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131. Syntax des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20 ...¼r... · nen durchschlagenden...

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1855 131. Syntax des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts 131. Syntax des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts 1. Einleitung: Statizität der Syntax oder Dynamik der Forschung? 2. Syntaxwandel in der NP 3. Syntaxwandel im Satz 4. NP und Satz in struktureller und funktionaler Interdependenz 5. Zusammenfassung und Ausblick 6. Literatur (in Auswahl) 1. Einleitung: Statizität der Syntax oder Dynamik der Forschung? Während die Erforschung des Frnhd. in den letzten 20 Jahren einen stürmischen Auf- schwung erlebte, ist das jüngere Nhd. (Mitte 17. Jh. bis Mitte 20. Jh.) noch immer verhält- nismäßig schlecht erforscht. Dabei ist „die Beantwortung vieler diskutabler und unkla- rer Fragen der Herausbildung und Weiterent- wicklung des gegenwärtigen Deutsch gerade in dieser Periode zu finden“ (Semenjuk 1985, 1449). Einer der Gründe für die relative Vernach- lässigung der Syntaxgeschichte nach 1700 mag darin liegen, daß nach gängiger Auffas- sung das grammatische System des Dt. seit der zweiten Hälfte des 18. Jhs. im wesentli- chen stabil geblieben sei (Betten 1993, 142). Zustimmend zitiert Admoni (1990, 219) Eg- gers (1973, 20f.): „Die Grammatik des Deutschen hat sich in den letzten zweihundert Jahren nur so wenig geändert, daß man von den grammatischen Regeln her kei- nen durchschlagenden Sprachwandel begründen kann.“ Woher kommt die verbreitete Ansicht der re- lativen Statizität der Syntax des jüngeren Nhd.? Sollte aus dem Eggerschen Urteil gar der Schluß gezogen werden, daß es besser wäre, die Kräfte auf die Erforschung des Syn- taxwandels von den Anfängen bis zur Spät- aufklärung und Klassik zu konzentrieren? Ei- nige mögliche Antworten und anschließende Überlegungen sollen andeuten, warum die Syntaxgeschichte des jüngeren Nhd. beson- dere Aufmerksamkeit verdient: (1) Einen „durchschlagenden“ Grammatikwandel gibt es nicht. Alle durchgreifenden Veränderungen in der dt. Grammatik waren/sind das Ergebnis ei- ner langen Kette von ‘mikrosyntaktischen’ Bewe- gungen und brauchten Hunderte von Jahren. Selbst ‘mikrosyntaktische’ Prozesse, die zu keinem Strukturwandel führen (wie z. B. der aktuelle Rek- tionswandel beim modalen Auxiliar brauchen), be- nötigen lange Jahrzehnte. Es ist u. a. der große zeitliche Abstand zum Ahd./Mhd. und teils zum Frnhd., der den älteren Syntaxwandel u. U. durch- schlagend und die neue und neueste Zeit verhält- nismäßig statisch erscheinen läßt. Die Ergebnisse der historischen Sprachfor- schung und somit auch die der Syntaxfor- schung des jüngeren Nhd. lassen sich grob ge- sprochen unter quantitativen ( Vielfalt der Themen und Breite des bearbeiteten Materi- als) und qualitativen ( Grad, Modernität und Kohärenz der theoretischen Fundierung und der methodologischen Reflexion) Aspek- ten beurteilen. Ich vermute, daß das Bild der relativen Statizität sowohl auf qualitative als auch auf quantitative Engpässe zurückzufüh- ren ist: (2) Es gibt eine Reihe von neuen Forschungsideen und Theorieansätzen, die an der historischen Syn- tax des Dt. oder gar des Nhd. kaum oder nicht erprobt wurden. Zu denken wäre hier an kog- nitiv und/oder typologisch (bzw. kontrastiv) orien- tierte Ansätze, an neuere Sprachwandeltheorien, an moderne Grammatiktheorien und zum Teil auch an sprachtheoretisch orientierte empirische An- sätze. Aus der Sicht der historischen Syntaxfor- schung besonders vielversprechend erscheinen z. B. das sich formierende Paradigma der „grammatical- ization“ (vgl. etwa Approaches to Grammatical- ization 1991), das bereits eine Fülle von kognitiv motivierbaren und typologisch fundierten Genera- lisierungen hervorbrachte, in dem aber das Dt. bis- her nur am Rande eine Rolle spielte, die Prototy- pensemantik, die sich auch für die Grammatikfor- schung als brauchbar erwiesen hat, und die Valenz- theorie, die auf historische Sprachstufen zahlrei- cher Sprachen, darunter aufs Ahd., Mhd. und Frnhd., erfolgreich angewandt wurde, nicht aber aufs jüngere Nhd. Unter den Sprachwandeltheo- rien würde es z. B. die „am häufigsten diskutierte“ (Warnke 1994, 372), nämlich Rudi Kellers Theorie der unsichtbaren Hand, trotz oder gerade wegen der teils heftigen Kritik an ihr (Warnke ebd.) si- cherlich verdienen, an syntaktischem Material er- probt zu werden u. a. auch deshalb, weil hier eine Theorie vorliegt, die auch deutliche pragmati- sche (handlungstheoretische) und soziologische (sprachwertbezogene) Komponenten enthält. Un- ter den sprachtheoretisch orientierten empirischen Ansätzen spielen in der gegenwärtigen Syntaxfor- schung die diversen Überlegungen zur (diagram- matischen) Ikonizität eine immer größere Rolle eine Anwendung auf die Syntaxgeschichte des Dt. steht jedoch noch aus. Auch unter den einzelnen, ‘nichtparadigmatischen’ Forschungsideen gibt es zahlreiche, von deren historischer Anwendung neue Erkenntnisse zu erhoffen sind. Als syntax- Angemeldet | [email protected] Heruntergeladen am | 19.11.15 17:33
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1855131. Syntax des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts

