersassoziierte

Krebsarten und gefährliche Infektionen zu stark

überhandnahmen. Es musste etwas passieren.

Der Staat nahm die Dinge in die Hand?

Ja, er reagierte in zwei richtungen. Zum einen

wurde die Erforschung altersassoziierter Krank-

heiten mit großen Summen gefördert. die Exzellenz-

cluster der universitäten wurden verpflichtet, sich

« das große umdenken in der Medizin begann eigentlich Ende der 2010er-Jahre. damals war klar, dass infolge ungesunder Lebensführung einige Krankheiten zu stark überhandnahmen. Es musste etwas passieren. »

10 E S S AY M A r K u S M Ü S c h E n I c h 2 0 5 1

mit dem Alter zu beschäftigen. und in der Logik

der Forschungsergebnisse begann das Alter mit

dem Zeitpunkt der Geburt. Also wurden sowohl die

Babys als auch die hochbetagten zum Schwer-

punkt der lebenswissenschaftlichen Forschung.

und dann rasselten die Ergebnisse nur so durch

die Forschungslandschaft. Großartig war die Ent-

deckung der Pathomechanismen der demenz im

Jahr 2022. Als man diese kennengelernt hatte,

waren es vergleichsweise kleine Schritte zur The-

rapie des geistigen Verfalls. Gleichzeitig bestätigte

sich die Erkenntnis, dass die Lebensumstände der

ersten zwei Lebensjahre bereits deutliche Auswir-

kungen auf den Zustand der Gesundheit im hohen

Lebensalter und damit auf die Lebenserwartung

haben. Bereits vor Jahrzehnten war einem For-

scher in Afrika aufgefallen, dass Kinder, die in

Perioden der dürre geboren worden waren, auch

wenn sie diese unbeschadet und für Jahrzehnte

überlebten, früher starben als ihre Geschwister,

die in Zeiten bestmöglicher Säuglingsernährung

auf die Welt gekommen waren. die hypothese der

sogenannten Programmierung war geboren und

besagte, dass bereits die Qualität der Ernährung

vor der Geburt im Mutterleib Auswirkungen auf die

Gesundheit im späteren Lebensalter und auf die

Lebenserwartung hat. Ernährung und Bewegung

ebenso wie die Förderung kindgerechter Bildung

scheinen der Schlüssel für ein langes und gesun-

des Leben zu sein.

babys, bildung, business

Ich glaube, da hat unser Paulinus einen guten Start

gehabt. Dahinter aber steht der Gedanke, dass

wir ganzheitlicher im wahrsten Sinne des Wortes

vorgehen müssen. Mir fällt da B3+ ein.

Genau. B3+ war ein großes Gesundheitsprogramm,

das 2020 startete. Es stand für Babys + Bildung +

Business und sollte sicherstellen, dass sowohl

das demografische Problem bei seinen Wurzeln

angepackt als auch über die Steigerung des Bil-

dungsniveaus die Prävention von Krankheiten

auf die Agenda genommen wurde. die Gesundheitswirtschaft — und dazu

gehörte dann das B für Business — sollte als Treiber des Programms gewor-

ben werden und sicherstellen, dass quasi im nebenschluss die Gesundheit

auf ein exportfähiges Topniveau gebracht würde. nach einer großzügigen

Kabinettsumbildung und der Androhung der Kanzlerin (es war bereits die

zweite Kanzlerin in der Geschichte deutschlands, aber die erste mit Zwil-

lingen), ein Superministerium für Gesundheit, Bildung und demografie zu

schaffen, entwickelte man den B3+-Masterplan. Alle machten mit.

Ich habe kürzlich gelesen, wie schnell sich B3+ entwickeln konnte.

Stimmt. die Modellregion für das B3+-Programm war Berlin. dort war al-

les vorhanden, was ein Gesundheitswirtschaftssystem, das einen solchen

namen tatsächlich verdienen würde, benötigte. Eine flächendeckende Ver-

sorgung mit Ärzten in Praxen und Krankenhäusern (heute im Jahr 2051

unterscheiden wir nicht mehr zwischen stationärer und ambulanter Medizin

und sprechen stattdessen von Versorgungs-Areas). Außerdem gab es eine

universitätsklinik, die sich ohnehin das Thema Life Sciences auf die Fahnen

geschrieben und sich bereits seit Jahren intensiv auf die Suche nach dem

nächsten nobelpreisträger aus den eigenen reihen gemacht hatte. dazu

kamen eine aktive Pharma- und Medizintechnikindustrie, diverse Gesund-

heitsversicherer (die man früher Krankenkassen nannte) und natürlich die

Standes- und Verbandsvertretungen. Außerdem waren die Berliner zu 99,5

Prozent aktive onliner und damit in der Tat prädestiniert für das bislang

größte Experiment in Sachen Gesundheit.

Und da war es nur noch ein kleiner Schritt zu deinem Herzens thema,

der Lebensgesundheitsakte?

Es herrschte einfach eine enorme Aufbruchsstimmung. das technische

« die Qualität der Ernährung vor der Geburt hat bereits Auswirkungen auf die Gesund-heit im späteren Lebensalter und auf die Lebenserwartung. Ernährung und Bewegung ebenso wie die Förderung kind-gerechter Bildung scheinen der Schlüssel für ein langes und gesundes Leben zu sein. »

2 0 5 1 M A r K u S M Ü S c h E n I c h E S S AY 11

herzstück bildete ein Serversystem, auf dem alle

Berliner ihre Gesundheitsinformationen in ihrem

Personal data depot — kurz Pdd — speichern

konnten. das Pdd war gewissermaßen eine Le-

bensgesundheitsakte und sollte seinen Besitzer

ein ganzes Leben lang begleiten und dafür sorgen,

dass alle relevanten Gesundheitsinformationen

stets an der Stelle vorhanden waren, wo sie gera-

de benötigt wurden. Äußerst praktisch bei jedem

Arztbesuch und nachvollziehbar lebensrettend im

notfall. Jedes in der Stadt geborene Baby sollte

sein Leben mit einem Pdd beginnen, und nach

dem Tod konnte jeder seine Informationen der

Wissenschaft spenden, die so außerhalb von

Studien der pharmazeutischen Industrie wichtige

Informationen zu Gesundheit und Krankheit zur

Auswertung erhielten. Gespeichert wurde in der

cloud. und die Technik stand auf dem ehemaligen

Gelände des Gefängnisses in Berlin Moabit. die

Berliner nennen ihr Pdd übrigens seitdem Köpi,

benannt nach dem hauptmann von Köpenick, der

im Moabiter Gefängnis inhaftiert war. »

berlin wird eine Million kilo leichter

Heute ist alles auf Gesundheit ausgerichtet.

Überall trifft man auf Gesundheitsförderung.

Man könnte fast sagen: Ganz Deutschland hat

die Gesundheit entdeckt. Kinderärzte agieren als

Paten von Kindergärten und Schulen. Münchner

Physiotherapeuten trainieren Lehrer und Erzieher

in Sachen gesunder Bewegung. Die Köche der

großen Münchner Hotels zeigen jeden Samstag

auf dem Odeonsplatz, wie man gesund kochen

kann. Und in den Schulen ist Gesundheit längst

Hauptfach geworden.

Kennst du die Geschichte, wie Berlin eine Mil-

lion Kilo leichter wurde? Ein Berliner unterneh-

mer spendete damals eine Million Euro für das

1.000-Tonnen-Spiel. dabei ging es darum, dass die

Berliner in einem Jahr 1.000 Tonnen an Gewicht

abnehmen sollten, und der Gewinner war der, der

das letzte Kilo zur 1.000. Tonne beisteuerte. das

Ganze passierte online und die Waagen standen

über die ganze Stadt verteilt. Am Ende des Jahres

war Berlin tatsächlich um eine Million Kilogramm

leichter geworden. Eine enorme Menge — auch

wenn es nur durchschnittlich 300 Gramm je Ein-

wohner gewesen waren.

Ach, Großvater, ich höre dir so gerne zu, wenn

du über die Gesundheitswirtschaft der letzten

Jahrzehnte sprichst. Aber sag, wie geht’s dir

denn ganz persönlich?

Zurzeit wieder ganz gut. Eigentlich sogar noch

besser, weil ich jetzt als 90-Jähriger völlig von

allen Steuern befreit bin. Erinnerst du dich an

meinen VW Golf, den ich mir 2011 gekauft habe?

der ist als oldtimer schon seit 2031 steuerbefreit,

ich erst jetzt.

Das wusste ich gar nicht. Du scherzt?

nein, unsere neue Gesundheitsministerin hat sogar

einen neuen Slogan: Alte Menschen total mobil

machen, nicht total gesund! da hat sie recht, denn

meine Krankheits- und Störungsbegleiter werde

ich nicht mehr los, doch meine soziale Mobilität zu

verlieren, würde mir schweren Schaden zufügen.

Glaube mir, ich bin so froh, dass mein Longlife-coach

dreimal die Woche alle anstehenden dinge mit mir

« Ganz deutschland hat die Gesundheit entdeckt. Kinderärzte agieren als Paten von Kindergärten und Schulen. Köche zeigen jeden Samstag auf öffentlichen Plätzen, wie man gesund kochen kann. und in den Schulen ist Gesundheit längst hauptfach geworden. »

12 E S S AY M A r K u S M Ü S c h E n I c h 2 0 5 1

durchspricht. dazu kommt noch der halbjährliche

check für Körper, Geist und Seele. Interdiszipli-

när und vor allem, interprofessionell. neben der

Schulmedizin kommen dabei auch alternative heil-

methoden zum Einsatz. der wichtigste Experte

für mich ist mein Mobilitätstrainer. denn eines ist

mir heute klar: Mobilität ist das Wichtigste im Alter.

und heute weiß man ja, dass die meisten alten

Menschen nicht an klar abgrenzbaren Krankheiten

sterben, sondern infolge zu geringer Mobilität. und

wenn man sich so umschaut, stehen wir Alten gar

nicht so schlecht da. der durchschnittliche Ge-

sundheitszustand bessert sich von Jahr zu Jahr.

Sogar die Selbstmordrate in meiner Altersgruppe

konnte deutlich gesenkt werden.

das Alter simulieren

Dein Wort in Gottes Ohr, Großvater. Übrigens:

Ich bereite mich jetzt schon auf mein Alter vor.

Dabei nutze ich einen der neuen Alterssimu-

latoren. Da erfährt man ziemlich genau, wie

man sich mit 90 fühlt. Inklusive Mobilitäts- und

Schmerzsimulation, Hör- und Sehfähigkeit und

der geistigen Aktivität. Dazu verbindet man sich

mit seiner Lebensgesundheitsakte und macht

einige Angaben zum aktuellen Lebensstil. Also:

sportliche Aktivitäten, Ernährungsgewohnheiten,

Stressfaktoren und was man macht, um sich

geistig fit zu halten. Wenn man will, kann man

eine aktuelle Telomer-Analyse hinzufügen. Dann

bekommt man mitgeteilt, wie hoch die Lebens-

erwartung bei welcher Lebensqualität ist. Ich

habe mal zum Spaß eingegeben: 20 Zigaretten

täglich, fünf Bier und kein Sport. Das Ergebnis

war beeindruckend. Ich werde gar nicht erst 90.

Dann habe ich meine tatsächlichen Lifestyle-

Daten eingegeben. Damit kann ich zwar 90

werden, meine Mobilität wird dann allerdings

sehr eingeschränkt sein. Um mit 90 so fit zu sein

wie du, werde ich noch einiges tun müssen. Das

Programm dafür steht, aber mein Leben muss

sich doch ein gutes Stück ändern, um auch im

Alter noch mobil zu sein.

Wenn du rechtzeitig anfängst, wird es klappen.

und außerdem gibt es ja noch hilfsmittel. Ich habe

mein E-Bike. Auch so eine Antiquität, Baujahr 2016.

Wenn ich aus der Wohnung gehe, schwenke ich

in Alt-Moabit in die E-Bike-Spur ein. Ein E-Band

am rande der Straße versorgt den Elektromotor

mit Strom, eine chipkennung rechnet den ver-

brauchten Strom in Echtzeit ab. Eine Fahrt von

Alt-Moabit nach Tegel kostet 40 cent. das nenne

ich Mobilität im Alter.

Aber man liest immer wieder von Unfällen,

Großvater!

Keine Sorge, ihr wisst doch: der körperliche Zustand

eines alten Menschen ist immer das Ergebnis des-

sen, was er seinem Körper früher zugemutet hat.

und mein Motto im Alter ist: Lieber fit für den Alltag

als perfekt gesund. Letzteres schaffe ich eh nicht,

das Erste hingegen ist und bleibt mein Ziel.

« Mobilität ist das Wichtigste im Alter. die meisten alten Menschen sterben nicht an klar abgrenzbaren Krankheiten, sondern infolge zu geringer Mobilität. hier fängt die Medizin des Bewegens und Bewegt-werdens an. »

2 0 5 1 M A r K u S M Ü S c h E n I c h E S S AY 13

Deine Lebensklugheit hätte ich gerne. Oje,

da meldet sich unser kleiner Paulinus, er hat

Hunger. Ich fürchte, Großvater, wir müssen un-

ser interessantes Gespräch vertagen. Aber du

kommst ja in zwei Wochen nach München. Es

bleibt doch dabei?

Klar, ich freue mich schon. und lass unser neues

Familienmitglied nicht zu lange warten. denn hun-

gernde Kinder leben kürzer, lass dir das von einem

alten Kinderarzt sagen. Tschüss, ihr Lieben!

Tschüss, Großvater!

Wie alt werden wir morgen?

