+ All Categories
Home > Documents > 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Date post: 29-Jun-2015
Category:
Upload: heribert-suettmann
View: 76 times
Download: 1 times
Share this document with a friend
Description:
German Scientists figuriring out the legal Annihilation Killing of persons with malgenetic disorders in 1920
32
Home Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Von den Professoren Dr. jur. et. phil. Karl Binding (früher in Leipzig) und Dr. med. Alfred Hoche (in Freiburg) Verlag von Felix Meiner in Leipzig 1920 Karl Binding U Während des Druckes dieser Schrift ist Geh. Rat Binding abgerufen worden; das Echo, welches seine Ausführungen finden werden, antwortet der Stimme eines Toten. Ich darf bekunden, daß die Fragen, mit denen unsere Abhandlung sich be- schäftigt, dem Verstorbenen Gegenstand eines von lebhaftestem Verantwortungs- gefühl und tiefer Menschenliebe getragenen Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html 1 von 32 20.09.2010 12:01
Transcript
Page 1: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Home

Die Freigabe der Vernichtung

lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form.

Von den Professoren

Dr. jur. et. phil. Karl Binding (früher in Leipzig)

und Dr. med. Alfred Hoche (in Freiburg)

Verlag von Felix Meiner in Leipzig

1920

Karl Binding U

Während des Druckes dieser Schrift ist

Geh. Rat Binding abgerufen worden;

das Echo, welches seine Ausführungen finden

werden, antwortet der Stimme eines

Toten.

Ich darf bekunden, daß die Fragen,

mit denen unsere Abhandlung sich be-

schäftigt, dem Verstorbenen Gegenstand

eines von lebhaftestem Verantwortungs-

gefühl und tiefer Menschenliebe getragenen

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

1 von 32 20.09.2010 12:01

Page 2: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Nachdenkens gewesen sind.

Mir persönlich wird die Erinnerung

an die Stunden der gemeinsamen Arbeit

mit dem Feuerkopf voll kühlscharfen Ver-

standes immer ein wehmütig stimmender

Besitz bleiben.

Freiburg i. Br., den 10. April 1920.

Hoche.

I.

Rechtliche Ausführung

von

Professor Dr. jur. et. phil. Karl Binding.

Ich wage am Ende meines Lebens mich noch zu einer Frage zuäußern, die lange Jahre mein Denken beschäftigt hat, an der aberdie meisten scheu vorübergehen, weil sie als heikel und ihreLösung als schwierig empfunden wird, so daß nicht mit Unrechtgefragt werden konnte, es handle sich hier "um einen starren Punktin unseren moralischen und sozialen Anschauungen".

Sie geht dahin: soll die unverbotene Lebensvernichtung, wie nachheutigem Rechte - vom Notstand abgesehen -, auf die Selbsttötungdes Menschen beschränkt bleiben, oder soll sie eine gesetzlicheErweiterung auf Tötungen von Nebenmenschen erfahren und in

welchem Umfange?

Ihre Behandlung führt uns von Fallgruppe zu Fallgruppe, derenLage jeden von uns aufs tiefste erschüttert. Um so notwendiger ist

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

2 von 32 20.09.2010 12:01

Page 3: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

es, nicht am Affekt, andererseits nicht der übertriebenenBedenklichkeit das entscheidende Wort zu überlassen, sondern esauf Grund bedächtiger rechtlicher Erwägung der Gründe für undder Bedenken gegen die Bejahung der Frage zu finden. Nur aufsolch steter Grundlage kann weiter gebaut werden.

Ich lege demnach auf strenge juristische Behandlung das größteGewicht. Gerade deshalb kann den festen Ausgangspunkt für unsnur das geltende Recht bilden: wieweit ist denn heute - wieder vomNotstande abgesehen - die Tötung der Menschen freigegeben, undwas muß denn darunter verstanden werden? Den Gegensatz der"Freigabe" bildet die Anerkennung von Tötungrechten.

Diese bleiben hier vollständig außer Betracht.

Die wissenschaftliche Klarstellung des positivrechtlichenAusgangspunktes aber ist um so unumgänglicher, als er sehr häufig

falsch oder doch sehr ungenau gefaßt wird.

I. Die heutige rechtliche Natur desSelbstmordes.

Die sog. Teilnahme daran.

I. Von einer Macht, der er nicht widerstehen kann, wird Mensch fürMensch ins Dasein gehoben. Mit diesem Schicksale sichabzufinden - das ist seines Lebens Besitz. Wie er dies tut, das kanninnerhalb der engen Grenzen seiner Bewegungsfreiheit er nur selbstbestimmen. Insoweit ist er der geborene Souverän über sein Leben.

Das Recht - ohnmächtig dem Einzelnen die Tragkraft nach der ihmvom Leben auferlegten Traglast zu bestimmen - bringt diesenGedanken scharf zum Ausdruck durch Anerkennung vonjedermanns Freiheit, mit seinem Leben ein Ende zu machen. Nachlanger höchst unchristlicher Unterbietung dieser Anerkennung -von der Kirche gefordert, gestützt auf die unreine Auffassung, derGott der Liebe könnte wünschen, daß der Mensch erst nachunendlicher körperlicher und seelischer Qual stürbe, - dürfte sieheute - von ganz wenigen zurückgebliebenen Staaten abgesehen -wieder voll zurückgewonnener, für alle Zukunft unangefochtenerBesitz bleiben.

Das Naturrecht hätte Grund gehabt, von dieser Freiheit als demersten aller "Menschenrechte" zu sprechen.

II. Wie diese Freiheit aber gesehen werden muß im Rahmenunseres politischen Rechtes, dies steht noch keineswegs fest.Ebenso in falscher Terminologie, als in falschen praktischenFolgerungen spricht sich diese Unsicherheit aus. Es ist höchste Zeit,daß größte wissenschaftliche Genauigkeit die bisherige ungenaueBehandlung der einschlagenden Fragen ablöse -, daß insbesondere

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

3 von 32 20.09.2010 12:01

Page 4: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

die fundamentale rechtliche Verschiedenheit zwischen demschlecht sog. Selbstmord und der Tötung Einwilligender klarerkannt werden.

Zwei sich im tiefsten widersprechende Auffassungen vomSelbstmord gehen heute nebeneinander her - beideübereinstimmend nur darin, daß sie falsch sind, und daß sie aufdem Postulat seiner Straflosigkeit münden.

I. Nach der einen ist der Selbstmord widerrechtliche Handlung,Delikt, qualitativ dem Mord und dem Totschlag aufs engsteverwandt, weil Übertretung des Verbotes der Menschentötung.

Solche Ausdehnung der Tötungsnorm ist unserengemeinrechtlichen Quellen ganz fremd, und alle Beweise für diedeliktischen Eigenschaften des Selbstmordes versagen. Allereligiösen Gründe besitzen für das Recht aus doppeltem Grundekeine Beweiskraft. Sie beruhen hier auf ganz unwürdigerGottesauffassung, und das Recht ist durch und durch weltlich: aufRegelung des äußeren menschlichen Gemeinlebens eingestellt.Nebenbei gefragt, berührt das neue Testament das Problem mitkeinem Wort.

Die gleiche Unkraft, für die Rechtswidrigkeit des Selbsttötung zubeweisen, eignet der ebenso haltlosen als "pharisäischen" (Gaupp)Behauptung, sie sei stets eine unsittliche Handlung und so verstehesich ihre Rechtswidrigkeit von selbst.

Schon der "harte und lieblose" Name Selbstmord für die eigeneTötung ist tendenziös. Denn dem "Morde" waren stets feigeHeimlichkeit und Niedertracht wesentlich. Und nun bedenke manzunächst die große Anzahl psychisch gestörter Personen, die Handan sich legen! Außerdem gibt es altruistische Selbsttötungen geistigvöllig Gesunder, die auf der höchsten Stufe der Sittlichkeit stehen,andererseits Selbsttötungen, die bis auf den tiefsten Grad frivolerGemeinheit oder elender Feigheit herabsinken können. Ja es gibtunterlassene Selbsttötungen, die gerade wegen der Unterlassungschweren sittlichen Tadel verdienen.

Außerdem ist die sittliche Handlung als solche durchaus nicht auchrechtswidrig und die rechtmäßige durchaus nicht immer sittlich.

Der Beweis der Widerrechtlichkeit der Selbsttötung könnte nur ausdem exakten Nachweis der positivrechtlichen Tötungsnorm geführtwerden. Dafür fehlt aber das Material überall, wo die Selbsttötungnicht unter Strafe gestellt oder sonst unzweideutig als Deliktgekennzeichnet ist. Oder sie könnte sich als Folgerung aus rechtlichfeststehenden Prämissen ergeben. Solchen Nachweis versuchteFeuerbach aber in der unzulänglichsten Weise. " Wer in den Staateintritt -- der Neugeborene tritt aber doch nicht ein ! -- ,verpflichtet dem Staat seine Kräfte und handelt rechtswiedrig,wenn er ihm diese durch Selbstmord eigenmächtig raubt". Das istoffenbar eine nichtssagende petitio principä.

So fehlt für die Deliktsnatur der Selbsttötung nicht nur allesBeweismaterial, sondern es fällt auch heutzutage keinem

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

4 von 32 20.09.2010 12:01

Page 5: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Selbstmörder und keinem seiner Beurteiler auch nur von ferne ein,in der Selbsttötung eine verbotene Handlung zu erblicken und diesewirklich qualitativ auf eine Linie mit Mord und Totschlag zustellen.

Wer aber die Deliktsauffassung vertritt, der muß unter allenUmständen die sog. Teilnehmer an der Selbsttötung unter derVoraussetzung verschuldeten Handelns gleichfalls als Delinquentenbetrachten. Und aus der Straflosigkeit des Selbstmörders ist die der"Teilnehmer" dogmatisch gar nicht ohne weiteres zu folgern: dennsie handeln widerrechtlich gegen das Leben eines Dritten, stehensomit auf höherer Stufe der Strafbarkeit als der, der sich nur an sichselbst vergreift, wenn dessen Tat als Delikt betrachtet wird.

In Konsequenz der Auffassung von der Deliktseigenschaft derSelbsttötung hätten die Staatsorgane, zu deren Aufgabe dieDeliktshinderung gehört, ein Zwangsrecht zur Unterlassung derTötung gegen den Selbstmörder und seine sog. Teilnehmer,wogegen diesen Allen natürlich ein Notwehrrecht nicht zustünde.

Ganz naturrechtlich gedacht, wenn auch durchaus nicht immer vonden durch die kirchliche Auffassung stark beeinflußtenNaturrechtslehrern vertreten, ist die entgegengesetzte Auffassung:die Selbsttötung ist die Ausübung eines Tötungsrechtes. Auch siefindet in den Quellen nicht die geringste Stütze: denn dieStraflosigkeit des Selbstmordes kann als solche nicht betrachtetwerden. Es gibt straflose Delikte in Fülle.

So ist sie eine rein theoretische Konstruktion, die sich einervollständigen Verkennung des Wesens der subjektiven Rechte undder üblichen Verwechslung der Reflexwirkung von Verboten mitsolchen Rechten schuldig macht. Da die Tötung nur desNebenmenschen verboten ist, so wird gefolgert, hat jeder Menschein Recht entweder auf Leben oder am Leben oder gar über dasLeben - alle drei Auffassungen sind gleich verkehrt -, und kraftdieses Besitzrechtes darf er das Leben ebenso behaupten als vonsich wehren, besitzt er also ein Tötungsrecht an sich selbst oderwider sich selbst, ja kann dieses vielleicht gar mit Bezug auf sichselbst auf andere übertragen.