131. Syntax des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts

1. Einleitung: Statizität der Syntax oderDynamik der Forschung?

2. Syntaxwandel in der NP3. Syntaxwandel im Satz4. NP und Satz in struktureller und

funktionaler Interdependenz5. Zusammenfassung und Ausblick6. Literatur (in Auswahl)

1. Einleitung: Statizität der Syntaxoder Dynamik der Forschung?

Während die Erforschung des Frnhd. in denletzten 20 Jahren einen stürmischen Auf-schwung erlebte, ist das jüngere Nhd. (Mitte17. Jh. bis Mitte 20. Jh.) noch immer verhält-nismäßig schlecht erforscht. Dabei ist „dieBeantwortung vieler diskutabler und unkla-rer Fragen der Herausbildung und Weiterent-wicklung des gegenwärtigen Deutsch geradein dieser Periode zu finden“ (Semenjuk1985, 1449).

Einer der Gründe für die relative Vernach-lässigung der Syntaxgeschichte nach 1700mag darin liegen, daß nach gängiger Auffas-sung das grammatische System des Dt. seitder zweiten Hälfte des 18. Jhs. im wesentli-chen stabil geblieben sei (Betten 1993, 142).Zustimmend zitiert Admoni (1990, 219) Eg-gers (1973, 20f.):

„Die Grammatik des Deutschen hat sich in denletzten zweihundert Jahren nur so wenig geändert,daß man von den grammatischen Regeln her kei-nen durchschlagenden Sprachwandel begründenkann.“

Woher kommt die verbreitete Ansicht der re-lativen Statizität der Syntax des jüngerenNhd.? Sollte aus dem Eggerschen Urteil garder Schluß gezogen werden, daß es besserwäre, die Kräfte auf die Erforschung des Syn-taxwandels von den Anfängen bis zur Spät-aufklärung und Klassik zu konzentrieren? Ei-nige mögliche Antworten und anschließendeÜberlegungen sollen andeuten, warum dieSyntaxgeschichte des jüngeren Nhd. beson-dere Aufmerksamkeit verdient:

(1) Einen „durchschlagenden“ Grammatikwandelgibt es nicht. Alle durchgreifenden Veränderungenin der dt. Grammatik waren/sind das Ergebnis ei-ner langen Kette von ‘mikrosyntaktischen’ Bewe-gungen und brauchten Hunderte von Jahren.Selbst ‘mikrosyntaktische’ Prozesse, die zu keinemStrukturwandel führen (wie z. B. der aktuelle Rek-tionswandel beim modalen Auxiliar brauchen), be-

nötigen lange Jahrzehnte. Es ist u. a. der großezeitliche Abstand zum Ahd./Mhd. und teils zumFrnhd., der den älteren Syntaxwandel u. U. durch-schlagend und die neue und neueste Zeit verhält-nismäßig statisch erscheinen läßt.