Ich schalte mein neo-handy aus und hänge noch

einem Gedanken nach. Was ist Gesundheit für

mich? heute ist mir klar, nicht mehr die Abwesen-

heit von Krankheit. Es ist die persönliche Über-

nahme der Verantwortung für die bestmögliche

eigene Gesundheit. Es geht also primär um eine

vorausschauende Versorgung rund um die Ge-

sundheit. und vorausschauend heißt eben nicht

nur die Versorgung im Krankheitsfall, sondern

auch die unterstützung, gar nicht erst krank zu

werden. Ich erinnere mich noch gut an den Slogan

« Gesundheit passiert im Supermarkt ». Wer einen

Supermarkt betrat, wurde freundlich gefragt, ob

er eine Verkaufsberatung unter Berücksichtigung

seiner aktuellen Laborwerte und gesundheitlichen

risikoparameter wünschte, und an der Kasse gab

es nicht mehr die Frage nach Payback-Karten

oder Treuepunkten, sondern nach credit Points

der Gesundheitsversicherer. Vorausgesetzt, man

hatte die richtigen Produkte in den Einkaufswagen

gelegt. die Gesundheitsversicherer schlossen in-

tegrierte Versorgungsverträge mit Warenhäusern,

damit ihre Versicherten einen besseren Zugang zu

gesunden Lebensmitteln erhielten. der Begriff der

Supermarket-Based Medicine machte mit einem

Augenzwinkern die runde. noch einfacher war die

Auswahl gesunder Produkte für die, die ohnehin

online ihre Lebensmittel bestellten. die online-

kataloge, die auf dem Bildschirm erschienen,

blendeten individuell und direkt solche Produkte

aus, die der Gesundheit des eingeloggten Kunden

abträglich sein konnten.

Im Jahr 2051 haben wir viel erreicht in Sachen Ge-

sundheit, leider gibt es auch einen Wermutstropfen.

der Wunsch nach einer gesunden Bevölkerung

wurde nur zum Teil erfüllt. denn ein Trend, der sich

bereits am Anfang des Jahrhunderts abgezeich-

net hatte, schlägt nun voll durch. Gemeint ist der

gewaltige Anstieg der psychischen Erkrankungen.

die Arbeitswelt, die über Jahrzehnte den flexiblen

Mitarbeiter gefordert und weidlich genutzt hatte, sah

sich heerscharen von ausgebrannten Menschen

gegenüber. Längst waren es aber nicht mehr nur

die Topmanager. Es waren Arbeiter und Angestell-

te, hausfrauen und solche, die man lange wegen

ihres Gleichmuts als Lebenskünstler bezeichnet

hatte. doch das war — nach den ausgebrannten

Managementetagen — erst die zweite Welle der

Erkrankten. und dieser sollte noch eine dritte fol-

gen, bis unsere Gesellschaft begriff, dass es nicht

gereicht hatte, übermäßige Kalorien, nikotin, Teer

und Alkohol in den Griff zu bekommen. Erst als die

diagnosestatistiken zeigten, dass depressionen und

« der körperliche Zustand eines alten Menschen ist immer das Ergebnis dessen, was er sei-nem Körper früher zugemutet hat. Mein Motto im Alter ist: Lieber fit für den Alltag als perfekt gesund. Letzteres schaffe ich eh nicht, das Erste hingegen ist mein Ziel. »

14 E S S AY M A r K u S M Ü S c h E n I c h 2 0 5 1

Burn-outs auch unsere Kinder und Jugendlichen

erreicht hatten, wurde klar, dass gesunde Alte nicht

ausreichten, eine Gesellschaft wirklich stabil zu

halten, wenn gleichzeitig die Kinder immer kränker

wurden. Kinder, die schon im Kindergarten auf

den Weg zum Prädikatsexamen geschickt wurden.

Kinder, die zwar perfekt das nächste Level des

Intelligenz fördernden onlinespiels bewältigten,

aber beim rennen über eine Wiese aussahen, als

würden sie das erste Mal in ihrem Leben draußen

spielen. Eltern waren keine Seltenheit, die ihren

Sprösslingen nicht deshalb nachhilfeunterricht

geben ließen, weil die Klassenarbeiten schlecht

benotet worden waren, sondern um sie rechtzei-

tig auf den Lernstoff des nächsten Schuljahres

vorzubereiten — eine Folge falsch verstandener

Bildungspolitik. und wenn das nicht ausreichte,

gab es ja noch die neuroenhancer.

diese Pharmazeutika steigerten die geistige Leis-

tungsfähigkeit und waren seit Jahren bereits der

tägliche Begleiter der Erwachsenenwelt. unsere

Gesellschaft hatte es auch hier geschafft, aus

Kindern kleine Erwachsene zu machen. und nun

hatten diese kleinen Erwachsenen auch dieselben

Erkrankungen wie ihre großen Vorbilder. und das

ist das Problem, an dem wir im Jahr 2051 gera-

de arbeiten. Wir werden sehen, ob wir auch das

werden lösen können. Besser wäre es gewesen,

wenn man vor 40 Jahren begonnen hätte, es zu

verhindern.

Gerade schiebt eine junge Mutter ihren Kinder-

wagen vorbei. Ich denke mir: Kinder sind auch

heute keine kleinen Erwachsenen. Sie sind am

Anfang hilflos, werden umsorgt und betreut. Sie

lernen gehen, werden mobil und streben hinaus

in die Welt. Am Ende sind die Menschen wieder

hilflos und oft einfach nur krank, weil sie zu wenig

mobil sind. Ich denke an meinen roboter zu hause

und lächle. Er nimmt mir im haushalt wahnsinnig

viel Arbeit ab. oje, in einer halben Stunde findet

in der charité ein Vortrag statt. Thema: Wie alt

werden wir morgen? da möchte ich mit 90 auf

jeden Fall dabei sein.

« Kinder sind am Anfang hilflos, werden umsorgt und betreut. Sie lernen gehen, werden mobil und streben hinaus in die Welt. Am Ende sind die Menschen wieder hilflos und oft einfach nur krank, weil sie zu wenig mobil sind. »

2 0 5 1 M A r K u S M Ü S c h E n I c h E S S AY 15

16 B L A u B u c h 2 0 11

2 0 11Am Anfang und am Ende des Lebens brauchen Menschen

medizinische Versorgung am dringendsten. Wir haben Kliniken

besucht, in denen Altersmedizin nicht nur die Gegenwart

repariert, sondern auch mehr und neue Zukunft schafft. Egal

für welches Alter.

2 0 11 B L A u B u c h 17

18 2 0 11 A x E L F E L d K A M P / T h o r S T E n r o S E n B A u M / M A r K u S S c h M I d T

j e d e s z e h n t e k I n d k o M M t z u f r ü h z u r W e lt

nahaufnahmeFrühchen sind die verletzlichsten Patienten. Eine duisburger Klinik sorgt dafür, dass der Frühstart ins Leben für Kind und Eltern gelingt. Mit Intensivmedizin und größtmöglicher Eltern-Kind-nähe.

nur 620 gramm wiegt das frühchen, das

heute im perinatalzentrum des klinikum

duisburg geboren wurde. Wie hoch sind

seine überlebenschancen?

Feldkamp: das Gewicht spielt zwar eine rolle für

die Überlebensfähigkeit, entscheidender aber ist

die reife, also die dauer der Schwangerschaft zum

Zeitpunkt der Geburt. nach unserem Ermessen fängt

die Lebensfähigkeit in der 24. Schwangerschafts-

woche an. das Frühchen in unserer Station wurde

in der 26. Schwangerschaftswoche geboren, ab

der 25. Woche rechnen wir mit Überlebenschancen

von 50 Prozent. Bei sehr kleinen Frühgeborenen

ist allerdings das risiko hoch, dass sie wegen der

extremen unreife ihrer organsysteme schwere

Behinderungen entwickeln.

Mit welchen medizinischen Maßnahmen

lassen sich die überlebenschancen von

frühchen verbessern?

Schmidt: Zunächst versuchen wir Zeit zu gewin-

nen — wenn möglich mindestens zwei Tage, um

eine Lungenbehandlung durchzuführen. diese

zweimaligen cortisongaben an die Mutter verbes-

sern die Prognose des neugeborenen erheblich.

Während dieser Zeit führen wir intensive Gesprä-

che mit den beteiligten Ärzten und helfen den

Eltern, die für sie völlig neue und beängstigende

Situation besser zu verstehen. Entbunden wird

üblicherweise mit Kaiserschnitt, das ist für das

Kind weniger riskant.

Feldkamp: Bei der Erstversorgung nach der Geburt

sorgen wir dafür, dass das Kind keine Temperatur

verliert, und prüfen sehr behutsam Vitalparame-

ter wie Atmung und herz-Kreislauf-Funktionen.

Wenn nötig stimulieren oder unterstützen wir die

Atmung. dann legen wir Infusionen für die Flüs-

sigkeitsversorgung. Ist die Lunge noch unreif,

bekommen die Frühgeborenen Surfactant — ein

Präparat, das aus Schweine- oder rinderlungen

Von oben nach unten — Prof. dr. Thorsten rosenbaum,dr. Axel FeldkampKlinik für Kinder-heilkunde und JugendmedizinProf. dr. Markus SchmidtKlinik für Frauen-heilkunde und GeburtshilfeKlinikum duisburg

Warum zu früh?

Etwa die hälfte der frühgeborenen Kinder kommt auf-grund von uroge- nitalen Infektionen der Mutter zur Welt. Wenn Keime aus der Scheide in die Fruchtblase gelangen, produ-zieren sie Prostag-landine, die Wehen

auslösen. Ein zwei ter Grund für Früh geburten sind Erkrankungen oder Funktionsstörung-en der Plazenta, die zur mangelnden Versorgung der Fö-ten mit nährstoffen führen. die dritte große Gruppe der Frühgeburtsrisiken

sind Mehrlings- schwangerschaf- ten. die meisten Zwillinge kommen ein paar Wochen zu früh, drillinge oder Vierlinge kommen immer zu früh. Grund für die Zunahme der Mehrlingsschwan-gerschaften ist eine

vermehrte nutzung reproduktionsmedi-zinischer Aktivitä-ten. In Zusammen-hang damit steht auch das steigen- de Alter der Frau- en bei ihrer ersten Schwangerschaft, das heute um zehn Jahre höher liegt als noch vor zwei

Jahrzehnten. Ab etwa 35 Jahren steigt statistisch gesehen das Früh-geburtsrisiko. Wei-tere ursachen für Frühgeburten sind chronischer Stress. Auch rauchen vor und während der Schwangerschaft erhöht das risiko.

M A r K u S S c h M I d T / T h o r S T E n r o S E n B A u M / A x E L F E L d K A M P 2 0 11 19

« Ganz wichtig ist, dass wir sie regelmäßig und sehr früh aus dem Inkubator nehmen und ihren Eltern auf die Brust legen. diese sogenannte Känguru-Methode wirkt stark beruhigend auf die Frühchen und hat sehr positiven Einfluss auf ihre reifung und Gesundung. » dr. Axel Feldkamp

Kangarooing

gewonnen wird und die Stabilität der Lungen-

bläschen erhöht. diese relativ neue Therapie hat

die Sterblichkeit von Frühgeborenen signifikant

vermindert. recht neu ist auch die Erkenntnis,

dass ruhe, nähe und Geborgenheit für Frühchen

extrem wichtig sind. deshalb beachten wir das

Prinzip des « minimal handling », das heißt, wir

vermeiden unnötige Behandlungen und andere

Stresssituationen für das Kind. dazu gehört auch,

dass wir die Frühgeborenen regelmäßig und sehr

früh aus dem Inkubator nehmen und ihren Eltern

auf die Brust legen. diese sogenannte Känguru-

Methode wirkt stark beruhigend auf die Frühchen

und hat sehr positiven Einfluss auf ihre reifung

und Gesundung.

Was unterscheidet ein perinatalzentrum

von anderen einrichtungen der neugebore-

nenmedizin?

rosenbaum: dank der engen Zusammenarbeit

vieler interner und externer Spezialisten können

wir Schwangerschaften und Frühgeborene mit

höchstrisiko behandeln. den Kern des Zentrums

bilden Geburtshilfe und neonatologie, die je nach

Fall von neuropädiatern, Kinderkardiologen oder

-chirurgen und weiteren spezialisierten Fachärz-

ten, Pflegern oder Krankenschwestern unterstützt

werden. nach der Geburt bleiben die Kinder oft

bis zu vier Monaten zur Behandlung bei uns, und

auch zu späteren Zeitpunkten kontrollieren wir

ihren Entwicklungsstand, damit Störungen wie

Krampfanfälle oder Bewegungsprobleme rechtzeitig

erkannt und therapiert werden können. Außerdem

entwickeln und koordinieren wir zur unterstützung

der Familien individuelle frühkindliche Förderkon-

zepte für die Zeit nach der Entlassung.

Feldkamp: Wir helfen den Eltern von Anfang an,

sicher und souverän mit ihrem Frühgeborenen

umzugehen. Gemeinsam mit dem Pflegeperso-

nal lernen sie, Körperkontakt zu ihren Kindern

« Wenn das Kind zu früh kommt, zerbricht nicht nur die Illusion vom Wunsch kind, sondern der ganze Lebensentwurf der Familie. » Prof. dr. Thorsten rosenbaum

20 2 0 11 A x E L F E L d K A M P / T h o r S T E n r o S E n B A u M / M A r K u S S c h M I d T

aufzubauen und sie als Individuum zu begreifen.

Außerdem gibt es auf der Intensivstation einige

Zimmer, in denen die Mütter kurz vor der Ent-

lassung den Alltag zu hause üben können. Sie

versorgen und pflegen ihre Kinder selbständig,

können aber bei Bedarf jederzeit auf professionelle

hilfe zurückgreifen.

Mit welchen großen themen wird

sich die perinatalmedizin in zukunft zu

beschäftigen haben?

Schmidt: Für die Geburtshilfe ist das die intrauterine

Therapie, also die Behandlung von Krankheiten

am ungeborenen Fötus, damit er bis zum opti-

malen Zeitpunkt der Geburt in der Gebärmutter

bleiben kann. Einiges ist auf diesem Gebiet be-

reits möglich, etwa Bluttransfusionen oder die

Stabilisierung der herzleistung, und es gibt auch

erste Möglichkeiten, gewisse Fehlbildungen des

Fötus in der Gebärmutter zu operieren.

