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2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner · 2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 139...

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2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 139 falls allegorischen Wert haben können – hat Schopenhauer schließlich eine zwar distanzierte aber auch unvoreingenommene Würdigung der Vielfalt dieser Aus- drucksgestalten in der Religionsgeschichte befördert. Auf diese Weise finden sich in seiner Philosophie alle für die Transformation des Erlösungsgedankens wesentlichen Elemente bereits angelegt oder auch entfaltet, wenngleich – oder vielleicht eben weil – dieser Gedanke selbst bei ihm weitgehend unbestimmt bleibt. 2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner Richard Wagner ist einer der bedeutendsten Erlösungstheoretiker des 19. Jahr- hunderts. Bereits Nietzsche hat dieses thematische Zentrum seines Schaffens prägnant auf den Begriff gebracht: »Wagner hat über Nichts so tief wie über die Erlösung nachgedacht: seine Oper ist die Oper der Erlösung«. 144 Und noch von der gegenwärtigen Forschung wird diese Einsicht für zutreffend gehalten: »Erlösung . .. ist das eine und einzige Wagner-Thema«. 145 Dennoch wirft die Annäherung an den Bereich der Religion bei Wagner Probleme auf. So heißt es bei Stefan Kunze: »Es sind wenige Themen, um die Wagners Gedanken im- mer wieder kreisten: die Etablierung einer Kunst, die die gesellschaftlichen Ge- gensätze, die Entfremdung und Vereinzelung aufheben und einen neuen ge- sellschaftlichen Zusammenhalt stiften könnte. Die Idee der Erlösung hat eher diesen aktuellen und existentiellen Gehalt als den christlichen, mit dem sie auch im Werk verbrämt erscheint«. 146 Schon der Versuch, die hier aufgestellten Ge- gensätze deutlich zu benennen, fällt nicht leicht: Ist der christliche Gehalt nicht aktuell oder existentiell? Dann wäre das Christentum als bloßes Dogma genom- men oder aber auf die chronologisch verstandene Jenseitshoffnung restringiert. Oder ist es die gesellschaftliche Relevanz, die dem christlichen Gehalt fehlt? Dann wäre das Themenfeld der ›Privatreligion‹ im Blick. Zudem soll nun die- ser nicht näher charakterisierte christliche Gehalt der Erlösung den eigentlichen Gehalt dieser Idee ›verbrämen‹ und zwar ›auch‹ – aber nicht nur? – im Werk. 147 Das Problem dieser mehrfachen und dabei keineswegs klaren Substitutions- und Komplementärverhältnisse ist allerdings zu einem guten Teil in der Sache selbst begründet. Dabei steht hinsichtlich der auch sonst häufig zu beobachten- 144 Fr. Nietzsche: Der Fall Wagner 3; KSA 6, 1630. 145 P. Wapnewski: Tristan der Held Richard Wagners, 56. Dennoch bilden Forschungsbeiträge zu diesem Thema eine Ausnahme; vgl. vor allem W. Böhme (Hg.): Liebe und Erlösung. 146 St. Kunze: Der Kunstbegriff Richard Wagners, 126. 147 Ähnlich – als Verklärung – legt es sich Borchmeyer zurecht: »Wagner scheut sich nicht, die Selbstaufhebung der Einzelkünste durch das christlich-mystische Paradox vom Tod als dem wahren Leben zu verklären« (Das Theater Richard Wagners, 70, mit Verweis auf ›Das Kunstwerk der Zukunft‹; GSD 3, 122).
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2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 139

falls allegorischen Wert haben können – hat Schopenhauer schließlich eine zwardistanzierte aber auch unvoreingenommene Würdigung der Vielfalt dieser Aus-drucksgestalten in der Religionsgeschichte befördert. Auf diese Weise findensich in seiner Philosophie alle für die Transformation des Erlösungsgedankenswesentlichen Elemente bereits angelegt oder auch entfaltet, wenngleich – odervielleicht eben weil – dieser Gedanke selbst bei ihm weitgehend unbestimmtbleibt.

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner

Richard Wagner ist einer der bedeutendsten Erlösungstheoretiker des 19. Jahr-hunderts. Bereits Nietzsche hat dieses thematische Zentrum seines Schaffensprägnant auf den Begriff gebracht: »Wagner hat über Nichts so tief wie überdie Erlösung nachgedacht: seine Oper ist die Oper der Erlösung«.144 Und nochvon der gegenwärtigen Forschung wird diese Einsicht für zutreffend gehalten:»Erlösung . . . ist das eine und einzige Wagner-Thema«.145 Dennoch wirft dieAnnäherung an den Bereich der Religion bei Wagner Probleme auf. So heißtes bei Stefan Kunze: »Es sind wenige Themen, um die Wagners Gedanken im-mer wieder kreisten: die Etablierung einer Kunst, die die gesellschaftlichen Ge-gensätze, die Entfremdung und Vereinzelung aufheben und einen neuen ge-sellschaftlichen Zusammenhalt stiften könnte. Die Idee der Erlösung hat eherdiesen aktuellen und existentiellen Gehalt als den christlichen, mit dem sie auchim Werk verbrämt erscheint«.146 Schon der Versuch, die hier aufgestellten Ge-gensätze deutlich zu benennen, fällt nicht leicht: Ist der christliche Gehalt nichtaktuell oder existentiell? Dann wäre das Christentum als bloßes Dogma genom-men oder aber auf die chronologisch verstandene Jenseitshoffnung restringiert.Oder ist es die gesellschaftliche Relevanz, die dem christlichen Gehalt fehlt?Dann wäre das Themenfeld der ›Privatreligion‹ im Blick. Zudem soll nun die-ser nicht näher charakterisierte christliche Gehalt der Erlösung den eigentlichenGehalt dieser Idee ›verbrämen‹ und zwar ›auch‹ – aber nicht nur? – im Werk.147

Das Problem dieser mehrfachen und dabei keineswegs klaren Substitutions-und Komplementärverhältnisse ist allerdings zu einem guten Teil in der Sacheselbst begründet. Dabei steht hinsichtlich der auch sonst häufig zu beobachten-

144 Fr. Nietzsche: Der Fall Wagner 3; KSA 6, 1630.145 P. Wapnewski: Tristan der Held Richard Wagners, 56. Dennoch bilden Forschungsbeiträge

zu diesem Thema eine Ausnahme; vgl. vor allem W. Böhme (Hg.): Liebe und Erlösung.146 St. Kunze: Der Kunstbegriff Richard Wagners, 126.147 Ähnlich – als Verklärung – legt es sich Borchmeyer zurecht: »Wagner scheut sich nicht,

die Selbstaufhebung der Einzelkünste durch das christlich-mystische Paradox vom Tod als demwahren Leben zu verklären« (Das Theater Richard Wagners, 70, mit Verweis auf ›Das Kunstwerkder Zukunft‹; GSD 3, 122).

140 B. Transformationen der Erlösung

den Unsicherheit der Forschung bei der Einschätzung von Wagners Verwendungdes Erlösungsbegriffs vermutlich an erster Stelle der Verdacht, es handele sich umeine bloße Metapher. Daran ist immerhin soviel richtig, daß Wagner gegenüberder dogmatisch fixierten christlichen Tradition eine merkliche Distanz innehältund nicht gerade selten auch einen deutlich ironischen Gebrauch von ihr ma-chen kann. Es wäre gleichwohl klärungsbedürftig, worin die innere Rationalitäteiner wenn auch metaphorischen Verwendung religiöser Termini besteht. Denndiese sind – und das gilt in herausragendem Maße für die soteriologischen Be-griffe – bei Wagner bei weitem zu häufig und vor allem in ihrer systematischenFunktion zu gewichtig, als daß es sich um eine bloße Redensart handeln könnte.

Neben dieser Frage nach strukturellen Äquivalenzen zwischen dem religi-ösen Sinn und dem sei es gesellschaftspolitischen, sei es ästhetischen Gebrauchdes jeweiligen Terminus muß zudem die Frage aufgeworfen werden, ob es sichbei Wagners Verwendung dieser Ideen überhaupt um einen genuin religiösenGebrauch handelt.148 Um aber dieses Problem einer Lösung zuzuführen, be-darf es einer Differenzierung der jeweils leitenden Perspektive. Denn die religi-öse Dimension eines Sprachgebrauchs läßt sich durch den bloßen Rückgriff aufkirchliche Traditionsbestände weder eindeutig feststellen noch bestreiten, wennder Kontext, in dem die fraglichen Ideen stehen, sich explizit in einer inne-ren Distanz zu diesen Traditionen befindet. Mit letzterem ist dann aber immernoch nicht negativ über eine mögliche konstruktive Inanspruchnahme religiöserIdeen entschieden. Solche Identifikationsprobleme treten nahezu zwangsläufigauf, wenn es sich – wie bei Wagner – um Substitutionsprozesse handelt, die ih-rerseits in dem ideengeschichtlichen Kontext der weitgreifenden Umformungchristlicher Symbolwelten stehen, zu denen darüber hinaus andere Symbolisie-rungskontexte – vor allem ästhetische, aber auch politische – in Konkurrenztreten. Dies wird bei den folgenden Untersuchungen stets zu beachten sein.

Einer der profiliertesten Kritiker Richard Wagners, Eduard Hanslick, schriebin seinem Nachruf: »wenn es ein Kennzeichen bahnbrechender Künstler ist, daßsie über den unmittelbar ästhetischen Eindruck hinaus Prinzipienfragen hervor-rufen, so steht Wagner unter den bewegenden Mächten der modernen Kunstobenan«.149 Wagner hat aber nicht nur durch sein kompositorisches Werk da-zu beigetragen, die Ästhetik des Musiktheaters umzugestalten, er hat auch selbstästhetische, musikgeschichtliche und musikphilosophische Prinzipienfragen auf-geworfen und einer Lösung zuzuführen gesucht, die dann am Ende allerdings

148 Nun ist allerdings bereits die Rede von einem ›genuin religiösen Gebrauch‹ einigermaßenvoraussetzungsreich. Neben inhaltlichen Abgrenzungsproblemen steht insbesondere zur Debatte,welche Instanz eigentlich über das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines solchen ausgezeichnetenGebrauchs religiöser Termini entscheiden soll. Da aber eben diese innere Unklarheit unablöslichzum Kern der Fragestellung der vorliegenden Arbeit gehört, darf es an dieser Stelle bei einerProblemanzeige bleiben.

149 E. Hanslick: Zum 13. Februar 1883; Musikkritiken, 262.

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doch wieder in seinem musikdramatischen Schaffen gesucht werden muß: »DenSchlüssel zu den Schriften bilden die Werke, nicht umgekehrt«.150 Gleichwohlbietet es sich für unser Thema an, nach einem ersten Teil zum Themenfeld derReligion und der Gesellschaft in Wagners Kunstschaffen, den Komplex der Zür-cher Kunstschriften vor die exemplarische Interpretation des ›Parsifal‹ zu stellen,da sie die Einordnung Wagners in das 19. Jahrhundert erleichtern und wesentli-che Interpretationsgesichtspunkte zu skizzieren erlauben.

a) Religion – Kunst – Gesellschaft

In Wagners Biographie, die immer auch eine Werkbiographie ist, gibt es einenmarkanten Abschnitt, der durch die weitgehende Abwesenheit der künstleri-schen Produktion im engeren, also kompositorischen Sinne gekennzeichnet ist.Zwischen der Fertigstellung des ›Lohengrin‹ (April 1848) und der endgülti-gen Inangriffnahme des Ring-Projekts (Mai 1851) liegen drei Jahre, die durchdas harsche Aufeinandertreffen höchst turbulenter äußerer Ereignisse und derinneren Nötigung zu reflektierender Distanznahme und Selbstvergewisserungcharakterisiert sind. Die Scheidelinie fällt nach den Maßstäben der Ereignisge-schichte in den Mai 1849, in dem die Flucht aus Dresden stattfindet und dasExil in Zürich beginnt. Nach den Maßstäben der Werkbiographie liegt sie inkonzeptionellen Problemen verborgen, die nicht weniger als vier verschiedeneDramenentwürfe zu ihrer Klärung ›verbrauchen‹, um dann in dasjenige Projekteinzumünden, das Wagner ein volles Vierteljahrhundert beschäftigen wird: ›DerRing des Nibelungen‹. Vor der Interpretation der Zürcher Kunstschriften sollendaher das Thema der Religion und das Thema der Gesellschaft in den Blickgerückt werden.

Wagner, aufgewachsen in der Zeit der Restauration, des ›Jungen Deutschland‹und des Vormärz, hat die religionskritischen Tendenzen seiner Zeit sehr wohlgekannt und auch zu einem guten Teil übernommen. Zudem dachte er überden Wert einer religiösen Erziehung denkbar schlecht und beklagte »das gift derreligion«.151 Zugleich aber war er in einem außergewöhnlichen Maße an derErkundung von religiösen Phänomenen interessiert, allerdings in Bereichen, die

150 C. Dahlhaus / J. Deathridge: Wagner, 85.151 »Schmachvoll ist es, daß Du Dein Kind taufen lassen mußt: . . . wirst Du das gift der religion

und unsrer erziehung ihm einimpfen, und so auf den äquivoquen Zufall es ankommen lassen, ober das gift wieder ausspeit oder ob es ihn wirklich zu grunde richtet? Diese frage gilt mir nichtscherzhaft. Wir haben die Zukunft in unsren händen: wollen wir so feig und niederträchtigsein unsre Kinder derselben Mörderei zu überliefern, die uns (seien wir offen!) unfähig, halbund schlecht gemacht hat? Wir sind zum gewinn der wahrheit erst zu einer periode unsreslebens gelangt, wo wir bereits untauglich geworden sind, aus ihr Genuß zu ziehen« (22.1.1852an Uhlig; SB 4, 254f ). – Bei den Zitaten, insbesondere aus den Briefen, ist zu beachten, daßRichard Wagner sich zeitweise der Kleinschreibung bedient hat, später aber – allerdings erst nachund nach – wieder die Großschreibung annahm.

142 B. Transformationen der Erlösung

dem durchschnittlichen Kirchenchristentum einigermaßen fernlagen, nämlichder griechischen Antike und dem germanischen Altertum. Von der Bedeutungder klassischen griechischen Literatur für Wagner läßt seine spätere Schilderungder Aischylos-Lektüre des Sommers 1846 einiges erahnen: »Nichts glich der er-habenen Erschütterung, welche der ›Agamemmnon‹ auf mich hervorbrachte:bis zum Schluß der ›Eumeniden‹ verweilte ich in einem Zustande der Entrückt-heit, aus welchem ich eigentlich nie wieder gänzlich zur Versöhnung mit dermodernen Literatur zurückgekehrt bin. Meine Ideen über die Bedeutung desDramas und namentlich auch des Theaters haben sich entscheidend aus diesenEindrücken gestaltet«.152 Hinzu kam die Lektüre von Sophokles, Euripides, Ari-stophanes und Platon sowie einiger gelehrter Werke über die griechische Antikeund nicht zuletzt Hegels ›Philosophie der Geschichte‹.153

Einige wichtige Aspekte von Wagners Religionsverständnis lassen sich bereitseinem Exkurs über Kunst und Religion im ›Kunstwerk der Zukunft‹ entneh-men. Wie bereits in seiner Abhandlung über die ›Wibelungen‹154 führt Wag-ner als die älteste Vergemeinschaftungsform die Sippe ein, die sich von einemgemeinsamen Stammvater herleitet. Die Erinnerung an dieses naturhafte Bandwird in der Sage bewahrt, die sich je nach den besonderen Umständen auch zu»religiösen Vorstellungen« erhebt (131), aber offenbar nicht präzise vom Mythosabgegrenzt ist. Mythos und Religion werden kultisch und rituell in besonderenFeiern präsent gehalten, unter denen als ein leuchtendes Bild die griechischeTragödie hervorscheint: »Die Tragödie war somit die zum Kunstwerke gewor-dene religiöse Feier, neben welcher die herkömmlich fortgesetzte wirkliche re-ligiöse Tempelfeier nothwendig an Innigkeit und Wahrheit so sehr einbüßte,daß sie eben zur gedankenlosen herkömmlichen Ceremonie wurde, währendihr Kern im Kunstwerke fortlebte« (132).155 Es ist in diesem Zusammenhang

152 ML 403.153 Vgl. Das Braune Buch, 111 und ML 500. Hieran schloß sich ein erneutes und vertieftes

Studium der nordischen Sagenwelt an. Die griechische Antike nahm bei Wagner durchaus dieFunktion gehobener Erbauungsliteratur ein, die zu späteren Zeiten an zahlreichen Abendenim Kreis der Familie zu Gehör gebracht wurde; Cosima hat in ihrem Tagebuch über das Volkdes antiken Griechenland die folgende Bemerkung Wagners festgehalten: »aus ihnen gewinnenwir Glück, sie sind sündenlos« (6.3.1870; CT 1, 206) – ein klassischer christologischer Topos.Es ist im Übrigen wenig hilfreich, diese erbauliche Funktion der antiken Literatur gegen »dasbessere, realistische Wissen«, das Wagner über Griechenland hatte, auszuspielen und sie damit zu»verklärenden Äußerungen« herabzusetzen (Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners, 79).Für die Literatur der klassischen Antike galt im 19. Jahrhundert lediglich das, was auch für diechristliche Bibel galt: Ihre doppelte Funktion als Erbauungsbuch und als Sammlung historischerQuellen wurde hinsichtlich des jeweiligen Gebrauchszusammenhangs ausdifferenziert, fiel abernicht mehr zusammen.

154 Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage (1848); GSD 2, 115–155 (bes. 115–119).155 Dieser Gedanke wird von Wagner in dem vielzitierten Eingangssatz von ›Religion und

Kunst‹ (1880) wieder aufgenommen: »Man könnte sagen, daß da, wo die Religion künstlichwird, der Kunst es vorbehalten sei den Kern der Religion zu retten« (GSD 10, 211).