Lasse ich das ganz unmögliche Recht auf oder am oder über daseigene Leben einmal auf sich beruhen - ganz gut dagegen E. ruppS. 15 -, so ist gegen das Selbst-Tötungsrecht einzuwenden, daßHandlungsrechte nur zu Zwecken verliehen werden, welche derRechtsordnung generell als ihr konform, ihr förderlich erscheinen.Darin liegt also eine generelle Billigung der Handlung von Rechtswegen. Solche verbietet sich jedoch gegenüber der Selbsttötungunbedingt. Übt diese doch in einer nicht kleinen Zahl ihrerVorkommnisse auf dem Rechtsgebiet sehr empfindliche schädlicheWirkungen aus: etwa die Begründung weitgehender öffentlicherUnterstützungspflichten. Ja, sie kann geradezu das Mittel zurVerletzung schwerer Rechtspflichten bilden: etwa der Pflichten,keine Schulen zu bezahlen, keine Strafe zu verbüßen, angefährlicher Stelle vor dem Feinde Vorpostendienste zu leisten odereinen Angriff mitzumachen.

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

5 von 32 20.09.2010 12:01

Page 6: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Stellt man sich aber einmal auf diesen Standpunkt derAnerkennung von der Rechtmäßigkeit der Selbsttötungshandlung,so ergibt sich

a.) daß niemand ein Recht besitzen kann, den Selbstmörder anseiner rechtmäßigen Tat zu hindern;

b) daß diesem gegen jeden Hinderungsversuch ein Notwehrrechtzusteht;

c) daß, wenn man das Recht des Menschen sich selbst zu töten garals ein übertragbares betrachtet, alle sog. Teilnehmer, die mit seinerbeachtlichen Einwilligung handeln - aber allerdings nur diese -,gleichfalls rechtmäßig handeln, also gleichfalls daran vonniemandem gehindert werden dürfen und gegen jedenHinderungsversuch die Notwehr besitzen.

Alle Teilnehmer jedoch, die ohne solche Einwilligung handeln,versieren in re illicita, dürfen, ja müssen eventuell an Ausführungihrer Handlung gehindert werden, und machen sich im Schuldfallgrundsätzlich verantwortlich.

Ja, vom Standpunkt dieses übertragbaren Tötungsrechtes aus mußsogar

d) die Tötung des beachtlich Einwilligenden gleichfalls alsrechtmäßige Tötungshandlung betrachtet werden.

III. Läßt sich der Selbstmord weder als eine deliktische noch alseine rechtmäßige Handlung auffassen, so bleibt nur übrig, ihn alseine rechtlich unverbotene Handlung zu begreifen. DieseAuffassung, die freilich in recht verschiedener Formulierung mehrund mehr durchdringt, findet eine verschiedene Begründung,welche Verschiedenheit hier auf sich beruhen bleiben kann. Ichhabe mich früher darüber so ausgesprochen: dem Rechte als derOrdnung des menschlichen Gemeinschaftslebens "widerstrebe dieScheidung von Rechtssubjekt und Rechtsobjekt auf das Individuumzu übertragen und dieses einem Dualismus untertan zu machen,wonach es auch für sich selbst Güterqualität, vielleicht garSachenqualität annehmen muß, damit es Rechte an sich selbst undRechtspflichten wider sich selbst erlangen könne."

Es bleibt eben dem Rechte nichts übrig, als den lebendenMenschen als Souverän über sein Dasein und die Art desselben zubetrachten.

Daraus ergeben sich sehr wichtige Konsequenzen:

1. Diese Anerkennung gilt nur dem Lebensträger selbst. Nur seineHandlung gegen sich selbst ist unverboten.

2. Diese Anerkennung stellt keine Ausnahme vom Tötungsverbotdar; denn dieses unterfragt nur die Tötung des Nebenmenschen,

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

6 von 32 20.09.2010 12:01

Page 7: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

und daraus folgt eben das Unverbotensein der Selbsttötung.

3. Alle sog. Teilnahme am Selbstmord unterfällt der Tötungsnorm,ist also widerrechtlich, kann, ja muß unter Umständen unter Strafegenommen werden, falls es nicht, was möglich ist, an der Schuldfehlt. Das "kann" besagt: de lege ferenda, das "muß" besagt: delege lata, falls der sog. Teilnehmer Mittäter oder Urheber ist.

4. Nur die Handlung des Verstorbenen ist unverboten. Ganzohnmächtig ist er, durch seine Zustimmung auch die HandlungenDritter zu unverbotenen zu gestalten. Mit allerbestem Grundebetrachtet unser positives Recht die Tötung der Einwilligenden alsDelikt.

5. Ist ihm die Handlung unverboten, so darf ihn niemand daranhindern, wenn er genügend weiß, was er tut; gegen den Hinderndenhat er dann das Notwehrrecht; der Zwang gegen ihn, die Handlungzu unterlassen, ist rechtswidrige Nötigung.

Diese Erretter vom Selbstmord handeln meist optima fide undgehen dann straflos aus. Eine starke Stütze für ihren Standpunktbildet die Erfahrung, daß der gerettete Selbstmörder oft sehrglücklich über seine Rettung ist und den zweiten Versuch nach demmißlungenen ersten meist unterläßt.

IV. Der rechtlich und sozial schwache Punkt der Freigabe allerSelbsttötung ist der Verlust der ganzen Anzahl noch durchauslebenskräftiger Leben, deren Träger nur zu bequem oder zu feigsind, ihre durchaus tragbare Lebenslast weiter zu schleppen.

Es fällt dies für die Wertung der Schuld der sog. Teilnehmer stark indie Waagschale. Die bewußte Beihilfe zum Selbstmord desTodkranken wiegt erheblich leichter wie die zu dem der Gesunden,der sich etwa seinen Gläubigern entziehen will.

II. Keiner besonderen Freigabe bedarf diereine Bewirkung der Euthanasie in richtiger

Begrenzung.

Scheinbar und für eine rein kausale Betrachtung ganz zweifelloseine Tötung Dritter, welche bisher nach meiner Kenntnisstrafrechtlich noch nicht verfolgt worden ist, bildet dieHerbeiführung der sog. Euthanasie.

I. Der in der neueren Literatur aufgetauchte unschöne Name der"Sterbehilfe" ist zweideutig. Völlig außer Betracht muß hier dasschmerzstillende Mittel bleiben, das die wirkende Todesursache derKrankheit in ihrer Wirkung beläßt. Allein bedeutsam wird fürunsere Betrachtung die Verdrängung der schmerzhaften, vielleichtauch noch länger dauernden, in der Krankheit wurzelnden

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

7 von 32 20.09.2010 12:01

Page 8: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Todesursache durch eine schmerzlosere andere. Einem amLungenkrebs furchtbar schwer Leidenden macht der Arzt oder einanderer Hilfsreicher eine tödliche Morphiuminjektion, dieschmerzlos, vielleicht auch rascher, vielleicht aber auch erst inetwas längerer Zeit den Tod herbeiführt.

II. Um die rechtliche Natur dieser Handlung, ihre Rechtswidrigkeitoder ihr Unverbotensein - denn von einem subjektiven Recht ihrerVornahme kann unmöglich gesprochen werden - ist derselbe m. E.ganz unnötige Streit entstanden wie über die Natur des ärztlichen -richtiger des auf Heilung abzielenden - scheinbaren Eingriffs in dieGesundheit, besonders in die Körperintegrität eines anderen.

Die Lage, in welcher diese Handlung der Bewirkung vonEuthanasie vorgenommen wird, muß aber genau präzisiert werden:dem innerlich Kranken oder dem Verwundeten steht der Tod vonder Krankheit oder der Wunde, die ihn quält, sicher und zwaralsbald bevor, so daß der Zeitunterschied zwischen dem infolge derKrankheit vorauszusehenden und dem durch das untergeschobeneMittel verursachten Tode nicht in Betracht fällt. Von einerspürbaren Verringerung der Lebenszeit der Verstorbenen kann dannüberhaupt nicht oder höchstens nur von einem beschränktenPedanten gesprochen werden.

Wer also einem Paralytiker am Anfang von dessen vielleicht aufdie Dauer von Jahren zu berechnenden Krankheit auf dessen Bitteoder vielleicht sogar ohne diese die tödlicheMorphiumseinspritzung macht - bei dem kann von reinerBewirkung der Euthanasie keine Rede sein. Hier ist eine starke,auch für das Recht ins Gewicht fallende Lebensverkürzungvorgenommen worden, die ohne rechtliche Freigabe unzulässig ist.

III. In demselben Augenblick aber wird klar: die sichere Ursachequalvollen Todes war definitiv gesetzt, der baldige Tod stand insichere Aussicht. An dieser toddrohenden Lage wird nichtsgeändert, als die Vertauschung dieser vorhandenen Todesursachedurch eine andere von der gleichen Wirkung, welche dieSchmerzlosigkeit vor ihr voraus hat.l Das ist keine"Tötungshandlung im Rechtssinne", sondern nur eine Abwandelunger schon unwiderruflich gesetzten Todesursache, deren Vernichtungnicht mehr gelingen kann: es ist in Wahrheit eine reineHeilhandlung. "Die Beseitigung der Qual ist auch Heilwerk."

Als verbotene Tötung könnte solch Verhalten nur betrachtetwerden, wenn die Rechtsordnung barbarisch genug wäre zuverlangen, daß der Todkranke durchaus an seinen Qualen zugrundegehen müsse. Davon kann doch zur Zeit keine Rede mehr sein.

Es ist beschämend, daß man je daran hat denken, je danach hathandeln können!

IV. Daraus ergibt sich: es handelt sich hier gar nicht um einestatuierte Ausnahme von der Tötungsnorm, um eine rechtswidrigeTötung, falls von dieser nicht eine Ausnahme ausdrücklichanerkannt worden wäre, sondern um unverbotenes Heilwerk von

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

8 von 32 20.09.2010 12:01

Page 9: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

segensreicher Wirkung für schwer gequälte Kranke, um eineLeidverringerung für noch Lebende, solange sie noch leben, undwahrlich nicht um ihre Tötung.

So muß die Handlung als unverboten betrachtet werden, auch wenndas Gesetz ihrer gar nicht im Sinne der Anerkennung Erwähnungtut.

Und zwar kommt es dabei auf die Einwilligung des gequältenKranken gar nicht an. Natürlich darf die Handlung nicht seinemVerbot zuwider vorgenommen werden, aber in sehr vielen Fällenwerden momentan Bewußtlose Gegenstand dieses heilendenEingriffes sein müssen. Aus der Natur dieser Handlung ergibt sichauch, daß die Beihilfe zu ihr und die Bestimmung dazu seitenseines Dritten gleichfalls durchaus unverboten sind. Die irrtümlicheAnnahme der Tödlichkeit der Lage kann den zur Bewirkung derEuthanasie Verschreitenden wegen fahrlässiger Tötungverantwortlich machen.

III. Ansätze zu weiterer Freigabe.

Unsere Anfangsuntersuchung hat ergeben: unverboten ist heuteganz allein die Selbsttötung in vollstem Umfange. Von einerFreigabe der sog. Teilnahme daran ist zurzeit gar keine Rede. Dennin allen Formen ist sie deliktischer Natur. Auch durch dieEinwilligung des Selbstmörders kann sie davon nicht entkleidetwerden. Aber zufolge der verkehrten akzessorischen Behandlungder sog. Teilnahme im Gesetzbuch wird bewirkt, daß die Beihilfezum Selbstmord straflos bleiben muß, und in der vorsätzlichenBestimmung zum Selbstmord seine Anstiftung zur demselben imSinne des § 48 des GB. gefunden werden darf - einerlei ob derSelbstmörder zurechnungsfähig ist oder nicht.

Eine weitere Freigabe könnte also nur eine Freigabe der Tötung desNebenmenschen sein. Sie würde bewirken, was die Freigabe desSelbstmordes nicht bewirkt: eine echte Einschränkung desrechtlichen Tötungsverbotes.

Für eine solche ist neuerdings verschiedentlich eingetreten worden,und als Stichwort oder Schlagwort für diese Bewegung wurde derAusdruck von dem Recht auf den Tod geprägt.

Darunter ist nicht sowohl ein echtes Recht auf den Tod verstanden,sondern es soll damit nur ein rechtlich anzuerkennender Anspruchgewisser Personen auf Erlösung aus einem unerträglichen Lebenbezeichnet werden.