Die Ergebnisse der historischen Sprachfor-schung und somit auch die der Syntaxfor-schung des jüngeren Nhd. lassen sich grob ge-sprochen unter quantitativen (� Vielfalt derThemen und Breite des bearbeiteten Materi-als) und qualitativen (� Grad, Modernitätund Kohärenz der theoretischen Fundierungund der methodologischen Reflexion) Aspek-ten beurteilen. Ich vermute, daß das Bild derrelativen Statizität sowohl auf qualitative alsauch auf quantitative Engpässe zurückzufüh-ren ist:

(2) Es gibt eine Reihe von neuen Forschungsideenund Theorieansätzen, die an der historischen Syn-tax des Dt. � oder gar des Nhd. � kaum odernicht erprobt wurden. Zu denken wäre hier an kog-nitiv und/oder typologisch (bzw. kontrastiv) orien-tierte Ansätze, an neuere Sprachwandeltheorien, anmoderne Grammatiktheorien und zum Teil auchan sprachtheoretisch orientierte empirische An-sätze. Aus der Sicht der historischen Syntaxfor-schung besonders vielversprechend erscheinen z. B.das sich formierende Paradigma der „grammatical-ization“ (vgl. etwa Approaches to Grammatical-ization 1991), das bereits eine Fülle von kognitivmotivierbaren und typologisch fundierten Genera-lisierungen hervorbrachte, in dem aber das Dt. bis-her nur am Rande eine Rolle spielte, die Prototy-pensemantik, die sich auch für die Grammatikfor-schung als brauchbar erwiesen hat, und die Valenz-theorie, die auf historische Sprachstufen zahlrei-cher Sprachen, darunter aufs Ahd., Mhd. undFrnhd., erfolgreich angewandt wurde, nicht aberaufs jüngere Nhd. Unter den Sprachwandeltheo-rien würde es z. B. die „am häufigsten diskutierte“(Warnke 1994, 372), nämlich Rudi Kellers Theorieder unsichtbaren Hand, trotz oder gerade wegender teils heftigen Kritik an ihr (Warnke ebd.) si-cherlich verdienen, an syntaktischem Material er-probt zu werden � u. a. auch deshalb, weil hiereine Theorie vorliegt, die auch deutliche pragmati-sche (handlungstheoretische) und soziologische(sprachwertbezogene) Komponenten enthält. Un-ter den sprachtheoretisch orientierten empirischenAnsätzen spielen in der gegenwärtigen Syntaxfor-schung die diversen Überlegungen zur (diagram-matischen) Ikonizität eine immer größere Rolle �eine Anwendung auf die Syntaxgeschichte des Dt.steht jedoch noch aus. Auch unter den einzelnen,‘nichtparadigmatischen’ Forschungsideen gibt eszahlreiche, von deren historischer Anwendungneue Erkenntnisse zu erhoffen sind. Als syntax-

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historisch vielversprechende Modelle seien hier ex-emplarisch nur drei genannt: die Transivitätspara-meter von Hopper/Thompson (1980), die Theorieder Verbalkategorisierungen von Leiss (1992) unddie immer zahlreicher werdenden Ansätze, die diesemantische Perspektivierungsleistung der Syntaxzum Gegenstand machen (fürs Dt. vor allem Ickler1990). Die aus den genannten und vielen anderenAnsätzen und Forschungsideen ableitbaren Unter-suchungsmethoden versprechen m. E. neue Ein-blicke ins ‘alte’ Material. Sie könnten bezeugen,daß Urteile über Statizität oder Dynamik immerauch eine Frage der Breite der erprobten theoreti-schen Ansätze und der Subtilität der Methodensind.(3) Die dt. Sprachgeschichtsschreibung ist fixiertauf die Herausbildung der Schrift- und Standard-sprache (Mattheier 1995, 3ff.). Im Lichte dieser„teleologisch auf einen idealen Endzustand bezoge-nen Entwicklungserwartung“ (ebd., 4) erscheintalso die nachklassische Grammatikgeschichte u. a.deshalb statisch, weil die Vielfalt des Varietäten-spektrums aus dem Blickfeld geraten ist, obwohlgerade im Nhd. viel eher vertikale Bewegungen be-züglich der Realisierung von grammatischen Kate-gorien und der syntaktischen Strukturierung zuerwarten sind als im Frnhd. (dazu noch gleichunten).(4) Die Tatsache, daß sich die Forschung bisheraufs Ahd./Mhd./Frnhd. konzentrierte, hatte zweipraktische Konsequenzen. Einerseits blieben beider Erforschung auch der nhd. Syntaxgeschichteoft diejenigen Phänomene im Blickpunkt, die inden früheren Sprachstufen intensiv erforscht wur-den (Paradebeispiel ist der Objektsgenitiv). Dieshat den natürlichen Effekt, daß das Nhd. vielfachals die Zeit des Aus- und Abklangs früheren Wan-dels und der „Zementierung“ (Admoni s. unten)früher entstandener Strukturen erlebt wird. DerSchwerpunkt auf ‘ererbten’ Forschungsthemen hatandererseits den Effekt, daß die Materialbasis fürPhänomene, die erst im Nhd. relevant werden (z. B.Rezipientenpassiv) oder für Themen, die erst in derneueren linguistischen Literatur intensiv diskutiertwerden (z. B. Kontrollproblem, Kohärenz/Inkohä-renz von Infinitivkonstruktionen, Serialisierung inder NP), schmal oder gleich Null blieb.