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weniger entscheidend, ob diese parallele und dann divergente Entwicklung vonTempelfeier und Tragödie den historischen Tatsachen entspricht.156 Wichtig istvielmehr, daß Wagner am Beispiel der griechischen Antike einen Sachverhaltdemonstriert, den er strukturell äquivalent auch in seiner Gegenwart diagno-stiziert, an der Verselbständigung der ›offiziellen‹ Religion zu einer leeren Ze-remonie, deren innerer Gehalt in der Kunst bewahrt wird. Kunst und Religi-on sind nicht mehr – wie in der Frühromantik, etwa bei Wackenroder oderSchleiermacher – koordinierte Sphären, die sich vielfach durchdringen, einan-der aber nicht ersetzen, sondern sie stehen in einem Abfolgeverhältnis. Aller-dings wird genau genommen die Abfolge nur hinsichtlich des inneren Gehaltsbehauptet, das institutionelle und rituelle Fortleben der Religion jedoch ohneweiteres zugestanden. Doch wäre dieser Differenzierungsprozeß in seiner histo-rischen Dimension noch unvollständig beschrieben, wollte man ihn einseitig alsVerlust für die Religion ansehen. In der antiken Religion etwa symbolisiertensich nach Wagner am Ende eben diejenigen gemeinschaftsbildenden Kräfte, diespäter, also nach der Trennung von der Kunst nicht mehr wirksam waren. DieFolge war »die Zersplitterung des gemeinsamen tragischen Kunstwerkes« undzugleich der Beginn der Entwicklung von der »geschlechtlich-natürlichen Na-tionalgemeinsamkeit zur reinmenschlichen Allgemeinsamkeit« (133). In dieserhistorischen Projektion war die Trennung von Religion und Kunst für beideSeiten desaströs, wenngleich um höherer Ziele willen notwendig. Ein wichtigerUnterschied besteht gleichwohl: Die einzelnen Künste bleiben immerhin auchnoch in ihrer Isolierung mögliche Elemente einer künftigen Gemeinkunst. DerReligion jedoch scheint eine ähnliche – und sei es nur transitorische – Funktionnicht zuzukommen. Jedenfalls gilt dies für die nach wie vor herrschende christ-liche Religion. Der Einstellung Wagners zum Christentum soll daher zunächstnachgegangen werden.

Eine ebenso vielsagende wie vieldeutige Bemerkung zum ›Lohengrin‹ bringtdas Problem treffend zum Ausdruck: »Es macht mir doch Freude, einmal sohartnäckig auf dem christlichen Standpunkte gestanden zu haben, und zwarals Künstler – mit der vollsten Naivetät«.157 Worin eigentlich der ›christlicheStandpunkt‹ des ›Lohengrin‹ besteht, würde eine genauere Interpretation diesesMusikdramas klären müssen; jedenfalls weist die angesprochene Hartnäckigkeitdarauf hin, daß Wagner sich um die konsequente Umsetzung dieses Standpunktsbemüht hat. Wichtiger jedoch ist die oszillierende Haltung aus Nähe und Di-

156 Die Funktion der antiken Tragödie als religiöser Feier gehörte allerdings zu den Entdeckun-gen der von Wagner rezipierten zeitgenössischen Forschung. Vgl. W. Schadewaldt: »DreiHauptgedanken dieser neuen Altertumswissenschaft werden für Richard Wagner zu Leitbildernseines kunsttheoretischen Programms: die Tragödie der Griechen eine religiöse Feier, ihr Stoffdie Volkssage als der sinnlich-gestalthafte Ausdruck einer Urweisheit des Volkes, die Tragödieselbst ein Gesamtkunstwerk« (Richard Wagner und die Griechen, 353).

157 31.5.1851 an Stahr; SB 4, 58.

144 B. Transformationen der Erlösung

stanz, die in dieser Bemerkung zum Ausdruck kommt. Zunächst einmal ist dasChristentum eine unter manchen möglichen Perspektiven, die man sich entwe-der zu eigen machen kann oder auch nicht. Wagner konnte sie sich offenbar zeit-weise zu eigen machen, wenngleich wiederum nur in einer gewissen Hinsicht,und zwar ›als Künstler‹. Die Perspektive des Christentums unterliegt demnachihrerseits einer ästhetischen Perspektive. Die abschließend behauptete ›Naivetät‹scheint solchen komplexen Verschränkungen gegenüber zunächst kaum glaub-haft zu sein. Doch ist Wagner offensichtlich daran gelegen, die ästhetische Mo-tivation zur Einnahme des christlichen Standpunktes nicht seinerseits in ihrerinternen Reflektiertheit zum Gegenstand der ästhetischen Darstellung zu ma-chen, sondern sich der inneren Rationalität der einmal gewählten Perspektivezu überlassen. Insofern scheint hier ›Naivetät‹ im Sinn der Schillerschen Diffe-renz von naiver und sentimentalischer Dichtung gemeint zu sein.158 Daher istes verständlich, daß Wagner sich gegen alle – kritischen oder zustimmenden –eindeutigen Ortszuweisungen hinsichtlich seines ›Christentums‹ zur Wehr setz-te: »Bin ich in dem Verlangen, mich der Nichtswürdigkeit der modernen Weltzu entwinden, Christ gewesen, – nun so war ich ein ehrlicherer Christ als alleDie, die mir jetzt den Abfall vom Christenthume mit impertinenter Frömmig-keit vorwerfen«.159 ›Ehrlich‹ war Wagner jederzeit – wenn man lediglich auf dieKonsistenz seiner Darstellung innerhalb des je eingenommenen, häufig perspek-tivenreichen Standpunktes schaut. ›Christlich‹ aber war er, bzw. – was hier alleinvon Interesse ist – war seine Kunst nur dann, wenn es dem jeweils zur Dar-stellung drängenden Gedanken diente. Falls es gelingen sollte, die ›Erlösung‹ alseinen dieser sich in seinem Werk darstellenden Gedanken zu erweisen, dann istdas Christentum – immerhin – ein möglicher Weg, bestimmte Aspekte dieserIdee auszudrücken.

Gegenüber den konfessionellen Differenzen dagegen war Wagner eher gleich-gültig, auch wenn ihn manch einer in seiner Umgebung »für den Repräsentanteneiner mittelalterlich katholizisierenden Richtung« hielt;160 zudem hielt sich zeit-weilig das »Gerücht, von der katholischen Partei für den ›Tannhäuser‹ bestochenworden zu sein«.161 Immerhin konnte sich Wagner, wenn er seine Erkundung

158 Dazu paßt auch eine Bemerkung über Eduard Devrient: »Wie soll ein mensch, der durchund durch methode ist, meine natürliche anarchie begreifen können? . . . Es fehlt ihm vollständigan naivetät, er hat nicht einen blutstropfen vom künstler in sich« (6.5.1852 an Uhlig; SB 4, 357).Zum Thema ›Wagner und Schiller‹ vgl. R. Franke: Richard Wagners Zürcher Kunstschriften,255–272 und D. Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners, 136f.

159 Eine Mittheilung an meine Freunde (1851); GSD 4, 304.160 So berichtet Wagner von Gottfried Semper: »er hielt mich beständig für den Repräsen-

tanten einer mittelalterlich katholizisierenden Richtung, die er oft mit wahrer Wut bekämpfte.Sehr mühsälig gelang es mir, ihn endlich dahin zu belehren, daß meine Studien und Neigungeneigentlich auf das deutsche Altertum und die Auffindung des Ideales des urgermanischen Mythusausgingen« (ML 378).

161 AaO. 369.

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der deutschen Mythologie von allem ›katholizisierenden‹ Wesen abgrenzte, aufeinen der Bahnbrecher der Mythosforschung, Jacob Grimm, berufen, der in deraltgermanischen Religion bereits »den vollen keim des protestantismus« ausfindigmachte.162 Vergleichbare Ambivalenzen begegnen, wenn man Wagners Verwen-dung des Gottesgedankens in den Blick nimmt, der – anders als im DeutschenIdealismus – kaum noch als intellektuelle Herausforderung empfunden wird. Obnun von Feuerbach ›beeinflußt‹ oder nicht,163 jedenfalls ist Wagner mit diesemder Meinung, daß es eines solchen transzendenten Grundes nicht bedürfe. Under ist weiter der Auffassung, daß es nur ein Selbstmißverständnis ist, wenn sichder Mensch in der Perspektive eines solchen Gottesgedankens auslegt, ein Miß-verständnis, dem Wagner jedoch unter bestimmten Voraussetzungen durchausneutral zu begegnen vermag: »Erkennen die menschen – nicht weil es ihnengelehrt, sondern weil sie aus ihrem Wesen heraus es so empfinden – das Gute,Edle, Wahre und Schöne als das höchste an, so ist dieß ihr Gott, und was gegendiesen verstößt in der egoistischen natur des einzelnen, das gilt ihnen mit rechtverdammlich, als gottlos: haben wir diesen Gott, d. h. diesen begriff der mensch-lichen gemeinsamkeit von ihrem ächten, wirklichen wesen, in wahrheit aus demleben heraus gewonnen, beherrscht nur er uns, Er, – der wir – nämlich die ge-meinsamen menschen – selbst sind, so sind wir auch glücklich und selig«.164 Dieseoffenkundig nicht nur an Feuerbach, sondern auch an Luthers Großem Ka-techismus profilierten Überlegungen besagen, daß Gottesvorstellungen im be-sten Falle notwendige Darstellungsformen der Verfaßtheit einer Gemeinschaftnach ihren charakteristischen Wesenszügen sind.165 Wenn jedoch dieses Selbst-verständnis sich dahingehend auswirkt, daß die als lebensfördernd erkannten hu-manen Grundlagen dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden, dann votiertWagner für die umstandslose Bekämpfung eines solchen Gottesglaubens: »wiedie menschen nun einmal sind, so sind sie nicht für ewig: nur so lange sie anihrem schlechten Gotte hangen, sind sie so: sie werden diesen Gott aber einmalzum teufel jagen, und dann kommt der rechte ganz von selbst daran. Von diesenjägern bin ich nun einer mit: schon jetzt jage ich nach leibeskräften«.166

162 J. Grimm: Deutsche Mythologie XLIII. Im Anschluß an eine Beobachtung des Tacitus

über die Bildlosigkeit der germanischen Götterverehrung führt Grimm aus: »Jene merkwür-dige beobachtung zeigt uns den vollen keim des protestantismus. es war nicht zufall, sondernnothwendig, daß die reformation gerade in Deutschland aufgieng . . . gleich sprache und my-thus ist auch in der glaubensneigung unter den völkern etwas unvertilgbares« (aaO. XLIVf ).Auch war Grimm davon überzeugt, »daß die reformation . . . unseren glauben zugleich freier,innerlicher und heimischer werden ließ« (aaO. 5).

163 Zum Thema ›Wagner und Feuerbach‹ vgl. R. Franke: Richard Wagners Zürcher Kunst-schriften, 189–254.

164 4.12.1849 an F. Heine; SB 3, 182f.165 »Die Götter und Helden seiner Religion und Sage sind die sinnlich erkennnbaren Persön-

lichkeiten, in welchen der Volksgeist sich sein Wesen darstellt« (Die Wibelungen; GSD 2, 123).166 4.12.1849 an F. Heine; SB 3, 184.

146 B. Transformationen der Erlösung

Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der zur Beurteilung von Wagners Stellungzum Christentum ins Auge gefaßt werden muß, ist sein Verhältnis zum Stifterdieser Religion, zu Jesus von Nazareth. Wagner hat ihm nicht nur eine elemen-tare Funktion in seinem geschichtsphilosophischen Aufriß der Entwicklung derKünste zugewiesen,167 sondern ihn auch zum Gegenstand eines eigenen Dra-menentwurfs gemacht, der allerdings nicht einmal bis zur szenischen Umsetzunggelangte.168 Den Plan, ein Drama über ›Jesus von Nazareth‹ zu entwerfen, faß-te Wagner um die Jahreswende 1848/49.169 Über die näheren Umstände wieauch die genauen Motive sind wir kaum unterrichtet, doch läßt sich immer-hin zweierlei festhalten: Zum einen wurde dies der bei weitem umfangreichsteDramenentwurf Wagners, zum anderen hielt er auch dann, als im Grunde abzu-sehen war, daß er dieses Drama nicht vollenden würde, ungewöhnlich lange andiesem Projekt fest. Zwar stieß sein Plan in seiner Umgebung bereits frühzeitigauf Unverständnis,170 doch spielte er noch im Zürcher Exil einige Zeit mit demGedanken, das Stück in Paris herauszubringen.171 Nach langem Schwanken undhöchst widersprüchlichen Botschaften an die Außenwelt172 wurde das VorhabenAnfang Dezember 1849 endgültig zu den nicht vollendbaren Entwürfen gelegt,

167 Vgl. unten S. 148.168 Vgl. B. Zegowitz: Richard Wagners unvertonte Opern, 177–213.169 »Neues Testament: Entwurf von ›Jesus von Nazareth‹ 5 Akte« ( Januar 1849; Das Braune

Buch, 114). »Ich hatte damals, von der Lektüre der Evangelien angezogen, einen für die idealeBühne der Zukunft entworfenen Plan zu einer Tragödie ›Jesus von Nazareth‹ verfaßt« (ML 453).

170 »So entspann sich eines Nachmittags eine lebhafte Diskussion über meinen mündlich mitge-teilten Entwurf zu einer Tragödie ›Jesus von Nazareth‹, nach dessen Mitteilung Liszt ein bedenk-liches Schweigen beobachtete, die Fürstin v. Wittgenstein jedoch lebhaft gegen das Vorhaben,einen solchen Stoff auf das Theater zu bringen, sich ereiferte. An dem wenigen Ernst, meine indiesem Betreff aufgestellten paradoxen Thesen festzuhalten, merkte ich selbst, wie um diese Zeites innerlich mit mir stand« (Mai 1849; ML 481f ).

171 »Nun habe ich außer meinen Siegfried noch 2 tragische und 2 komische opernstoffe imkopfe, keiner von ihnen eignet sich aber zu einer französischen ausführung: einen 5ten habeich nun, von dem es mir gleichgültig wäre, in welcher sprache er zur welt käme: ›Jesus vonNazareth‹. Diesen stoff gedenke ich dem Franzosen anzubieten und hoffe somit von der ganzengeschichte loszukommen, denn das entsetzen will ich sehen, das diese dichtung meinem associébereiten wird: faßt er muth dazu, mit mir alle die tausend kämpfe zu bestehen, die der vorsatzeinen solchen stoff auf das theater zu bringen nothwendig herbeiführen muß, – nun so will iches für schicksal halten, und auf die sache losgehen« (9.8.1849 an Uhlig; SB 3, 109f ).

172 »Gegenstände, die ich allenfalls bereit gewesen wäre, Paris zuzuweisen (wie Jesus von naza-reth) erweisen sich bei näherer auffassung des praktischen der sache als in den mannigfachstenbeziehungen unnmöglich« (14.10.1849 an Liszt; SB 3, 136). »Stoffe zu fünf Opern leben in mei-nem Kopfe: sie nacheinander zu tage zu fördern, ist mir Bedürfnis. Selbst Paris lasse ich nichtaus den Augen: . . . Meinen Entwurf für dort arbeite ich in diesen tagen aus; es ist: Jesus vonNazareth« (19.11.1849 an F. Heine; SB 3, 149f ); »darf es Dir nicht gar so ungereimt erscheinen,daß ich immer wieder auf meinen ›Jesus von Nazareth‹ zurückkomme, der Euch heute als volleChimäre erscheint, vielleicht aber schon in einem halben jahre nicht mehr« (am 4.12.1849 anF. Heine; SB 3, 178).

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 147

nicht zuletzt, weil mit ›Wieland der Schmiedt‹ ein offenbar attraktiverer Stoff aufden Plan trat. Doch diesen sollte bald genug ein gleiches Schicksal ereilen, undauch sein ins Auge gefaßter Nachfolger ›Achilleus‹ geriet über erste Überlegun-gen nicht hinaus.

Es gab gewiß genügend äußere Gründe, die Wagner zu dieser Zeit von ei-nem Entwurf zum anderen getrieben haben. Und der Entwurf zu Jesus vonNazareth lebte zweifellos nicht zuletzt von einer vorrevolutionären Stimmung,die sich nach dem Verlassen Dresdens unter den Bedingungen des Exils kaumnoch aufrechterhalten ließ. Gleichwohl soll hier zumindest im Ansatz der Ver-such unternommen werden, den inneren Gründen nachzuforschen, welche dieVollendung verhinderten.173 Möglicherweise kann ein Hinweis aus der ›Mitt-heilung an meine Freunde‹ Aufschluß geben über die Abwendung vom Sujet.Wagner berichtet dort über seine Bemühungen, die Gestalten seiner Dramen solange von ihren historischen Hüllen zu befreien, bis »der wahre Mensch über-haupt« zum Vorschein kommt. Speziell zur Figur des ›Siegfried‹ heißt es dann:»Hatte mich nun schon längst die herrliche Gestalt des Siegfried angezogen, soentzückte sie mich doch vollends erst, als es mir gelungen war, sie, von aller spä-teren Umkleidung befreit, in ihrer reinsten menschlichen Erscheinung vor mirzu sehen. Erst jetzt auch erkannte ich die Möglichkeit, ihn zum Helden einesDrama’s zu machen, was mir nie eingefallen war, so lange ich ihn nur aus demmittelalterlichen Nibelungenliede kannte«.174

Es ist vermutlich eben dieser zweite Schritt, der Wagner hinsichtlich der Per-son Jesu nicht gelungen ist. Denn auch wenn man nicht daran zweifelt, daßer bis zur ›reinsten menschlichen Erscheinung‹ Jesu vorgestoßen ist – was nichtohne weiteres mit einer historisch plausiblen Rekonstruktion zusammenfallenmuß –, so liegen doch keine Hinweise dafür vor, daß sich um Jesus als Held einDrama gruppieren, motivieren und organisieren ließ. Der hierfür wesentlicheSchritt, die Dialogisierung der Szene, fehlt in den erhaltenen Aufzeichnungenfast vollständig. Möglicherweise war es auch die durch ein nach wie vor gesell-schaftlich akzeptiertes Wertesystem festumrissene Geschichte Jesu, die einen dra-maturgisch fruchtbaren Eingriff nicht zuließ, wie er etwa im ›Tannhäuser‹ durchdie frei hinzugefügte – und dramaturgisch entscheidende – Beziehung zwischenTannhäuser und Elisabeth vorliegt. Der ›Mythos‹ Jesu stand – im Gegensatz zuden altdeutschen und nordischen Sagenstoffen – nicht zur freien Verfügung undwar darüber hinaus auch viel zu bekannt, als daß eine allzu freie Bearbeitungnicht Irritationen hervorgerufen hätte, die dem Verständnis des Werkes im We-ge gestanden hätten, ohne zugleich von der inneren Bedeutsamkeit des Stoffes

173 Vgl. auch GSD 4, 332f sowie Zegowitz, aaO. 210–213, der jedoch die Bedeutung der›orthodoxen‹ Christologie sowohl für Wagner als auch für die Theologie des 19. Jahrhundertsüberzeichnet.