Feldkamp: der größte medizinische Erfolg wäre,

Frühgeburten ganz zu vermeiden — doch das bleibt

vorerst utopie. Konkrete Fortschritte in der neo-

natologie ließen sich aber erzielen, wenn durch

bauliche Maßnahmen ermöglicht würde, dass

Eltern auch auf der Intensivstation jederzeit bei

ihren Frühgeborenen bleiben und sich dort in

eigene räume zurückziehen können. In Schwe-

den werden solche Konzepte bereits vorbildlich

umgesetzt.

rosenbaum: Ich erlebe bei Frühgeburten oft, dass

der Kinderwunsch perfekt in die Lebenssituation

eingeplant war. Wenn das Kind dann zu früh kommt,

zerbricht nicht nur die Illusion vom Wunschkind,

sondern der ganze Lebensentwurf der Familie.

die Gesellschaft wird sich künftig mehr mit ihren

Idealvorstellungen von Leben auseinandersetzen

müssen, und damit, was in der Schwangerschafts-

und Geburtsmedizin vertretbar ist.

« die Zukunft der Geburtshilfe ist die Behandlung von Krankheiten am ungeborenen Fötus. » Prof. dr. Markus Schmidt

Lebensrettende Pränataltherapie

der Fötus als Patient

noch vor wenigen Jahrzehnten war die Medizin machtlos, wenn bei ungeborenen Erkrankungen und Fehlbildungen diagnos-tiziert wurden. heute gibt es viele Möglichkei-ten, Erkrankungen des Fötus in der Gebärmut-ter zu therapieren.

Am häufigsten werden Medikamente einge-setzt, etwa zur Behand-lung von herzrhyth- musstörungen oder bei Toxoplasmose, ei-ner Infektionskrankheit der Mutter, die für das ungeborene lebensbe-drohlich sein kann. Anämie oder Blutun-verträglichkeiten lassen sich mit Bluttrans-

fusionen über die nabelschnur erfolg- reich therapieren.

Auch chirurgische Ein-griffe sind zunehmend möglich, meistens ohne großen Bauchschnitt, sondern mit minimalin-vasiver operationstech-nik. dabei operieren spezialisierte Ärzte mit winzigen Geräten durch wenige Millimeter dün-ne röhrchen, die von außen in die Gebärmut-ter eingeführt werden.

Auch der « offene rücken » (siehe unten) lässt sich mit dieser operationstechnik erfolgreich behandeln, ebenso das Zwillings- transfusionssyndrom — eine Ernährungs- und durchblutungs-störung bei eineiigen Zwillingen, die unbe-handelt in vielen Fällen tödlich verläuft.

die vorgeburtliche chi-rurgie ist noch sehr neu und fast immer auch mit risiken verbunden. deshalb muss jede einzelne operation von einer Ethikkommission genehmigt werden.

fig.: der offene rücken (Spina bifida) ist eine der häufigsten Behinderungen bei neugeborenen und äußert sich in einer Vorwölbung, an der das rückenmark nach außen tritt. die Fehlbildung des embryonalen neuralrohrs führt in schweren Fällen zu Querschnittslähmung, gestörten Blasen- und darmfunktionen, vielfach auch zum Wasserkopf. Mit einem fetalchirur-gischen Eingriff kann ein Fortschreiten der nervenschädigungen recht-zeitig vermieden werden.

Zerebrospinal-

flüssigkeitWirbelsäule

rückenmark

M A r K u S S c h M I d T / T h o r S T E n r o S E n B A u M / A x E L F E L d K A M P 2 0 11 21

die wichtigsten Schritte der Kindesentwicklung

das Leben beginnt

Selbst wenn die Geburt zum errechneten Zeitpunkt erfolgt, kommt das

neugeborene sehr viel unfertiger auf die Welt als jedes Tier. nicht einmal

die embryonale Entwicklung ist bei der Geburt vollständig abgeschlossen,

dazu wäre eine Schwangerschaft von 21 Monaten nötig.

das Gehirn zum Beispiel entwickelt sich größtenteils erst in den zwei

Jahren nach der Geburt. die « vorzeitige » Geburt ist eine Art anthropolo-

gischer Kompromiss zwischen dem relativ großen Kopfumfang des neu-

geborenen und dem durch den aufrechten Gang des Menschen bedingten

relativ engen weiblichen Becken. der Schweizer Biologe und Anthropologe

Adolf Portmann hat in den 1930er-Jahren den Begriff des Menschen als

physiologische Frühgeburt geprägt.

neugeborene sind völlig hilflos und auf Totalversorgung angewiesen.

Seine typisch menschlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen wie auf-

rechter Gang, Sprache, einsichtiges denken und vernunftgeprägtes handeln

M I t W e n I g e r A n f A n g e n

der Mensch, das unfertige WesenJeder Mensch wird eigentlich zu früh geboren. das ist gut so, denn das Angewiesensein und der soziale Austausch fördern seine körperliche und seelische Entwicklung.

sind bei der Geburt zwar angelegt, aber noch nicht

ausgebildet. Sie entwickeln sich erst im Lauf einer

für Lebewesen einzigartig langen Zeit.

Auch neugeborene Säugetiere wie Elefanten

oder Pferde sind relativ hilflos, doch ihr reifezu-

stand ist wesentlich weiter fortgeschritten als der

des Menschen. Trotzdem betont Portmann, dass

der Mensch nicht als Mängelwesen zur Welt kommt,

sondern als Lernwesen. Im Gegensatz zu ande-

ren Lebewesen findet sein Entwicklungsprozess

größtenteils nicht isoliert im Mutterleib statt, son-

dern ist von Anfang an eingebettet in ein sozio-

kulturelles umfeld. deshalb ist der Mensch ein

Leben lang extrem offen für soziale Kontakte.

Bis Ende der 8. Wochesind Gehirn und rückenmark vollständig angelegt, die Bildung der nervenzellen beginnt

Bis zur 18. Wocheentsteht das zentrale nerven-system

Bis zur 20. Wocheentwickelt sich das Kleinhirn

Bis zur 24. Wochewird die Großhirn-rinde angelegt

3. WocheBildung des neuralrohrs und des herzens

9. WocheAlle inneren organe sind angelegt

24. WocheLungenbläschen haben sich entwickelt

21. WocheIris der Augen entwickelt sich

18. WocheVerdauungs-system arbeitet, Fötus schluckt Fruchtwasser

12. WocheArme, Beine und Finger sind sicht - bar, äußere Ge-schlechtsorgane ausgebildet

16. WocheErste Bewegun-gen des Fötus

Entwick lung des Gehirns

22 2 0 11 A x E L F E L d K A M P / T h o r S T E n r o S E n B A u M / M A r K u S S c h M I d T

Sie kamen acht Wochen zu früh auf die Welt und wogen bei der Geburt zwischen 1.000 und 1.400 Gramm. Vier Ärz-teteams kümmerten sich um die neugeborenen, die im Abstand von einer Minute das Licht der Welt erblickten.

Ihre ersten Wochen verbrachten die Vierlinge im Brutkasten, ihr ge-sundheitlicher Zustand war relativ stabil. nach drei Monaten intensiver Betreuung im Klini-kum duisburg durften

Erika und Franz Pieler ihre Kinder nach hause holen. « Wir waren über-glücklich, obwohl der All-tag mit vier Säuglingen ziemlich stressig war », erzählen die Eltern.

Mit zwei Jahren hatten die Vierlinge ihren an-fänglichen Entwicklungs-rückstand aufgeholt. Seit ihrer Kindheit sind sie begeisterte Sportler. die beiden Jungen spielen Fußball, die Mädchen reiten. und alle vier spie-len Tennis — manchmal im gemischten doppel.

Vor der Geburtdifferenzieren sich die ner-venzellen sehr schnell und bilden viele Synapsen

Bei der Geburthat das Gehirn et-wa 100 Milliarden nervenzellen. diese Zahl verändert sich bis zum Lebensende kaum.

30. WocheFötus ist voll-ständig entwi-ckelt, bis zur Geburt wächst er und nimmt Gewicht zu

28. WocheGeruchssinn ist ausgebildet

26. WocheAugenlider sind ausgebildet, Innen- und Mittelohr voll ausgereift

Mit 3 MonatenIn den Monaten nach der Geburt nehmen die Verbindungen zwischen den nervenzellen deutlich zu.

Mit 6 Monatendie Zahl der Synapsen steigt weiter. Zwei Jahre nach der Geburt hat sich das Gewicht des Gehirns mit 900 Gramm mehr als verdoppelt.

Mit 1 Monatdie nervenzellen sind noch nicht voll ausgebildet und nur wenig ver netzt. das Gehirn ist eine Art rohling, der noch geformt werden muss.

fig.: die Vierlinge Philipp, Angelina, Alexander und Maiva beim Besuch der Frühgeborenenstation im Klinikum duisburg, wo sie im September 1989 geboren wurden.

Zu früh? na und!

« Wir sind Frühchen. »

M A r K u S S c h M I d T / T h o r S T E n r o S E n B A u M / A x E L F E L d K A M P 2 0 11 23

s A n f t e M e d I z I n f ü r h o c h b e tA g t e

herzensangelegenheitherzoperationen bei über 80-Jährigen galten lange als zu riskant. In dresden sind sie heute klinischer Alltag: Eingriffe mit Fingerspitzengefühl, die Leben verlängern.

24 2 0 11 r u T h S T r A S S E r / u T Z K A P P E r T

Jeanne calment geboren am 21. Februar 1875 in Frank-reich, wurde 122 Jahre und 184 Tage alt.Jeanne calment, (im Bild 20 Jahre alt) lebte in vermögenden Verhältnissen und brauchte nie zu arbeiten. Ihre Zeit widmete sie gerne sportlichen Aktivitäten. Mit 85 Jahren fing sie das Fechten an und fuhr noch mit 100 Jahren Fahrrad. Als 90-Jährige verkaufte sie ihre Woh-nung gegen lebenslange Leibrente, der Käufer verstarb jedoch zwei Jahre vor ihr und hatte ihr den dreifachen Wohnungswert zahlen müssen. obwohl sie früh ihren Mann, ihre Tochter und ihren Enkel verlor, sah sie das Leben immer positiv und bezeichnete sich selbst als überdurchschnittlich glücklich. Ihr gesundes Altern führte cal-ment auf den regelmäßigen Genuss von olivenöl, Knoblauch und Gemüse zurück. Allerdings trank sie auch gerne Portwein und war moderate raucherin. Ihre letzten Jahre verbrachte sie im Altersheim, blind, taub und auf den rollstuhl angewiesen, aber geistig fit und stets gut gelaunt.

Izumi Shigechiyo, geboren auf der japanischen Insel Kyushu, gilt als ältester Mann der Welt. Er wurde 120 Jahre, sieben Monate und 23 Tage alt. der Zuckerrohrbauer ging erst mit 105 Jahren in den ruhestand. nur einer der zehn ältesten Menschen der Welt ist übrigens ein Mann.

die jüngst noch älteste, die Brasilianerin Maria Gomes Valentim, ist im Juni 2011 kurz vor ihrem 115. Geburtstag gestorben. nachfolgerin ist die 114-jährige Amerikanerin Besse cooper.

die ältesten noch lebenden Menschen in deutschland sind die 110-jährige charlotte Bauch aus hof in Bayern und der 108-jährige Paul Veit aus neu-ruppin.

die ältesten Menschen der Welt

die Krankheit verläuft schleichend und wird oft erst entdeckt, wenn sie schon

weit fortgeschritten ist. Aortenklappenstenosen gehören zu den häufigsten

herzkrankheiten bei älteren Menschen. Wird diese Verkalkung der herz-

klappe nicht behandelt, kann sie zu lebensbedrohlichen Symptomen wie

Atemnot, ohnmachtsanfällen oder herzversagen führen.

noch vor wenigen Jahren war es undenkbar, hochbetagten und schwer

kranken Patienten einen lebensrettenden herzklappenersatz einzusetzen.

Für sie war die klassische operation am offenen herzen unter mehrstündiger

Vollnarkose und Einsatz der herz-Lungen-Maschine viel zu riskant. « heute

müssen wir niemanden mehr allein wegen seines Alters ablehnen. dank

unserer schonenden Behandlungsmethode können wir den Eingriff selbst

bei über 90-Jährigen vertreten », sagt univ.-Prof. dr. ruth Strasser, Ärztliche

direktorin und direktorin der Klinik für Innere Medizin und Kardiologie am

herzzentrum dresden.

« Meine Entscheidung für die operation fiel sofort. die stän-dige Atemnot schränkte mich extrem ein. und dann war mein Problem in kaum einer Stunde gelöst. das risiko war mir klar, aber die Verbes se-rung meiner Gesundheit war mir wichtiger. »

u T Z K A P P E r T / r u T h S T r A S S E r 2 0 11 25

26 2 0 11 r u T h S T r A S S E r / u T Z K A P P E r T

fig.: das durch die Aorta geführte Implantat wird exakt platziert … fig.: … spannt

sich auf und ersetzt sofort die verkalkte Klappe.

herzklappenersatz durchs SchlüssellochSo funktioniert der Eingriff

die sogenannte Transkatheter-Aortenklappenimplantation dauert im Ge-

gensatz zu herkömmlichen Verfahren kaum eine Stunde. die Patienten

sind meistens nur lokal betäubt und leicht sediert.