Diese neue Bewegung ist vorbereitet durch zwei Strömungen,deren eine, die radikalere, sich durchaus in dem Gebiet deraprioristischen wie der gesetzauslegenen Theorie, die andere,ängstlichere und zrückhaltendere, sich in dem der Gesetzgebungen

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

9 von 32 20.09.2010 12:01

Page 10: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

gebildet hat.

I. Es ist bekannt, daß die Römer die Tötung des Einwilligendenstraflos gelassen haben. Auf Grund ganz übertreibender Deutungder I. 1 § 5 D de injuriis 47, 10: quia nulla injuria est, quae invoentem fit, die sich lediglich auf das römische Privatdelikt derinjuria bezog, wurde nun wieder die ganz naturrechtliche Lehreausgebildet von der ungeheuren Macht der Einwilligung desVerletzten in die Verletzung. Diese schließe durchweg, wennüberhaupt von einem der Tragweite dieser Einwilligung Bewußtenerteilt, soweit es bei Delikten überhaupt einen Verletzten gebe, dieRechtswidrigkeit der Verletzung aus: die Handlung könne also garnicht gestraft werden, jede Verletzung des Einwilligenden,insbesondere sein Tötung, sei unverbotene Handlung.

Auf diesen Standpunkt stellten sich im vorigen Jahrhundert W. v.Humboldt (Gesamm. W. VII S. 138), Henke und Wächter, späterbesonders Ortmann, Rödenbeck, Keßler,Klee, E. Rupp. Bleiben siekonsequent, so müssen sie energische Gegner des GB. § 216werden.

II. Die Begegnung innerhalb der Gesetzgebung knüpft gleichfalls andie Einwilligung in die Verletzung an, die im Interesse ihrer klarerenErkennbarkeit und leichteren Beweisbarkeit zum Verlangen derVerletzung gesteigert wurde.

Dieses Verlangen der Tötung wird zum Strafmilderungsgrund, dieTötung auf Verlangen bleibt also echtes Verbrechen - Verbrechennatürlich nicht im Sinn des SRtGB. § 1 genommen.

Es hat damit begonnen das Preußische Landrecht T. II Tit. 20 §834. Viele deutschen Strafgesetzbücher sind ihm gefolgt, aber nichtschon das Bayrische v. 1813, sondern zuerst das Sächsische v.1838. Auch das Preußische verhielt sich ablehnend, ebenso vonseinen Nachfolgern das Oldenburgische v. 1858 und das Bayrischev. 1861, nicht aber das Lübische (f. § 145).

Es zwang diese Abweisung des Verlangens desStrafmilderungsgrundes zu dem furchtbar harten Schluß, die Tötungdes Einwilligenden der Strafe des Mordes oder des Totschlages zuunterstellen.

Diese unerträgliche Notwendigkeit hat denn auch dazu geführt, inden dritten Entwurf des Norddeutschen Strafgesetzbuchs - diebeiden ersten hatten wirklich geschwiegen! - die Tötung des denTod ausdrücklich und ernstlich Verlangenden seitens dessen an dendas Verlangen gerichtet war, als selbständiges Tötungs-"Vergehen"aufzunehmen und deshalb unter die im Mindestbetrag noch viel zuhohe Gefängnisstrafe von nicht unter 3 Jahren zu stellen. DieserVorschlag hat dann unverändert Aufnahme in das Gesetz gefunden.Es liegt dem das richtige Verständnis eines notwendiganzuerkennenden Strafmilderungsgrundes unter.

Die Tötung des Einwilligenden hat nicht nötig den Lebenswillen

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

10 von 32 20.09.2010 12:01

Page 11: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

des Opfers zu brechen, durch welche Vergewaltigung dieregelmäßige Tötung erst ihre furchtbare Schwere erlangt.

Darin liegt der Zwang, den Deliktsgehalt der Tötung desEinwilligenden zunächst als objektiv bedeutend geringer zu fassen.Damit wird auf der subjektiven Seite eine Abmilderung der Schulddann Hand in Hand gehen, wenn die Handlung aus Mitleidenverübt wird. Aber notwendig ist dies zur Strafmilderung gar nicht -weder nach theoretischem Gesichtspunkte, noch de lege lata.Indessen weiter als zur Strafmilderung führt die zum Verlangengesteigerte Einwilligung in die Tötung de lege lata nicht.

Der rechtlich schwachen Punkte dieser privilegierten Artvorsätzlicher Tötung sind drei: 1. die gesetzliche Steigerung derEinwilligung zum Verlangen oder gar zum ausdrücklichenVerlangen zwingt, die Tötung des nicht in dieser gesteigerten FormEinwilligenden auch wieder als Mord oder gewöhnlichen Totschlagzu behandeln;

2. das Gesetz unterscheidet nicht zwischen Vernichtung deslebenswerten und lebensunwerten Lebens;

3. das Gesetz erweist seine Wohltat auch dem sehr grausamTötenden. - Den zweiten dieser Mängel hat aber eine Anzahlunserer Strafgesetzbücher klar erkannt.

Fünf unserer früheren Strafgesetzbücher, zuerst dasWürttembergische v. 1839 (U. 239), kennen ein doppeltprivilegiertes Tötungsverbrechen: nämlich die Tötung aufVerlangen vollführt an "einem Todkranken oder tödlichVerwundeten".

Hier bricht klar der Gedanke durch, daß solch Leben den vollstenStrafschutz nicht mehr verdient, und daß das Verlangen seinerVernichtung rechtlich eine größere Beachtung zu finden hat, als dasVerlangen der Vernichtung robusten Lebens.

Dieser sehr gute Anfang hat jedoch im Reichsstrafgesetz keinenFortgang, dagegen in der Literatur sehr lebhafte Aufnahmegefunden!

IV. Steigerung der Privilegierungsgründe des

Tötungsdeliktes zu Gründen für die Freigabeder Tötung Dritter?

Bedenkt man, daß eine ganze Anzahl namhafter Juristen dieEinwilligung in die Tötung deren Rechtswidrigkeit überhaupt ganzaufheben lassen, somit die Tötung des Einwilligenden jedenfalls alsunverboten behandelt sehen wollen, daß andererseits in neuererZeit von edlem Mitleid mit unertragbar leidenden Menschen stark

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

11 von 32 20.09.2010 12:01

Page 12: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

bewegte und erfüllte Stimmen für Freigabe der Tötung solcher lautgewordenen sind, so muß man doch wohl behaupten: es stündezurzeit de lege ferenda doch zur Frage, ob nicht der eine oder derandere dieser beiden Strafmilderungsgründe zu einemStrafausschließungsgrund erhoben oder ob nicht mindestens beimZusammentreffen der beiden Privilegierungsgründe: Einwilligungund unterträglichen Leidens die Tötung als gerechtfertigt, willsagen als unverboten betrachtet werden solle?

Es ist nicht uninteressant zu sehen, daß die Verfasser desVorentwurfes von 1909 die Privilegierung dessen unbedingtablehnen, "der einen hoffnungslosen Kranken ohne dessenVerlangen aus Mitleiden des Lebens beraube".

Wie rückständig sind diese Gesetzgeber der Gegenwart hinter demPreußischen Landrecht geblieben, das Teil II Lit. XX § 833 für diedamalige Zeit so großherzig und zugleich juristisch so fein bestimmthat: "Wer tödlich Verwundeten, oder sonst Todkranken, invermeintlich guter Absicht, das Leben verkürzt, ist gleich einemfahrlässigen Totschläger nach § 778.779 zu betrafen." Dieangedrohte Strafe ist sehr mild: Gefängnis oder Festung "auf einenMonat bis zwei Jahre".

Über hundert Jahre sind seitdem ins Land gegangen, und solchköstliche Satzung hat für das deutsche Volk keine Frucht getragen!

Das Norwegische Strafgesetzbuch v. 22. Mai 1902 § 235 hat dieStrafbarkeit solcher Tötung der der Tötung des Einwilligendengleichgestellt. Die Motive des deutschen Entwurfs von 1909 führenaus: solche Vorschrift könne "in schlimmer Weise mißbraucht unddas Leben erkrankter Personen in erheblicher Weise gefährdetwerden", auch sei eine befriedigende Fassung dafür kaum zufinden.

I. Ich will nun für den Augenblick einmal beide Fäden abreißen, umsie später wieder anzuknüpfen, vor allem Weiteren aber dieVorfrage stellen, die gegenwärtig m. E. unbedingt gestellt werdenmuß. Die juristische, scheinbar so geschäftsmäßige Formulirungscheint auf große Herzlosigkeit zu deuten: in Wahrheit entspringtsie nur dem tiefen Mitleiden.

Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft desRechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für dieLebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verlorenhat?"

Man braucht sie nur zu stellen und ein beklommenes Gefühl regtsich in Jedem, der sich gewöhnt hat, den Wert des einzelnenLebens für den Lebensträger und für die Gesamtheitauszuschätzen. Er nimmt mit Schmerzen wahr, wieverschwenderisch wir mit dem wertvollsten, vom stärkstenLebenswillen und der größten Lebenskraft erfüllten und von ihmgetragenen Leben umgehen, und welch Maß von oft ganz nutzlosvergeudeter Arbeitskraft, Geduld, Vermögensaufwendung wir nurdarauf verwenden, um lebensunwerte Leben so lange zu erhalten,

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

12 von 32 20.09.2010 12:01

Page 13: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

bis die Natur - oft so mitleidlos spät - sie der letzten Möglichkeitder Fortdauer beraubt.

Denkt man sich gleichzeitig ein Schlachtfeld bedeckt mitLaufenden toter Jugend, oder ein Bergwerk, worin schlagendeWetter Hunderte fleißiger Arbeiter verschüttet haben, und stelltman in Gedanken unsere Idioteninstitute mit ihrer Sorgfalt für ihrelebenden Insassen daneben - und man ist auf das tiefste erschüttertvon diesem grellen Mißklang zwischen der Opferung des teuerstenGutes der Menschheit im größten Maßstabe auf der einen und dergrößten Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zubewertender Existenzen auf der anderen Seite.

Daß es lebende Menschen gibt, deren Tod für sie eine Erlösung undzugleich für die Gesellschaft und den Staat insbesondere eineBefreiung von einer Last ist, deren Tragung außer dem einen, einVorbild größerer Selbstlosigkeit zu sein, nicht den kleinsten Nutzenstiftet, läßt sich in keiner Weise bezweifeln.

Ist dem aber so - gibt es in der Tat menschliche Leben, an derenweiterer Erhaltung jedes vernünftige Interesse dauerndgeschwunden ist - dann steht die Rechtsordnung vor derverhängnisvollen Frage, ob sie den Beruf hat, für deren sozialeFortdauer tätig - insbesondere auch durch vollste Verwendung desStrafschutzes - einzutreten oder unter bestimmten Voraussetzungenihre Vernichtung freizugeben? Man kann die Frage legislatorischauch dahin stellen: ob die energische Forterhaltung solcher Lebenals Beleg für die Unangreifbarkeit des Lebens überhaupt denVorzug verdiene, oder die Zulassung seiner alle Beteiligendenerlösenden Beendigung als das kleinere Übel erscheine?

II. Über die notwendig zu gebende Antwort kann nach kühlrechnende Logik kaum ein Zweifel obwalten. Ich bin aber derfesten Überzeugung, daß die Antwort durch rechnende Vernunftallein nicht definitiv gegeben werden darf: ihr Inhalt muß durch dastiefe Gefühl für ihre Richtigkeit die Billigung erhalten. Jedeunverbotene Tötung eines Dritten muß als Erlösung mindestens fürihn empfunden werden: sonst verbietet sich ihre Freigabe vonselbst. Daraus ergibt sich aber eine Folgerung als unbedingtnotwendig: die volle Achtung des Lebenswillens aller, auch derkränksten und gequältesten und nutzlosesten Menschen.

Nach Art des den Lebenswillen seines Opfers gewaltsambrechenden Mörders und Totschlägers kann dieRechtsordnung nievorzugehen gestatten.

Selbstverständlich kann auch gegenüber dem Geistesschwachen,der sich bei seinem Leben glücklich fühlt, von Freigabe seinerTötung nie die Rede sein.