174 GSD 4, 312.

148 B. Transformationen der Erlösung

aufgewogen zu werden. Und es lag nicht in Wagners Art, diese Bedeutsamkeitin irgendeiner ihr wesentlich fremden Weise zu funktionalisieren, wie dies imVormärz etwa durch Wilhelm Weitlings ›Evangelium des armen Sünders‹ in ge-sellschaftskritischer Absicht durchgeführt wurde. Auch wenn bei Wagner eben-falls die Akzente in der Richtung einer sozialrevolutionären Perspektive auf dieGeschichte Jesu gefallen sein mögen, eine bloße Inanspruchnahme dieser Per-son für ein reines Sozialprogramm widersprach dann doch seinen ästhetischenIntentionen.

Ein weiterer Erklärungsversuch orientiert sich an der Schrift ›Die Kunst unddie Revolution‹.175 Sie ist in ihren theoriegeschichtlichen Aspekten dreigeteilt:Der diagnostischen Gegenwartskritik geht eine Erörterung genetisch voraus-liegender Entwicklungsphasen voran, und am Ende folgt das Projekt einer dieGegenwart überschreitenden Auffassung vom Musikdrama. Die entscheidendenKonstituentien dieses Projekts sind personalisiert in Apollon und Jesus von Na-zareth. Apollon repräsentiert das griechische Gesamtkunstwerk mit seiner un-entfremdeten Einheit, während Jesus für die Überwindung eines auch dem grie-chischen Kunstwerk anhaftenden Mangels, der Einschränkung auf die Polis undinnerhalb dieser der Exklusion des Sklavenstandes, steht. Jesus repräsentiert denuniversalistischen kosmopolitischen Einheitsgesichtspunkt, die uneingeschränktallgemeine Wechselseitigkeit der künstlerischen Mitteilung. Es fällt angesichtsder Durchführung dieses formalen Aufbaus auf, daß Wagner das durch Apollondargestellte Element des Kunstwerks der Zukunft ausführlich in seiner ›histori-schen‹ Erscheinung nachzuzeichnen versucht, indem er eine Skizze der klassi-schen griechischen Tragödie vor Augen führt. Eine entsprechende historischeLokalisierung des durch Jesus von Nazareth vertretenen Elementes fehlt so gutwie vollständig, weil Wagner in der Geschichte des Christentums alles ande-re als eine Vorwegnahme seines Entwurfs erblickt, sondern durchgängig dessenkonsequente Verhinderung. Diese durchweg negativ bewertete Christentumsge-schichte läßt Wagner bereits mit Paulus beginnen. Davor wird nur das Bild einesin seinen Intentionen mißverstandenen und offensichtlich kaum traditionsbil-denden Jesus von Nazareth dargestellt, dessen geschichtliches Auftreten in sei-ner Prägnanz jedenfalls weit hinter der liebevollen Nachzeichnung der griechi-schen Antike zurückbleibt.176 Offenbar sah sich Wagner außerstande, die formaleFunktion der Universalisierung, die er an das Christentum knüpfte, auch histo-risch zu versinnbildlichen. In diesem Umstand dürfte ein wesentlicher Grundfür den Abbruch des Projektes ›Jesus von Nazareth‹ liegen: Es bezog seineneigentlichen Stimulus zu sehr aus der revolutionären Stimmung des Auf- undUmbruchs, als daß es die ihm zugeschriebene Charakteristik allgemeiner und

175 GSD 3, 8–41.176 Eine solche Restriktion der wertvollen Aspekte des Christentums auf die Person Jesu liegt

auch Nietzsches ›Antichrist‹ zugrunde; vgl. unten S. 221–227.

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 149

freier Menschlichkeit an sich selber noch darzustellen vermochte. Auch spieltewohl die Abneigung gegen die überaus negativ wahrgenommene Geschichte desChristentums, die sich für Wagner jedenfalls nicht als die fortschreitende Entfal-tung dieser Menschlichkeit fassen ließ, eine Rolle. Da die christliche Traditionzudem keinen der germanisch-nordische Sagenwelt vergleichbaren deutungsof-fenen Projektionsraum bot, verblieb es in mehrfacher Hinsicht in einer drama-tisch fruchtlosen Eindeutigkeit. Für die Einbindung der religiösen und indirektauch der christlichen Dimension in sein musikdramatisches Werk mußte Wag-ner in der Folgezeit etwas weiter ausholen. Seine gesellschaftskritischen Traktatebilden eine wichtige Etappe auf diesem Weg.

Neben und vor der Religion bildet ›die Gesellschaft‹ einen bedeutsamen Rah-men für Wagners Denken und Schaffen. Wichtiger als sein zwischenzeitlicherAuftritt als Dresdner Barrikadenkämpfer und seine anderweitige Beteiligung anden revolutionären Umtrieben ist das Motiv, das sich in Wagners Programm ei-ner gesellschaftlichen Umformung ausspricht, die am Ende vor allem dem neu zuschaffenden Kunstwerk zugute kommen sollte. Die Aufmerksamkeit soll dahervor allem dem inneren Gehalt seines mitunter revolutionären Pathos gelten, dassich in vieler Hinsicht in die Tradition sozialutopischer Variationen des Reich-Gottes-Gedankens einreiht. In dieser Perspektive soll im Folgenden der Beitragder ›Revolution‹ zu Wagners ästhetischen Projekten skizziert werden.

Wagner besaß und pflegte stets ein ausgeprägtes Bewußtsein von seiner Un-zeitgemäßheit.177 Daher sah er sich folgerichtig in besonderer Weise zum Zeit-diagnostiker berufen: »ich mußte innewerden, daß ich der einzige Künstler war,der – eben als solcher – die Bewegung der Zeit begriffen hatte«.178 Hier zeigt sich,wie im Falle des Christentums, noch einmal die jederzeit präsente spezifisch äs-thetische Blickrichtung Wagners, die auch in seinen revolutionären Programmenstets mehr oder minder untergründig wirksam ist. In seiner Wahrnehmung ei-ner »gänzlich in das Nichtswürdige versinkenden Zeittendenz«179 schwingt daherimmer auch eine Kritik der Kunstbetriebsamkeit seiner Zeit mit. Entsprechendvielfältig waren daher die von Wagner mit der Revolution verbundenen Hoff-nungen. Eduard Hanslick berichtet über ein Treffen im Juli 1848: »Wagner warganz Politik; er erwartete von dem Siege der Revolution eine vollständige Wie-dergeburt der Kunst, der Gesellschaft, der Religion, ein neues Theater, eineneue Musik«.180

Doch bereits am 14. Mai schrieb Wagner an seine Frau: »Die Dresdener Re-volution u. ihr ganzer Erfolg hat mich nun belehrt, daß ich keinesweges ein

177 »Der wahre Künstler . . . konnte dagegen nur in Unübereinstimmung mit dem Geiste desöffentlichen Lebens der Gegenwart sich kundgeben« (Eine Mittheilung an meine Freunde; GSD4, 241).

178 24.8.1851 an Röckel; SB 4, 92.179 ML 421.180 Zit. nach M. Gregor Dellin: Richard Wagner, 243f.

150 B. Transformationen der Erlösung

eigentlicher Revolutionär bin . . . nicht Menschen unsrer Art sind zu dieserfürchterlichen Aufgabe bestimmt: wir sind nur Revolutionäre um auf einemfrischen Boden aufbauen zu können; nicht das Zerstören reizt uns, sondern dasNeugestalten, u. deshalb sind wir nicht die Menschen, die das Schicksal braucht. . . Siehst Du! So scheide ich mich von der Revolution«.181 So verlagerte also Wagnersein revolutionäres Potential – »meine sache ist: revolution zu machen wohin ichkomme« – wieder hauptsächlich auf die Vorbereitung und Durchsetzung seinesWerkes.182 Diese – ihm eigentlich adäquate – Tätigkeit wurde bereits von FranzLiszt ganz zutreffend als »révolution dramatique« gewürdigt.183 Erst der ›Ring‹aber konnte in Wagners Augen die wahre Erfüllung der noch zu vollbringendenRevolution sein, indem er deren ›Bedeutung‹ zu erkennen geben würde. Hiervollzieht sich gleichsam die Geburt ›Bayreuths‹ aus dem Geist der Apokalypse:

»Die nächste Revolution muß nothwendig unsrer ganzen theaterwirthschaft das Ende bringen:sie müssen und werden alle zusammenbrechen, dies ist unausbleiblich. Aus den trümmern rufeich mir dann zusammen, was ich brauche: ich werde, was ich bedarf, dann finden. Am Rheineschlage ich dann ein theater auf, und lade zu einem großen dramatischen feste ein: nach einemjahre vorbereitung führe ich dann im laufe von vier tagen mein ganzes werk auf: mit ihm gebe ichden menschen der Revolution dann die bedeutung dieser Revolution, nach ihrem edelsten Sinne,zu erkennen«.184

In diesem Sinne, in der Frage nach der inneren Bedeutsamkeit der krisenhaftenUmformung, ist vor allem anderen das revolutionäre Element auch der ZürcherKunstschriften zu sehen, die auf ihre Weise den gesellschaftlichen Bezug, insbe-sondere aber die anthropologische Fundierung der Kunst zur Geltung bringen.

181 SB 2, 654. – In seinen ›Annalen‹ hält Wagner im Herbst 1848 fest: »Bei mir – Bruch be-schlossen. – Einsamkeit: communistische Ideen über kunstförderliche Gestaltung der Menschheitder Zukunft« (Das Braune Buch, 113).

182 »nach allen seiten hin quillt in mir die nothwendigkeit hervor, wieder zu schreiben. Sindwir ganz aufrichtig, so müssen wir eigentlich auch zugestehen, daß es jetzt das einzige ist wassinn und wirklichen zweck hat: das kunstwerk kann jetzt nicht geschaffen, sondern nur vorbe-reitet werden, und zwar durch revolutioniren, durch zerstören und zerschlagen alles dessen, waszerstörens- und zerschlagenswerth ist. Das ist unser werk, und ganz andere leute als wir werdenerst die wahren schaffenden künstler sein. . . . Nur zerstörung ist jetzt nothwendig, – aufbauenkann gegenwärtig nur willkürlich sein« (27.12.1849 an Uhlig; SB 3, 197). »Ich mache jetzt inder kritik eine Revolution« (13.12.1850 an Kietz; SB 3, 481). Vgl. auch die ursprünglichenSchlußworte der ›Mittheilung an meine Freunde‹ (zit. in Wapnewski, Tristan, 52).

183 16.9.1850 an Wagner; Franz Liszt – Richard Wagner. Briefwechsel, 139. Auch die gegen-wärtige Musikwissenschaft betont diesen revolutionären Impuls: »Wagner, in vielem bereits einUmstürzler, war einer der größten Revolutionäre der Kompositionstechnik« (Cl.-St. Mahn-

kopf: Wagners Kompositionstechnik; in Mahnkopf (Hg.), Richard Wagner, 163); vgl. auchH. Mayer: Richard Wagner, 42–46.

184 12.11.1851 an Uhlig; SB 4, 176. Vgl. 9.1.1856 an Franz Müller; SB 7, 335.

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 151

b) Die ästhetische Reflexion der Erlösung

Wagners Kunstschriften gehören einer Gattung an, die der Autor selbst nicht un-passend »der kunstphilosophischen Spekulation« zurechnete,185 mit der er sichden »denkenden Künstlern«186 und »gebildeten Menschen« zuwandte.187 Dervon Wagner ursprünglich gefaßte Plan sah ein dreiteiliges Projekt vor: »I. DieKunst und die Revolution. II. Das Künstlerthum der Zukunft. III. Das Kunst-werk der Zukunft«.188 Zum zweiten Teil dieses Vorhabens sind nur verstreuteAufzeichnungen überliefert,189 die anderen beiden Teile erschienen 1849 und1850 in Leipzig. Aus diesem Projekt ging dann auch das theoretische Hauptwerkdieser Zeit, ›Oper und Drama‹ (1851), hervor. Die einzige künstlerische Arbeitdieser Periode ist der Dramenentwurf ›Wieland der Schmiedt‹ (März 1850); ei-ne programmatische Verknüpfung von künstlerischem und theoretischem Werkliegt in der ›Mittheilung an meine Freunde‹ (1851) vor. Schließlich ist noch dasvielbeachtete Pamphlet ›Das Judentum in der Musik‹ (1850) zu erwähnen sowieunter den kleineren Arbeiten vor allem ›Kunst und Klima‹. Der Schwerpunktliegt im Folgenden auf der Entwicklung des Erlösungsgedankens bis zur Kon-zeption von ›Oper und Drama‹.

Über den Status seiner Zürcher Schriften hat sich Wagner später dahingehendgeäußert, »daß meine Theorie fast nichts Anderes als ein abstrakter Ausdruckdes in mir sich bildenden künstlerisch-produktiven Prozesses war«.190 Dement-sprechend wurden in dieser Theorie die Probleme der künftigen Musikdramenerörtert und nicht etwa die Gestaltungsprinzipien der bisherigen.191 Um diesesMißverständnis auszuräumen und zugleich das neue Projekt bekanntzumachen,verfaßte Wagner ›Eine Mittheilung an meine Freunde‹, die gleichsam eine reflek-tierende Verbindung von der betrachtenden Ästhetik zum gestaltenden Kunst-schaffen darstellt.192 Während ›Kunst und Revolution‹193 zumeist in polemischer

185 ML 500. Doch merkt er bei Gelegenheit auch an, es sei »ja gar nicht speculation, sondernin grunde nur darlegung der natur der Dinge und ihres richtigen Verhältnisses zu einander«(6.5.1852 an Uhlig; SB 4, 357).

186 November 1849 an Feuerbach; SB 3, 164. Vgl. aaO. 172.187 Über musikalische Kritik; GSD 5, 55.188 GSD 12, 250. In SB 3, 123. 129 heißt es dagegen: »1. Die Kunst und die Revolution. 2.

Das Kunstwerk der Zukunft. 3. Die Künstlerschaft der Zukunft.«189 GSD 12, 252–280; vgl. auch am 27.7.1850 an Uhlig: »Ich hatte vor, wieder ein buch zu

schreiben: die erlösung des genie’s, das Alles umfassen sollte: das unnütze dieses buches erkennend,wollte ich mich dann mit ein paar kleineren schriften begnügen« (SB 3, 364).

190 »Zukunftsmusik« (1860); GSD 7, 118.191 »Mein eigentlichstes System . . . findet daher in jenen drei ersten Dichtungen [sc. ›Holländer‹

bis ›Lohengrin‹] nur erst eine sehr bedingte Anwendung« (ebd.).192 »Das war wirklich das Wichtigste, was ich jetzt von mir geben mußte, denn es war zur

Ergänzung von ›Oper und Drama‹ absolut nothwendig« (28.12.1851 an Uhlig; SB 4, 239f ).193 Im Folgenden wird die Seitenzahl der jeweils behandelten Schrift im fortlaufenden Text

angeführt (zitiert wird nach GSD 3).

152 B. Transformationen der Erlösung

Weise die Hindernisse des künstlerischen Neubeginns aus dem Weg zu räumenversucht, bemüht sich Wagner in ›Das Kunstwerk der Zukunft‹ um eine weitge-hend konstruktive Erörterung.194 Die ersten drei Teile von ›Kunst und Revoluti-on‹ formulieren einen kunstgeschichtlichen Abriß von der griechischen Antike(I) über den Hellenismus, die christliche Antike, das Mittelalter und die Re-naissance (II) bis zur zeitgenössischen bürgerlichen Gesellschaft (III). AbschnittIV vollzieht dann den Vergleich zwischen I und III, der in den abschließendenTeilen V und VI programmatisch nach seinen Konsequenzen ausgewertet wird.Es empfiehlt sich, die historisch orientierten Abschnitte I und II in ihrer spe-ziellen Funktion für die Zeitdiagnose und damit für ihre Konsequenzen in dengegenwartsbezogenen Teilen III und IV zu interpretieren.195 Denn ob mit derKonstruktion des griechischen Gesamtkunstwerks tatsächlich in jeder Hinsichtein historisch nachweislicher Sachverhalt getroffen ist, mag zwar strittig sein,nimmt dieser Konstruktion aber nicht ihren Wert als einer in die Geschichte zu-rückprojizierten Einheitsidee angesichts der gegenwärtig zerrissenen Zustände,und zwar vor allem deswegen nicht, weil Wagner keineswegs die Absicht hat, zudiesen griechisch antiken Zuständen zurückzukehren, sondern auch diese selbsthinsichtlich ihrer Defizienzen auf eine zukünftige Lösung hin untersucht (III).