Millimetergenau

Über einen wenige Zentimeter großen Schnitt in der Leiste führt die Kar-

diologin univ.-Prof. dr. ruth Strasser einen langen hohlschlauch durch

die oberschenkelarterie in die Aorta ein, durch den ein Katheter bis in die

linke herzkammer geschoben wird. An dessen Spitze sitzt ein Ballon, der

sich in der Aortenklappe aufdehnt und die Verengung öffnet. nun kann das

operationsteam mit der Implantation des Klappenersatzes beginnen.

das Implantat besteht aus herzbeutelgewebe von Schweinen, das in

einem Metallgerüst fixiert ist. raffiniert ist der Mechanismus, mit dem die

zwischen 2,6 und 2,9 Zentimeter große Bioklappe in den nur sechs Millime-

ter großen Einführungskatheter gelangt. das spezielle Material des Metall-

gerüsts ist unter Kälte so flexibel, dass es wie ein regenschirm zusammen-

geklappt und in den Katheter eingebracht werden kann. unter röntgenkon-

trolle platziert die Kardiologin das Aortenklappenimplantat millimetergenau

über die erkrankte Aortenklappe. dort spannt es sich von selbst auf, drückt

die verkalkte Klappe an die Gefäßwand und nimmt seine Arbeit als druck-

ventil sofort auf. nun muss nur noch der Katheter entfernt und der Einschnitt

geschlossen werden.

verjüngungskur

Schon nach ein bis zwei Tagen ist der Patient wieder auf den Beinen — für

hochbetagte besonders wichtig, denn längere Bettlägerigkeit führt bei ihnen

rasch zu Folgeerkrankungen. nach spätestens fünf Tagen können sie die

Klinik verlassen, mit neuem Lebensmut und einer deutlich gesteigerten

körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, betont univ.-Prof. dr. ruth

Strasser: « Einige meiner Patienten waren vor dem Eingriff so matt, dass

sie nicht mehr aus dem Bett kamen und kaum mehr essen konnten. nun

« Wir vertreten den Eingriff nur, wenn der Patient hoch motiviert ist. der Lebenswille muss deutlich ausge prägt sein. » Pd dr. med. utz Kappert Leitender oberarzt der Klinik für herzchirurgie herzzentrum dresden universitätsklinik an der Technischen universität dresden

Einführungskatheter

Aortenklappenimplantat

(geschlossen)

Aortenklappen-

implantat (offen)

Aorta

rechte herzkammer

linke herzkammer

Ersatz für die verkalkte

Aortenklappe

2000 1994

20052010

u T Z K A P P E r T / r u T h S T r A S S E r 2 0 11 27

die Aortenklappenste-nose ist der häufigste herzklappenfehler bei Älteren.

durch die Verkalkung des Klappen gewebes verliert die Aortenklap-pe an Elasti zität. das Blut staut sich in der linken herzkammer, die verstärkt arbeiten muss, um das Blut in den Körperkreislauf zu

pumpen. Allmählich wird dadurch der herzmus-kel stark geschwächt und der allgemeine Gesundheitszustand verschlechtert sich. Aortenklappenstenosen entstehen altersbedingt durch Kalziumablagerun-gen oder als Folge von Strahlenbehandlungen, rheumatischem Fieber und erhöhten choleste-rinwerten.

fig.: Verkalkung (unten) bewirkt eine permanen-te durchlässigkeit zur herzkammer.

Kraftakt fürs herzdie Verkalkung der herzklappe

« Einige meiner Patienten waren vor dem Eingriff so matt, dass sie nicht mehr aus dem Bett kamen und kaum mehr essen konnten. » univ.-Prof. dr. ruth Strasser Ärztliche direktorin und direktorin der Klinik für Innere Medizin und Kardiologie herzzentrum dresden universitätsklinik an der Technischen universität dresden

gehen sie jeden Tag spazieren und berichten, dass sie sich 20 Jahre jünger

fühlen. » Für jeden Patienten ist das minimalinvasive Verfahren allerdings

nicht geeignet. deshalb berät sich die Kardiologin nach intensiven Vorunter-

suchungen und Patientengesprächen in jedem Einzelfall mit ihren Kollegen

aus der herzchirurgie. Wenn etwa auch der Aortenbogen stark verkalkt ist,

empfiehlt sich eher ein Eingriff, bei dem der Katheter nicht über die Körper-

schlagader, sondern über eine kleine Öffnung an der linken Brustseite von

der herzspitze aus zur Aortenklappe geführt wird. diese operation führen

herzchirurgen und Kardiologen gemeinsam durch.

« Sensibilität und Fingerspitzengefühl sind bei der operation unverzicht-

bar », unterstreicht Prof. dr. Klaus Matschke, direktor der Klinik für herz-

chirurgie am herzzentrum dresden. « und der heilungserfolg hängt maß-

geblich davon ab, dass die Entscheidung für die operation sorgfältig abge-

wogen wird », ergänzt Pd dr. med. utz Kappert, Leitender oberarzt der

Klinik für herzchirurgie. « Wir vertreten den Eingriff nur, wenn der Patient

hoch motiviert ist. der Lebenswille muss deutlich ausgeprägt sein. »

« herzoperationen bei betagten Patienten »

fig.: die Zahl der Eingriffe am herzen bei über 70-Jährigen hat sich seit 1994 verdoppelt und bei über 80-Jährigen sogar verfünffacht.

herzoperationen bei 70-Jährigen und älter

herzoperationen bei 80-Jährigen und älter

38,2 %

4,5 %

24,9 %

2,3 %

45,2 %

8,4 % 11,9 %

52,2 %

fig.: Freie radikale greifen eine Zelle an. dabei schädigen sie durch ihr fehlendes Elektron die Zellmembran so nachhaltig, dass die Zelle abstirbt.

fig.: Telomere sind die molekularen Zeituhren der Körperzellen. Bei jeder Zellteilung werden diese « Schutzkappen » der chromosomen kürzer und die Zellen anfälliger für Angriffe der freien radikale. Telomere sind auch bei Progerie beteiligt, einer seltenen Erkrankung, die Kinder im Zeitraffer altern lässt.

fig.: Bei Menschen bildet die Sequenz TTAGGG einen Teilder Telomere — eineArt « Andockhilfe » zur Zellteilung.

W A r u M W I r A lt e r n

der radikale Auftritt der gene und telomereLangsam verstehen wir, warum manche Menschen länger leben. Verant -wortlich sind Erbanlagen, körperliche Aktivität und der stetige Kampf gegen freie radikale. doch der Weg zur Lösung des Altersrätsels ist noch weit.

noch ist das rätsel des Alterns nicht vollständig

entschlüsselt. Aber Wissenschaftler haben einige

Mechanismen identifiziert, die das Altern unserer

Zellen bestimmen. der biologische Alterungspro-

zess wird erst dann hinreichend zu erklären sein,

wenn es gelingt, die einzelnen Theorien zusam-

menzubringen. noch ist die Wissenschaft aber

weit davon entfernt, zu verstehen, wie die einzel-

nen Mechanismen zusammenwirken und welche

Wechselwirkungen zwischen ihnen bestehen.

theorien des Alterns

die Bedeutung der Gene für die Langlebigkeit

bei Menschen ist heute eindeutig belegt. Studien

mit Zwillingen zeigen, dass der unterschied in der

Lebensdauer zwischen zweieiigen Zwillingen etwa

doppelt so groß ist wie bei eineiigen Zwillingen.

Bekannt ist auch, dass die nachfahren von hochbe-

tagten durchschnittlich ein höheres Alter erreichen

als die von Menschen, die früh verstorben sind.

Bei Forschungen an über 100-Jährigen konnten

inzwischen mehrere solcher Langlebigkeitsgene

identifiziert werden, doch was sie genau bewirken,

ist noch unklar.

Telomere sind dnA-Stücke, die an den Enden

von chromosomen sitzen und keine Erbinfor-

mation enthalten. Sie bewahren die im Zellkern

liegenden chromosomen vor Veränderungen und

Zerstörung. Allerdings verkürzen sich die Telo-

mere durch biochemische reaktionen bei jeder

Zellteilung, sodass die Zelle schadhaft wird und

abstirbt. dieser Prozess der Zellalterung wird

durch das Enzym Telomerase verlangsamt. Als

Schlüssel zur unsterblichkeit ist dieses Enzym

allerdings nicht geeignet, denn es ist auch mit im

Spiel, wenn das Zellwachstum bei Tumoren außer

Kontrolle gerät. Aus verschiedenen Studien ist

indes bekannt, dass verstärkte körperliche Akti-

vität zu längeren Telomeren führt. Auch gesunde

Ernährung kann die Telomerverkürzung zumindest

teilweise kompensieren.

28 2 0 11 r u T h S T r A S S E r / u T Z K A P P E r T

A lt e r n A l s b I o l o g I s c h e r v o r t e I l

die oma-evolutionEvolutionstheoretisch scheint es sinnlos, dass der Mensch weit über sein gebärfähiges Alter hinaus lebt. Ein Irrtum, wie die Forschung zeigt.

Macht es aus evolutionärer Sicht Sinn, dass der Mensch im Gegensatz

zu den meisten anderen Lebewesen weit über jene Phase hinaus lebt,

in der er fähig ist, nachwuchs zu erzeugen? Für Männer stellt sich diese

Frage weniger, denn sie behalten ihre Zeugungsfähigkeit bis ins hohe

Alter. Warum aber gibt es für Frauen ein langes Leben jenseits der re-

produktionsfähigkeit?

erfahrener, klüger, gelassener

Laut Großmutterthese spielen Großmütter für die Enkel auch evolutionär

eine einzigartige rolle. Sie haben meist viel mehr Zeit als die jüngeren

Eltern, sind emotional positiver gestimmt und ausgeglichener. Außerdem

verfügen sie über ein hohes Erfahrungswissen. diese altersspezifischen

Kompetenzen sind ein evolutionärer Vorteil, weil sie sehr effizient zum

Aufwachsen der übernächsten Generation beitragen. da nur die fitten

Großmütter so lange aktiv sind, erhöht sich damit auch die chance, diese

genetische Veranlagung für ein hohes Alter zu vererben.

Tatsächlich konnten Anthropologen bei Forschungen in traditionellen

Gesellschaften zeigen, dass Frauen, die von ihren Müttern unterstützt

werden, mehr Kinder zur Welt bringen und sie auch besser ernähren

können. Auffällig bei diesen untersuchungen war auch, dass die Lebens-

erwartung der Großmütter von dem Zeitpunkt an stark zurückging, an

dem die eigenen Kinder das Ende ihrer fruchtbaren Jahre erreichten.

dies gilt als weiterer hinweis auf das evolutionär sinnvolle Investment in

die Langlebigkeit des Menschen.

Freie radikale sind Moleküle mit mindestens

einem ungepaarten Elektron, die deshalb leicht

Verbindungen mit anderen Molekülen eingehen.

Sie entstehen bei normalen Stoffwechselvorgän-

gen wie Atmungs- und Verbrennungsprozessen

ebenso wie durch äußere Einflüsse wie uV-Licht

oder rauchen. Schätzungsweise verursachen

freie radikale beim Menschen pro Tag und Zel-

le etwa 10.000 dnA-Schädigungen. Zunächst

können sie durch das zelleigene reparaturpro-

gramm behoben werden, doch irgendwann ist die

Zelle so geschädigt, dass sie nicht mehr richtig

funktioniert. der Zusammenhang zwischen der

übermäßigen Produktion von freien radikalen und

dem Alterungsprozess oder dem Auftreten von

degenerativen Erkrankungen wie Arteriosklerose

oder Krebs ist wissenschaftlich bewiesen.

fig.: die Evolution lässt Mütter länger leben. das hat gute Gründe. Vor allem ist es deren Kompetenz in der Lebensbegleitung der Enkel.

Ab 30 geht’s bergab

Mit Überschreiten dieser Altersgrenze beginnt im organismus ein langsam fortschreiten-der physiologischer Abbauprozess, der mit einer zunehmenden Anfälligkeit für Krankhei-ten verbunden ist. Bei gesunden Menschen über 60 Jahren

> hat die herzleistung um 50 % abgenom-men,

> das herzschlag-volumen um 30 %,

> die Vitalkapazität der Lunge um 50 %,

> die maximale Sauerstoffaufnahme der Lunge um ca. 65 %,

> die Gehirndurch-blutung um 20 %,

> das nierengewicht um 30 %,

> die Filtrationsrate der niere um 40 %,

> die Muskelmasse um 30 %,

> die maximale dauerleistung der Muskulatur um 60 %.

unverändert bleiben dagegen das Gehirn-volumen und die totale Lungenkapazität.

u T Z K A P P E r T / r u T h S T r A S S E r 2 0 11 29

30 2 0 11 V o L K E r S T E P h A n

g e s u n d e s l e b e n l e r n e n

schwer beladendie neuen Kinderkrankheiten sind nicht ansteckend, trotzdem ver breiten sie sich rasch: Übergewicht, Verhaltensstörungen, Allergien. Eine Berliner Klinik verhilft Betroffenen zu besserem Gesundheitswissen.

Früher waren Kinder aus armen Familien oft unter-

gewichtig. heute hat sich das Blatt gewendet: 15

Prozent der Kinder und Jugendlichen sind über-

gewichtig, sechs Prozent leiden an chronischer

Adipositas und mehrheitlich leben sie in benach-

teiligten Verhältnissen. diese Kinder sind nicht

nur körperlich und seelisch beeinträchtigt, viele

haben auch Begleiterkrankungen wie Bluthoch-

druck oder diabetes. Mit der Bewältigung dieser

Erkrankungen sind Familien oft überfordert.

hilfe finden sie bei « Mops fidel », einem The-

rapieprogramm des Sozialpädiatrischen Zentrums

am Klinikum Lichtenberg. unter Anleitung von

Ärz ten, Psychologen, Ernährungsberatern, Bewe-

gungstherapeuten und Sozialpädagogen lernen

jährlich etwa 400 Familien, die ursachen und Fol-

gen von Übergewicht zu verstehen und ihr Ver-

halten zu verändern: bei der Ernährungsschulung,

dem gemeinsamen Kochen und Einkaufen und

dem Bewegungstraining in Kleingruppen. dazu

gehört auch ein Intensivtraining für die betroffenen

Kinder und Jugendlichen, das ihre soziale Kom-

petenz und ihr Selbstvertrauen stärkt und ihnen

hilft, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.

Erfolgreich ist die Therapie aber nur, wenn die

Eltern engagiert und motiviert mitmachen.

zusammen mehr erreichen

« Wir beobachten in der Kinderheilkunde eine zu-

nehmende unsicherheit und Überforderung der

Eltern im umgang mit ihren Kindern — sowohl

in Erziehungs- als auch in Gesundheitsfragen.

deshalb ist die Familienberatung bei uns ein

großes Thema geworden », sagt Prof. dr. Vol-

ker Stephan, chefarzt der Klinik für Kinder- und

Jugendmedizin. dem generellen Trend folgend,

Schon von hippokrates sind fast 200 kinderheil-kundliche Bemerkungen überliefert, etwa exakte Angaben zu Fieber-krämpfen, Epilepsie oder Mumps.