III. Die in Betracht kommenden Menschen zerfallen nun, soweitich zu sehen vermag, in zwei große Gruppen, zwischen welche sicheine Mittelgruppe einschiebt. In zwischen welche sich eineMittelgruppe einschiebt. In

1. die zufolge Krankheit oder Verwundung unrettbar Verlorenen,

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

13 von 32 20.09.2010 12:01

Page 14: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

die im vollen Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nachErlösung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennengegeben haben.

Die beiden oben erwähnten Privilegierungsgründe treffen hierzusammen. Ich denke besonders an unheilbare Krebskranke,unrettbare Phthisiker, an irgendwie und wo tödlich Verwundete.

Ganz unnötig scheint mir, daß das Verlangen nach dem Tode ausunerträglichen Schmerzen entspringt. Die schmerzloseHoffnungslosigkeit verdient das gleiche Mitleid.

Ganz gleichgültig erscheint auch, ob unter anderen Verhältnissender Kranke hätte gerettet werden können, falls diese günstigerenVerhältnisse sich eben nicht beschaffen lassen. "Unrettbar" ist alsonicht in absolutem Sinne, sondern als unrettbar in der konkretenlage zu verstehen. Wenn zwei Freunde zusammen in abgelgensterGegend eine gefährliche Bergwanderung machen, der eine schwerabstürzt und beide Beine bricht, der andere aber ihn nichtfortschaffen, auch menschliche Hilfe nicht errufen oder sonsterlangen kann, so ist eben der Zerschmetterte unrettbar verloren.Sieht er das ein und erfleht er vom Freunde den Tod, so wird dieserkaum widerstehen können und wenn er kein Schwächling ist, selbstauf die Gefahr hin in Strafe genommen zu werden, auch nichtwiderstehen wollen. Auf dem Schlachtfeld ereignen sich sicheranaloge Fälle zur Genüge. Die Menschen vom richtigen undwürdigen Handeln abzuhalten - dazu ist die Strafe nicht da unddazu soll ihre Androhung auch nicht verwendet werden!

Unbedingt notwendige Voraussetzung ist aber nicht nur dieErnstlichkeit der Einwilligung oder des Verlangens, sondern auchfür die beiden Beteiligten die richtige Erkenntnis und nicht nur diehypochondrische Annahme des unrettbaren Zustandes und die reifeAuffassung dessen, was die Aufgabe des Lebens für den den TodVerlangenden bedeutet.

Die Einwilligung des "Geschäftsunfähigen" (BGB § 104) genügtregelmäßig nicht. Aber auch eine große Zahl weiterer"Einwilligungen" wird als unbeachtlich betrachtet werden müssen.Andererseits gibt es beachtliche Einwilligungen auch vonMinderjährigen nocht unter 18 Jahren, ja auch von Wahnsinnigen.

Wenn diese Unrettbaren, denen das Leben zur unerträglichen Lastgeworden ist, nicht zur Selbsttötung verschreiten, sondern - wassehr inkonsequent sein kann, aber doch nicht selten sich ereignenmag - den Tod von dritter Hand erflehen, so liegt der Grund zudiesem inneren Widerspruch vielfach in der physischenUnmöglichkeit der Selbsttötung, etwa in zu großer Körperschwächeder Kranken, in der Unerreichbarkeit der Mittel zur Tötung,vielleicht auch darin, daß er überwacht wird oder am Versuche desSelbstmordes gehindert würde, vielfach aber auch in reinerWillensschwäche.

Ich kann nun vom rechtlichen, dem sozialen, dem sittlichen, demreligiösen Gesichtspunkt aus schlechterdings keinen Grund finden,

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

14 von 32 20.09.2010 12:01

Page 15: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

die Tötung solcher den Tod dringend verlangender Unrettbarernicht an die, von denen er verlangt wird, freizugeben: ja ich haltediese Freigabe einfach für eine Pflicht gesetzlichen Mitleids, wie essich ja doch auch in anderen Formen vielfach geltend macht. Überdie Art des Vollzugs wird später das Nötige zu sagen sein.

Wie sieht es aber mit der Rücksichtnahme auf die Gefühle,vielleicht gar auf starke Interessen der Angehörigen an derFortdauer dieses Lebens? Die Frau des Kranken, die ihnschwärmerisch liebt, klammert sich an sein Leben. Vielleicht erhälter durch Bezug seiner Pension seine Familie, und diesewiderspricht dem Gnadenakt auf das energischste.

Mit will jedoch scheinen, das Mitleid mit dem Unrettbaren mußhier unbedingt überwiegen. Seine Seelenqual ihm tragen zu helfenvermag auch von seinen Geliebten keiner. Nichts kann er für sietun; täglich verstrickt er sie in neues Leid, fällt ihnen vielleichtschwer zur Last; er muß entscheiden, ob er dies verlorene Lebennoch tragen kann. Ein Einspruchsrecht, ein Hinderungsrecht derVerwandten kann nicht anerkannt werden - immer vorausgesetzt,daß das Verlangen nach dem Tode ein beachtliches ist.

2. Die zweite Gruppe besteht aus den unheilbar Blödsinnigen -einerlei ob sie so geboren oder etwa wie die Paralytiker im letztenStadium ihres Leidens so geworden sind.

Sie haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben. So gibt esihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseitsstößt diese auf keinen Lebenwillen, der gebrochen werden müßte.Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht alsunerträglich. Für die Angehörigen wie für die Gesellschaft bilde sieeine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringsteLücke - außer vielleicht im Gefühl der Mutter oder der treuenPflegerin. Da sie großer Pflege bedürfen, geben sie Anlaß, daß einMenschenberuf entsteht, der darin aufgeht, absolut lebensunwertesLeben für Jahre und Jahrzehnte zu fristen.

Daß darin eine furchtbare Widersinnigkeit, ein Mißbrauch derLebenskraft zu ihrer unwürdigen Zwecken, enthalten ist, läßt sichnicht leugnen.

Wieder finde ich weder vom rechtlichen, noch vom sozialen, nochvom sittlichen, noch vom religiösen Standpunkt aus schlechterdingskeinen Grund, die Tötung dieser Menschen, die das furchtbareGegenbild echter Menschen bilden und fast in jedem Entsetzenerwecken,der ihnen begegnet, freizugeben - natürlich nicht anJedermann! In Zeiten höherer Sittlichkeit - der unseren ist allerHeroismus verloren gegangen - würde man diese armen Menschenwohl amtlich, von sich selbst erlösen. Wer aber schwänge sichheute in unserer Entnervtheit zum Bekenntnis dieserNotwendigkeit, also solcher Berechtigung auf?

Und so wäre heute zu fragen: wem gegenüber darf und soll dieseTötung freigegeben werden? Ich würde meinen, zunächst denAngehörigen, die ihn zu pflegen haben, und deren Leben durch das

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

15 von 32 20.09.2010 12:01

Page 16: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Dasein des Armen dauernd so schwer belastet wird, auch wenn derPflegling in eine Idiotenanstalt Aufnahme gefunden hat, dann auchihren Vormündern - falls die einen oder die anderen die Freigabebeantragen.

Den Vorstehern gerade dieser Anstalten zur Pflege der Idioten wirdsolch Antragsrecht kaum gegeben werden können. Auch würde ichmeinen, der Mutter, die trotz des Zustandes ihres Kindes sich dieLiebe zu ihm nicht hat nehmen lassen, sei ein Einspruchfreizugeben, falls sie die Pflege selbst übernimmt oder dafüraufkommt. Weitaus am besten würde der Antrag gestellt, sobaldder unheilbare Blödsinn die Feststellung gefunden hätte.

3. Ich habe von einer Mittelgruppe gesprochen und finde sie in dengeistig gesunden Persönlichkeiten, die durch irgendein Ereignis,etwa sehr schwere, zweifellos tödliche Verwundung, bewußtlosgeworden sind, und die, wenn sie aus ihrer Bewußtlosigkeit nocheinmal erwachen sollten, zu einem namenlosen Elend erwachenwürden.

Soviel ich weiß, können diese Zustände der Bewußtlosigkeit solange dauern, daß von den Voraussetzungen zufälliger Bewirkungder Euthanasie nicht mehr die Rede sein kann. Aber in den meistenFällen dieser Gruppe dürften diese doch vorhanden sein. Danngreift der Grundsatz durch, der oben s. II S. 14 - 18 entwickeltworden ist.

Bezüglich des wohl kleinen Restes ist aber zu bemerken: Auch hierfehlt - wenn auch aus ganz anderem Grunde wie bei den Idioten -die mögliche Einwilligung des Unrettbaren in die Tötung. Wirddiese jedoch eigenmächtig vorgenommen in der Überzeugung, derGetötete würde, wenn er dazu imtande gewesen wäre, seineZustimmung zur Tötung erteilt haben, so läuft der Täter bewußt eingroßes Risiko aus Mitleid mit dem Bewußtlosen, nicht um ihm dasLeben zu rauben, sondern um ihm ein furchtbares Ende zuersparen.

Ich glaube nicht, daß sich für diese Gruppe der Tötungen eineRegelbehandlung aufstellen läßt. Es werden Fälle auftauchen,worin die Tötung sachlich als durchaus gerechtfertigt erscheint; eskann sich aber auch ereignen, daß er Täter übereilt gehandelt hat inder Annahme, das Richtige zu tun. Dann wird er nie vorsätzlichrechtswidriger, wohl aber eventuell fahrlässiger Tötung schuldig.

Für die nachträglich als gerechtfertigt anerkannte Tötung solltegesetzlich die Möglichkeit eröffnet werden, sie straflos zu lassen.

Die Personen also, die für die Freigabe ihrer Tötung allein inBetracht kommen, sind stets nur die unrettbar Kranken, und zu derUnrettbarkeit gesellt sich stets das Verlangen des Todes oder dieEinwilligung, oder sie würde sich dazu gesellen, wenn der Krankenicht in dem kritischen Zeitpunkt der Bewußtlosigkeit verfallenwäre oder wenn der Kranke je zum Bewußtsein seines Zustandeshätte gelangen können.

Wie schon oben ausgeführt, ist jede Freigabe der Tötung mit

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

16 von 32 20.09.2010 12:01

Page 17: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Brechnung des Lebenswillens des zu Tötenden oder des Getötetenausgeschlossen.

Ebenso ausgeschlossen ist die Freigabe der Tötung an Jedermann -ich will einmal den furchtbaren Ausdruck einer prosciptio bonamente gebrauchen.

Wie die Selbsttötung nur einer einzigen Person freigegeben ist, sokann die Tötung Unrettbarer nur solchen freigegeben werden, diesie nach Lage der Dinge zu retten berufen wären, deren Mitleidstatdeshalb das Verständnis aller richtig empfundenen Menschenfinden wird.

Den Kreis dieser Personen gesetzlich bestimmt zu umgrenzen, istuntunlich. Ob der Antragsteller und der Vollstrecker der Freigabeim einzelnen Falle dazu gehörten, kann nur für jeden Einzelfallfestgestellt werden.

Die Angehörigen werden vielfach, aber keineswegs immer dazugehören. Der Haß kann auch die Maske des Mitleides annehmenund Kain erschlug seinen Bruder Abel.

V. Die Entscheidung über die Freigabe.

Es wäre möglich, daß diese Vorschläge der Erweiterung desGebietes unverbotener Tötung seis ganz, seis wenigstens in ihremersten Teile theoretische Billigung fänden, daß aber ihre praktischeUndurchführbarkeit gegen sie ins Feld geführt würde.

Mit gutem Grunde könnte gesagt werden: Voraussetzung derFreigabe bildet immer der pathologische Zustand dauerndertödlicher Krankheit oder unrettbares Idiotentum. Dieser Zustandbedarf objektiver sachverständiger Feststellung, die dochunmöglich in die Hand des Täters gelegt werden kann. Wäre dochsehr leicht denkbar, daß irgendwer an dem frühzeitigerenHinscheiden des Kranken ein großes, vielleicht garvermögensrechtliches Interesse hätte, und den behandelnden Arztzum tödlichen Eingreifen erfolgreich zu bestimmten suchte, oderdaß dieser von sich aus beschlösse, auf ungenügende Dialoge hindas Schicksal zu spielen.