Der Schwerpunkt der Erörterung des griechischen ›Gesamtkunstwerks‹ liegtzweifellos im Gedanken der Einheitsstiftung, wobei diese Einheit in verschiede-ner Hinsicht erreicht wird: »Und so sah ihn [sc. Apollon], den herrlichen Gott,der von Dionysos begeisterte tragische Dichter, wenn er allen Elementen der üp-pig aus dem schönsten menschlichen Leben, ohne Geheiß, von selbst, und ausinnerer Naturnothwendigkeit aufgesproßten Künste, das kühne, bindende Wort,die erhabene dichterische Absicht zuwies, die sie alle wie in einem Brennpunktvereinigte, um das höchste erdenkliche Kunstwerk, das Drama, hervorzubrin-gen« (10). Die hier angezeigte Synthese weist mehrere Einheitsgesichtspunkteauf. Zunächst einmal handelt es sich um die Vereinigung eines Mannigfaltigen,und zwar der verschiedenen ›Elemente der Künste‹, sodann um die Vereinigungvon Spontaneität (›von selbst‹) und Regel (das ›bindende Wort‹) und schließlichum eine teleologisch (›Absicht‹) geprägte Einheit, die gleichwohl nur eine virtu-elle Einheit (›wie in einem Brennpunkt‹) sein kann, da sie nicht auf ein faktischesZugleichbestehen des Vereinigten angewiesen ist, sondern lediglich die jederzeitmögliche Beziehung auf ein gemeinsames Telos zur Voraussetzung hat. Festzu-halten ist auch die durchgängige Beziehung der Künste auf die Natur, von dersie zwar unterschieden sind, zu der sie aber nicht in einem Gegensatz stehen,sondern vielmehr ›aus dem schönsten menschlichen Leben‹ erwachsen. Das sol-cherart entstandene Drama erfüllte nun seinerseits gegenüber der Gemeinschaft,

194 »ich mache mir Luft mit einer Broschüre: ›Kunst und Revolution‹, sammle mich ernstlichmit dem kleinen Buche: ›Das Kunstwerk der Zukunft‹« (31.5.1851 an Stahr; SB 4, 58).

195 Vgl. St. Kunze: Richard Wagners Idee des ›Gesamtkunstwerks‹, 208.

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 153

aus der es erwuchs, eine wichtige Funktion, indem das Volk zusammentraf, »umsich vor dem gewaltigsten Kunstwerke zu sammeln, sich selbst zu erfassen, seineeigene Thätigkeit zu begreifen, mit seinem Wesen, seiner Genossenschaft, sei-nem Gotte sich in die innigste Einheit zu verschmelzen und so in edelster, tief-ster Ruhe Das wieder zu sein, was es vor wenigen Stunden in rastlosester Auf-regung und gesondertster Individualität ebenfalls gewesen war« (11). Wie sichhier zeigt, ist die Sphäre der Kunst weder eine mimetische Verdoppelung desmenschlichen Lebens noch ein diesem gegenüber abgegrenzter Sonderbezirk,der dann etwa durch die polaren Kategorien ›heilig / profan‹ beschreibbar wäre,sondern die Kunst erfaßt jeweils das Wesen des Volkes, wenngleich in verschie-dener Hinsicht. Die hier von Wagner genannten Differenzgesichtspunkte sind›Kontemplation‹ versus geschäftige ›Tätigkeit‹ und ›Einheit‹ versus ›Individuali-tät‹. Beides kommt im Vorgang des Verschmelzens überein. Gleichwohl wirddiese ruhevolle Einheit durch Differenzmomente charakterisierbar, indem in ihreine Selbsterfassung vollzogen wird, die sich in verschiedenen Stufen (›Wesen‹,›Genossenschaft‹, ›Gott‹) zum Ausdruck bringen kann. Insgesamt kann Wagnerdiesen Vorgang als die »Wiedergeburt seines [sc. des Volkes] eigenen Wesensdurch den idealen Ausdruck der Kunst« bezeichnen (10).

Die nachfolgende Schrift, ›Das Kunstwerk der Zukunft‹, besteht aus fünf Ab-schnitten, die sich in drei Teile gliedern lassen: Der erste Teil (I) enthält eineallgemeine Einleitung, die in neuer Weise den Gehalt der Schrift ›Die Kunstund die Revolution‹ entfaltet. Der zweite Teil (II und III) entwickelt eine an-thropologisch fundierte Theorie der einzelnen Künste, der letzte Teil schließ-lich (IV und V) skizziert das Programm einer zukünftigen Kunst. Der zweiteTeil über die Einzelkünste flankiert die Darstellung der Auflösung des einstigenhellenischen Gesamtkunstwerks mitsamt den zeitdiagnostischen und program-matischen Passagen, die hieran anknüpfen.196 Wagner entwirft zunächst einenGrundriß von Erzeugungs- und Darstellungsverhältnissen, die auf den StufenNatur – Mensch – Kunst basieren. Erst der ohne externe Verknüpfungselementeentstandene Zusammenhang mit der Natur befreit den Menschen zum Mensch-sein, erst die ohne willkürliche äußere Gesichtspunkte sich entwickelnde Kunstkann der Darstellung des freien Menschen dienen: »nur was absichtslos und un-willkürlich, entspringt dem wirklichen Bedürfnisse, nur im Bedürfnisse liegt aberder Grund des Lebens« (42). Hierin ist nun bereits ein Differenzmoment ent-halten, das zu Entfremdungserscheinungen führen kann. Das betrifft zunächst

196 »Die genetische entstehung unserer zerrissenen modernen kunst aus dem griechischen ge-sammtkunstwerke konnte nur dadurch klar gestellt werden, daß der wichtige moment, wo diesekunst aus der unmittelbar darstellenden in die mittelbar darstellende, aus der tragödie in diesogenannte bildende kunst überging, mit großer präcision hervorgehoben wurde. . . . ich habealle kunstarten ihrem wesen nach so gruppirt, daß ich an ihnen zugleich die entwickelung derganzen kunst bis zu unsren modernen kunstbegriffen in gemeinschaft mit der entwickelung desganzen menschlichen wesens überhaupt zeigen konnte« (12.1.1850 an Uhlig; SB 3, 209).

154 B. Transformationen der Erlösung

die Selbstunterscheidung des menschlichen Lebens von der Natur. Das bewußteLeben weiß sich von der unbewußten Natur unterschieden und verkennt sei-ne Abhängigkeit von ihr und seine Einheit mit ihr. Diese Selbstunterscheidungwird ihrerseits auf zunächst noch willkürliche Weise von den Begriffssystemender Religion aufgegriffen und ausgestaltet. Schließlich gelangt dann die Wissen-schaft zum bewußten Umgang mit den eingesetzten Begriffen. Insofern wirderst in der Wissenschaft die ursprüngliche Entfremdung des Lebens von der Na-tur manifest; doch wird dieser Entfremdung damit zugleich auch ein Ausweggewiesen: »Die Wissenschaft trägt somit die Sünde des Lebens, und büßt siean sich durch ihre Selbstvernichtung: sie endet in ihrem reinen Gegensatze, inder Erkenntniß der Natur, in der Anerkennung des Unbewußten, Unwillkür-lichen, daher Nothwendigen, Wirklichen, Sinnlichen« (45).197 Diese Anerken-nung findet nun ihren genuinen Ausdruck im ›Kunstwerk‹. Nicht jedes Produktdes schaffenden Künstlers allerdings kann bereits ein Kunstwerk im hier gemein-ten Sinne sein. Denn so lange die künstlerische Produktion ihrerseits noch unterden Bedingungen der Reflexion arbeitet, also durch wählendes Formen undnachdenkendes Gestalten sich Ausdruck verschafft, so lange kann die intendierteUnmittelbarkeit nicht zum Ausdruck gelangen. Erst wenn die genannte Will-kürlichkeit in der Wahl des Notwendigen zu einem Ende kommt, »erst da trittdas Kunstwerk in das Leben« (46):

»Das wirkliche Kunstwerk, d. h. das unmittelbar sinnlich dargestellte, in dem Momente seiner leiblichstenErscheinung, ist daher auch erst die Erlösung des Künstlers, die Vertilgung der letzten Spurender schaffenden Willkür, die unzweifelhafte Bestimmtheit des bis dahin nur Vorgestellten, dieBefreiung des Gedankens in der Sinnlichkeit, die Befriedigung des Lebensbedürfnisses im Leben.

Das Kunstwerk in diesem Sinne, als unmittelbarer Lebensakt, ist somit die vollständige Versöh-nung der Wissenschaft mit dem Leben, der Siegeskranz, den die besiegte, durch ihre Besiegungerlöste, dem freudig von ihr erkannten Sieger huldigend darreicht« (ebd.).

Wenn es heißt, daß das Kunstwerk die Erlösung ist, dann ist das insofern in ei-nem strikten Sinne zu verstehen, als Wagner diesen Sachverhalt auch umschrei-ben kann mit der Wendung der »Erlösung des Denkens . . . in das Kunstwerk«(ebd.). Die Wissenschaft geht also nicht schlechthin zu Ende, sondern sie wirdzugleich auch – in anderer Hinsicht – im Kunstwerk bewahrt. Diesen Sach-verhalt deutet Wagner mit dem Begriff der ›Versöhnung‹ an, der den neuenStatus der Wissenschaft anzeigt, d. h. das neue Verhältnis des erlösenden unddes erlösten Momentes zueinander. Hier steht demnach die Versöhnung für dieintendierte, durch den Prozeß der Erlösung hervorgebrachte Einheit.

Die bislang skizzierte Erlösung von den isoliert angewandten Reflexionsge-sichtspunkten ist aber noch ergänzungsbedürftig hinsichtlich ihres Verhältnisses

197 »Das Ende der Wissenschaft ist das gerechtfertige Unbewußte, das sich bewußte Leben, dieals sinnig erkannte Sinnlichkeit, der Untergang der Willkür in dem Wollen des Nothwendigen«(ebd.).

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 155

zum Leben selbst. Es bedarf der Aufklärung, was mit der ›Befriedigung des Le-bensbedürfnisses im Leben‹ gemeint ist. Wagner bringt an dieser Stelle den Be-griff des ›Volkes‹ ins Spiel. Formal ist dieser Begriff durch ein ausgeprägtes Klas-senbewußtsein bestimmt. Daher scheiden alle bloß objektiven Bestimmungen,etwa die gemeinsame Sprache oder die soziale Lage zur Festlegung dessen, was›Volk‹ heißen soll, aus. Allerdings geht die letztere Bestimmung in die Formulie-rung des Klassenbewußtseins mit ein: »Das Volk ist der Inbegriff aller Derjeni-gen, welche eine gemeinschaftliche Noth empfinden« (48). Im Begriff der Notverbirgt sich der bereits mehrfach angeführte Begriff des Bedürfnisses und zwargenauer des »wahren Bedürfnisses«. Dieses wahre Bedürfnis unterscheidet sichvon seinem Pendant, dem eingebildeten Bedürfnis, zunächst durch die Merk-male der Intensität und der Gemeinschaftlichkeit. Es ist mit anderen Worten einsolches, das sich »bis zur Kraft der Not steigert« und das nur in und mit der ge-meinschaftlichen Not zugleich befriedigt werden kann. Das sind offensichtlichkeine präzisen Unterscheidungsmerkmale, und so verwundert es nicht, wenn dereigentliche Unterscheidungsgrund in einem dritten Merkmal liegt, das Wagneraber erst an dem eingebildeten und egoistischen Bedürfnis aufweisen kann. Die-ses ist genauer besehen ein solches Bedürfnis, das überhaupt keine Befriedigungzuläßt: »Der wirkliche, sinnliche Hunger hat seinen natürlichen Gegensatz, dieSättigung, in welchem er – durch die Speisung – aufgeht: das unnöthige Bedürf-niß, das Bedürfniß nach Luxus, ist aber schon bereits Luxus, Überfluß selbst; . . .es martert, verzehrt, brennt und peinigt stets ungestillt« (49). Da es stets ohneBefriedigung bleibt, ist es kein wahres Bedürfnis bzw. ein »Bedürfniß ohne Be-dürfniß«; und insofern es sich auf keine wahre Befriedigung richten kann, ist esgenau genommen stets nur auf sich selbst und seine, wenngleich unbeabsichtig-te, Kontinuierung bezogen; es ist ein »Bedürfniß des Bedürfnisses« (ebd.). Ebendiese in sich leere, im Kreise verlaufende und selbstbezogene Bedürfnisstrukturist für Wagner in der Gesellschaft allgegenwärtig, eine Bedürfnisstruktur, welchegeradezu die ›Seele‹ einer jeden Kultursphäre – der Wirtschaft, des Staates, derWissenschaft und der Kunst – bildet.

»Und dieser Teufel, dieß wahnsinnige Bedürfniß ohne Bedürfniß, dieß Bedürfniß des Bedürf-nisses . . . regiert die Welt; er ist die Seele dieser Industrie, die den Menschen tödtet, um ihnals Maschine zu verwenden; die Seele unseres Staates, der den Menschen ehrlos erklärt, umihn als Unterthan wieder zu Gnaden anzunehmen; die Seele unserer deistischen Wissenschaft,welche einem unsinnlichen Gotte, als dem Ausflusse alles geistigen Luxus, den Menschen zurVerzehrung vorwirft; er ist – ach! – die Seele, die Bedingung unserer – Kunst!« (49).

»Wer« – fragt Wagner – »wird nun die Erlösung aus diesem unseligsten Zustandevollbringen?« (ebd.). Es sind – in dieser Reihenfolge – die Not, das Volk unddie Kunst. Die Not, also das Empfinden desjenigen wahren Bedürfnisses, dasauch eine natürliche Befriedigung kennt, bildet die Erkenntnisbedingung, kraftderer der unselige Zustand allererst als solcher wahrgenommen werden kann.

156 B. Transformationen der Erlösung

Das Volk, die Gemeinschaft derer, die diese Erkenntnis teilen, ist dagegen dieRealisierungsbedingung, und eben deswegen ist das Volk bereits der »Erlöser«,nämlich »der Vertreter der Nothwendigkeit in Fleisch und Blut« (50). Die Kunstschließlich ist das genuine Mittel der Darstellung dieser Realisierung, »der Bru-derkuß, der diesen Bund besiegelt« (ebd.). Durch das Enden der gemeinsamenNot endet dann auch das Bewußtsein einer abgesonderten Klasse: »im Kunst-werk werden wir Eins sein, – Träger und Weiser der Nothwendigkeit, Wissendedes Unbewußten, Wollende des Unwillkürlichen, Zeugen der Natur, – glückli-che Menschen« (ebd.). Es sind, soviel kann man bereits an dieser Stelle festhalten,stets Erlösungskonstellationen, die Wagner in seinen Überlegungen in Anspruchnimmt. Solche Konstellationen entziehen sich von vornherein einer einsinnigenBeziehung zu einem Erlöser oder auch nur zu einer erlösenden Instanz.198

Unklar blieb bisher – nicht zuletzt aufgrund der genannten Undeutlichkeit inder Exposition des Bedürfnisses –, durch welche Art der Befriedigung das wahreBedürfnis gestillt zu werden vermag. Der folgende Abschnitt nimmt sich dieserFrage an und führt zumindest implizit den hier unentbehrlichen Gedanken derstufenweisen Sublimierung der Befriedigung wie auch des Bedürfnisses ein, in-dem er die wahre Kunst »als reinste, vollendetste Befriedigung des edelsten undwahrsten Bedürfnisses des vollkommenen Menschen« charakterisiert (54f ). Ge-genwartskritik und antike Vorbildfunktion werden nun zusammengenommen,um den Maßstab für das zu entwerfende Kunstwerk der Zukunft zu entwickeln:

»So haben wir denn die hellenische Kunst zur menschlichen Kunst überhaupt zu machen; die Be-dingungen, unter denen sie eben nur hellenische, nicht allmenschliche Kunst war, von ihr zu lösen;das Gewand der Religion, in welchem sie einzig eine gemeinsam hellenische Kunst war, . . . habenwir zu dem Bande der Religion der Zukunft, der der Allgemeinsamkeit, zu erweitern . . . Abereben dieses Band, diese Religion der Zukunft, vermögen wir Unseligen nicht zu knüpfen, weilwir . . . doch nur Einzelne, Einsame sind. Das Kunstwerk ist die lebendig dargestellte Religion; –Religionen aber erfindet nicht der Künstler, die entstehen nur aus dem Volke« (62f ).

Deutlich sichtbar ist Wagners Bemühen, die nationale griechische Kunst in einenuniversalen Horizont, eine allgemein humane Perspektive zu stellen. Dieser Uni-versalismus, der ehedem der christlichen Religion zugeschrieben wurde, ist nundas Kennzeichen der humanen Religion also solcher, deren Allgemeinheitsa-spekt jedoch gerade nicht durch den Einzelnen hervorgebracht werden kann.Nur das Volk, als ein zumindest relativ Allgemeines, scheint Wagner als Quell-grund wahrer Kunst und wahrer Religion geeignet zu sein. Der Begriff derReligion steht hier geradezu für die gemeinschaftsstiftende ›Allgemeinsamkeit‹.Sie ist fern jeder partikularen Verengung, zugleich allerdings auch inhaltlich inhohem Maße unbestimmt.

198 Die Musikdramen setzen dieses Strukturmerkmal der relationalen Uneindeutigkeit des Erlö-sungsgedankens dramaturgisch um, indem dieser stets innerhalb von personalen Konstellationendargestellt wird.