Als Vater der Kinderheil-kunde gilt Soranus von Ephesus (98–117), der ausführlich über hygie-ne der neugeborenen, Säuglingsernährung und Säuglingskrankhei-ten schreibt.

Im 17. Jahrhundert werden Kinderkrank-heiten wie diphtherie, Scharlach, röteln und Windpocken als eigenständige Krank-heitsbilder voneinander abgegrenzt.

Ende des 18. Jahr-hunderts legt Edward Jenner mit der Pocken-impfung den Grundstein für eine vorbeugende Medizin. Trotzdem liegt die Sterblichkeit von Kindern unter zwei Jahren noch bei 40 Prozent.

Erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts erkennt die Medizin, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind, und richtet zunehmend eigene Kinderstationen ein. das erste Kinder-krankenhaus entsteht 1802 in Paris.

Geschichte der Pädiatrie

Kinder. heil. Kunde.

fig.: Edward Jenner, der Erfinder der Pockenschutzimpfung

V o L K E r S T E P h A n 2 0 11 31

fig.: otto heubner, erster ordentlicher Professor für Kinderheilkunde

Im 19. Jahrhundert bildet sich die Pädiatrie als eigenes Fach heraus. die erste deutsche universitäts-Kinderklinik wird 1830 an der Berliner charité eingerichtet.

nach dem Zweiten Weltkrieg steht die Bewältigung von Infek-tionskrankheiten und ernährungsbedingten Problemen im Vorder-grund.

Vor dem hintergrund der hohen Säuglings-sterblichkeit entsteht die soziale Pädiatrie, die sich hauptsäch-lich um den Schutz von Säuglingen und Kleinkindern kümmert, Aufklärungsarbeit leistet und politisch aktiv ist.

das erste Sozialpädiatri-sche Zentrum wird 1967 in München gegründet. dort werden Kinder mit schweren neurologi-schen Erkrankungen sowie körperlichen und geistigen Behinderun-gen diagnostisch und therapeutisch betreut.

Mit wachsendem Wohl- stand entwickeln sich viele pädiatrische Spezialdisziplinen. Ihre Fortschritte bewirken, dass immer mehr Kinder mit schweren chroni-schen Erkrankungen das Erwachsenenalter erreichen.

fig.: das Leben wieder ins Lot bringen. In Berlin-Lichtenberg trifft Medizin auf gefährdete Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen.

32 2 0 11 V o L K E r S T E P h A n

müssen auch in Lichtenberg immer mehr Kinder

und Jugendliche mit psychischen Problemen, Ent-

wicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten

versorgt werden, von Säuglingen mit Schrei- oder

Schlafproblemen über Kinder mit Aufmerksam-

keits- und Aktivitätsstörungen bis hin zu Jugend-

lichen mit drogen- und Alkoholproblemen. Mit

medizinisch-therapeutischer Behandlung oder

Beratungsgesprächen alleine kann den jungen

Patienten und ihren Eltern meist nicht geholfen

werden. deshalb arbeitet die Lichtenberger Kin-

der- und Jugendmedizin eng vernetzt mit lokalen

hilfs- und Beratungsdiensten wie Jugend- und

Sozialämtern, Wohlfahrtsorganisationen und

Suchtpräventionsinitiativen. Wenn alkoholisierte

Jugendliche in die Klinik eingeliefert werden, holt

man in vielen Fällen einen Streetworker, der mit

ihnen spricht und sie später in der Familie be-

sucht. Wenn junge Familien mit ihrem nachwuchs

überlastet sind, knüpft die Klinik einen Kontakt

mit dem Malteser hilfsdienst, der zur Entlastung

eine Leihoma vermittelt. « Je früher die Familien

rat und hilfe bekommen, desto besser für die

Gesundheit des Kindes », so Stephan.

Im schlaf gesund

Gesundheitskompetenz kann lebensrettend sein,

wenn Kinder unter chronischen Krankheiten wie

diabetes oder Allergien leiden. Früher starben sie

oft, weil die Krankheit unentdeckt blieb. heute

erhalten betroffene Familien neben der medizi-

nischen Betreuung auch intensive Schulungen.

Im diabeteszentrum der Kinder- und Jugendklinik

etwa lernen junge Patienten und ihre Eltern, die

Krankheit besser zu verstehen und sich im Alltag

richtig zu verhalten. Ähnliche Angebote gibt es

für Kinder mit Allergien, chronischen Lungener-

krankungen und Mukoviszidose.

Schlafstörungen bei Kindern, von denen

20 bis 30 Prozent betroffen sind, wurden lange

unterschätzt. Mittlerweile werden sie klar in Zu-

sammenhang mit Verhaltensstörungen, Konzen-

trationsschwäche und Wachstumsproblemen

gebracht. Im Kinderschlaflabor des Lichtenberger

Klinikums kann die ursache der Schlafstörung

mittels Polysomnografie genau diagnostiziert wer-

den. Eine nacht lang zeichnen Messgeräte die

daten verschiedener Körperfunktionen des schla-

fenden Kindes auf. Aus den daten geht hervor,

ob organische Erkrankungen wie schlafbezogene

Epilepsien oder Atemstörungen vorliegen. oft ist

die Schlafstörung aber bedingt durch falsche Ein-

schlafrituale, übermäßigen Medienkonsum oder

Ängste. In solchen Fällen finden die Betroffenen

rat und hilfe bei der wöchentlichen Schlafsprech-

stunde — mit dem Ziel eines besseren Wissens

um die körperlichen und seelischen Vorausset-

zungen für eine gesunde Kindheit.

« Wir beobachten in der Kinderheilkunde eine zu nehmende unsicherheit und Überforderung der Eltern im umgang mit ihren Kindern — sowohl in Erziehungs- als auch in Gesundheitsfragen. » Prof. dr. med. Volker Stephan chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lindenhof Sana Klinikum Lichtenberg

V o L K E r S T E P h A n 2 0 11 33

Schlaflos im Kinderbett

Wieder durchschlafen

Wenige Wochen nach Linas Geburt fällt Yvonne Sankowsky auf, dass ihre Tochter im Schlaf stark schnarcht und oft nach Luft schnappt. die gelernte Kinderkrankenschwes-ter weiß, dass kurze Atemaussetzer bei Säuglingen nicht unge-wöhnlich sind. Aber Linas Atempro-bleme beunruhigen sie: « oft dauerten die Aussetzer mehr als 15 Sekunden. das ist nicht normal. » Als sich die Atemnot durch eine Er-kältung verschlimmert, bringt die Mutter ihr Kind

ins Krankenhaus. dort rät man ihr zu einer untersuchung im Schlaflabor der Lich-tenberger Pädiatrie. die nächtlichen Messungen von Linas Körperfunktionen ergeben eine klare diagnose: das Baby leidet an einer obst- ruktiven Schlafapnoe. ursache dieser schweren Atemstörung ist ein zu kleiner unter-kiefer. dadurch fällt die Zunge beim Schlafen zurück und blockiert den rachen. deshalb kommt Lina in bedroh-liche Situationen.

Inzwischen trägt Lina nachts eine sogenann-te Zungenpelotte, mit der die Zunge nach vorn gedrückt und gleichzei-tig das Kieferwachstum angeregt wird. Auch Yvonne Sankowsky kann nun wieder ruhiger schlafen: « die Kleine schnarcht weniger, und wir hoffen, dass sich die Störung bald ausge-wachsen hat. »

das hat die erste bundesweite Studie zur Gesund-

heit von Kindern und Jugendlichen des robert-

Koch-Instituts festgestellt. 85 Prozent erfreuen

sich guter oder sehr guter Gesundheit, nur 0,6

Prozent bezeichnen ihren Gesundheitszustand

als schlecht. Aber es gibt auch weniger positive

Ergebnisse. Immer mehr Kinder und Jugendliche

leiden unter chronischen Erkrankungen wie Allergien,

Asthma oder neurodermitis. und 15 Prozent aller

Jungen und Mädchen zeigen psychische sowie

Verhaltensauffälligkeiten wie hyperaktivität oder

gesteigerte Aggressivität, zehn Prozent leiden unter

Ängsten und fünf Prozent unter depressionen.

Etwa 1,9 Millionen der drei- bis 17-Jährigen sind

übergewichtig.

offenbar hat sich die gesundheitliche Situati-

on von Kindern in den letzten Jahrzehnten ge-

wandelt. Typische Kinderkrankheiten wie Masern,

Mumps oder Keuchhusten sind deutlich zurück-

gegangen. Stattdessen hat sich das Spektrum

von akuten zu chronischen Erkrankungen und von

somatischen zu psychischen Auffälligkeiten ver-

schoben. Wissenschaftler sprechen in diesem

Zusammenhang von « neuer Morbidität ». die

ursachen: zu wenig Bewegung, zu viel Medien-

konsum, ungesundes Essen, steigender Leistungs-

druck in den Familien und mitunter auch Überbe-

hütung.

d I e n e u e n k I n d e r k r A n k h e I t e n

Mumps und Masern adeZuerst die gute nachricht: die meisten Kinder in deutschland sind gesund.

fig.: der Wunsch aller Eltern: das Baby schläft tief und fest. das Schlaflabor hilft dann, wenn gesundheitliche Schwächen den Schlaf rauben.

Mumps

Masern 1941: 894. 000 * 2002: 6. 000 *

Adipositas

Asthma

1968: 152. 200 * 1997: 612 *

1990: 200. 000 *2010: 750. 000 *

2002: 1,1 Mio. **2010 1,8 Mio. **

die neuen Kinderkrankheiten

* Fälle in Deutschland

** Betroffene Kinder und Jugendliche in Deutschland

34 2 0 11 r A I n E r n E u B A r T

fig.: In Schwung bleiben. In Berlin-Lichtenberg werden ältere Patienten wieder mobil.

I M A lt e r l e r n e n b e W e g l I c h z u b l e I b e n

zurück nach vorneViele Ältere fürchten den Klinikaufenthalt als Anfang vom nahenden Ende. Zu unrecht, wenn sie mit moderner Altersmedizin fit für das Leben nach der Entlassung gemacht werden.

r A I n E r n E u B A r T 2 0 11 35

Wie behandelt man Patienten, die gleichzeitig an zehn oder mehr Krank-

heiten leiden? diese Frage müssen Mediziner immer häufiger beantwor-

ten, denn heute haben mehr als die hälfte aller Krankenhauspatienten

eine alterstypische Multimorbidität. die Geriatrie des Sana Klinikums

Lichtenberg hat sich auf diese Entwicklung eingestellt. Wenn etwa ein

älterer Patient mit oberschenkelhalsfraktur in die rettungsstelle kommt,

prüft man bereits dort, ob geriatrischer handlungsbedarf besteht. hat

man die Akutsituation unter Kontrolle, analysieren der Geriater und sein

Team die komplexe Gesundheitsproblematik des Patienten.

Wie sind sein körperlicher, kognitiver und psychischer Zustand, seine

Ernährungssituation und sein soziales umfeld? Was war der Grund des

Sturzes? Eine herzrhythmusstörung oder ein leichter Schlaganfall? Ein

Schwindel als Medikamentennebenwirkung oder eine Sehstörung? Falsches

Schuhwerk oder eine Stolperfalle im haushalt? Bei diesem sogenannten

« multidimensionalen geriatrischen Assessment » entsteht ein ganzheitliches

Bild des Patienten. Auf dieser Grundlage entwickeln die Ärzte, Physiothe-

rapeuten, Ergotherapeuten, Pflegekräfte, Psychologen, Sprachtherapeuten

und Sozialarbeiter ein individuelles Behandlungskonzept, bei dem auch

die Wünsche des Patienten und der Angehörigen berücksichtigt werden.

eine krankheit hat viele helfer

« Geriatrie ist immer Teamarbeit und folgt grundsätzlich einem ganzheit-

lichen Konzept », erklärt dr. rainer neubart, chefarzt der Akutgeriatrie.

Priorität hat jene Gesundheitsstörung, welche die Lebensqualität des

multimorbiden Patienten am stärksten beeinträchtigt. die anderen Be-

schwerden werden nach jeweiliger relevanz in das Behandlungskonzept

Geriatrie in Zahlen

fig.: die häufigsten Alterskrankheiten bei Männern (blau) und Frauen (rot) in den Alters-gruppen 65 - 79 und 80 plus (hellblau und hellrot)

fig.: Multimorbidität in der Altersgruppe von 60 bis 79 Jahren

Bluthochdruck

31 %

36 %

34 % 34 %

herzinsuffizienz

12 %

37 %

33 %

15 %

herzkranzgefäße

27 %

29 % 35 %

22 %

Schlaganfall

10 %

23 %

24 %

9 %

Arthrose/Arthritis

15 %

23 %

17 % 19 %

20 % der Männer leiden an drei, 11 % an vier und

9 % an mehr als sechs Erkrankungen

21 % der Frauen leiden an drei, 15 % an vier und 17 % an mehr als sechs Erkrankungen

rückenleiden

24 %

31 %

32 %

24 %

Stoffwechsel-

störungen

8 %

18 %

18 %

9 %

36 2 0 11 r A I n E r n E u B A r T

integriert, das neben den kurativen Maßnahmen

immer auch rehabilitation, Prävention und So-

zialmedizin umfasst. Im nächsten Schritt legt

das Therapeutenteam individuelle Ziele für die

Patienten fest, im Fall eines oberschenkelhals-

bruchs etwa das freie Gehen über eine längere

Strecke mit Krücken. dazu ist neben der hilfe

des Physiotherapeuten, der mit dem Patienten

Kraft und Geschicklichkeit trainiert, auch die des

Ergotherapeuten nötig, mit dem er Alltagsaktivitäten

wie Körperpflege oder Essenszubereitung übt.