Vergegenwärtigt man sich nun die einschlagenden Fälle (oben s. III,IV 1 - 3) in ihrer Verschiedenheit, so zeigt sich ein großerUnterschied, je nachdem der tödliche Eingriff sich akut notwendigmacht, ober genügende Zeit für die Vorprüfung seinerVoraussetzungen gelassen ist. In der zweiten Gruppe (s. III, IV 2unheilbarer Blödsinn) wird diese Zeit stets gegeben sein, in derdritten, bei länger dauernder Bewußtlosigkeit wohl auchmanchesmal, in der ersten in einer größeren Anzahl der Fälle - obder überwiegend größeren, bleibt zweifelhaft. Man wird dieForderung aufstellen müssen, daß wenn es angängig ist, diese

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

17 von 32 20.09.2010 12:01

Page 18: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

nötige Zeit sorgfältiger Vorprüfung ausgespart, daß aber auch dieseVorprüfung in möglichst beschleunigtem Verfahren erledigt, und derBeschluß sofort gefaßt wird.

Das Verfahren mit obligatorischer Vorprüfung muß, soweit möglich,als das ausnahmelose betrachtet werden.

Fragen wir zunächst, wie es zweckmäßig einzurichten wäre, unddann, was mit den armen Unrettbaren und mit denen wird, derenMitleid sie erlösen möchte, wenn die Möglichkeit amtlicherVorprüfung nicht gegeben ist?

1. Die Freigabe durch eine Staatsbehörde.

Da der Staat von heute nie die Initiative zu solchen Tötungenergreifen kann, so wird die Initiative

1. in der Form des Antrags auf Freigabe bestimmtenAntragsberechtigten zu überweisen sein. Das kann in der erstenGruppe der tödlich Kranke selbst sein, oder sein Arzt, oder jederandere, den er mit der Antragstellung betraut hat, insbesondereEiner seiner nächsten Verwandten.

2. Dieser Antrag geht an eine Staatsbehörde. Ihre erste Aufgabebesteht ganz allein in der Feststellung der Voraussetzungen zurFreigabe: das sind die Feststellung unrettbarer Krankheit oderunheilbaren Blödsinns und eventuell die der Fähigkeit des Krankenzu beachtlicher Einwilligung in den Fällen der ersten Gruppe.

Daraus dürfte sich ihre Besetzung ergeben: ein Arzt für körperlicheKrankheiten, ein Psychiater oder ein zweiter Arzt, der mit denGeisteskrankheiten vertraut ist, und ein Jurist, der zum Rechtenschaut. Diese hätten allein Stimmrecht. Zweckmäßig wäre, diesenFreigebungsausschuß mit einem Vorsitzenden zu versehen, der dieVerhandlungen leitet, aber kein Stimmrecht besitzt. Denn würdeeine jener drei Persönlichkeiten mit dem Vorsitz betraut, so würdesie im Kollegium mächtiger als die beiden anderen, und das wärenicht wünschenswert. Zur Freigabe dürfte Einstimmigkeit zuerfordern sein. Der Antragsteller und der behandelnde Arzt desKranken dürften als Mitglieder dem Ausschusse nicht angehören.

Dieser Behörde müßte das Recht des Augenscheins und derZeugenvernehmung erteilt werden.

3. Der Beschluß selbst dürfte nur aussprechen, daß nachvorgenommener Prüfung des Zustandes des Kranken er nach denjetzigen Anschauungen der Wissenschaft alsunheilbar erscheint,eventuell daß kein Grund zum Zweifel an der Beachtlichkeit seinerEinwilligung vorliegt, daß demgemäß der Tötung des Kranken keinhindernder Grund im Wege steht, und dem Antragstelleranheimgegeben wird, in sachgemäßer Weise die Erlösung desKranken von seinem Übel in die Wege zu leiten.

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

18 von 32 20.09.2010 12:01

Page 19: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Niemandem darf ein Recht zur Tötung, noch viel wenigerjemandem eine Pflicht zur Tötung eingeräumt werden - auch demAntragsteller nicht. Die Ausführungstat muß Ausfluß freienMitleids mit dem Kranken sein. Der Kranke, der seine Einwilligungauf das Feierlichste erklärt hat, kann sie natürlich jeden Augenblickzurücknehmen, und dadurch die Voraussetzung der Freigabe unddamit sie selbst nachträglich umstürzen.

Es dürfte sich empfehlen, im Anschluß an den Befund desEinzelfalles das in diesem Falle geeignete Mittel der Euthanasie zubezeichnen. Denn unbedingt schmerzlos muß die Erlösungerfolgen, und nur ein Sachverständiger wäre zur Anwendung desMittels berechtigt.

4. Über den Vollzugsakt wäre dem Freigebungsausschuß einsorgfältiges Protokoll zuzustellen.

2. Eigenmächtige Tötung eines Unheilbaren unter Annahmeder Voraussetzungen freizugebender Tötung.

Dieser ordnungsgemäße Weg ist aber nicht immer gangbar.Vielleicht läßt sich seine Vertretung nicht einmal denken. Vielleichtkönnte auch die Zeit, die er selbst bei größter Beschleunigungkosten würde, den Unheilbaren unerträglichen Qualen aussetzen.

Dann steht man vor der Alternative: entweder mutet man wegenpraktischer Schwierigkeiten dem Unrettbaren mitleidlos dieFortdauer seiner Qualen bis zum Ende und seinen Angehörigenoder seinem Arzte trotz ihres Mitleids volle Passivität zu, oder manuntersagt diesen "Beteiligten" nicht, das Risiko zu laufen, sich überdie Voraussetzungen unverbotener Tötung selbst zu vergewissernund auf Befund nach bestem Gewissen zu handeln.

Ich zögere nicht einen Augenblick, mich für die zweite Alternativeauszusprechen.

Tötet dann jemand einen Unheilbaren, um ihn zu erlösen - seis mitseiner Einwilligung, seis in der Annahme, der Kranke würde siezweifellos erteilen und sei daran nur durch seine Bewußtlosigkeitgehindert, - so müßte m. E. für solchen Täter und seine Gehilfengesetzlich die Möglichkeit, sie straflos zu lassen, vorgesehen sein,und sie würden straflos zu bleiben haben, wenn sich dieVoraussetzungen der Freigabe nachträglich als vorhanden gewesenergeben würden.

Dem Täter würde für solche Fälle eine "Verklarungspflicht"aufzuerlegen sein, d. h. eine Pflicht, von seiner Tat sofort nach ihrerBegehung bei dem Freigabeausschuß Anzeige zu machen.

Anderenfalls hätte eventuell angemessene Strafe wegenfahrlässiger Tötung Platz zu greifen, wie sie ja schon das

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

19 von 32 20.09.2010 12:01

Page 20: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Preußische Landrecht angeordnet hat: der Täter hat ja dieVoraussetzungen seiner unverbotenen Tötung zu Unrecht alsvorhanden angenommen. Von echtem Lebensvernichtungsvorsatzist bei ihm nicht zu sprechen.

So gäbe es nach unseren Vorschlägen zwei neue Artenunverbotener Tötungen Dritter: den Vollzug der ausdrücklichfreigegebenen Tötung und die eigenmächtige Tötung unter richtigerAnnahme der Voraussetzungen der Freigabe im konkreten Falldurch einen Antragsberechtigten.

VI. Das Bedenken der möglicherweiseirrtümlichen Freigabe.

Bei der zweiten Art trägt der Täter das Risiko des Irrtums undverfällt bei unverzeihlichem Irrtum sogar der Strafe.

Ganz besonders schwer würde aber in weiten Volksstreifen eineTötung auf Grund irrtümlicher amtlicher Freigabe empfundenwerden. Gerade deshalb wird unseren Vorschlägen unausbleiblichder Einwand entgegengehalten werden, die Diagnose derUnheilbarkeit sei unsicher, und so könnte die amtliche Freigabeauch erfolgen zuungunsten eines Menschen, den ein "Wunder"oder die Kunst der Ärzte doch vielleicht schließlich noch hätteretten können. Solcher Vorgang sei aber im höchsten Maßeanstößig.

Die Möglichkeit des Irrtums bei der Freigabebehörde ist trotz dergeforderten Einstimmigkeit unleugbar. Nur bei den dauerndenIdioten dürfte er fast ausgeschlossen sein. Aber Irrtum ist bei allenmenschlichen Handlungen möglich, und niemand wird die törichteFolgerung ziehen, daß alle nützlichen und heilsamen Handlungen inAnbetracht dieses möglichen Defekts zu unterbleiben hätten. Aucher Arzt außerhalb der Behörde unterliegt dem Irrtum, der sehr übleFolgen verursachen kann, und niemand wird ihn wegen seinerFähigkeit zu irren ausschalten wollen.

Das Gute und das Vernünftige müssen geschehen trotz allenIrrtumsrisikos.

Während nun bei Laufenden von Fällen irrigen Handelns derBeweis des Irrtums nachher bis zur Evidenz zu erbringen ist, dürfteder Beweis für den angeblichen Irrtum der Freigabebehörde nursehr schwer zu beschaffen und kaum über den Grad einerMöglichkeit der Annahme des Überlebens zu steigern sein.

Nimmt man aber auch den Irrtum einmals als bewiesen an, so zähltdie Menschheit jetzt ein Leben weniger. Dies Leben hätte vielleichtnach glücklicher Überwindung der Katastrophe noch sehr kostbarwerden können: meist aber wird es kaum über den mittleren Wertbesessen haben. Für die Angehörigen wiegt natürlich der Verlust

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

20 von 32 20.09.2010 12:01

Page 21: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

sehr schwer. Aber die Menschheit verliert infolge Irrtums so vieleAngehörige, daß einer mehr oder weniger wirklich kaum in dieWaagschale fällt.

Und wäre denn imer für den aus schwerer Krankheit Geretteten dieErhaltung ein Segen gewesen? Vielleicht würde er an den Folgender schweren Erkrankung doch noch viel gelitten haben; vielleichthätte ihn schweres Schicksal später geschlagen; vielleicht hätte ereinen sehr schweren Tod gehabt: jetzt ist er - allerdings vorzeitig -aber sanft entschlafen.

Sein erhaltbar gewesener Lebensrest darf als ein nichtübertriebener Kaufpreis für die Erlösung so vieler Unrettbaren vonihren Leiden betrachtet werden.

In seiner so wertvollen Abhandlung über den Selbstmord berichtetGaupp (S. 24) von einem Katatoniker, der sich elf Kugeln in denKörper geschossen habe, von denen eine ins Gehirn, vier andere imSchädel geblieben sind.

"Nach langem Krankenlager genas er von seinen Verletzungen, umweiterhin in einen tiefen stupor zu verfallen, aus dem er blödeerwachte."

Ein furchtbares Zeugnis unserer Zeit! Mit Aufwand unendlicherZeit und Geduld und Sorge bemühen wir uns um die Erhaltung vonLeben negativen Wertes, auf dessen Erlöschen jeder Vernünftigehoffen muß. Unser Mitleiden steigert sich über sein richtiges Maßhinaus bis zur Grausamkeit. Dem Unheilbaren, der den Tod ersehnt,nicht die Erlösung durch sanften Tod zu gönnen, das ist keinMitleid mehr, sondern sein Gegenteil.

Auch bei allen anderen Handlungen des Mitleids ist der Irrtum undvielleicht auch ein übles Ende möglich. Wer aber möchte dieAnwendung dieses schönsten Zuges menschlicher Natur durch denHinweis auf solchen Irrtum beschränkt sehen?

II.

Ärztliche Bemerkungen

von

Professor Dr. U. Hoche, Freiburg i. Br.