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 157

Die Theorie der einzelnen Künste, die den Hauptteil der Schrift bildet, teiltsich in diejenigen Künste, die sich unmittelbar am Menschen zum Ausdruckbringen lassen (II ›Der künstlerische Mensch und die von ihm unmittelbar ab-geleitete Kunst‹) – Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst –, und diejenigen, diean äußeren Stoffen ausgedrückt werden (III ›Der Mensch als künstlerischer Bild-ner aus natürlichen Stoffen‹) – Baukunst, Bildhauerkunst und Malerkunst. DieAkzentsetzungen, die Wagner innerhalb dieses Tableaus vornimmt, liegen aufder Hand: Die ›menschlichen Kunstarten‹ und innerhalb ihrer die Musik zie-hen die größte Aufmerksamkeit auf sich.199 Abschnitt II kann zudem als eineAusführung des einleitenden Abschnitts I gelten, insofern er wie dieser mit demAusblick auf die Religion der Zukunft – »die neue Religion« – endet und da-mit zugleich bereits zu den abschließenden Teilen über das Programm der zuerwartenden Kunst hinleitet. Die drei menschlichen Künste werden durch dieVerschiedenheit der menschlichen »Ausdrucks- und Mittheilungsfähigkeit« (64)differenziert. Ausdruck, Mitteilung und Verstehen sind die tragenden Kategori-en, an denen die Einzelkünste auf unterschiedliche Weise beteiligt sind. Wagnerselbst setzt zwar mit der Differenz von äußerem und innerem Menschen ein; Au-ge und Ohr sind diejenigen Sinne, in denen diese Differenz vor allem zur Wahr-nehmung kommt. Doch bereits in der Ableitung der Tanzkunst wird deutlich,daß für Wagner mit dem Akzent auf »Miene und Gebärde« und vor allem aufdem »Ausdruck des Auges selbst, welches dem anschauenden Auge unmittelbarbegegnet« (64), die Mitteilung des Inneren im Vordergrund steht.200 Die Verin-nerlichung, die der äußere Gesichtssinn dadurch erfährt, daß er sich im Blick-kontakt in sich selbst versenkt, wird nun noch übertroffen und in die eigentlicheInnerlichkeit überführt, wenn das Hören thematisiert wird: »Durch den Sinn desGehöres dringt der Ton aus dem Herzensgefühle wiederum zum Herzensgefüh-le« (64). Doch auch wenn auf diese Weise insbesondere der Ton den affektualenZustand mitzuteilen vermag201 und somit eine innere Grenze der Mimik über-winden kann, findet er seinerseits seine Grenze an der Mitteilung der »genauunterscheidbaren Bestimmtheit der einzelnen Herzensgefühle«, die daher eineneigenen Ausdruck und zwar vermittelst der menschlichen Sprache erfordern.Genau besehen dient die Sprache damit nicht mehr nur den Herzensgefühlenals solchen, sondern kraft ihrer besonderen Artikulation auch einem charakte-ristisch artikulierten Gefühl: Sie ist »das Organ des sich verstehenden und nachVerständigung verlangenden besonderen Gefühles, des Verstandes« (64).

199 Allerdings enthält der Abschnitt über die Bildhauerkunst einen interessanten Exkurs über dasThema ›Kunst und Religion‹, der zugleich den systematisch wichtigen Differenzierungsgrundentfaltet, aufgrund dessen die Künste sich in ihre Einzelheit zerstreut hatten.

200 Daher ist auch die Unterteilung in Leibes-, Herzens- und Verstandesmensch eine sekundäreKlassifizierung, die man zu Gunsten der eigentlich leitenden Kategorien übergehen kann.

201 ›Herzensgefühle‹ bezeichnen das Gefühl, »wie es seinen physischen Sitz im Herzen, demPunkte des Ausganges und der Rückkehr der Blutbewegung, hat« (64).

158 B. Transformationen der Erlösung

In dieser aufsteigenden Differenzierung der Ausdrucksfähigkeit nimmt derVerstand die oberste Stellung ein; er ist das Vermögen der Darstellung des Dif-ferenten, er »trennt und verbindet« (65), weil und indem er sich dessen enthält– Wagner spricht von einer ›Entsagung‹ –, Ausdruck des ›allgemeinen Gefühls‹ zusein. Eben hierin besteht jedoch wiederum eine Grenze des Ausdrucksvermö-gens. Sie zeigt sich, wenn die affektualen Zustände physischer oder psychischerArt zu ihrem Recht kommen sollen und der Verstand »aus dem Egoismus sei-ner bedingten, persönlichen Empfindung sich in der Gemeinsamkeit der großenallumfassenden Empfindung, somit der unbedingten Wahrheit des Gefühles undder Empfindung überhaupt wiederfindet« (65). In diesem Fall muß er zurück-kehren auf der Stufenfolge der Ausdifferenzierung und sich der von ihm zunächstabgestoßenen Ausdrucksformen bedienen, »denn wo es den unmittelbarsten unddoch sichersten Ausdruck des Höchsten, Wahrsten, dem Menschen überhauptAusdrückbaren gilt, da muß eben auch der ganze, vollkommene Mensch bei-sammen sein« (66). So wie ›der ganze Mensch‹ nur im gesamten Ensemble sei-ner Vermögen präsent ist, so kann auch die Qualität des Ausdrucks dieses ganzenMenschen nur dann vollkommen – ›unmittelbar und sicher‹ – sein, wenn sowohldie Differenzierungskraft der Sprache als auch die Fähigkeit von Ton und Ge-bärde zusammenwirken, um die Totalität der subjektiven Zuständlichkeit darzu-stellen. Als charakteristischen Begriff für diese hier intendierte Vereinigung desDifferenten nennt Wagner die Liebe, die sowohl den Zustand der Einigung selbstals auch die sie ermöglichende Kraft zu bezeichnen vermag. Die Liebe steht abernicht nur für die Ganzheit des Menschen als eines einzelnen Wesens, sonderndarüber hinaus für seine Einheit mit der Gattung und mit der ganzen Natur: »Er[sc. der Mensch] kann nur noch das Allgemeinsame, Wahre, Unbedingte wollen;sein eigenes Aufgehen nicht in der Liebe zu diesem oder jenem Gegenstande,sondern in der Liebe überhaupt: somit wird der Egoist Kommunist,202 der EineAlle, der Mensch Gott, die Kunstart Kunst« (67).

Wagners Verständnis von ›Erlösung‹ findet seinen bezeichnendsten Ausdruckin dieser Wendung vom ›Aufgehen in . . . ‹. Er widmet sich ihrer Präzisierung indem Abschnitt über die ursprüngliche Einheit der drei Kunstarten im Drama.Drei Aspekte sollen hier herausgegriffen werden: Zum einen ist die solcherartbeschriebene Erlösung stets »Aufgehen in dem Höheren« (68), womit eine allge-meine Transzendierungshinsicht benannt ist. Sie wird jedoch nicht am traditio-nellen Endpunkt aller Transzendierungshinsichten, am Gottesgedanken, sondernan der Menschheit orientiert: »denn es giebt für den Menschen nur ein Höheresals er selbst: die Menschen« (ebd.). Sodann verdankt sich das Aufgehen einem

202 Zum Stichwort ›Kommunismus‹ merkt Wagner an späterer Stelle an: »Es ist polizei-gefähr-lich dieses Wort zu gebrauchen: dennoch giebt es keines, welches besser und bestimmter denreinen Gegensatz zu Egoismus bezeichnet. Wer sich heut’ zu Tage schämt, als Egoist zu gelten– und das will ja Niemand offen und unumwunden –, der muß es sich schon gefallen lassen,Kommunist genannt zu werden« (134).

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 159

Antrieb, einem mitunter auch als ›Drang‹ bezeichneten Bedürfnis. Gemeint istdas Bedürfnis nach Liebe, das zugleich das höchste menschliche Bedürfnis über-haupt ist; in seiner Befriedigung besteht die Freiheit.203 Das von Wagner zuvorin gesellschaftskritischer Absicht rekonstruierte ›wahre‹ Bedürfnis erscheint hierin ästhetisch sublimierter Form. Schließlich weist das Aufgehen auch einen alsVerschmelzung faßbaren Einheitsaspekt auf, indem die Schranken isolierter Ver-einzelung überwunden werden und auf diese Weise der Mensch erhoffen darf,»im vollsten Aufgehen in der von ihm unterschiedenen Gemeinsamkeit« zu sei-ner individuellen Bestimmung zu gelangen (70). Dieser dritte Aspekt wird vonWagner nur knapp entfaltet, stellt aber offensichtlich ein notwendiges Elementder durchgängigen Beziehung auf die Gemeinschaft dar.

Die folgende Sequenz (II, 3–6) untersucht das Schicksal der voneinander iso-lierten Künste, die durchgängig mit den anthropologischen Metaphern des Seh-nens, Wünschens und Aufgehens verschränkt werden und daher weit wenigereinschlägig für die genuin ästhetischen Probleme sind als die entsprechendenAusführungen in ›Oper und Drama‹. Den Schluß bildet der Ausblick auf die›Erlösung‹ der drei Kunstarten »in das wahre Kunstwerk«, ein Akt, der seinerseitsdie Überwindung der »Religion des Egoismus« zur Voraussetzung hat.

»Nur wenn die herrschende Religion des Egoismus, die auch die gesammte Kunst in verkrüp-pelte, eigensüchtige Kunstrichtungen und Kunstarten zersplitterte, aus jedem Momente desmenschlichen Lebens unbarmherzig verdrängt und mit Stumpf und Stiel ausgerottet ist, kannaber die neue Religion, und zwar ganz von selbst, in das Leben treten, die auch die Bedingungendes Kunstwerkes der Zukunft in sich schließt« (123).

Noch einmal erscheint hier der Begriff der Religion als das eigentliche Movensder menschlichen Einstellungen und Handlungsweisen und zwar in doppelterHinsicht, im Guten wie im Schlechten. Die ›Religion des Egoismus‹ ist offenbareine soziale Erscheinungsform des reformatorischen Sündenbegriffs, der eben-falls den anthropologischen Sachverhalt selbstbezogener Lebensgier bezeichnete.Diese Einstellung führt als ästhetische Folge die Diversifizierung der Kunst mitsich. Deren Einheit wiederum kann daher nur garantiert werden durch eine ent-gegengesetzte ›neue Religion‹. Diese setzt die vollständige Tilgung des Egoismusvoraus; auch hier läßt sich ein Bezug auf die lutherische Bußtheologie mit ihrervollständigen ›Destruktion‹ des alten Menschen herstellen. Der Erlösungsgedan-ke wird von Wagner genau auf der Grenze zwischen neuer Kunst und neuerReligion angesiedelt. Die »Erlösung der egoistisch getrennten reinmenschlichenKunstarten in das gemeinsame Kunstwerk der Zukunft« geht einher mit der »Er-lösung des Nützlichkeitsmenschen überhaupt in den künstlerischen Menschender Zukunft« (129).

203 »Freiheit ist befriedigtes nothwendiges Bedürfniß, höchste Freiheit befriedigtes höchstesBedürfniß: das höchste menschliche Bedürfniß aber ist die Liebe« (69).

160 B. Transformationen der Erlösung

Die kurze Abhandlung ›Kunst und Klima‹ hat Wagner verfaßt, um die im»›Kunstwerk der Zukunft‹ gegebenen Anregungen zu vervollständigen«.204 Statt›Kunst und Klima‹ könnte sie ebensogut ›Kultur und Erlösung‹ heißen, denn diesist ihr eigentliches Thema. Der sonderbare Titel bezeichnet nämlich gerade die-jenige Position, gegen die Wagner sich abgrenzt (in einer Rezension war ihm diemangelhafte Berücksichtigung klimatischer Bedingungen zum Vorwurf gemachtworden). Allerdings bestand wohl auch für Wagner selbst ein gewisser Klärungs-bedarf angesichts der von ihm nachdrücklich verkündeten Notwendigkeit, sichaus der Entfremdung von der ›Natur‹ zu befreien und in der Einheit mit ihr sichzur Gemeinschaft zusammenzuschließen. Das konnte zu dem Mißverständnisführen, daß hier gleichsam naturgegebene Voraussetzungen der Kunst etabliertwerden sollten. Gegenüber solchen Behauptungen naturhaft vorgegebener Rah-menbedingungen hält Wagner fest:

»Der Fortschritt des menschlichen Geschlechtes in der Ausbildung der ihm innewohnendenFähigkeiten, die Befriedigung seiner durch gesteigerte Thätigkeit wiederum gesteigerten Be-dürfnisse der Natur abzugewinnen, ist die Kulturgeschichte. In ihr entwickelt sich der Mensch imGegensatze zur Natur, also zur Unabhängigkeit von ihr. Nur der durch Selbstthätigkeit naturunab-hängig gewordene Mensch ist der geschichtliche Mensch, und nur der geschichtliche Mensch hat aberdie Kunst in das Leben gerufen, nicht der primitive, naturabhängige« (208f ).205

Neben einer Entgegensetzung zur Natur, die sich als Kultur zwar von dieser un-terscheidet, sich aber zugleich positiv auf sie bezieht, kennt Wagner auch einesolche Entgegensetzung zur Natur, die den Menschen »von der Natur gewalt-sam abgelenkt« hat. Diese Entfremdung aber verdanken wir »der Dressur einerhimmlischen und juristischen Civilisation« (214), also dem unseligen Zusam-menwirken von staatlicher und kirchlicher Normierung,206 die »als hemmendeAutoritätsgewalten das religiöse wie politische Gewissen der Menschheit be-herrschten« (218).207 Die Kultur stellt hier demnach eine gelungene Selbstun-terscheidung von der Natur dar, während die Zivilisation für eine entfremdeteForm dieser Distanz steht. Die Defizienz der Zivilisation besteht insbesonderedarin, daß sie die Gemeinsamkeit der menschlichen Gattung nicht zum Aus-druck zu bringen vermag. Dementsprechend existieren auch zwei Formen derreligiösen Überzeugung: Dem »von der Natur losgelösten Menschen« bleibt inseiner ausweglosen Selbstbezogenheit seine Bestimmung zur menschlichen Ge-meinschaft verborgen, weswegen er »durch physische und moralische Selbstver-

204 ML 507; »Der Aufsatz ist wichtig« (13.3.1850 an Uhlig; SB 3, 251).205 »Der Hinblick auf unsere Kunst lehrt uns also, daß wir durchaus nicht unter der Einwirkung

der klimatischen Natur, sondern der von dieser Natur gänzlich abliegenden Geschichte stehen«(214).

206 Vgl. auch die Ausführungen zu »unserer pfäffischen Pandektencivilisation« (215).207 Den »üblen einwirkungen der civilisirten barbarei unsrer zeit kann sich keiner entziehen,

aber wir können machen, daß sie unser bestes wesen nicht beherrschen« (9.8.1849 an Uhlig; SB3, 109).

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 161

stümmelung seiner Erlösung in Gott nachjagen« muß. Tatsächlich bedarf es abergerade der Erlösung aus eben diesem entfremdeten Zustand und zwar durch dasbekannte ›Aufgehen‹ in der menschlichen Gattung (216). Gleichsam als Credofür das »gemeinsame religiöse Bewußtsein jener Menschen der Zukunft« hältWagner daher fest:

»Es giebt keine höhere Kraft als die gemeinschaftliche der Menschen; es giebt nichts Liebens-wertheres als die gemeinschaftlichen Menschen. Nur durch die höchste Liebeskraft gelangenwir aber zur wahren Freiheit, denn es giebt keine wahre Freiheit als die allen Menschen ge-meinschaftliche. Die Mittlerin zwischen Kraft und Freiheit, die Erlöserin, ohne welche die KraftRohheit, die Freiheit aber Willkür bleibt, ist somit – die Liebe« (218).

Diese Liebe wird ausdrücklich von der christlichen abgegrenzt.208 Im Gegensatzzur fruchtlosen Projektion des Gattungswesens in ein als transzendent gedach-tes Wesen namens ›Gott‹ kann die Menschheit »ihre Erlösung nur durch dieVerwirklichung Gottes in der sinnlichen Wahrheit der menschlichen Gattungerreichen« (219).

Am 8.10.1850 schrieb Richard Wagner an Franz Liszt: »Ich bin über einerschrift her, die den titel: ›das wesen der oper‹ führen soll. . . . Ich hätte lust, die-se schrift Dir zu widmen, weil ich in ihr die erlösung und rechtfertigung desMusiker’s als musiker verkündige«.209 ›Oper und Drama‹, wie der spätere Titellautete, das »Buch aller Bücher über Musik« (Richard Strauß),210 hat tatsäch-lich, wie bereits die vorangegangenen Werke, ein soteriologisches Gefälle. Daswird augenfällig besonders an den jeweiligen Schlußpartien des in drei Bücherunterteilten Werkes. Der Großaufbau ist – wie immer bei Wagner – leicht zuüberschauen: Das ›Wesen der Musik‹ und das ›Wesen der dramatischen Dicht-kunst‹ werden in den beiden ersten Teilen behandelt, den Schluß bildet danndie Synthese: ›Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft‹. Sowohl dieMusik als auch die Dichtung weisen an sich selbst Defizienzen auf, die nach ei-ner Ergänzung, ja nach einer Erlösung verlangen.211 In der Synthesis des drittenTeils wird nun die Vereinigung der beiden Künste in einer metaphernreichenSchlußsequenz sowohl in die zeitliche Relation von Gegenwart und Zukunfteingezeichnet als auch in die dreifache Perspektive von Kunst, Kunstwerk undKünstler gerückt. Der Schlußpassus führt dann aus: »Der Erzeuger des Kunst-werkes der Zukunft ist niemand anderes als der Künstler der Gegenwart, der das

208 »nicht jedoch jene geoffenbarte, von oben herein uns verkündete, gelehrte und anbefohlene,– deßhalb auch nie wirklich gewordene – wie die christliche, sondern die Liebe, die aus der Kraftder unentstellten, wirklichen menschlichen Natur hervorgeht« (ebd.).

209 SB 3, 439. Im Manuskript lautete der Titel: »Das wesen der modernen oper / von einemehemaligen Opernkomponisten / der inhalt und die wirksamkeit« (Oper und Drama 400).

210 »Das ›Buch aller Bücher über Musik‹ ist allerdings kein Nietzschesches Dilettanten Gefaselund Aphorismengewitzel und nicht immer leicht faßlich« (Brief von 1944; zit. nach K. Krop-

finger: Nachwort, aaO. 531).211 Vgl. für die Musik 122 und für die Dichtung 243f.