Auch der Psychologe ist gefragt, denn oft bricht

mit dem Sturz nicht nur der Knochen, sondern

auch das Zutrauen des Patienten in die eigene

Mobilität. die Sozialarbeiter wiederum helfen bei

der organisation des nachklinischen Alltags, etwa

bei der Beschaffung von behindertengerechten

Wohnungseinrichtungen. Besonders wichtig ist

die Arbeit der Pflegekräfte, denn sie verbringen

die meiste Zeit mit den Patienten und motivieren

sie schon beim Aufstehen und Ankleiden, selbst

aktiv zu werden.

das Ideal des autonomen patienten

« Bed is bad » heißt es in der modernen Geria-

trie. der Tagesablauf der Lichtenberger Geria-

triepatienten orientiert sich am häuslichen Alltag,

« unser Ziel ist, dem Patienten trotz seiner chronischen Krankheit oder Behinderung ein größtmögliches Maß an Autonomie und Lebensqualität mitzugeben. » dr. rainer neubart chefarzt der Geriatrie Sana Klinikum Lichtenberg

und am horizont ...

Jünger als altfig.: die neuen Alten halten sich fit und

profitieren vom medizinischen Fortschritt — zum Beispiel bei der Behandlung von Bluthochdruck.

die Auswirkungen der gestiegenen Lebens-erwartung auf das Ge-sundheitssystem werden kontrovers diskutiert. Ist damit zu rechnen, dass die Ausgaben für Gesundheits- und Pfle-geleistungen signifikant steigen, weil viele Ältere ihre gewonnenen Jahre in schlechter Gesund-heit verbringen? oder werden die künftigen Älteren immer länger gesund bleiben und nur am Lebensende eine

kurze Krankheitsphase durchlaufen? Vieles spricht dafür, dass diese sogenannte Kompres-sion der Morbidität die wahrscheinlichere Entwicklung ist.

die heute 70-Jährigen sind in ihrem Gesund- heits- und Allgemein- zustand vergleichbar mit den vor 30 Jahren lebenden 65-Jährigen, sie haben also fünf vitale Altersjahre gewonnen.

dieser Trend dürfte sich fortsetzen. die Gründe: bessere Gesundheit, höheres Bildungsniveau und finanzieller Wohl-stand. Wer sich überdies in frühem Lebensalter körperlich und geistig fit hält, verringert das risiko, im Alter krank zu werden. und auch die Älteren können ihre physische und psychi-sche Leistungsfähigkeit mit Verhaltens- und Trainings maßnahmen stärken.

Selbst jenseits des 70. Lebensjahres ist es möglich, durch regelmäßigen Sport und Bewegung die Muskelkraft um 50 Prozent zu steigern. Mit gezielten Strategien der Gesundheitsförde-rung und der rehabili-tation könnte überdies die befürchtete Kosten-explosion im Gesund-heits- und Pflegesystem entschärft werden.

das Bett sollten sie möglichst nur zu ruhe- und

Schlafzeiten aufsuchen. diese schrittweise Akti-

vierung macht die Senioren fit für ihren künftigen

Alltag zu hause. heilungserfolg, so neubart, hat

in der Geriatrie eine andere Bedeutung als in

der organzentrierten Medizin: « unser Ziel ist,

dem Patienten trotz seiner chronischen Krank-

heit oder Behinderung ein größtmögliches Maß

an Autonomie und Lebensqualität mitzugeben. »

deshalb ist auch die Entlassung der Patienten

sorgfältig geplant, der Sozialarbeiter besichtigt

mit ihm gemeinsam die Wohnung und identifiziert

Problembereiche. Außerdem unterhält die Klinik

enge Kontakte zu lokalen Pflegestützpunkten, der

Altenselbsthilfe, den ambulanten Pflegeteams und

niedergelassenen Therapeuten vor ort.

Ein besonders wichtiges Bindeglied zwischen

stationärer und ambulanter Behandlung ist die

Geriatrische Tagesklinik im eigenen haus. Ein

Fahrdienst holt die Patienten morgens zu hause

ab und bringt sie nachmittags wieder zurück. da-

zwischen steht ihnen das gesamte medizinische

Versorgungsspektrum zur Verfügung. das Lich-

tenberger Geriatriekonzept investiert in die Selb-

ständigkeit der Älteren und vermeidet drehtür-

medizin — ein Gewinn für die Patienten und das

Gesundheitssystem.

k n o c h e n b r ü c h e I M h o h e n A lt e r

Wieder auf den beinenrehabilitation bei alten Menschen basiert auf der einfachen Logik: Mobilität so schnell wie möglich.

nach einem Sturz in seiner Wohnung wird dieter

Ilse in das Klinikum Lichtenberg eingeliefert. die

diagnose: hüftfraktur. Zwei Wochen später geht

der 86-Jährige schon wieder im Innenhof der Klinik

spazieren, gestützt auf einen Gehwagen, aber

mit zunehmend sicheren Schritten.

« Ich hätte nie gedacht, dass ich nach diesem

schweren Knochenbruch wieder so schnell auf

die Beine komme », sagt der Mathematikprofessor

im ruhestand. Zu verdanken hat er die rasche

Mobilisierung einem rehabilitationsprogramm,

das bereits kurz nach der operation beginnt. un-

ter Anleitung des Therapeutenteams lernt der

Patient Schritt für Schritt, sein verletztes Bein wie-

der zu belasten. Schon nach wenigen Tagen kann

er das Bett ohne fremde hilfe verlassen. Inzwischen

trainiert Ilse seine Geh- und Balancefähigkeit täg-

lich mit verschiedenen Geräten, absolviert Übungen

zur Verbesserung der Körperwahrnehmung und

erhält Tipps zur Sturzvermeidung. Vor seiner end-

gültigen Entlassung wird er seine rehabilitation

in der geriatrischen Tagesklinik fortsetzen und nur

über nacht zu hause sein.

Eine gute Übergangslösung, meint Ilse: « Auch

meine Frau ist über 80 und kann mir oft nicht

helfen, also muss ich lernen, wieder alleine klar-

zukommen. »

... geht's weiter!

Gesellschaft des langen Lebens

fig.: die hüftfraktur ist der häufigste sturzbe-dingte Knochenbruch im Alter. oft blei-ben Mobilität und Selbständigkeit der Patienten dauerhaft eingeschränkt oder gehen sogar ganz verloren. dieter Ilse bleibt dieses Schicksal erspart dank eines umfas-senden geriatrischen Therapieprogramms.

Für das Jahr 2030 hat das Statistische Bun-desamt vorausberech-net, dass die Zahl der 60-Jährigen und Älteren voraussichtlich um rund ein drittel steigen wird. die Zahl der über 80-Jährigen soll sich sogar um über 55 Prozent erhöhen — von heute 4,1 auf 6,4 Millionen Menschen. und die Zahl der über 90-Jährigen wird sich sogar verdreifachen.

Im Jahr 2050 wird das durchschnittsalter der deutschen von heute 42 Jahren voraussichtlich auf 50 Jahre gestiegen sein. Fast 40 Prozent der deutschen werden dann 60 Jahre und älter sein, und die Zahl der über 80-Jährigen soll sich verdreifacht haben — von knapp vier auf zehn Millionen. Gleich-zeitig sinkt die Zahl der Menschen im erwerbsfä-higen Alter.

Im Jahr 2060 wird den Berechnungen zufolge jeder siebte deutsche 80 Jahre oder älter sein. Zu diesem Zeit-punkt leben nur noch 70 Millionen Menschen in deutschland (heute noch etwa 82 Millio-nen). Allen Prognosen zufolge soll es in 40 Jahren hierzulande 16 mal so viele 100- Jährige geben wie heute. Einzigartig in der Geschichte der Menschheit.

r A I n E r n E u B A r T 2 0 11 37

38 2 0 11 S I x T u S A L L E r T

p l A s t I s c h e A lt e r s c h I r u r g I e

AltersschönSchönheit ist keine Frage des Alters. die Ärzte in hameln ermöglichen Menschen in beinahe jedem Alter, sich in ihrem Körper wohlzufühlen.

S I x T u S A L L E r T 2 0 11 39

dr. Sixtus Allert, chefarzt der Fachabteilung für

Plastische und Ästhetische chirurgie, und sein

Team kümmern sich besonders um die Folgen

der Adipositas. Wenn Menschen aufgrund einer

Veränderung ihrer Lebensumstände oder als Fol-

ge eines operativen Eingriffs drastisch Gewicht

verlieren, brauchen sie weitere medizinische hilfe.

die haut, einmal überdehnt, bildet sich nicht mehr

zurück. hautreizungen und Entzündungen können

die Folge sein. dagegen helfen weder cremes

noch diäten, Massagen oder Gymnastikübungen,

sondern nur eine operative hautstraffung. « die

klassische Fettschürze am Bauch und die Brustver-

kleinerung sind sicherlich die Eingriffe, die wir am

häufigsten vornehmen », erklärt dr. Allert. « Aber

es kommen zusätzlich alle anderen regionen

hinzu — Beine, Gesäß und Arme. »

Gründe für einen Gewichtsverlust gibt es in

jeder Lebensphase: Tod des Partners, der Eltern,

der Freunde. Möglicherweise eine neue umge-

bung. Vielleicht ein unfall. Plötzlich mehr Zeit für

sich und seinen Körper, weil die Kinder aus dem

haus sind. Eine neue Liebe, für die man attraktiv

sein möchte. oder einfach ein gesteigertes Inte-

resse an gesunder Ernährung und sportlichen

Aktivitäten.

die sogenannten Best Ager sind deshalb eine

begehrte Konsumentengruppe. Sie wissen: Alter

ist relativ. Attraktivität und Alter schließen sich nicht

aus. « Bei vielen Patienten steht die Idee im Vor-

dergrund, sich einfach etwas zu gönnen. Sie sa-

gen sich: Es ist viel zu früh, sich gehen zu las-

sen. »

operation mit 89

Viele Patienten suchen dr. Allert jedoch auch wegen

handfester funktionaler Gründe auf. Sie wünschen

sich beispielsweise, anders als viele junge Pati-

entinnen, eine Verkleinerung der Brust — und das

nicht etwa aus ästhetischen Gründen. Sie haben

es nach mehr als 30 oder 40 Jahren einfach satt,

wegen ihrer schweren Brust körperlich eingeschränkt

zu sein und sich mit rückenschmerzen zu plagen.

häufig gibt ein Arztwechsel der Patientinnen den

Ausschlag. Gerade jüngere Gynäkologen wissen

fig.: die Top-Ten-Länder der plastischen Alterschirurgie (prozentualer Anteil aller chirurgischen Eingriffe). Schönheitsoperationen sind übrigens noch immer Frauensache: Weltweit finden 84,7 Prozent aller Eingriffe bei Frauen statt, nur 15,3 Prozent entfallen auf Männer. Ausnahme ist die haartransplantation (Anteil der Männer: 81,4 Prozent).

chinauSA

BrasilienIndien

MexikoJapan

Südkorea

deutschlandTürkei

Spanien

18,5 %

13,8 %

12,4 %

6,5 %

4,9 %

4,7 %

4,1 %

2,8 %

2,3 %

2,1 %

hollywood lässt grüßen?

fig.: Emanzipation auf selbstbewusste Art: Immer mehr alte Menschen unterziehen sich Schönheitsoperationen, um gut auszusehen.

40 2 0 11 S I x T u S A L L E r T

um die Möglichkeiten der Plastischen chirurgie

und klären die Frauen darüber auf, dass sie sol-

che Schmerzen und Einschränkungen im Alltag

nicht aushalten müssen, nur weil es Mutter natur

vermeintlich gut mit ihnen gemeint hat.

dr. Allert hat jedoch die Erfahrung gemacht,

dass eine Straffungsoperation vielen Patienten

einen großen Motivationsschub verpasst — und

das ist nicht immer positiv: « Sie sehen, was mit

drei Stunden oP und vier Tagen stationärem Auf-

enthalt machbar ist. danach nehmen sie weiter

ab und kommen dann ein zweites und drittes Mal,

weil die haut nach der nächsten Gewichtsreduk-

tion wieder hängt. das wollen wir vermeiden.

deshalb müssen übergewichtige Patienten vor

einer Straffungsoperation immer erst Eigenin i tiative

zeigen. » Weitere operationsrisiken neben Über-

« Wir haben hier Patienten, die sind 89, da würden Sie sagen, die sind höchstens 65. » dr. Sixtus Allert chefarzt der Plastischen und Ästhetischen chirurgie Sana Klinikum hameln-Pyrmont

gewicht sind übrigens keine Frage des Alters. « Wer

gesund und stabil ist, kann operiert werden. Wir

haben hier Patienten, die sind 89, da würden Sie

sagen, die sind höchstens 65. »

Fast alle Erkenntnisse, auf die Plastische chi-

rurgen heute zurückgreifen, haben ihren ursprung

in dem Ansporn engagierter Ärzte, zerstörte Kör-

perpartien wieder aufzubauen. Wie so oft in der

Geschichte der Medizin waren Kriege ein treibender

Faktor für die Entwicklung neuer Techniken. Vieles,

was ursprünglich aus rekonstruktionsbemühungen

heraus entwickelt wurde, fand später Eingang in

die umsetzung rein ästhetischer Veränderungs-

bedürfnisse von Patienten. Aus diesem Grund

nennt man den Fachbereich auch die « plastische,

rekonstruktive und ästhetische chirurgie ».