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

21 von 32 20.09.2010 12:01

Page 22: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Die von den vorausgehenden rechtlichen Ausführungenbesprochenen Punkte bedürfen nicht alle in gleichem Maße einerBeleuchtung vom ärztlichen Standpunkte aus. Die Frage derrechtlichen Natur des Selbstmordes und der Rechtslage bei derTötung der Einwilligenden soll uns nicht länger beschäftigen; allesandere aber geht uns Ärzte sehr viel an, durch deren Köpfeberufsmäßig die ganze Gedankenreihe strafbarer oder strafloserEingriffe in fremdes Leben hindurchläuft. Das Verhältnis desArztes zum Töten im allgemeinen und bedarf daher einerbesonderen Erörterung.

Jeder Mensch ist bekanntlich unter gesetzlich näher bestimmtenUmständen zu straflosen Eingriffen in fremde körperliche Existenzberechtigt (Notwehr, Notstand); beim Arzte wird das Verhältniszum fremden Leben in negativer Hinsicht zwar durch das Gesetzbestimmt; tatsächlich ist aber sein Handeln auf diesem Gebiete einAusfluß seiner besonderen ärztlichen Sittenlehre. Es kommt derAllgemeinheit für gewöhnlich kaum zum Bewußtsein, daß dieseärztliche Sittenlehre nirgends fixiert ist. Es gibt wohl einzelneBücher darüber, die aber den meisten Ärzten unbekannt sind undreine Privatleistungen ihrer Verfasser darstellen, aber es gibt kein inParagraphen lebendes ärztliches Sittengesetz, keine "moralischeDienstanweisung"

Der junge Arzt geht ohne jede gesetzliche Umschreibung seinerRechte und Pflichten gerade in bezug auf die eingreifenden Punktein seine Praxis hinaus. Nicht einmal der Doktoreid der früherenZeit mit einigen allgemeinen Bindungen ist mehr vorhanden. Wasder Novize an Anweisung mitbringt, ist das Beispiel seiner Lehrerauf der Universität, die gelegentlichen Erörterungen, die sich anden Einzelfall anschlossen, das Lernen in seiner Assistentenzeit,der Einfluß der allgemeinen ärztlichen Anschauungen in derLiterautr und eigene Schlußfolgerungen, die sich für ihn aus derEigenart seiner Aufgabe ergeben. In gewissen Richtungen, abergerade nicht in den entscheidenen, besteht eine Festlegung durchGewerbeordnung, Verträge mit Krankenkassen u. dgl.; in einigerEntfernung sieht der Arzt einige Paragraphen desStrafgesetzbuches und die Aufsicht der Standesgenossen durch dasärztliche Ehrengericht. In allen diesen Punkten handelt es sich fürden Arzt aber meist um eine negative Bindung in bezug auf das,was er nicht darf, nicht um positive Anweisungen. Was er darf undsoll, ergibt sich als Ausfluß der Standesanschauungen, deren eineVoraussetzung unter allen Umständen die ist, daß der Arztverpflichtet ist, nach allgemeinen sittlichen Normen zu handeln;dazu kommt als Standespflicht die Aufgabe, Kranke zu heilen,Schmerzen zu beseitigen oder zu lindern, Leben zu erhalten undsoviel wie möglich, zu verlängern.

Diese allgemeine Regel ist nicht ohne Ausnahme. Der Arzt istpraktisch genötigt, Leben zu vernichten (Tötung des lebenden

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

22 von 32 20.09.2010 12:01

Page 23: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Kindes bei der Geburt im Interesse der Erhaltung der Mutter,Unterbrechung der Schwangerschaft aus gleichen Gründen). DieseEingriffe sind nirgends ausdrücklich erblaubt; sie bleiben nurstraflos von dem Gesichtspunkte aus, daß sie im Interesse derSicherung eines höheren Rechtsgutes erfolgen und unter denVoraussetzungen, daß ihnen pflichtmäßige Erwägungenvorausgegangen sind, daß bei der Ausführung die Kunstregelnbeachtet wurden, und daß die notwendige Verständigung mit demPatienten oder seinem gesetzlichen Vertreter oder den Angehörigenstattgefunden hat.

Auch die Akte der Körperverletzung, wie sie der Chirurgberufsmäßig und spezialistisch vornimmt, sind nirgendsausdrücklich erlaubt. Sie bleiben nur straflos, wenn in bezug aufPrüfung der Notwendigkeit und Sorgfalt der Ausführung dieKunstregeln beachtet wurden. Dabei wird bei allen operativenEingriffen stillschweigend auf einen gewissen Prozentsatz vontödlichen Ausgängen gerechnet, deren Herabdrückung auf dasMindestmaß das heißeste Bemühungen der ärztlichen Kunst ist, dieaber niemals ganz ausbleiben können, wiederum also Fälle, indenen infolge ärztlicher Einwirkung Menschenleben vernichtetwerden. Unser sittliches Gefühl hat sich hiermit völlig abgefunden.Das höhere Rechtsgut der Wiederherstellung einer Mehrzahl machtdas Opfer einer Minderzahl notwendig, wobei im Einzelfalle dieSicherung in der Notwendigkeit der vorausgehenden Beschaffungder Einwilligung des Kranken oder seines gesetzlichen Vertreters imEingriff gegeben ist, deren Voraussetzung in der Regel ist, daß ihmder Arzt nach bestem Wissen den Grad der Wahrscheinlichkeit derWiederherstellung und auch der Lebensgefährdungauseinandergesetzt hat.

Auch außerhalb der oben genannten Arten von Fragen steht derArzt häufig vor dem Problem eines Eingreifens in das Leben insittlich zweifelhafter Situation.

Von Angehörigen wird in Fällen unheilbarer Krankheit oderunheilbarer gesitiger Defektzustände nicht so selten der Wunschgeäußert, "daß es bald zu Ende sein möchte".

Vor kurzem erst haben mich Angehörige einer in schwererBewußtlosigkeit liegenden Selbstmörderin, die das "schwarzeSchaf" der Familie war, ersucht, doch ja nichts zur Wiederbelebungzu tun. Es kommt auch vor, daß die Familie im Affekt sich dazuversteigt, dem Arzte Vorwürfe zu machen, wenn der die aktiveVerkürzung eines verlorenen evtl. schmerzensreichen Lebensablehnt. Trotzdem ist von diesen gefühlsmäßigen Anwandlungenbis zu dem Entschlusse zur Tötung oder auch nur zu ausdrücklicherEinwilligung von seiten der Familie ein großer Schritt; wie dieMenschen nun einmal sind, würde der Arzt, der heute selbst aufdringenden Wunsch der Angehörigen ein Leben verkürzte, inkeiner Weise später vor den heftigen Vorwürfen oder auch voreiner Strafanzeige sicher sein.

Der Arzt kann gelegentlich auch in die Versuchung kommen, unterganz bestimmten Umständen aus wissenschaftlichem Interesse in

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

23 von 32 20.09.2010 12:01

Page 24: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

ein Menschenleben einzugreifen. Ich entsinne mich einer solchenVersuchung, die ich schließlich siegreich bestanden habe, ausmeiner ersten Assistentenzeit. Ein Kind mit einer seltenen undwissenschaftliche interessanten Hirnerkrankung lag im Sterben, undder Zustand war so, daß mit Sicherheit im Laufe der nächsten 24Stunden das Ende zu erwarten war. Wenn das Kind imKrankenhause starb, waren wir in der Lage, durch die Autopsie denerwünschten Einblick in den Befund zu erhalten. Nun erschien derVater mit dem dringenden Verlangen, das Kind mit nach Hause zunehmen; damit ging uns die Möglichkeit der Sektion verloren, dieuns sicher war, wenn der Tod vor der Abholung eintrat. Es wäre einLeichtes gewesen und hätte in keiner Weise festgestellt werdenkönnen, wenn ich damals durch eine Morphimeinspritzung den sowie so mit absoluter Sicherheit nahen Tod um einige Stundenverfrüht hätte. Ich habe schließlich doch nichts getan, weil meinpersönlicher Wunsch nach wissenschaftlicher Erkenntnis mir keingenügend schwerwiegendes Rechtsgut sein durfte gegenüber derärztlichen Pflicht, keine Lebensverkürzung vorzunehmen.

Wie man sich in einem solchen Falle zu entscheiden hätte, wennetwa bei den geschilderten Umständen der Gewinn einereinschneidenden Einsicht mit der Wirkung späterer Rettungzahlreicher Menschenleben zu erwarten gewesen wäre, das wäreeine neue Frage, die von einem höheren Standpunkte aus mit Ja zubeantworten wäre.

In anderer Form streift das innere Dilemma den Arzt nicht soselten, wenn er vor der Frage steht, ob er durch passivesGeschehenlassen, durch Unterlassen der entsprechenden Eingriffe,dem Tode freie Bahn öffnen soll in Fällen, in denen Krankefreiwillig das Leben zu verlassen wünschen und sich selbst inirgendeiner Form, auf dem Wege des Selbsttötungsversuches, ineinen schwer gefährdeten Zustand versetzt haben.

Die Versuchung, in solchen Fällen dem Schicksal seinen Lauf zulassen, ist dann besonders groß, wenn es sich etwa um unheilbareGeisteskranke handelt, bei denen der Tod das in jedem FalleVorzuziehende ist.

(Selbstverständlich kann diese ganze Fragestellung dann nichtauftauchen, wenn es sich bei dem Kranken, wie etwa bei einereinfachen heilbaren Depression, um einen vorübergehendenSchätzungsirrtum in der Bewertung der zum Tode drängendenMotive gehandelt hat.)

Die kurze Aufzählung dieser Fälle, bei denen ich insgesamt auseigener Erfahrung sprechen kann, zeigt, wie ungeheuer kompliziertschon im täglichen Leben sich für den Arzt die Abwägungzwischen den starren Grundsätzen der ärztlichen Norm und denForderungen einer höheren Auffassung der Lebenswerte gestaltenkann. Der Arzt hat kein absolutes, sondern nur ein relatives, unterneuen Umständen veränderliches, neu zu prüfendes Verhältnis zuder grundsätzlich anzuerkennenden Aufgabe der Erhaltungfremden Lebens unter allen Umständen. Die ärztliche Sittenlehre istnicht als ein ewig gleichbleibendes Gebilde anzusehen. Die

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

24 von 32 20.09.2010 12:01

Page 25: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

historische Entwicklung zeigt uns in dieser Hinsicht genügenddeutliche Wandlungen. Von dem Augenblicke an, in dem z. B. dieTötung Unheilbarer oder die Beseitigung geistig Toter nicht nur alsnicht strafbar, sondern als ein für die allgemeine Wohlfahrtwünschenswertes Ziel erkannt und allgemein anerkannt wäre,würden in der ärztlichen Sittenlehre jedenfalls keineausschließenden Gegengründe zu finden sein.

Die Ärzte würden es z. B. zweifellos als eine Entlastung ihresGewissens empfinden, wenn sie in ihrem Handeln an denSterbebetten nicht mehr von dem kategorischen Gebote derunbedingten Lebensverlängerung eingeengt und bedrückt würden,ein Gebot, zu dem ich mich auch - de lege lata - in meiner oben (S.35) zitierten Äußerung bekannt habe; ich würde gern jenen Satzdarin abändern dürfen: "es war früher eine unerläßlicheForderung..." Tatsächlich bedeuten die von Ärzten (oder auf ihreAnweisung vom Pflegepersonal und von den Angehörigen)vorgenommenen lebensverlängernden Eingriffe an Sterbenden fürdenjenigen, dem sie gelten und für den sie ein Gut darstellen sollen,vielfach ein Übel, eine Belästigung, eine Quälerei, in gleicher Weisewie für den gesunden, müden Einschlafenden die Störung durchimmer wiederkehrende Weckreize; es liegt ihnen bei Laien in derweit überwiegenden Mehrzahl der Fälle eine falsche Vorstellungvon dem inneren Zustande des Sterbenden zugrunde, dessenBewußtsein entweder in heilsamer Weise verdunkelt ist, oder dernach langer Zermürbung durch Schmerzen und sonstiges Ungemachseiner Krankheit nur noch den Wunsch nach Ruhe und Schlafenhat und es sicherlich niemandem Dank weiß, der sein immertieferes Versinken in die Bewußtlosigkeit hindert und aufhält; er istja gar nicht mehr imstande, die gute Absicht hinter den störendenPflegeeingriffen zu erkennen.