162 B. Transformationen der Erlösung

Leben der Zukunft ahnt, und in ihm enthalten zu sein sich sehnt. Wer dieseSehnsucht aus seinem eigensten Vermögen in sich nährt, der lebt schon jetzt ineinem besseren Leben – nur einer aber kann dies: – der Künstler«.212 Mit die-sem Credo beschließt Richard Wagner sein gewichtiges Werk, das die in diesemAbschnitt vorgestellten Themen und Tendenzen noch einmal aufgreift und zueiner Gesamtschau ästhetischer Perspektiven zusammenfügt. Doch auch ohnesich in die oftmals labyrinthischen Verzweigungen dieser Schrift zu verlieren,läßt sich diese Passage in das Gesamtbild der Kunstschriften einordnen. Wagnersetzt vor allem auf den Künstler, der nun allerdings nicht mehr als gesellschaft-lich engagierter Revolutionär geschildert wird. Er führt allenfalls noch die inden gesellschaftlichen Gärungsprozessen aufgestauten Freiheits- und Erlösungs-bedürfnisse als Hintergrund seiner Sendung mit. Diese aber besteht darin, daskünftige Kunstwerk zu schaffen. Damit ist Wagner am Ende zu einer Reintegra-tion der Erlösungsbestrebungen in die Kunst gelangt.

Mit dem ›Ring des Nibelungen‹ geht er nach dieser Zeit ästhetischer Refle-xion an ein Werk, das ihn noch ein Vierteljahrhundert begleiten sollte. Und amEnde seines Lebens steht dann ein weiteres über Jahrzehnte gewachsenes Werk,in dem sich nicht nur die ästhetischen Einsichten dieser Zeit, sondern vor allemauch die Perspektiven der Erlösungsidee wiederfinden: der ›Parsifal‹. Seine In-terpretation soll exemplarisch213 die Funktion des Erlösungsgedankens innerhalbdes musikdramatischen Schaffens Richard Wagners aufzeigen.214

c) Erlösung dem Erlöser: ›Parsifal‹

Die Keimzelle des ›Parsifal‹215 fällt in das Jahr 1857, und ihre Darstellung gehörtzu den vielen biographischen Inszenierungen Wagners: »Gute Anzeichen: Char-freitag. Phantasie auf der Zinne: ›Parzival‹ conzipirt«.216 Der Karfreitag fiel in die-sem Jahr – entgegen Wagners Erinnerung – auf einen anderen Tag, aber dennochist die Karfreitagsstimmung in das Werk, dessen Uraufführung erst ein Viertel-jahrhundert nach diesem halbfiktiven Erlebnis stattfand, eingegangen. Zunächsthat Wagner selbst das Werk dem Umkreis des ›Lohengrin‹ zugeordnet,217 es dannaber später um so vehementer von ihm abgegrenzt.218 In seinen überschwängli-

212 Oper und Drama, 392f.213 Eine Interpretation des Erlösungsgedankens innerhalb von Wagners gesamtem musikdrama-

tischen Werk ist als separate Veröffentlichung geplant.214 Zu Wagners Musikdramen vgl. C. Dahlhaus: Richard Wagners Musikdramen sowie ders.:

Richard Wagners Konzeption des musikalischen Dramas.215 Vgl. P. Bekker: Wagner, 515–578 und U. Kienzle: Das Weltüberwindungswerk.216 28.4.1857; Das Braune Buch, 127.217 »Dann kommt noch etwas Neues . . . nämlich ein Parzival – im Genre des Lohengrin«

(24.4.1868 an Franz Schott; SW 30, 20).218 So versichert Wagner, »daß der Parsifal mit dem Lohengrin . . . gar nicht das Mindeste zu

tun hat« (25.6.1877 an Carl Fr. Glasenapp; SW 30, 23).

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 163

chen Briefen an Ludwig II. hat Wagner unumwunden diese Kunst als »reinste,erhabenste Religion« charakterisiert,219 und auch in besonneneren Momentenhat er diesem Musikdrama immerhin eine wesentliche Funktion zur Erhaltungund produktiven Erneuerung der Religion zugeschrieben.220 Eduard HanslicksEinschätzung fiel erwartungsgemäß nüchterner aus. Er sah sich »an die gereim-ten Andachtskrämpfe der deutschen Pietisten« erinnert.221 Im Folgenden sollendie wesentlichen Aspekte dieses beziehungsreichen Musikdramas in enger Fo-kussierung auf den Erlösungsgedanken herausgehoben werden.

»Anfortas, der Hüter des Grals, siecht an einer unheilbaren Speerwunde, die er in einem ge-heimnisvollen Liebesabenteuer empfangen. Titurel, der ursprüngliche Gewinner des Grales, seinVater, hat im höchsten Alter dem Sohne sein Amt, somit die Herrschaft über die GralsburgMonsalvat – übergeben. Er muß dem Amte vorstehen, trotzdem er sich durch den begangenenFehltritt dessen unwürdig fühlt, bis ein Würdigerer erscheint, es ihm abzunehmen. Wer wirddieser Würdigere sein? Woher wird er kommen? Woran wird man ihn erkennen?«222

In dieser – im ersten Satz des ersten Prosa-Entwurfs skizzierten – Ausgangslagesind bereits alle wesentlichen Personen, Handlungsstränge und konzeptionel-len Problemfelder angelegt. Die beiden Hauptpersonen, Amfortas223 und dernoch ungenannte Parsifal, bilden den Rahmen, die Gegenwelt des abtrünnigenKlingsor und der ihm dienstbaren Kundry erscheint nur kurz in dem ›geheim-nisvollen Liebesabenteuer‹, während das Problem des Amtes und seiner würdi-gen Verwaltung den meisten Raum einnimmt. Als bloße Handlung betrachtetist das Drama durch diese Amtsnachfolge strukturierbar: Der Nachfolger wirdschließlich – nach den zu erwartenden Schwierigkeiten – gefunden und sei-ne feierliche Einführung in das Amt bildet den Schluß des Bühnengeschehens.Man würde die Anlage des ›Parsifal‹ mißverstehen, wenn man diese institutio-nellen Rahmenbedingungen geringschätzte. Viele Einwände sind im Laufe derInterpretationsgeschichte formuliert wurden, etwa gegen die innere Leerheit desGralsordens, die statische Tektonik der Rahmenakte in ihrer symmetrisch aus-balancierten Handlungsführung, die endlosen Chroniken des Gralsritters Gur-nemanz, der den jungen Knappen minutiösen Einblick in die Geschichte derGralsritterschaft gewährt. Diese Kritik ist durchaus zutreffend; dennoch geben

219 »O Parcival, wann wirst Du geboren werden!? – Ich bete sie an, diese höchste Liebe, dasVersenken, das Aufgehen in den qualvollen Leiden des Mitmenschen! – Wie hat mich dieser Stoffergriffen! – Ja diese Kunst ist heilig, ist reinste, erhabenste Religion« (5.9.1865 an Ludwig II.;SW 30, 19).

220 »Den Parcival werde ich doch noch machen . . . ; die Religionen werden ewig durch dieKunst, wo sie keine Kunst hervorbringen, also nicht fähig sind, den Gebildetsten wie den Ge-meinen zu befriedigen, so sind sie vergänglich (Mohammedanismus)« (20.6.1872; CT 1, 537).

221 »Die christliche Ekstase im ›Parsifal‹ . . . mahnt nicht selten an die gereimten Andachts-krämpfe der deutschen Pietisten« (E. Hanslick: Musikkritiken, 232).

222 SW 30, 68.223 Die Personennamen waren bei Wagner häufig noch Wandlungen ausgesetzt.

164 B. Transformationen der Erlösung

diese vermeintlichen Mängel den unabdingbaren äußeren Rahmen für die inne-ren Geschehnisse ab, die sich ohne diese Stütze jeder Darstellbarkeit entziehenwürden.224 Es gehört zu den interessanten Nebenaspekten dieses Dramas, daßein so durch und durch der Idee der Erlösung in ihrer tiefsten Verinnerlichungund Sublimierung verpflichtetes Werk wie der ›Parsifal‹ zugleich in seiner Au-ßenhandlung eine Re-Institutionalisierung und Re-Ritualisierung des Religi-ösen in großem Maßstab betreibt – womit dessen Funktion als Weihfestspiel fürdie Bayreuther Festgemeinde noch gar nicht berührt ist.

Die weit über die theaterüblichen Handlungsverwicklungen hinausweisen-de Bedeutungsgeladenheit der Ausgangssituation verdankt sich dem Gral unddem ihm gewidmeten Ritus. In diesem sakralen Gefäß – der Legende nach dieTrinkschale des letzten Abendmahles und zugleich das Gefäß, das das Blut desam Kreuze leidenden Erlösers auffing – bündeln sich die religiösen Momentedes Werkes, genauer gesagt seine statischen religiösen Momente. Denn als einzweites Symbol ist dem Gral der Speer zugeordnet, der sowohl den Erlöser amKreuz als auch den siechen Amfortas verwundete. Dieser repräsentiert das dyna-mische religiöse Element. Während der Gral als Ort der Versammlung und derKontemplation, der geistlichen Erneuerung fungiert, dient der Speer vor allemder Darstellung von Handlungswendungen und Handlungsverlauf. Er geht vonHand zu Hand, von Amfortas über Klingsor zu Parsifal. Das Ende des Dramas istschließlich durch die Vereinigung beider Repräsentationssymbole erreicht, wennder Speer, aufgerichtet und die Augen aller Anwesenden auf seine Spitze fo-kussierend, seinerseits der vita contemplativa ihre konzentrierende Ausrichtungverleiht. Diese Ebene der augenfälligen Symbole steht für die Versammlung vonBedeutsamkeiten und Projektionsflächen der verschiedenen Personen, so wiedie Ebene der Institutionen als die äußerliche Strukturierung dieser Sinnweltenfungiert.

Hiermit ist bereits die dritte Ebene des Dramas genannt, die Ebene der Per-sonen und ihrer mannigfachen Beziehungen. Die am Eingangsabsatz der erstenProsa-Skizze ablesbare Aufstellung zweier Hauptpersonen, Amfortas und Parsi-fal, hat Wagner in ihren weitreichenden Konsequenzen bereits kurz nach derersten Konzeption des Dramas realisiert: Während einerseits Amfortas »der Mit-telpunkt und Hauptgegenstand« ist, indem er die zentrale Figur innerhalb derGralsritterschaft darstellt, die in ihren Verfehlungen ebenso wie in ihrem tra-gischen Leiden am hierdurch hervorgebrachten Unwertgefühl das dramatischeInteresse auf sich zieht, ist auf der anderen Seite Parsifal »unerlässlich nöthig als

224 Bei Gelegenheit der schwierigen Inszenierung dieses Weihfestspiels mit den Mitteln desdamaligen Bühnentheaters machte Wagner sogar einmal die unmutige Bemerkung, er müssenach der Erfindung des unsichtbaren Orchesters nun wohl auch noch das unsichtbare Theatererfinden – eine Vision, die noch immer nicht verwirklicht wurde, die aber im Falle des ›Parsifal‹– so Mauricio Kagel – einen »Triumph der reinen Vorstellungskraft« bedeuten könnte (vgl.N. Wagner: Über Wagner, 246).

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 165

der ersehnte Erlöser des Anfortas« und bedarf damit seinerseits der sorgfältigendramaturgisch plausiblen Entwicklung, »wenn er nicht als kalt lassender Deusex machina eben nur schliesslich hinzutreten sollte«.225 Die ›Lösung‹ bestandam Ende in einer spannungsvollen Verschränkung beider Personen, die haupt-sächlich auf der formalen Kategorie der Vergegenwärtigung, bzw. der affektivenKraft des Mitgefühls basiert und die in der Interpretation des zweiten Aktes ent-faltet werden soll. In dieser Verschränkung ist auch ein wesentliches Element desim ›Parsifal‹ exponierten Erlösungsgedankens zu erblicken.

Eine ebenfalls spannungsvolle Verschränkung kennzeichnet die abgründigsteund uneindeutigste Bühnenfigur, die Wagner je geschaffen hat: Kundry. Sie istaus den ersten Konzeptionen allmählich hervorgewachsen und verdankt ihrenambivalenten Charakter vor allem der Tatsache, daß sich in ihr zwei verschie-dene Personen verbunden haben, eine Synthese, die selbst für Wagner ein un-geplantes Zusammentreffen bedeutete: »Sagte ich Ihnen schon einmal, dass diefabelhaft wilde Gralsbotin ein und dasselbe Wesen mit dem verführerischen Wei-be des zweiten Actes sein soll? Seitdem mir diess aufgegangen, ist mir fast allesan diesem Stoffe klar geworden«.226 Die Figur der Kundry krönt nicht nur dieReihe seiner ohnehin durchgängig vielfältig angelegten Frauengestalten, son-dern fügt vor allem der Rolle der ›Erlöserin‹ eine tiefgründige Facette durchdie Verbindung mit einer fast ausweglosen Erlösungsbedürftigkeit hinzu. In derverschlungenen Konstellation des zweiten Aktes wird die funktionale Verschieb-lichkeit der Rolle des Erlösers so weit getrieben, daß sowohl Parsifal als auchKundry auf diesen Titel Anspruch erheben dürfen. Hierin, und in der Art undWeise, wie sich diese Funktion jeweils aus der Beziehung dieser zwei Perso-nen herauskristallisiert, ist das zweite wesentliche Element des hier entfaltetenErlösungsgedankens zu sehen.

Die drei bisher aufgezeigten Ebenen dieses Musikdramas, die im Einzelnenwiederum vielfach ausdifferenziert sind und perspektivenreiche Verbindungeneingehen, werden nun umgriffen und strukturiert durch eine Musik, die ihrer-seits zum Beziehungsreichsten gehört, das Wagner je komponierte.227 Auch diemusikalischen Motivgruppen des ›Parsifal‹ lassen sich zunächst in zwei Bereichegliedern, die den beiden Handlungssphären der Gralswelt und der ZauberweltKlingsors äquivalent sind.228 Sie unterteilen sich im Fortgang des Werkes in viel-fältige thematische, personale und symbolische Felder, die wiederum durch eineganze Fülle von Variationsformen miteinander verknüpft werden. Auf diese Wei-

225 30.5.1859 an Mathilde Wesendonck; MW 144. 148.226 Anfang August 1860 an Mathilde Wesendonck; MW 243. Kundry ist nach Wagners Aus-

kunft »ein Weib, das zwei Naturen« hat (Gespräch vom 14.1.1865; SW 30, 18).227 Vgl. vor allem die detaillierte Monographie von H.-J. Bauer: Wagners ›Parsifal‹. Kriterien

der Kompositionstechnik sowie B. Asmus: Die Zeit steht still im Fadenwerk; aber auch P. Bek-

ker: Wagner, 515–578.228 Vgl. zum Folgenden H.-J. Bauer, aaO. 8–164.

166 B. Transformationen der Erlösung

se gelingt Wagner eine Verknüpfung der inneren Rationalität der musikalischenKomposition mit semantisch gehaltvollen Motiven und Situationen, ohne diesejedoch in irgendeiner Weise musikalisch ›abzubilden‹.229 Vielmehr werden oftgenug die Entwicklungen des Bühnengeschehens und die musikalische Motiv-entwicklung so aufeinander bezogen, daß die Musik gleichsam mehr ›weiß‹ alsdie Personen des Dramas.230 So wie die Liebe zwischen Siegmund und Sieglin-de im ersten Akte der Walküre231 durch die Musik ›klar‹ wird, noch bevor diebeiden Protagonisten sich dessen bewußt werden, so ist auch die musikalischeSemantik im ›Parsifal‹ oftmals reicher als die bewußte Selbstwahrnehmung derPersonen. So merkt Wagner zur Szene um den von Parsifal getöteten Schwan an:»hier, bei dem Erlöserthema, geht im Innern Parsifal’s immer etwas vor«.232 Einwichtiges Bindeglied zwischen diesen Ebenen wird – ganz im Sinne der theore-tischen Schriften Wagners – durch die Gestik bereitgestellt, durch die Parsifal andieser Stelle seine von ihm selbst noch undurchschaute Betroffenheit ausdrückt.

Ein letzter Hinweis, der sich speziell im Blick auf das Thema der Erlösungaus dem zitierten Anfangsabschnitt des ersten Prosa-Entwurfs entnehmen läßt,besteht darin, daß für die Erlösung mehrere Anknüpfungspunkte namhaft ge-macht werden können. Die äußere Situation ist durch das Siechtum des Amfor-tas bezeichnet, das sich der Speerwunde verdankt. Die innere Verfaßtheit wirddurch das Gefühl der Unwürdigkeit angezeigt, eine Unwürdigkeit, die sich demSchuldbewußtsein angesichts des eigenen ›Fehltritts‹ verdankt. Dieser Fehltritthat nun seinerseits zwei Aspekte, nämlich zum einen – in dem ›geheimnisvol-len Liebesabenteuer‹ – die Verletzung des Keuschheitsgebots des Ordens undzum anderen – in dem Verlust des Speeres, der dem oberen Gralshüter zur Ver-wahrung anvertraut ist – die Verletzung der Amtspflicht. Diese innere Vielfaltder erlösungsbedürftigen Situation wird dann in der Entfaltung des Erlösungs-gedankens selbst aufgegriffen, indem jeweils die Heilung der Wunde, die Über-windung der Unwürdigkeit im Amte und die Überwindung der Scham ob desVerlusts der Keuschheit mitgeführt werden. Auch die Wertdifferenz dieser ver-schiedenen Erlösungshinsichten entspricht der christlichen Tradition, wie sie inden Kapiteln über Luther und Schleiermacher vorgestellt wurde. So ist die Hei-

229 H.-J. Bauer, der sich ausdrücklich zum Ziel setzt, »die weitverbreitete Vorstellung von denWagnerschen Motiven als gut sortierten Etikettenvorrat abzubauen« (aaO. 49), bemerkt hierzu:»die Motiv-Etikettierung ist ein Kompromiß zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Ord-nungsprinzipien, derjenigen der Kunst, die eine Idee in die Vielfalt ihrer Realisierungen entläßtund derjenigen unseres Intellekts, der die Vielfalt der Erscheinungen in Begriffe zusammenfaßt«(aaO. 18).