Selbst heute ist der weitaus größere Teil der

Eingriffe, die dr. Allert und sein Team vornehmen,

rekonstruktiver natur: « Wir operieren hände, ha-

ben einen großen Schwerpunkt in der hautkrebs-

chirurgie, Wiederherstellung der haut nach Wun-

den an den Beinen, zum Beispiel nach unfällen,

und natürlich die Brustkrebschirurgie als weiterer

wichtiger Schwerpunkt. » Allein deshalb ist der

Anteil von älteren Patienten nicht gerade gering.

früher: keine chance. heute: kein problem.

das, was Brustrekonstruktionen heute ausmacht,

wurde erst in den 1970er- und 80er-Jahren entwi-

ckelt. Ergänzt um die technischen Möglichkeiten

der Mikrochirurgie kann man heute sicher und

zügig Gewebeblöcke von einer Körperstelle an

eine andere operieren. « Wir schaffen heute eine

Bauchdeckenplastik in anderthalb Stunden, die

war in meiner Ausbildungszeit nicht unter drei

Stunden zu machen. Wir schaffen Bodylifts in fünf

Stunden. die Zeiten haben sich deutlich verkürzt »,

sagt dr. Allert. All das ist heute verbunden mit einer

wesentlich verträglicheren narkose, die notfalls

auch lange oP-Zeiten über zehn Stunden möglich

macht, ohne dass man sich um den Patienten zu

sorgen braucht. Technik und narkose. Beides

wurde verfeinert. Aber was bringt die Zukunft?

dr. Allert zögert nicht lang: « Gewebezüchtung

im Sinne von Gewebeersatz, ob das nun Knorpel,

ganze organsysteme oder haut sind. das war

in den 90er-Jahren ein Thema, die sogenannte

haut aus der Tube bei Verbrennungen. das ist

noch nicht das Ende. So schaffen wir es, künftig

mit noch mehr Eigenmaterial zu arbeiten. das

wäre die Anstrengungen in jedem Fall wert. »

Fettabsaugung

Augenlidstraffung

Brustvergrößerung

nasenkorrektur

Brustverkleinerung

57.761

40.829

35.469

29.256

19.970fig.: Beliebteste Schönheitsoperationen in deutschland (absolute Zahl an Eingriffen)

S I x T u S A L L E r T 2 0 11 41

Ewig jung

das Bildnis des dorian Gray

Menschen, die unfähig sind, zu altern, psy-chisch zu reifen und sich weiterzuentwickeln, leiden am dorian-Gray-Syndrom — ganz so wie die hauptfigur dorian Gray im einzigen roman des irischen Schriftstellers oscar Wilde (1854–1900).

dorian Gray, ein junger und schöner Mann, ist von einem gemalten Porträt seines Gesichts so begeistert, dass er sich wünscht, das Bild möge an seiner statt altern.

die Zahl der Menschen, die an diesem exzessiv ausgelebten Jugend-wahn erkrankt sind, ist unbekannt, wird aber vorsichtig auf zwei bis drei Prozent der Be-völkerung geschätzt. « Ältere Patienten, die zu uns kommen, wissen ganz genau, was sie wollen », bestätigt

dr. Allert, chefarzt der Plastischen und Ästhetischen chirur-gie im Sana Klinikum hameln-Pyrmont. « Sie sind äußerst re-flektiert. Sie setzen sich mit dem nutzen und den risiken genau ausein-ander. und sie wissen, dass durch einen chirurgischen Eingriff

nicht ihr ganzes Leben grundsätzlich verändert und ein Problem ein-fach so aus dem Weg geräumt werden kann. dafür haben sie eine viel zu große Lebenser-fahrung. »

b e s t p r A c t I c e

« nach den operationen ein neuer Mensch »die 61-jährige ruth Bruderek hat nach einer oP 80 Kilo abgenommen. dann hat sie ihren Körper gestrafft und neues Lebensglück gefunden.

Warum haben sie sich mit weit über 50 dazu entschlossen, zwei

mehrstündige große schönheitsoperationen vornehmen zu lassen?

nach einer Magenband-oP vor knapp fünf Jahren hatte ich 80 Kilo ab-

genommen. das Problem: die haut, die zurückblieb, musste weg. Einerseits

wegen der Entzündungsgefahr, andererseits auch der optik wegen. Für

mich war das sonnenklar.

Warum kam dieser Wunsch nach einer radikalen veränderung

erst so spät?

Abnehmen wollte ich früher schon, es hat nur nie geklappt. Als meine Kinder

schließlich aus dem haus waren, hatte ich Zeit, an mich selbst zu denken.

Früher habe ich nur funktioniert. und dann konnte ich plötzlich sagen: Jetzt

bin ich dran, meine Familie kommt auch eine Weile ohne mich klar.

Wie entscheidend waren diese eingriffe für Ihre lebensqualität?

Vieles von dem, was ich heute mache, ging früher nicht — Sport, ärmellose

oberteile, schöne Kleidung in gängigen Größen … Vor den operationen

hatte ich ständig Kosmetiktücher bei mir, um die Feuchtigkeit zwischen den

hautfalten aufzufangen, damit sich nichts entzündet. und für Gruppenfotos

habe ich mich immer in der hintersten reihe versteckt. heute trage ich

nicht mehr nur unauffälliges Schwarz, sondern Knallrot oder Pink — und

stehe auf den Bildern immer in der Mitte. Mein Selbstbewusstsein und mein

Selbstwertgefühl haben zugenommen. und ich bin heute ein glücklicher

Mensch.

fig.: 80 Kilo abgenommen, selbstbewusst im Leben zurück und wieder autonom. ruth Bruderek hat mit großer Selbstdisziplin geschafft, wovon viele Übergewichtige im Alter träumen: Sich selbst schön finden.

fig.: oscar Wildes romanfigur dorian Gray bleibt als Spiegelbild immer jung und schön.

42 2 0 11 S I x T u S A L L E r T

v o M s e h n e n e r s At z b I s z u M b Y pA s s

Marke eigenbauder Mensch wird immer mehr zum chirurgischen Möglichkeitsraum und Ersatzteillager seiner selbst.

Wo geht die Zukunft hin? Im Fachbereich der plastischen ästhetischen

chirurgie ist Gewebezüchtung ein wichtiger Trend. die Erforschung von

Möglichkeiten, Gewebeersatz herzustellen, ob Knorpel oder ganze organ-

systeme wie beispielsweise haut, ist zukunftsweisend. Mikrochirurgische

Techniken ermöglichen schon heute, Gewebetransfers durchzuführen. Eine

Brust muss nicht mehr zwingend mit Implantaten vergrößert werden. Bereits

sei einigen Jahren wird hierzu auch Fett aus dem Gesäß, aus dem Bauch

oder aus dem oberschenkel aufgearbeitet und für eine Brustvergrößerung

verwendet. In der handchirurgie setzt man auf Sehnenersatz aus eigenem

Gewebe.

und bei Bypass-operationen sorgen eigene Venen aus den Armen oder

Beinen dafür, dass das herz über eine umleitung an einer verstopften Ader

vorbei wieder zuverlässig mit genügend Blut und Sauerstoff versorgt wird.

denn der Körper nimmt seine eigenen Zellen auch an anderer Stelle besser

an als Fremdmaterial.

Künstliche Ersatzteile ermöglichen jedoch ebenso beeindruckende me-

dizinische Erfolge: Gefäßprothesen aus Kunststoffen wie dacron oder Gore-

Tex sind seit Mitte der 1960er-Jahre ein gängiges Instrument zur Behandlung

von geschädigten Blutgefäßen und auch heute noch die richtige Wahl, wenn

es einem Patienten an eigenem gesundem Gefäßmaterial mangelt.

Im Berlin der 1920er- und 30er-Jahre gab es vier überaus bekannte Mediziner — mit unter-schiedlichen Fachge-bieten, aber ein und demselben nachnamen: Joseph. um diese aus-einanderhalten zu kön-nen, erfanden die Berli-ner treffende Beinamen:

Aus dem dermatologen Max Joseph wurde der hautjoseph, Eugen Joseph nannte man in seiner Eigenschaft als urologe den Blasen-joseph und wer einen Magen-darm-Spezia-listen brauchte, wurde zum Magenjoseph Gus-tav Joseph geschickt.

der vierte Joseph im Bunde war der nasen-joseph: Jacques Joseph (1865–1934), Begründer der modernen plasti-schen und rekonstruk-tiven Gesichtschirurgie. Seine erste Schön-heitsoperation führte Joseph 1896 durch — an einem Kind, das wegen

seiner großen, abste-henden ohren gehän-selt wurde. Zwei Jahre später nahm er die erste nasenkorrektur vor. Bis 1907 operierte er 200 weitere nasen. Knochen und Knorpel ersetzte er durch Elfenbein, geeignete operations-instrumente entwarf er

selbst. das raspatorium wird heute noch von plastischen chirurgen verwendet und trägt für die meisten den namen seines Erfinders. Sein Atlas und Lehrbuch zur nasenplastik ist noch heute ein Standardwerk in der Gesichtschirurgie.

Weg vom Ersatzteillager

der nasenjoseph

fig.: Jacques Joseph war ab 1916 Leiter der Abteilung Gesichtsplastik an der Berliner charité.

fig.: Ein künstliches Kniegelenk ermöglicht schmerzfreie Fortbewegung aus eigener Kraft, wenn das Knie erkrankt oder verletzt und irreperabel ist.

Künstliche Gelenke bestehen heute oft aus Titan,

um allergischen reaktionen vorzubeugen. dauer-

haft gehalten wird eine Endoprothese aber nicht

nur durch künstlichen Knochenzement, sondern

vor allem durch eine Knochensubstanz, die unser

Körper selbst nachträglich bildet.

S I x T u S A L L E r T 2 0 11 43

Ersatzteillager Mensch

hilfe zur Selbsthilfe

fig.: Ein künstliches herzersetzt das herz des Patienten vollständig oder unterstützt es, bis ein geeignetes Spenderherz gefunden ist.

fig.: Eine Aortenklappeverhindert den rückfluss des Blutes und entlastet damit das herz, weil so weniger Pumparbeit nötig ist.

fig.: Ein Brustimplantat vergrößert die weibliche Brust oder wird zu ihrem Wiederaufbau nach einer Brustkrebstherapie eingesetzt.

fig.: Eine künstliche Lunge reduziert das risiko von Lungenschäden nach ma-schineller Beatmung, weil weniger druck benötigt und Kohlendioxid besser abtransportiert wird.

fig.: Eine Schulterprotheseersetzt das Schultergelenk, wenn dieses erkrankt oder verletzt ist und sich der Patient nicht mehr schmerz-frei bewegen kann.

fig.: Ein Stent dehnt verstopfte Blutgefäße, Gallenwege, Luft- oder Speiseröhren, um einen erneuten Verschluss zu verhindern.

fig.: Eine elektronische Innenohrprothese, das cochlear Implant, wandelt den Schall in elektrische Impulse um, die unmittelbardie hörnerven reizen.

44 B L A u B u c h 2 0 3 1

2 0 3 1 B L A u B u c h 45

2 0 3 1Kranke und bedürftige Menschen brauchen nicht nur Schul- und

Apparatemedizin. Zwischenmenschliche nähe, Pflege und hilfe

sind mittlerweile unverzichtbar. Wir haben vier Frauen besucht,

die mitten im Leben stehen.

46 2 0 3 1 S A B I n E P E T r I

der unterschied zwischen meiner ehemaligen

Arbeit als Juristin und meiner neuen Aufgabe als

Psychoonkologin ist nicht so groß. In beiden Be-

rufsrollen begleite ich Menschen in schwierigen

Situationen, widme ihnen meine volle Aufmerk-

samkeit, und gemeinsam finden wir heraus, welche

Wünsche und Bedürfnisse sie haben, was unter

den gegebenen umständen erreichbar ist und wie

sie mit dem unerreichbaren umgehen können.

Beide Berufe erfordern hohen respekt vor dem

anderen Menschen und große Sensibilität in der

Kommunikation. Bei meiner Arbeit mit krebskran-

ken und oft hochbetagten Patienten stehen deren

ressourcen im Vordergrund. Ich versuche sie zu

stabilisieren, indem wir gemeinsam ihre Stärken

erkunden. Mit Biografiearbeit etwa erinnern sich

die Patienten an verschiedene Stationen ihres

Lebens und vergewissern sich ihrer Erfahrungen

und Erlebnisse. damit werden sie sich ihrer Mög-

lichkeiten bewusster und können ihren Weg finden.

Zu meiner Arbeit mit den Patienten gehören auch

Entspannungsübungen, außerdem unterstütze

ich meist auch ihre Angehörigen. die meisten

Schwerstkranken hängen am Leben, selbst wenn

sie ein hohes Alter erreicht haben, und wenn es

nur noch ein sehr eingeschränktes Leben ist. Je-

der weiß, dass der Tod nah ist, aber niemand weiß,

was danach kommt.

deshalb schwingt die Stimmung der Patienten

oft zwischen Loslassen und Festhalten. Für mich

ist der tägliche umgang mit Leid und Tod erträg-

lich, weil ich die Fülle des Lebens, zu dem auch

das Schöne gehört, ganz bewusst wahrnehme.

In den Momenten des Verbundenseins mit den

Patienten, wenn sie mir das Gefühl geben, zur

richtigen Zeit am richtigen ort zu sein, bekomme

ich viel zurück.

und in zukunft?

Angesichts der alternden Bevölkerung, des Kos-

tendrucks, des Ärzte- und Pflegekräftemangels

und der Technisierung der Medizin werden Psy-

choonkologen verstärkt darauf zu achten haben,

dass der Patient ganzheitlich gesehen wird, mit

all seinen physischen, psychischen, spirituellen

und sozialen Bedürfnissen. Vielleicht können wir

der Gesellschaft künftig ein Stück weit vorleben,

dass Sterben kein Tabu mehr ist, sondern eine

wichtige Phase des Lebens. diese veränderte

haltung ist wichtig, denn je älter die Menschen

werden, desto öfter im Leben werden sie mit

Sterben konfrontiert.

Sabine PetriMAS Palliative care

Sana Klinikum hofMedizinische KlinikEppenreuther Straße 995032 hofTelefon: 09281 98-3611www.sana-klinikum-hof.de

s p e z I A l g e b I e t: p s Y c h o o n k o l o g I e u n d pA l l I At I v e c A r e

das leben liebenBeim Praktikum in der onkologie hat Sabine Petri ihre berufliche Passion entdeckt. heute hilft die 48-Jährige schwerstkranken Patienten, ihr Leben bis zuletzt als lebenswert zu empfinden.