Das an sich anzuerkennende Prinzip der ärztlichen Pflicht zumöglichster Lebensverlängerung wird, auf die Spitze getrieben,zum Unsinn; "Wohltat wird zur Plage". Den Hauptgegenstandmeiner ärztlichen Stellungnahme zu den rechtlichen Ausführungensoll die Beantwortung der oben Seite 28 formulierten Frage bilden:"Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft desRechtsguts eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für dieLebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verlorenhat?"

Diese Frage ist im allgemeinen zunächst mit Bestimmtheit zubejahen; im einzelnen ist dazu folgendes zu sagen. Die imjuristischen Teile vollzogene Aufstellung der zwei Gruppen vonhierhergehörigen Fällen entspricht den tatsächlichen Verhältnissen;der gemeinsame Gesichtspunkt des nicht mehr vorhandenenLebenswertes faßt aber sehr Verschiedenartiges zusammen; bei derersten Gruppe fder durch Krankheit oder Verwundung unrettbarVerlorenen wird nicht immer der subjektive und der objektiveLebenswert gleichmäßig aufgehoben sein, während bei der zweiten,auch zahlenmäßig größeren Gruppe der unheilbar Blödsinnigen, dieFortdauer des Lebens weder für die Gesellschaft noch für dieLebensträger selbst irgendwelchen Wert besitzt.

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

25 von 32 20.09.2010 12:01

Page 26: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Zustände endgültigen unheilbaren Blödsinns oder wie wir infreundlicherer Formulierung sagen wollen: Zustände geistigenTodes sind für den Arzt, insbesondere für den Irrenarzt undNervenarzt etwas recht Häufiges.

Man trennt sie zweckmäßigerweise in zwei große Gruppen:

1. in diejenigen Fälle, bei denen der geistige Tod im späterenVerlaufe des Lebens nach vorausgehenden Zeiten geistigerVollwertigkeit, oder wenigstens Durchschnittlichkeit erworbenwird;

2. in diejenigen, die auf Grund angeborener oder in frühesterKindheit einsetzender Gehirnveränderungen entstehen.

Für die nicht ärztlichen Leser sei erwähnt, daß in der ersten GruppeZustände geistigen Todes erreicht werden: bei denGreisenveränderungen des Gehirns, dann bei der sogenanntenHirnerweichung der Laien, der Dementia paralytica, weiter aufGund arteriosklerotischer Veränderungen im Gehirn und endlich beider großen Gruppe der jugendlichen Verblödungsprozesse(Dementia praecox), von denen aber nur ein gewisser Prozentsatzdie höchsten Grade geistiger Verblödung erreicht.

Bei der zweiten Gruppe handelt es sich entweder um grobeMißbildungen des Gehirns, Fehlen einzelner Teile (in größeremoder geringerem Umfange), um Hemmungen der Entwicklungwährend der Eristenz im Mutterleib, die auch in die erstenLebensjahre hinein weiter wirken knnen, oder umKrankheitsvorgänge der ersten Lebenszeit, die bei einem an sichnormal angelegten Hirnorgan die Entwicklung sistieren; (häufigsind damit epileptische Anfälle oder andere motorischeReizerscheinungen verbunden).

Die beiden Gruppen können gleichhohe Grade der geistigen Odevorhanden sein. Für unsere Zwecke aber ist doch ein Unterschiedzu beachten, ein Unterschied in dem Zustande des geistigenInventars, der vergleichsweise derselbe ist, wie zwischen einemregellos herumliegenden Haufen von Steinen, an die noch keinebildende Hand gerührt hat, und den Steintrümmern eineszusammengestürzten Gebäudes. Der Sachverständige vermag in derRegel, auch ohne Kenntnis der Vorgeschichte eines geistig totenMenschen und ohne körperliche Untersuchung aus der Art desgeistigen Defektbildes die Unterscheidung der früh und der späterworbenen Zustände zu machen.

Auch in den Beziehungen der zwei verschiedenen Arten geistigToter zur Umwelt ist ein wesentlicher Unterschied für unsereBetrachtung vorhanden. Bei den ganz früh erworbenen hat niemalsein geistiger Rapport mit der Umgebung bestanden; bei den späterworbenen ist dies vielleicht im rechten Maße der Fall gewesen.Die Umgebung, die Angehörigen und Freunde haben deswegen zudiesen letzteren subjektiv ein ganz anderes Verhältnis; geistig Totedieser Art können einen ganz anderen "Affektionswert" erworbenhaben; ihnen gegenüber bestehen Gefühle der Pietät, der

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

26 von 32 20.09.2010 12:01

Page 27: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Dankbarkeit; zahlreiche, vielleicht stark gefühlsbetonteErinnerungen verknüpfen sich mit ihrem Bilde, und alles diesesgeschieht auch dann noch, wenn die Empfindungen der gesundenUmgebung bei dem Kranken keinerlei Widerhall mehr finden.

Aus diesem Grunde wird für die Frage der etwaigen Vernichtungnicht lebenswerter Leben aus der Reihe der geistig Toten, jenachdem sie der einen oder anderen Kategorie angehören, einverschiedener Maßstab anzuwenden sein.

Auch in Bezug auf die wirtschaftliche und moralische Belastungder Umgebung, der Anstalten, des Staates usw. bedeuten die geistigToten keineswegs immer das gleiche. Die geringste Belastung indieser Richtung wird durch die Fälle von Hirnerweichung der einenoder anderen Art gegeben, die von dem Momente an, in welchemvon geistigem völligem Tode gesprochen werden kann, in der Regelnur noch eine Lebensspanne von wenigen Jahren (höchstens) vorsich haben. Einen ein wenig weiteren Spielraum finden wir bei denFällen von Greisenblödsinn. Die durch jugendlichen Prozessegeistig Verödeten können unter Umständen in diesem Zustandenoch 20 oder 30 Jahre leben, während bei den Fällen vonVollidiotie auf Grund allerfrühester Veränderungen eineLebensdauer und damit die Notwendigkeit fermder Führsorge vonzwei Menschenaltern und darüber erwachsen kann.

In wirtschaftlicher Beziehung würden also diese Vollidioten, ebensowie sie auch am ehesten alle Vorraussetzungen des vollständigengeistigen Todes erfüllen, gleichzeitig diejenigen sein, deren Existensam schwersten auf der Allgemeinheit lastet.

Diese Belastung ist zum Teil finanzieller Art und berechnbar anHand der Aufstellung der Jahresbilanzen der Anstalten. Ich habe esmir angelegen sein lassen, durch eine Rundfrage bei sämtlichendeutschen in Frage kommenden Anstalten mir hierüberbrauchbares Material zu verschaffen. Es ergibt sich daraus, daß derdurchschnittliche Aufwand pro Kopf und Jahr für die Pflege derIdioten bisher 1300 M. betrug. Wenn wir die Zahl der inDeutschland zurzeit gleichzeitig vorhandenen, in Anstaltspflegebefindlichen Idioten zusammenrechnen, so kommen wirschätzungsweise etwa auf eine Gesamtzahl von 20 - 30 000.Nehmen wir für den Einzelfall eine durchschnittliche Lebensdauervon 50 Jahren an, so ist leicht zu ermessen, welches ungeheureKapital in Form von Nahrungsmitteln, Kleidung und Heizung, demNationalvermögen für einen unproduktiven Zweck entzogen wird.

Dabei ist hiermit noch keineswegs die wirkliche Belastungausgedrückt.

Die Anstalten, die der Idiotenpflege dienen, werden anderenZwecken entzogen; soweit es sich um Privatanstalten handelt, mußdie Verzinsung berechnet werden; ein Pflegepersonal von vielentausend Köpfenwird für diese gänzlich unfruchtbare Aufgabefestgelegt und fördernder Arbeit entzogen; es ist eine peinlicheVorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesenleeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

27 von 32 20.09.2010 12:01

Page 28: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Jahre und älter werden.

Die Frage , ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzennotwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei,war in den verflossenen Zeiten des Wohlstandes nicht dringend;jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihrbeschäftigen. Unsere Lage ist wie die der Teilnehmer an einerschwierigen Expedition, bei welcher die größtmöglicheLeistungsfähigkeit Aller die unerläßliche Voraussetzung für dasGelingen der Unternehmung bedeutet, und bei der kein Platz ist fürhalbe, Viertels und Achtels-Kräfte. Unsere deutsche Aufgabe wirdfür lange Zeit sein: eine bis zum höchsten gesteigerteZusammenfassung aller Möglichkeiten, ein freimachen jederverfügbaren Leistungsfähigkeit für fördernder Zwecke. DerErfüllung dieser Aufgabe steht das moderne Bestreben entgegen,möglichst auch die Schwächlinge aller Sorten zu erhalten, allen,auch den zwar nicht geistig toten, aber doch ihrer Organisationnach minderewertigen Elemente Pflege und Schutz angedeihen zulassen -- Bemühungen, die dadurch ihre besondere Tragweiteerhalten, daß es bisher nicht möglich gewesen, auch nicht im ernsteversucht worden ist, diese von der Fortpflanzung auszuschließen.

Die ungeheure Schwierigkeit jedes Versuches, diesen Dingenirgendwie auf gesetzgeberischem Wege beizukommen, wird nochlange bestehen, und auch der gedanke, durch Freigabe derVernichtung völlig wertloser, geistig Toter eine Entlastung fürunsere nationale Überbürdung herbeizuführen, wird zunächst undvielleicht noch für weite Zeitstrecken lebhaftem, vorwiegendgefühlsmäßig vermitteltem Widerspruch begegnen, der seine Stärkeaus sehr verschiedenen Quellen beziehen wird (Abneigung gegendas Neue, religiöse Bedenken, sentimentale Empfindungen usw.).In einer auf Erreichung möglichst greifbarer Ergebnisse gerichtetenUntersuchung, wie der vorliegenden, soll daher dieser Punkt in derForm der theoretischen Erörterung der Möglichkeiten undBedingungen, nicht aber in der des "Antrags" behandelt werden.

Bei allen Zuständen der Wertlosigkeit infolge geistigen Todes findetsich ein Widerspruch zwischen ihrem subjektiven Rechte aufExistenz und der objektiven Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit.

Die Art der Lösung dieses Konfliktes war bisher der Maßstab fürden Grad der in den einzelnen Menschheitsperioden und in deneinzelnen Bezirken dieses Erdballs erreichten Humanität, zu derenheutigem Niveau ein langer mühsamer Entwicklungsgang über dieJahrtausende hin, zum Teil unter wesentlicher Mitwirkungchristlicher Vorstellungsreihen, geführt hat.

Vor dem Standpunkte einer höheren staatlichen Sittlichkeit ausgesehen kann nicht wohl bezweifelt werden, daß in dem Strebennach unbedingter Erhaltung lebensunwerter Leben Übertreibungengeübt worden sind. Wir haben es, von fremden Gesichtspunktenaus, verlernt, in dieser Beziehung den staatlichen Organismus imselben Sinne wie ein Ganzes mit eigenen Gesetzen und Rechten zubetrachten, wie ihn etwa ein in sich geschlossener menschlicherOrganismus darstellt, der wie wir Ärzte wissen, im Inreresse der

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

28 von 32 20.09.2010 12:01

Page 29: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Wohlfahrt des Ganzen auch einzelne werlos gewordene oderschädliche Teile oder Teilchen preisgibt und abstößt.

Ein Überblick über die oben aufgestellte Reihe derBallastexistenzen und ein kurzes Nachdenken zeigt, daß dieMehrzahl davon für die Frage einer Bewußten Abstoßung, d.h.Beseitigung nicht in Betracht kommt. Wir weden auch in denZeiten der Not, dennen entgegengehen, nie aufhören wollen,Defekte und Sieche zu pflegen, solange sie nicht geistig tot sind;wir werden nie aufhören, körperlich und geistig Erkrankte bis zumÄußertsten zu behandeln, solange noch irgendeine Aussicht aufÄnderung ihres Zustandes zum Guten vorhanden ist; aber wirweden vielleicht eines Tages zu der Auffassung herranreifen, daßdie Beseitigung der Geistig völlig Toten kein Verbrechen, keineunmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sonderneinen erlaubten nützlichen Akt darstellt.