230 »Das, was mich die Musik so unsäglich lieben läßt, ist daß sie Alles verschweigt, während siedas Undenklichste sagt: sie ist somit, genau genommen, die einzige wahre Kunst, u. die anderenKünste nur Ansätze dazu« (12.4.1858 an Carolyne Sayn-Wittgenstein; FZ 220f ).

231 Ein Akt, der mit nur leichter Übertreibung als »ein einziger auskomponierter Blick« be-zeichnet werden kann (Cl.-St. Mahnkopf: Tristan-Studien; in: Mahnkopf, 68).

232 Aufzeichnung von Porges zu Takt 853f; SW 30, 177.

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 167

lung der Wunde zwar ein Zeichen, mit dem die Bühnenhandlung in ihren Aus-drucksmöglichkeiten bereichert wird, sie steht jedoch nicht für die eigentlicheSchwere der Verfehlung, derer sich Amfortas schuldig weiß. Es wird zu Parsifalsbedeutsamsten Initiationserlebnissen gehören, zu einem vertieften Verständnisvon Amfortas’ Leiden durchzustoßen: »Der Kuss, der Anfortas der Sünde verfal-len läßt, er weckt in Parzival das volle Bewusstsein jener Sünde . . . – So weiss ermehr als alle andren, namentlich auch als die gesammte Gralsritterschaft, welchedoch immer nur meinte, Anfortas klage um der Speerwunde willen!«233 Wagnerselbst hat darüber hinaus auf die augenfälligen Spiegelungen der Personenkon-stellation in der biblischen Überlieferung hingewiesen: »Adam – Eva: Christus.– Wie wäre es, wenn wir zu ihnen stellten: – ›Anfortas – Kundry: Parzival?‹«.Nicht ohne Grund fügt er allerdings sogleich hinzu: »Doch mit großer Behut-samkeit!«234

Die Szene, in der Parsifal eingeführt wird, ist von Wagner bei den Proben zurUraufführung im Jahre 1882 mit aufschlußreichen Anmerkungen bedacht wor-den, die von Heinrich Porges und Julius Kniese in den Klavierauszug eingetragenwurden. Gerade die ›Blickregie‹ ist subtil gestaltet; sie soll daher in einiger Aus-führlichkeit vorgestellt werden. Parsifal hatte zum Entsetzen aller einen wildenSchwan getötet. Auf Gurnemanz Frage ›Bist du’s, der diesen Schwan erlegte?‹weiß Parsifal lediglich zu entgegnen: ›Gewiß! Im Fluge treff ’ ich was fliegt‹.Offenbar hat er die Frage als bloße Erkundigung nach dem Handlungssubjektverstanden, so als hätte Gurnemanz die Geschicklichkeit des Schützen bewun-dern wollen. Es war aber die Bedeutung der Tat, nach der Gurnemanz gefragthatte und die nun Parsifal im Folgenden schrittweise nahegebracht wird. Zudiesem Zwecke bedient sich Gurnemanz des toten Schwans.235

!Die ganze Aktion Gurnemanz’ mit dem Schwan muß so gemacht werden, daß sieeinen rührenden Eindruck hervorbringt."

Gurnemanz

![1. Violinen und Horn] hier, bei dem Erlöserthema, geht im Innern Parsifal’s immeretwas vorGurnemanz geht mit etwas scharfen Schritten zum Schwan."Er war uns hold: !etwas derb:" was ist er nun dir?!Ausdruck der Erregung in Parsifals Gebärden.[1. Violinen und Horn] dieses Thema geht immer Parsifal an."!Gurnemanz nimmt Parsifal bei der Hand und führt ihn zum Schwan.Gurnemanz läßt sich zum Schwan nieder."

233 Am 7.9.1865 an Ludwig II.; Briefwechsel, 49.234 Ebd.235 Vgl. zum Folgenden den Text in SW 30, 99 und die Anmerkungen Wagners aaO. 177f. Die

im Bühnentext enthaltenen Regieanweisungen sind kursiv, die Anmerkungen zur Uraufführungkursiv und in Spitzklammern gesetzt.

168 B. Transformationen der Erlösung

Hier – schau’ her! – hier traf ’st du ihn:!hier blickt Parsifal etwas traurig vor sich hin"!zum Schwan" da starrt noch das Blut, matt hängen die Flügel;das Schneegefieder dunkel befleckt, –gebrochen das Aug’, !hier sieht Parsifal auf den Schwan" siehst du den Blick?!Gurnemanz steht auf."Wirst deiner Sündentat du inne? –Parsifal hat Gurnemanz mit wachsender Ergriffenheit zugehört: jetzt zerbricht erseinen Bogen und schleudert die Pfeile von sich.Sag’, Knab’! Erkennst du deine große Schuld?Parsifal führt die Hand über die Augen.!ganz einfach" Wie konntest du sie begeh’n?

Parsifal

!naiv, ohne Pathos, wie ein gescholtener Knabe"Ich wußte sie nicht.

Gurnemanz

!trocken" Wo bist du her?Parsifal

!als ginge ihn dies alles nichts an"Das weiß ich nicht.!Umstehende: Bewegung des Staunens."

Nachdem alle verbalen Kommunikationsversuche ins Leere gelaufen sind, greiftGurnemanz zum Mittel der symbolischen Interaktion. Doch erst auf die Frage›siehst Du den Blick?‹ – das Orchester schweigt bei diesen Worten236 –, alsobei der Aufforderung wechselseitiger Kenntnisnahme des für Wagner in kom-munikativer Hinsicht fundamentalen Gesichtssinns,237 zeigt Parsifal eine ersteReaktion. Was er in dieser ersten Initiationsszene ›lernt‹, ist ein noch unreflek-tiertes und nicht in Worten artikulierbares Mitgefühl mit dem Geschöpf, das erseiner Umwelt entrissen hat. Er wird gewiß nicht einer ›Sündentat‹ als einersolchen inne und auch nicht einer ›großen Schuld‹, denn dies sind Begriffe ausder Deutungswelt Gurnemanz’, die ihm gänzlich unvertraut sind und keinerleiaffektive Grundierung besitzen. Immerhin zeigt er tätige Reue, die sich an derZerstörung des Mordwerkzeugs ausweisen läßt, also dem durch eine symboli-sche Handlung ausgedrückten Vorsatz, die Tat nicht zu wiederholen. Allerdingssind diese singuläre Tat und die durch Gurnemanz’ umständliches Verhör her-vorgelockte affektive Reaktion die einzigen Zeichen eines Verständnisses vonseiten Parsifals, die hier noch keine Entwicklung in Gang setzen. Es werden kei-ne Folgerungen gezogen und in Bezug auf seine sonstige Mitwelt ist er naiv wie

236 Erster Akt, Takt 873.237 Vgl. oben S. 157.

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 169

seit jeher, ›als ginge ihn dies alles nichts an‹. Dadurch kommt noch einmal derSinnüberschuß der Musik, der vorhin angesprochen wurde, zur Geltung. Dennzwar verhält sich die Bühnenfigur Parsifal in dieser unbeteiligten Weise, doch dieMusik, d. h. hier das ›Erlöserthema‹, »geht immer Parsifal an«, auch wenn diesin seinem bewußten Innenleben noch keine ausdrucksfähige Gestalt gewonnenhat. Auch die spätere durch weiteres Befragen hergestellte Erinnerung an seineMutter Herzeleide, von der er knapp berichtet, ist von keinem Gefühl beglei-tet.238 Erst als Kundry ihm vom Tod Herzeleides berichtet, gerät er zunächst inWut und steht dann ›wie erstarrt‹.

Die zweite Initiationsszene Parsifals – die ebensowenig erfolgreich ist wie dieerste – findet während seiner Teilnahme am Abendmahlsritus der Gralsritter-schaft statt. Amfortas, der gegen seinen Widerstand dazu genötigt wird, dieheilige Handlung zu vollziehen und den Gral zu enthüllen, bricht in eine er-schütternde Klage über seinen Sündenschmerz aus, der in einem verzweifeltenRuf nach Erbarmen gipfelt:

Amfortas

hier durch die Wunde, der Seinen gleich,geschlagen von desselben Speeres Streich,der dort dem Erlöser die Wunde stach,aus der mit blutigen Tränender Göttliche weint’ ob der Menschheit Schmachin Mitleid’s heilgem Sehnen, –und aus der nun mir, an heiligster Stelle,dem Pfleger göttlichster Güter,des Erlösungsbalsams Hüter,das heiße Sündenblut entquillt, –ewig erneu’t aus des Sehnen’s Quelle,das, ach! keine Büßung je mir stillt!Erbarmen! Erbarmen!Allerbarmer, ach! Erbarmen!Nimm mir mein Erbe,schließe die Wunde,daß heilig ich sterbe,rein Dir gesunde!239

238 Vgl. Wagners Spielanweisung zur Stelle: »nachdenklich, kein heiteres Gesicht, aber mit ganznaivem Ausdruck; er weiß gar nichts von den Schmerzen seiner Mutter; was Herzeleide bedeu-tet, ist ihm ganz fremd« (Aufzeichnung von Porges; SW 30, 179). In der ersten Prosa-Skizzehieß es noch: »Parzivals Gedächtnis und Verständnis seiner Vergangenheit wird auf diese Weise[sc. durch Kundrys Bericht über seine Eltern] erweckt« (SW 30, 71); dies wird von Wagner ausdramaturgisch einleuchtenden Gründen auf den 2. Akt verschoben.

239 SW 30, 105f.

170 B. Transformationen der Erlösung

Zu Amfortas’ Erbarmensruf merkt Wagner an: »Das ist der Hauptmoment vonallem, was Parsifal hier miterlebt, um es erst später zu verstehen«.240 Währenddieses Vorgangs allerdings vermag Parsifal sowenig wie in der Schwanenszeneeinen Zugang zum Geschehen zu finden. Zwar hatte er – so die Regiebe-merkung am Schluß des ersten Aktes – »bei dem vorangegangenen stärkstenKlageruf des Amfortas eine heftige Bewegung nach dem Herzen gemacht, wel-ches er krampfhaft eine Zeit lang gefaßt hielt«, steht aber zuletzt ebenso »wieerstarrt, regungslos« da, wie am Ende der ersten Initiationsszene. So läßt sichdie Initiation des Erlösers im ersten Akt des Parsifal dahingehend beschreiben,daß zunächst nur die elementaren Sinne Parsifals dem Mitgefühl eröffnet wor-den sind. Dies beginnt beim Gesichtssinn, bei der Wahrnehmung des ›Blicks‹des toten Schwans, angesichts dessen Parsifal »die Hand über die Augen« führtund so gestisch ausdrückt, daß ihm über diesen Gesichtssinn eine Verbindungzur Gefühlswelt der nun toten Kreatur hergestellt wurde. Es endet beim Herz,als dem Zentrum des Gefühls, dessen Regungen aber vorderhand noch völligunverstanden bleiben und das in seiner Verkrampfung nur das bloße Affiziert-sein signalisiert.241 Immerhin hat Parsifal erste Erfahrungen gemacht, die er – umWagners Bemerkung zu Amfortas’ Klage noch einmal aufzugreifen – ›später ver-stehen‹ wird. Denn so wenig ein tieferes Verständnis ohne die Grundlage eigenenErlebens möglich ist, so wenig nützen affektive Erfahrungen, die nicht in einenVerstehenszusammenhang gestellt werden. »Durch Mitleid wissend« ist Parsifalan dieser Stelle demnach noch nicht geworden, wenngleich erste Fundamentegelegt sind, derer sich im zweiten Akt Kundry in abgründig virtuoser Weise be-dienen wird, um das Heilsziel, wie sie es versteht, zu erreichen und um endlich,indem sie das Gegenteil ihrer Intentionen bewirkt, die ihr noch unbekannteErlösung zu erlangen.

Paul Bekker hat den zweiten Akt des ›Parsifal‹ »die Urszene Wagners« ge-nannt,242 und tatsächlich bündeln sich hier, gleichsam vom späten Werk herbeleuchtet, die Handlungen, Symbole und Perspektiven des gesamten Wagner-schen Bühnenkosmos. Im Mittelpunkt der Hauptszene zwischen Parsifal undKundry steht ›der Kuß‹, eine Geste, die für Wagner seit jeher mit weitreichenderBedeutung versehen war. So hatte er zum dritten Akt des ›Siegfried‹ bemerkt:»der Liebes-Kuß ist die erste Empfindung des Todes, das Aufhören der Indi-vidualität, darum erschrickt der Mensch dabei so sehr«.243 Ein vergleichbaresGefühl schreibt er später auch Parsifal zu,244 und doch wird diese zwischen Lie-

240 Aufzeichnung von Porges; SW 30, 185.241 An anderer Stelle hat Wagner von Parsifals »Perplexität« angesichts der Klagen des Amfortas

gesprochen (11.1.1878; CT 2, 36).242 P. Bekker: Wagner, 562.243 15.8.1869; CT 1, 140.244 »Über Parcival gesprochen, erster Kuß der Liebe, Ahnung des Todes« (8.12.1869; CT 1,

177).

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 171

be und Tod, Individualität und Verschmelzung oszillierende Bedeutsamkeit desKusses der Schlüsselszene des ›Parsifal‹ nicht gerecht, sondern bleibt eher dem›Ring‹ und insbesondere dem ›Tristan‹ zugehörig. Denn der Kuß weckt in Par-sifal nicht die Todesahnung, sondern die Sündenerkenntnis; er steht nicht für dieVerschmelzung, sondern für die Vereinzelung, die Individuierung im Zuge derErkenntnis der eigenen Berufung. Durch den Kuß kommt Parsifal gleichsam ineinem Schlage zu sich selbst, zum Mitgefühl und zu seiner Berufung als Erlöser.

Parsifal ist in Klingsors Reich eingedrungen und wird mitten in seiner Ver-wicklung mit den Blumenmädchen von Kundry bei seinem Namen gerufen.Parsifal, der sich bislang nicht seines Namens entsinnen konnte, beginnt, sich zuerinnern. Kundry wiederum, die sich – von Klingsor zu diesem ›Amt‹ genötigt –zum Ziel gesetzt hat, Parsifal zu verführen, setzt im Verlauf des Dialogs alles dar-an, die schwachen Erinnerungen Parsifals zu verstärken, um sich in diese affektivstark besetzten Gedanken als eine Person einzubringen, die an Parsifals Gefüh-len für seine Mutter teilhat. Nach der Initialszene des Namenrufs und seinerErläuterung beginnt Kundry mit einer Erzählung von Parsifals Leben (»Ich sah’das Kind an seiner Mutter Brust«) und dies unter fortlaufender Einbeziehungelementarer Affekte. Leiden, Lachen, Sorgen, Weinen – die gesamte Skala derGefühle geht sie durch, bis hin zum Tod der Mutter, die wegen Parsifals Fern-bleiben an Herzeleid stirbt. Hier kommt es, wie bereits im ersten Akt, zu einerheftigen Reaktion Parsifals, der sich nun nicht nur affektiv und gestisch artiku-liert, sondern der sich erstmals als Täter einer wenngleich noch unverstandenenTat erkennt (»Wehe! Was tat ich?«). Hier setzt nun Kundry ein:

Kundry

War dir fremd noch der Schmerz,des Trostes Süße,labte nie auch dein Herz:das Wehe, das dich reu’t,die Not nun büße,im Trost, den Liebe dir beut.245

Sie deutet ihm seine noch unzusammenhängend herausgestoßenen Fragen alsReue; sie bestärkt ihn in dem ansatzweise vorhandenen Schuldbewußtsein, in-dem sie ihn zur Buße auffordert und zwar einer Buße, die sogleich bei ihr, Kun-dry, den gesuchten Trost in der Liebe findet. Sie verschränkt also an dieser Stelleihr eigenes Liebeswerben mit der noch nachklingenden Erinnerung Parsifals andie Liebe seiner Mutter und verbindet beides mit dem Bußgedanken. Parsi-fal reagiert jedoch nicht darauf, sondern fährt in seinen Selbstanklagen fort. Erversucht offenbar, seine ihm noch immer nicht deutliche Schuld aufzuspüren.Kundry knüpft hier an, um ihr Ziel nun in einem neuen Versuch zu erreichen:

245 SW 30, 119.

172 B. Transformationen der Erlösung

Kundry

Bekenntniswird Schuld und Reue enden,Erkenntnisin Sinn die Torheit wenden:die Liebe lerne kennen,die Gamuret umschloß,als Herzeleids Entbrennenihn sengend überfloß:die Leib und Lebeneinst dir gegeben,der Tod und Torheit weichen muß,sie beut’dir heut’ –als Muttersegens letzten Grußder Liebe – ersten Kuß.246

Den Ausgang bildet wiederum das geforderte Schuldbekenntnis, gefolgt vomSinnversprechen und – vor allem – von der direkten Vergegenwärtigung der El-tern Parsifals während des Liebesakts, der unmittelbar mit der Zeugung Parsifalsverbunden wird. Der Kern der Rede ist ihre Aufforderung »Die Liebe lernekennen«. Sie wird über die genannten Stationen durch ihre kosmische Bedeu-tung als Überwinderin des Todes und – als Erkenntnisträgerin – der Torheitgeführt bis zur Identifikation Kundrys mit dieser nun umfassend verknüpftenLiebe, die ganz am Ende wieder fokussiert wird auf den durch den Endreimnoch verstärkten Übergang von Herzeleide (»letzten Gruß«) zu Kundry (»er-sten Kuß«). In einem ausgefeilten Spannungsbogen führt Kundry hier zuerstvon der gegenwärtigen Situation ins unabsehbar Weite der Erinnerung und derkosmischen Mächte, um dann wieder zu einer Engführung überzugehen. Daßes sich hier um eine sprachliche Mimesis und Vorausbildung des Geschlechtsaktshandelt, wird durch das Orchester gegen Ende dieser Verführung deutlich un-terstrichen.247 Der ›lange Kuß‹, der sich anschließt, bewirkt nun in Parsifal eineabrupte Katharsis. Er »fährt plötzlich mit einer Gebärde höchsten Schreckensauf« und greift sich ans Herz, oder vielmehr – wie die AufführungsanweisungWagners lautet – »an die Seite . . . , wo Amfortas die Wunde hat«. Diese Differenzist an dieser Stelle ausschlaggebend: Parsifals Katharsis verdankt sich ihrem aus-lösenden Moment nach der Nachempfindung der Lustgefühle, die Amfortas inKundrys Armen genoß und die ihn – durch die Speerwunde symbolisiert – quä-len. Zu den Orchesterstimmen, die kurz vor dem Umschwung erklingen, merkt

246 SW 30, 119f.247 Wozu das Orchester in dieser Hinsicht fähig ist, hatte Wagner bereits am Ende des ersten

Aktes der ›Walküre‹ unter Beweis gestellt.