S A B I n E P E T r I 2 0 3 1 47

Vision 2031

« Psychoonkologen sind in 20 Jahren ein selbst-verständlicher Teil der medizinischen Welt. Ihre Medizin ist das Zuhören, der respekt und die psychische Stärkung der Patienten auch an der letzten Grenze des Lebens. »

48 2 0 3 1 S A n d r A G E LT L

Vision 2031

« Je weniger Kinder, desto höher die Erwartungs-haltung der Frauen an ein gelingendes Geburtserlebnis. deshalb wird der uralte Beruf der hebamme in Zukunft an Bedeutung gewinnen. »

S A n d r A G E LT L 2 0 3 1 49

die erste Geburt erlebte ich mit 15 Jahren, als ich

eine hebamme begleiten durfte. Von da an stand

mein Berufsziel fest: hebamme! doch erst nach

einem sechsjährigen Bewerbungsmarathon bekam

ich einen der begehrten, aber raren Ausbildungs-

plätze. heute bin ich als selbständige hebamme

täglich etwa zwölf Stunden im Einsatz — dienst

im Krankenhaus, nachsorge bei den Familien zu

hause, Geburtsvorbereitungskurse, Schwange-

renvorsorge. Am Abend sind oft zwischen 120

und 200 Kilometer auf dem Tacho.

ein beruf mit vielen facetten

hebamme ist ein Beruf, der Berufung braucht. die

Verantwortung ist hoch und die Anforderungen

sind anspruchsvoll. neben dem fundierten me-

dizinischen Wissen rund um Schwangerschaft,

Geburt und Wochenbett braucht man eine sehr

gute Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis,

einen ausgeprägten ordnungssinn, hohe soziale

und kommunikative Kompetenzen und sehr viel

Flexibilität.

Keine Geburt läuft nach Schema F ab. deshalb

müssen hebammen mit jeder Situation rasch um-

gehen können. Sie müssen sehr einfühlsam sein,

aber manchmal auch durchgreifen. häufig bestim-

men die Frauen den Verlauf der Geburt selbst.

dafür brauchen sie allerdings eine gute Vorberei-

tung durch die hebamme.

Im Kreißsaal versuche ich, so wenig wie nötig

einzugreifen, gebe der werdenden Mutter Tipps,

das Gefühl, nicht allein zu sein, und mache ihr

Mut zum durchhalten. die hebamme ist als fach-

liche und menschliche Expertin für die Phase der

Geburt unverzichtbar. Sie kennt neuartige oder

alternative Methoden der Geburtshilfe ebenso wie

uralte hebammentricks. der Arzt schaut kurz nach,

was im Kreißsaal geschieht, und widmet sich dann

anderen Aufgaben. die hebamme bleibt. Sie steht

der Familie während des Wochenbetts mit rat

und Tat zur Seite, selbst wenn die Frau eine Fehl-

geburt hatte. Ich erlebe jeden Tag viel Freude,

aber auch Leid. doch der glückliche Moment — der

erste Schrei des neugeborenen — überwiegt alles.

In Zukunft wird es weniger Geburten geben, aber

hebammen werden trotzdem gebraucht. Kaum

eine Frau wird auf ihre dienste verzichten wollen.

Künftig werden auch mehr Frauen ambulant ent-

binden und danach wieder nach hause gehen.

dann ist die Begleitung der hebamme erst recht

unverzichtbar.

s p e z I A l g e b I e t: g e b u r t s h I l f e

das leben begrüßenhebammen dürfen Kinder ohne ärztliches Zutun zur Welt bringen, eine Geburt ohne hebamme ist aber nur im notfall erlaubt. Zu recht, sagt die 27-jährige Sandra Geltl, die ihren Beruf lebt und liebt.

Sandra GeltlSelbständige hebamme, Gesundheits- Kinderkrankenpflege

Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfecaritas-Krankenhaus St. JosefLandshuter Straße 6593053 regensburgTelefon: 0941 782-0www.caritasstjosef.de

50 2 0 3 1 K A r M E n Z A B E L

Vision 2031

« Kinder und Jugendliche wollen im Krankenhaus nicht herumliegen. Sie wollen aktiv und mobil sein. Etwas unternehmen. So werden sie schneller gesund. Ich bin sicher: In der Kinder- und Jugendmedizin von morgen wird es mehr Aktionsräume für kranke Kids geben. »

K A r M E n Z A B E L 2 0 3 1 51

Karmen ZabelErzieherin

Sana Klinikum hameln-Pyrmont Saint-Maur-Platz 131785 hamelnTelefon 05151 97-0www.sana-hm.de

Eines wollte ich schon immer: Mit Kindern arbeiten.

Also absolvierte ich zunächst eine Ausbildung zur

Erzieherin. nach einer ersten Berufsetappe in einem

Kindererholungsheim ging ich als Erzieherin in

die Türkei und lernte dort die Sprache. Vier Jahre

später half mir diese Zweisprachigkeit bei einer

Bewerbung in deutschland: Ich bekam dann die

Stelle hier im Sana Klinikum hameln-Pyrmont. In

der Folge gingen wieder einige Jahre ins Land,

bevor unser Leiter für Öffentlichkeitsarbeit die

Idee hatte, Kinderradio für junge Patienten ins

Leben zu rufen.

Wir wollen gehört werden

Eines vorneweg: ohne unser Lokalradio « radio-

aktiv » wäre dies nicht zu realisieren gewesen.

das gilt bis heute. unser Sendeschema ist klar:

Alle vier bis fünf Wochen, immer samstags, ge-

hen wir auf Sendung. Mit einer eigenen drei- bis

sechsminütigen reportage. Produziert von den

Klira-Kids, allesamt junge Patienten, die auf unserer

Station sind. Seit Anfang 2010 sind wir « on air ».

In der Sendung « Lollipop ». unsere Themen sind

vielfältig — von der Blinddarmoperation bis zum

umzug der Kinderklinik letztes Jahr. Immer wieder

kommen natürlich neue radioreporter dazu. Kinder

und Jugendliche, die in die Klinik aufgenommen

werden. nicht jeder, den ich anspreche, möchte

allerdings sofort mitmachen. Aber wer einmal

Feuer gefangen hat, bleibt dabei.

Für die Kinder und Jugendlichen ist das Kin-

derklinik-radio eine wichtige Stütze. Sie finden

Ablenkung von ihrer Krankheit, bauen Ängste ab

und verarbeiten unter umständen negative Erleb-

nisse, die sie im Krankenhaus gemacht haben.

Ihr Eifer und Engagement reißen mich wirklich mit.

und einige chronische Patienten sind längst dau-

erredakteure bei uns. Alle lernen schnell von- und

miteinander.

Ich hatte am Anfang natürlich auch keine ra-

dioerfahrung. doch unser Lokalradio hat mich

geduldig fortgebildet und mir technische und re-

daktionelle hilfestellung gegeben. und wir werden

als redaktionsteam immer besser. Was wir auch

an den hörerreaktionen merken. die Eltern sind

stolz auf ihre Jungjournalisten, und die Profikolle-

gen klopfen uns jetzt öfters auf die Schultern.

Ich glaube, dass meine Arbeit zu einem bes-

seren Klinikaufenthalt kranker Kinder und Jugend-

licher beiträgt. das ist doch das Wichtigste: Wenn

schon gezwungenermaßen hier, dann auch mög-

lichst wenig eintönig. radio machen ist so unmit-

telbar und direkt. Klare Fragen stellen, eindeutige

Antworten bekommen. das gefällt den Kids.

s p e z I A l g e b I e t: k I n d e r - u n d j u g e n d p ä d A g o g I k

das leben hörenKarmen Zabel produziert radiosendungen mit jungen Patienten. die 43-jährige Erzieherin weiß, wie man kranke Kinder motiviert, als reporter mitzumachen. dadurch lenkt sie auch von Ängsten ab.

52 2 0 3 1 S A M A n T h A G I M B E L

Ich wollte schon immer im sozialen Bereich ar-

beiten. nach dem Praktikum in einem Pflegeheim

war ich sehr beeindruckt, wie man schwer kranke

Menschen wieder auf die Beine bringt, wie man

sozusagen ihre ressourcen herauskitzelt. drei

Jahre dauerte die Ausbildung zur Ergotherapeutin,

dann habe ich hier im Krankenhaus vom roten

Kreuz in Stuttgart angefangen. Es ist ein he raus-

forderndes Arbeitsumfeld und ein kreativer Beruf,

der sich ständig verändert und in den neue Kon-

zepte Einzug halten.

das Motto der Ergotherapie lautet: den Patienten

aus dem Bett bringen und ihn mobiler werden las-

sen. das fängt damit an, dass er sich zuerst bis

zur Bettkante bewegen kann, und endet mit all-

täglicher Mobilität wie Treppensteigen zu hause.

In jeder Phase geht es darum, mit dem Klienten

zu üben und ihm Techniken beizubringen, damit

er Schwierigkeiten im täglichen Leben leichter

bewältigen kann. das betrifft übrigens nicht nur

den Körper, sondern auch den Geist. deshalb

trainieren wir genauso Muskelaufbau wie hirn -

leis tung. Immer mit dem Ziel, möglichst im Alltag

selbständiger zu werden.

Als Ergotherapeutin bin ich hier in Stuttgart in

ein größeres, interdisziplinäres Team mit einge-

bunden. Einmal wöchentlich treffen wir uns zur

gemeinsamen reha-Besprechung. Arzt trifft Phy-

siotherapeut, Ernährungsberater trifft Ergotherapeut,

Seelsorger trifft Pfleger. und alle zusammen ar-

beiten am Patienten und versuchen aus unter-

schiedlichen Perspektiven, gezielt zu helfen. des-

halb formulieren wir jede Woche für jeden Patienten

ein individuelles Ziel — medizinisch, therapeutisch

und pflegerisch. Auf einen nenner gebracht, wenn

es um den Ergotherapeuten geht: Ich versuche,

die körperlichen und kognitiven Einschränkungen

der Patienten zu kompensieren, damit sie ihren

Alltag selbständiger bewältigen und so viel Le-

bensqualität wie möglich erhalten. das ist mein

Ziel, jeden Tag.

kreativität ist auch unser Metier

um die Zukunft ist mir nicht bange. die Menschen

werden bekanntermaßen immer älter und leider

damit auch immobiler und multimorbider. demenz

wird als Krankheitsbild stark zunehmen. der Ergo-

therapeut ist deshalb noch stärker gefordert, mit-

zuhelfen, den Menschen körperlich, kognitiv und

alltagspraktisch zu unterstützen. Kreativität im Job

wird ebenso wichtig, um vor allem kognitive defizite

ausgleichen zu helfen. Ich bin mir sicher, dass

unser Beruf im hinblick auf die demografischen

Veränderungen eine positive Zukunft hat.

Samantha GimbelErgotherapeutin

Krankenhaus vom roten Kreuz Bad cannstattBadstraße 35–3770372 StuttgartTelefon 0711 5533-0www.rkk-stuttgart.de

s p e z I A l g e b I e t: e r g o t h e r A p I e

das leben erleichterndie 24-jährige Samantha Gimbel sorgt als Ergotherapeutin dafür, dass die Menschen im Alltag beweglich bleiben. nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Sie ist Teil einer neuen ganzheitlichen Medizin.

S A M A n T h A G I M B E L 2 0 3 1 53

Vision 2031

« Ergotherapeuten sind ein wichtiger Bestandteil neuer, interdisziplinärer Medizin. Sie machen durch gezieltes Training dort mobil, wohin Medikamente nicht mehr reichen. Zusammen erreicht man eben mehr! »

54 B L A u B u c h Ü B E r u n S

« Seit 170 Jahren nimmt die Lebenserwartung pro Jahr um etwa drei Monate zu, das heißt, wir gewinnen pro Tag sechs Stunden Lebenszeit — und ein Ende des Anstiegs ist nicht in Sicht. » James W. Vaupel, Bevölkerungswissenschaftler und Gerontologe, direktor des rostocker Zentrums für demografischen Wandel

24 h

30 h

12 h

S E I T E r u B r I K 055

Blaubuch im dialog

Wie sehen Sie das Krankenhaus der Zukunft?

herausgeber: Sana Kliniken AG oskar-Messter- Straße 24 85737 Ismaning

Leitung (verantwortlich): dr. Markus Müschenich

Magazinentwicklung: Peter Felixberger, München/Erding

redaktionsteam: Susanne heintzmannGundula Englisch Katharina LotterAndrea roth Karin Seeger

herstellung und Koordination: Amedick & Sommer, StuttgartArt direction:christoph Schulz- hamparian

Impressum

hier endet die zweite Ausgabe des Blaubuchs. doch die reise geht weiter.

Wir freuen uns sehr auf Ihre Meinung.Leserbriefe, reaktionen, Lob und Kritik sowie Themenvorschläge richten Sie bitte an [email protected]

www.pkv.de

die Sana Kliniken wurden 1976 gegründet und werden von 31 privaten Krankenversicherungen getragen. Wir behandeln sowohl gesetzlich wie privat versicherte Patienten.

Foto/Illustration: darius ramazani,c. Schulz-hamparian

S.1, 20: corbis;S. 8-15, 55:Katrin Stangl;S. 9, 18, 26–27, 47, 48, 50: Sana; S. 23: privat;S. 23: universität Fribourg, « Vorgeburtliche Entwicklung und Geburt » Werner Wicki 2007;S. 25, 30–31: Wikimedia;S. 29: Fotolia;S. 35, 39: iStockphoto;S. 42–43: Boston Scientific, cochlear™, Informationsdienst Wis senschaft – idw, LMA deutschland Gmbh, Medtronic Gmbh, PoLYTEch health & Aesthetics Gmbh, Zimmer Germany GmbhS. 53: xiaoling huang

Internet: www.sana.de

diskutieren Sie mit!

« Abnehmen wollte ich früher schon, es hat nur nie geklappt. Als meine Kinder schließlich aus dem haus waren, hatte ich Zeit, an mich selbst zu denken. »

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« der glückliche Moment — der erste Schrei des neugeborenen — überwiegt alles. »

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« oje, in einer halben Stunde findet ein Vortrag statt. Thema: Wie alt werden wir morgen? da möchte ich mit 90 auf jeden Fall dabei sein. »

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www.sana.de


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