Hier intressiert uns nun zunächst die Frage, welche Eigenschaftenund Wirkungen den Zuständen geistigen Todes zukommen. Inäußerlicher Beziehung ist ohne weiteres erkennbar: derFremdkörpercharakter der geistig Toten im Gefüge dermenschlichen Gesellschaft, das fehlen irgendwelcher produktiverLeistungen, einZustand völliger Hilflosigkeit mit der Notwendigkeitder Versorgung durch Dritte.

In bezug auf den inneren Zustand würde zum Begriff des geistigenTodes gehören, daß nach der Art der Hirnbeschaffenheit klareVorstellungen, Gefühle oder Willensregungen nicht entstehenkönnen, daß keine Möglichkeit der Erweckung eines Weltbildes imBewußtsein besteht, und das keine Gefühlsbeziehungen zurUmwelt von den geistig Toten ausgehen können, (wenn sie auchnatürlich Gegenstand der Zuneigung von seiten Dritter seinmögen).

Dsa Wesendlichste aber ist das Fehlen der Möglichkeit, sich dereigenen Persöhnlichkeit bewußt zu werden, das Fehlen desSelbstbewußtseins. Die geistig Toten stehen auf einemintellektuellen Niveau, das wir erst tief unten in der tierreihe wiederfinden, und auch die Gefühlsregungen erheben sich nicht über dieLinie elementarster, an das animalische Leben gebundenerVorgänge.

Ein geistig Toter ist somit auch nicht imstande, innerlich einensubjektiven Anspruch auf Leben erheben zu Können, ebensowenigwie er anderer geistiger Prozesse fähig wäre.

Dieses letztere ist nur scheinbar unwesentlich; in Wirklichkeit hates seine Bedeutung in dem Sinne, daß die Beseitigung eines geistigToten einer sonstigen Tötung nicht gleichzusetzen ist. Schon reinjuristisch bedeutet die Vernichtung eines Menschenlebenskeineswegs immer dasselbe.

Die Unterschiede liegen nicht nur in den Motiven des Tötenden, (je nachdem: Mord, Totschlag, Fahrlässigkeit, Notwehr, Zweikampfusw.), sondern auch in dem Verhältnis des Getöteten zu seinem

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

29 von 32 20.09.2010 12:01

Page 30: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

Anspruch auf Leben. Während die vorsätzliche überlegte Tötunggegen den Willen eines Menschen die Todesstrafe nach sich zieht,wird die Tötung auf Verlangen nur mit ein paar Jahren Gefängnisgeahndet. Der Akt des Eingreifens in fremdes Leben ist dabeijedesmal derselbe. Die Tötung auf Verlangen wird dabei imZweifelsfalle eher noch eine kühlere, planmäßigere, reiflicherüberlegte Handlung bedeuten, als der Mord, und doch wird sieunter anderem darum so viel milder aufgefaßt, weil der zu Tötendesich seines subjektiven Anspruches auf das Leben begeben hat, undim Gegenteil sein Recht auf den Tod geltend macht.

( An dieser Betrachtung ändert sich dadurch nichts, daß es auchheilbare Geisteskranke gibt, die keinen subjektiven Anspruch aufLeben, im Gegenteil sogar energischen Anspruch auf dieVernichtung machen, die aber weil es sich um krankhafte Motiveepisodischer Art handelt, in ihrem Wollen überhaupt keineBerücksichtigung verdienen; diese Fälle sind übrigens von demZustande des geistigen Todes weit entfernt.)

Im Falle der Tötung eines geistig Toten, der nach Lage der Dinge,vermöge seines Hirnzustandes, nicht imstande ist, subjektivenAnspruch auf irgend etwas, u.a. also auch auf das Leben zuerheben, wird somit auch kein subjektiver Anspruch verletzt.

Es ergibt sich aus dem, was über den inneren geistigen Zustand dergeistig Toten zu sagen war, auch ohne weiteres das es falsch ist,ihnen gegenüber den Gesichtspunkt des Mitleids geltend zumachen; es liegt dem Mitleid mit den lebensunwerten Leben derunausrottbare Denkfehler oder besser Denkmangel zugrunde,vermöge dessen die Mehrzahl der Menschen in fremde lebendeGebilde hinein ihr eigenes Denken und Fühlen projiziert, einIrrtum, der auch eine der Quellen der Auswüchse des Tierkultusbeim europäischen Menschen darstellt. " Mitleid" ist den geistigToten gegenüber im Leben und im Sterbensfall die an letzter Stelleangebrachte Gefühlsregung; Wo kein Leiden ist, ist auch keinmit=Leiden.

Trotz alledem wird in dieser neuen Frage nur ein ganz langsam sichentwickelnder Prozeß der Umstellung und Neueinstellung möglichsein. Das Bewußtsein der Bedeutungslosigkeit der Einzelexistenz,gemessen an den Interessen des Ganzen, das Gefühl einerabsoluten Verpflichtung zur Zusammenraffung aller verfügbarenKräfte unter Abstoßung aller unnötigen Aufgaben, das Gefühl,höchst verantwortlicher Teilnehmer einer schweren undleidensvollen Unternehmung zu sein , wird in viel höherem Maße,als heute, Allgemeinbesitz werden müssen, ehe die hierausgesprochenen Anschauungen volle Anerkennung findenkönnen. Die Menschen sind im allgemeinen großer und starkerGefühle nur ausnahmsweise und immer nur für kurze Zeit fähig;deswegen machen besondere Einzelbetätigungen in dieser Richtungeinen so großen Eindruck. Wir lesen mit tragischem Mitgefühl inGreelys Polarbericht, wie er genötigt ist, um dieLebenswahrscheinlichkeit der Teilnehmer zu erhöhen, einen derGenossen, der sich an die Rationierung nicht hielt und durchunerlaubtes Essen eine Gefahr für alle wurde, von hinten

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

30 von 32 20.09.2010 12:01

Page 31: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

erschießen zu lassen, da er ihnen allen an Körperkräften überlegengeworden war; ein berechtigtes Mitleid überkommt uns, wenn wirlesen, wie Kapt. Scott und seine Begleiter auf der Heimkehr vomSüdpol im Interesse des Lebens der Übrigen schweigend das Opferannahm, daß ein Teilnehmer freiwillig das Zelt verließ, um draußenim Schnee zu erfrieren.

Ein kleiner Teil solcher heroischen Seelenstimmungen müßte unsbeschieden sein, ehe wir an die Verwirklichung der hier theoretischerörterten Möglichkeiten herantreten können.

Sache der ärztlichen Beurteilung ist schließlich alles, was sich indem Zusammenhange unserer Darstellung auf die Notwendigkeittechnischer Sicherungen gegen irrtümliches oder mißbräuchlichesVorgehen bezieht.

Zunächst wird selbstverständlich die Idee auftauchen, daß dieVerwirklichung der hier ausgesprochenen Gedanken krimminellenMißbräuchen die Tür öffnen könnte. Vermöge des ständig wachenMißtrauens, das der normale Staaatsbürger vielfachgesetzgeberischen Dingen entgegenbringt, die irgendwie in seineprivate Existenz eingreifen, werden auch hier möglichkeitengewittert und ins Feld geführt werden. Es liegt dem dieselbeRichtung des Fühlens und Denkens zugrunde, die mühelos dazukommt, anzunehmen, daß es für Wohlhabende eine Kleinigkeit sei,sich vermöge ärztlicher Atteste in Straffällen ihreUnzurechnungsfähigkeit bekunden zu lassen, die es dem Laiendurchaus glaubhaft und wahrscheinlich macht, daß fortwährendinternierungen geistig Gesunder und Entmündigungen ausgwinnsüchtigen Motiven der Angehörigen erfolgen, Anschauungen,die sich sogar zu der gesetzgeberischen praktischenUnzweckmäßigkeit verdichtet haben, daß in derEntmündigungsfrage das Antragsrecht des Staatsanwaltes seinerzeiteingeschränkt worden ist (bei Trunksucht).

Die Sicherung gegen solche Auffassungen würde in einer sorgfältigzu behandelnden Technik zu schaffen sein.

In dieser Beziehung steht zunächst zur Erörterung, ob die Auswahlder Fälle, die für die Lebensträger selbst und für die Gesellschaftendgültig wertlos geworden sind, mit solcher Sicherheit getroffenwerden kann, daß Fehlgriffe und Irrtümer ausgeschlossen sind.

Es kann dies nur eines Laien Sorge sein. Für den Arzt besteht nichtder geringste Zweifel, daß diese Auswahl mit hundertprozentigerSicherheit zu treffen ist, also mit einem ganz anderen Maße vonSicherheit, als etwa bei hinzurichtenden Verbrechern die Frage, obsie geistig gesund , oder geistig krank sind, entschieden werdenkann.

Für den Arzt bestehen zahlreiche wissenschaftliche, keinerDiskussion mehr unterworfene Kriterien, aus denen dieUnmöglichkeit der Besserung eines geistig Toten erkannt werdenkann, um so mehr, als für unsere ganze Fragestellung in vordersterLinie die frühere Jugend an bestehenden Zustände geistigen Todes

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

31 von 32 20.09.2010 12:01

Page 32: 1920 Binding & Hoche Die Freigabe Der Vernichtung Lebensunwerten Lebens

in Betracht kommen.

Natürlich wird kein Arzt schon bei einem Kinde im zweiten oderdritten Lebensjahr die Sicherheit dauernden geistigen Todesbehaupten wollen. Es kommt aber noch in der Kindheit derMomment, in dem auch diese Zukunftsbestimmung zweifelsfreigetroffen werden kann.

Es ist in dem juristischem Teil dieser Schrift schon die Art derZusammensetzung einer zur genauesten Prüfung der Lageberufenen Kommission besprochen worden. Auch ich binüberzeugt, daß trotz des Beiklanges von Fruchtlosigkeit, den wirbei der Erwähnung des Wortes " Kommission" innerlich hören, einederartige Einrichtung notwendig sein würde. Die Erörterung derEinzelheiten halte ich für weniger dringend, als das Bekenntnisdazu, daß selbstverständlich die Voraussetzung für dieVerwirklichung dieser Gedankengänge die Schaffung allerdenkbaren Garantien nach jeder Richtung sein muß.

Von Goehte stammt das Bild des Entwicklungsganges wichtigerMenschheitsfragen, den er sich in Spiralform versinnlicht. DieAchse dieses Bildes ist die Tatsache, daß eine etwa an einemStamme emporlaufende Spirallinie in gewissen Abständen immerwieder auf derselben Seite des Stammes ankommt undvorüberführt, aber jedesmal ein Stockwerk höher.

Dieses Bild wird sich später auch in dieser unserer Kulturfrageerkennen lassen. Es gab eine Zeit, die wir jetzt als barbarischbetrachten, in der die Beseitigung der lebensunfähig Geborenenselbstverständlich war, dann kam die jetzt noch laufende Phase, inwelcher schließlich die Erhaltung jeder noch so wertlosenExistenzals höchste sittliche Forderung galt; eine neue Zeit wird kommen,die von dem Standpunkte einer höheren Sittlichkeit aus aufhörenwird, die Forderung eines überspannten Humanitätsbegriffes undeiner Überschätzung des Wertes der Existenz schlechthin mitschweren Opfern dauernd in die Tat umzusetzen. Ich weiß, daßdiese Ausführungenheute keineswegs überall schon Zustimmungoder auch nur Verständnis finden werden; dieser Gesichtspunktdarf Denjenigen nicht zum Schweigen Veranlassen, der nach mehrals einem Menschenalter ärztlichen Menschendienstes das Rechtbeanspruchen kann, in allgemeinen Menschheitsfragen gehört zuwerden.

---------------------

zurück zur Homepage

Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens von Dr. Binding und Dr... http://staff-www.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html

32 von 32 20.09.2010 12:01


Recommended