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 173

Wagner an »Wollust« (Takt 989, Oboen und Klarinetten), »Entsetzen« (Takt 990,Trompete, Hörner).248 Parsifal erlebt somit den gleichen Gefühlsumschlag, denAmfortas in Kundrys Armen durchgemacht hat, als er von der höchsten Lustzur Erkenntnis der Entweihung seines Amtes gelangte. Dieser Ausgangspunkt istinsofern von Bedeutung, weil Parsifal dann erst in einem zweiten Schritt vondiesem unmittelbaren, über die ›Wollust‹ vermittelten Mitfühlen zur Reflexionauf dieses Gefühl gelangt.

Parsifal

Nein, nein! Nicht die Wunde ist es:Hier! Hier im Herzen der Brand!249

Das Sehnen, das furchtbare Sehnen,das alle Sinne mir faßt und zwingt!Oh! – Qual der Liebe! –Wie Alles schauert, bebt und zucktin sündigem Verlangen!250

Jetzt ist Parsifal zum Grund des zuvor unverstandenen Erbarmensrufes des Am-fortas vorgestoßen: Es ist das Sehnen, das auch noch der Wollust zugrunde liegtund das selbst die Liebe, die Kundry soeben in all ihren Facetten zum Leuchtengebracht hatte, als ›Qual‹ erscheinen läßt. Doch nun folgt ein weiterer Schritt:Nach dem zuerst unmittelbaren und dann reflektierten Mitfühlen gelangt Par-sifal jetzt zur Vergegenwärtigung der Situation des Amfortas in seinem Amte, alsoderjenigen Situation, die er selbst miterlebte, ohne sie zu verstehen und die ernun im Nacherleben zu artikulieren vermag.

Parsifal

Des Heiland’s Klage da vernehm’ ich,die Klage, ach! die Klageum das entweihte Heiligtum: –›erlöse, rette michaus schuldbefleckten Händen!‹ So – rief die Gottesklagefurchtbar laut mir in die Seele.251

248 SW 30, 202.249 Eben weil Parsifal erst jetzt zur Erkenntnis gelangt, daß dem Lustgefühl ein tieferliegendes

Sehnen zugrunde liegt und weil diese Erkenntnis gestisch präzise begleitet wird von der Bewe-gung der Hand zum Herzen, ist die vorhin zitierte Anweisung Wagners (»an die Seite greifend«)dramaturgisch plausibel. Das wird noch dadurch unterstützt, daß Wagner zur Uraufführung denText des Verses 810 geändert hat. Unmittelbar nach dem Kuß heißt es nicht: »Die Wunde! – DieWunde! – Sie brennt in meinem Herzen«, sondern genauer: »Sie brennt mir hier zur Seite« (SW30, 203).

250 SW 30, 120.251 SW 30, 120.

174 B. Transformationen der Erlösung

Dies ist der Gipfelpunkt des Mitleidens: Parsifal vernimmt die Heilandsklage,die ein von ihm selbst stellvertretend gesprochenes Flehen nach Erlösung ist.Dieses Flehen wird nun allerdings dem Heiland selbst zugeschrieben, weil erselber der Erlösung bedürftig ist, insofern der Gral, der ihn repräsentiert, von»schuldbefleckten Händen« verwaltet wird. Diese mehrfach verschlungene Stu-fung von Repräsentationsverhältnissen darf man keinesfalls zu schlichten Aussa-gen entdifferenzieren. Die Heilandsklage ist der sprachliche Ausdruck für das,was Parsifal an der Stelle des Amfortas vergegenwärtigend empfindet: Das Ge-fühl der Unwürdigkeit angesichts des im Gral symbolisierten schlechthin rei-nen Erlösers artikuliert sich als Sündhaftigkeit, deren Empfindung so stark ist,daß sie selbst die Reinheit des Heilsgefäßes zu beflecken vermag. Hier, in die-sen Vergegenwärtigungs- und Nachempfindungsrelationen ist die Basis gelegtfür die geheimnisvollen Schlußworte des ›Parsifal‹: »Erlösung dem Erlöser«. Diehier vorliegenden komplexen Verweisungszusammenhänge erlauben jedoch kei-ne Interpretation, die lediglich diese – wohlweislich mehrdeutig gehaltene –Formel selbst heranzieht und interpretiert. So endet die von Kundry in gänzlichanderer Absicht initiierte Bußsituation im Sündenbekenntnis Parsifals: »Erlöser!Heiland! Herr der Huld! / Wie büß’ ich Sünder meine Schuld?«. Wagner hatan dieser Stelle seine poetische Umsicht bewiesen, indem er Parsifal hier zumersten Mal ein durch den Endreim verknüpftes Verspaar sprechen läßt. Dennhier fügt sich für Parsifal etwas zusammen, das zuvor nur in stummen Gesten,stockenden Interjektionen und einzelnen Ausrufen präsent war. An dieser Stelleist die Initiation Parsifals zu einem ersten Abschluß gelangt. Aber er hat erst zurErkenntnis seiner selbst gefunden; es fehlt noch die Erkenntnis seiner Berufung.Auch zu ihr wird ihm Kundry verhelfen.

Kundrys weiteres Vorgehen ist dem äußeren Verlauf nach identisch mit ihrembisherigen Verhalten und doch völlig anders motiviert. Sie versucht jetzt nichtmehr, Parsifal lediglich – ihrem Auftrag gemäß – zu verführen, sondern sie ver-spricht sich nun von dieser Verführung sehr viel mehr, und zwar das Erlangenihres Seelenheils. Und gerade weil sie dieses ganz andere Ziel auf den bisherigenWegen zu erreichen sucht, bringt sie Parsifal dazu, sich seiner Berufung inne zuwerden. Er unternimmt es sogar, dieser Berufung sogleich zu folgen, indem erKundry aus ihren inneren Verstrickungen zu befreien sucht. Es ist offensichtlich,daß angesichts dieser gegenläufigen Ausgangslage der Versuch nicht gelingenkann. Doch durch Kundrys stets neues Insistieren auf dem Erlöseramt Parsifals,dem dieser in ihrem Sinne zu genügen hat, festigt sie in ihm die Erkenntnis sei-ner eigenen Berufung nur um so nachhaltiger. Während Parsifal auf diese Weise– seit seinem Sündenbekenntnis – sich in sein Amt findet und dramaturgisch zu-nehmend an Innenspannung verliert, baut sich nun Kundrys Erlösungssehnsuchtzu einem zweiten Höhepunkt dieses Aktes auf. Der Höhepunkt dieser hier nichtmehr im Einzelnen nachzuzeichnenden Szene liegt auch bei Kundry in einem

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 175

Sündenbekenntnis, das ihr allerdings nicht unerwartet zufällt, wie es Parsifal er-ging, sondern das sie seit undenklichen Zeiten quält. In einer Rückschau wirdverdeutlicht, daß sie in einer Situation, in der sie hätte mitleiden sollen, Distanzund Geringschätzung an den Tag gelegt hat. Die Bedeutsamkeit dieser Tat wirdnun dadurch ins Unermeßliche gesteigert, daß ihr Mitleid dem Erlöser auf demWeg zum Kreuze hätte gelten müssen. Stattdessen aber lachte sie bei seinemAnblick: »Ich sah – Ihn – Ihn – und – lachte«.

Dieses abgründige Lachen, das weit über eine Oktave in die Tiefe stürzt undvon keiner instrumentalen Begleitung abgefedert wird, symbolisiert die Erlö-sungsbedürftigkeit in ihrer stärksten Ausprägung. Der nächste Vers eröffnet danneine weitere Fülle von Bezügen: »da traf mich sein Blick«. Erst hier, in der Be-gegnung zweier Blicke, beginnt ihre Leidensgeschichte. Denn erst hier kommtsie zum Bewußtsein ihrer Tat. Anders als Parsifal vermag allerdings keine Mime-sis Kundry zu erlösen. Ihr hilft nur die reine Abwendung vom Quell des Sehnens,wie es im Anschluß an die Klage des Amfortas heißt. Die ›ewige Erneuerung‹ dessündhaften Verlangens, die Amfortas quält, dessen ununterbrochenes Strömenim Bilde des fließenden Blutes und der sprudelnden Quelle dargestellt wurden,repräsentiert ein ›Sehnen‹, das nie gestillt werden kann. Dies wird hier wiederaufgegriffen, indem Parsifal versucht, Kundry von ihrem Irrtum über den vonihr vorgeschlagenen Heilsweg zu befreien: »Die Labung, die Dein Leiden endet,beut nicht der Quell, aus dem es fließt: das Heil wird nimmer dir gespendet, eh’jener Quell sich dir nicht schließt«. Wagner kommentiert: »Erlösung ist nicht,wenn man aus dem Quell trinkt, aus dem das Sehnen fließt«.252 Für Kundry istdemnach der Weg zur Erlösung durch die Entsagung vorgezeichnet.

Der dritte Akt korrespondiert dem ersten in vielen Beziehungen. Vor allemist nun gegenläufig zu den gescheiterten Initiationen die kontinuierliche Ein-führung Parsifals in das Amt des Amfortas das mit großem Aufwand in Szeneund vor allem in Musik gesetzte Thema. In der Schlußszene repräsentiert Kun-dry die entsagende Büßerin bereits äußerlich dadurch, daß sie in diesem Akt bisauf die »rauh und abgebrochen« hervorgestoßenen Worte »Dienen . . . Dienen«schweigt. Sie erlangt am Ende ihre Erlösung im Tod, der sie sanft an der SeiteParsifals ereilt, dem ihr letzter Blick gilt. Amfortas wird durch den Speer ge-heilt, der ihm die Wunde schlug. Überträgt man diese Heilung auf die durchdie Wunde repräsentierte Erlösungsbedürftigkeit, dann wird Amfortas’ Erlösungdurch eine gegenläufige Mimesis erreicht. Eine Inversion des Handlungsverlaufswird – magisch – durch den Speer erreicht: So wie auf die Verfehlung die Qualder Wunde und des Unwertgefühls folgte, so folgt nun auf die Berührung mitdem Speer das Aufleuchten seiner Miene »in heiliger Entzückung«. Dieser imSpeer symbolisierte Wendepunkt ist es auch, der am Ende die gesamte Szenestrukturiert, indem alle »in höchster Entzückung« zur emporgehaltenen Speer-

252 Aufzeichnung von Porges; SW 30, 209.

176 B. Transformationen der Erlösung

spitze aufschauen. Die Schlußworte »Erlösung dem Erlöser« werden von allen,auch den unsichtbaren Chören, angestimmt. Die Schlußszene stellt die Erlösungals die umfassende Teilhabe an der Sphäre des Heils dar, aber auch als das endgül-tige Ende allen Sehnens und – zumindest in der Darstellung des Schlußbildes –aller Tätigkeit.

Wagner hat sein Konzept von Erlösung im ›Parsifal‹ differenziert ausgearbei-tet. Die affektiven Elemente der Erlösung sind in alle nur denkbaren Extremehinein vertieft worden, sowohl die Reflexion schuldhafter Tat als auch das stell-vertretende Mitleiden werden integriert. So erscheint dieser Erlösungsbegriffgleichsam als ein Kompendium vieler Motive, die im Laufe des 19. Jahrhundertsaufgetreten sind. Gleichwohl ist er eben deswegen auch ein reiner Darstellungs-begriff, der sich nur in einer geschlossenen Bühnenhandlung entfalten läßt. Einesubjektive Aneignung dieser Erlösung liegt nicht in seinem Vermögen, aber auchnicht in seiner Absicht.

d) Fazit: Die erlösende Kraft des musikalischen Dramas

Wagners Erlösungsbegriff steht vor allem für die weitgreifenden Ästhetisierungs-tendenzen, die das 19. Jahrhundert prägen und die weitgehend auf die Romantikzurückgeführt werden können. Zugleich schließt Wagner an die dort begegnen-de religiöse Dimension der Ästhetisierung an, in der er sich von Schopenhauernachhaltig bestätigt sehen konnte. Innerhalb dieser grundsätzlichen Einschrän-kung auf den Bereich der Ästhetik und der Kunst vermag dann allerdings die Er-lösungsidee ihren ganzen formalen und inhaltlichen Reichtum zu entfalten: Siefungiert als Systembegriff in der Neuorganisation der Ästhetik, indem sie die Über-windung defizienter Entwicklungen in der Zuordnung der Künste proklamiert.Die ›Erlösung der Musik in das Drama‹ ist nicht bloße Metapher. Vielmehr wirddamit die Bedeutung der Künste hervorgehoben, also ihr gleichsam individu-iertes Wesen als wirksame Lebensmächte, deren Zustand für die menschlicheLebenswelt insgesamt von Bedeutung ist. Damit erfährt die Ästhetik eine ähn-liche Funktionszuweisung wie anderwärts die Geschichtsphilosophie. Sie bildetden Deutungsrahmen, innerhalb dessen sich der Mensch überhaupt seiner Situa-tion vergewissert. Ebenso wie die Geschichtsphilosophie seit Herder und HegelElemente der Heilsgeschichte in sich aufnahm und damit selbst zu Teilen re-ligiöse Valenzen ausbildete, so wird bei Wagner die Ästhetik zur Basis letzterDeutungsperspektiven.

Neben dieser systematischen Funktion innerhalb der Reflexion auf die Künsteund ihren Zusammenhang dient die Erlösungsidee aber vor allem als Grundla-ge künstlerischer Darstellung. Sie ist diejenige Vorstellung, die den verschiedenenMusikdramen jeweils zu Grunde liegt, die in ihnen und ihrer dramaturgisch undmusikalisch inszenierten Personenkonstellation zur Darstellung gebracht wird.Mit diesem Beitrag zur Symbolgestaltung hat Wagner geradezu die Nachfolge

2. Erlösung in der Kunst – Richard Wagner 177

der institutionalisierten Religion antreten wollen. Zu diesem Zweck macht sichdie Inszenierung der Erlösung auch liturgische und rituelle Elemente der kirch-lichen und mythologischen Tradition zunutze. Die Festspielidee bildet gleichsamden gemeindlichen Rahmen der Darstellung der Erlösung.

Mit diesem Punkt ist auch das dritte Element, das Auseinandertreten von Erlö-sungsdarstellung und Erlösungserlebnis, angesprochen. In der ästhetischen Darstel-lung gewinnt zwar die Erlösungsidee an innerer Mannigfaltigkeit, dennoch wirdsie ›nur‹ zur Darstellung gebracht. Sie bildet einen ästhetisch in sich geschlos-senen Sinnzusammenhang, der vom teilhabenden Individuum zwar als Deu-tungsrahmen akzeptiert und auch appliziert zu werden vermag, doch bleibt eszunächst bei der distanzierten, stellvertretenden Präsentation dieses Sinnzusam-menhangs. Die Integration in die Alltagswelt, die für die protestantische Erlö-sungsidee ein konstitutives Element darstellte und die noch von Schopenhauerals Problem anerkannt wurde, wird nicht erreicht (und auch nicht angestrebt).Damit führt Wagners Auffassung der Erlösung den isolierten Charakter, densie in Schopenhauers Ästhetik aufwies, fort und gestaltet ihn in diesem Sinneals Unterbrechung des Alltags – als Festspiel – aus. So reflektiert und befördertWagners Beitrag zur Ideengeschichte der Erlösungsvorstellung die Ausdifferen-zierung religiöser Deutungsmuster auf eine Weise, deren Beurteilung ambiva-lent ausfallen muß. Denn wenn auch die alltagsregulierende Funktion religiöserIdeen hier ein Ende findet, so wird doch der Kulturgemeinschaft in einer ihrwesentlichen Sphäre – der ästhetischen – die Idee der Erlösung in ihrem for-malen und inhaltlichen Reichtum erhalten. Die Neigung, sich seines Lebens inseiner Ganzheit mit Hilfe letzter Deutungshinsichten zu vergewissern, schwin-det. In der Kunst aber, die sich der poetischen Darstellung des abgeschlossenen– wenn auch in der Regel tragischen – Lebenslaufs annimmt, werden diese Sinn-horizonte vergegenwärtigt. Die unvergleichliche Konzentration der Erlösungs-hoffnung, die sich im Christentum durch die Beziehung auf einen göttlichenErlöser einzustellen vermochte, konnte Wagner aus vielerlei Gründen nicht re-produzieren. Dennoch darf man in dem Rahmen, den ihm sein künstlerischerWirkungsbereich und den ihm seine Zeit gewährte, von der erlösenden Kraftseines musikalischen Dramas sprechen, die gerade im Vergleich mit den vielfachvereinzelten religiösen Wellenbewegungen des fin de siècle noch einmal als eineintensiv und extensiv beeindruckende, bis heute faszinierende, und eben auch›kraftvolle‹ Darstellung der Erlösungshoffnung zu stehen kommt.


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