Ein ganz besonderer qualitativer Forschungs-aspekt, der eine neue Herausforderung fürdie Syntaxforschung insbesondere des Nhd.darstellt, ist die sog. Pragmatisierung/Sozio-logisierung der Sprachgeschichtsforschung.Mutatis mutandis gilt es nämlich nicht nurfür die historische Lexikologie, sondern auchfür die historische Syntaxforschung,

„daß weite Teile der Sprachgeschichtsschreibungdes Deutschen einem sehr einfachen, darstellungs-funktional orientierten Denkmuster folgen, näm-lich der Auffassung, daß der seit dem späten Mit-telalter vorausgesetzten fortwährenden Vermeh-rung und Differenzierung der Kenntnisse ein dazu

proportionaler quantitativer Ausbau des Wort-schatzes, und zwar an Wörtern und Wortbedeutun-gen, entspreche“ (Reichmann 1988, 152).

Das syntaxideologische Pendant des quanti-tativen Ausbaus des Wortschatzes ist die an-geblich immer straffere Durchstrukturierungund Durchfunktionalisierung des syntakti-schen � und überhaupt: des grammati-schen � Systems der Schrift- bzw. der Stan-dardsprache. Reimt man nun die lexik- unddie grammatikideologischen Elemente diesesDenkmusters zusammen, so ergibt sich einSzenario einer wahren Sprachentwicklung(und nicht eines ‘bloßen’ Sprachwandels), dasvon einer Mischung aus aufklärerischerSprachideologie und positivistischem Fort-schrittsglauben getragen wird: Mit der Zeitkönnten immer kompliziertere Denkinhalteausgedrückt werden, da die Gegenstände undSachverhalte immer differenzierter und präzi-ser ‘gewortet’ und deren vielfältige Relatio-nen durch immer effektivere grammatischeStrukturierungen und eindeutigere Form/Funktion-Zuordnungen vermittelt würden.Belegt werden kann dieses Denkmuster, dasübrigens eng verbunden ist mit der oben un-ter (3) skizzierten methodologischen Prä-misse des Hinarbeitens auf die Leitvarietät,am besten an den einschlägigen Arbeiten vonWladimir Admoni, z. B.:

„Die allgemeine Tendenz des deutschen Sprach-baus zur strengeren Organisierung der grammati-schen Einheiten […]“ (Admoni 1980, 337); „DieTendenzen zur strukturellen Zementierung desdeutschen Satzes werden nun zu ihrer Vollendunggebracht […]“ (ders. 1900, 178); „Auch das Satzge-füge hatte als ein strukturell gut organisiertes undaufnahmefähiges Gebilde bereits im Laufe des 17.und 18. Jhs. eine hohe Entwicklungsstufe erreicht[…]“ (ebd., 232).

Syntax und Syntaxwandel werden noch über-wiegend unter system- und manchmal auchunter darstellungsfunktionalen Gesichts-punkten betrachtet und erforscht. Dabei ha-ben systemfunktionale Herangehensweisenbestenfalls beschreibenden Charakter, denneinerseits funktionierten auch die ‘alten Sy-steme’, bevor sie ab- oder umgebaut wurden.Andererseits „können (nur Handlungen)Strukturen erzeugen. Strukturen erzeugenselbst keine Strukturen, denn Ordnungensind keine Akteure“ (Keller 1993 a, 113). Da-mit soll nicht gesagt werden, daß systemfunk-tionale Ansätze überflüssig oder gar grund-sätzlich abzulehnen sind (s. auch Mattheier1995, 12), sondern nur, daß abstrakte ‘Erklä-rungen’ nur dann einen heuristischen Wert

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haben, wenn die Gruppe von Menschen aus-gemacht werden kann, aus deren jeweils indi-viduellem, selbst- und partnerbezogenemsprachlichen Handeln die Plausibilität einesSystemumbaus abgeleitet/verstanden werdenkann. Denn system- oder darstellungsfunk-tionale ‘Störungen’ mögen zwar in Einzelfäl-len Veränderungen wünschenswert oder garnotwendig machen (wobei sich selbst in sol-chen Fällen die Frage stellt: wünschenswert/notwendig für wen bzw. warum gerade dannund dort?), aber zu behaupten, daß etwa daspränominale Genitivattribut weniger funk-tionstüchtig gewesen sei, als es das postnomi-nale ist, und daß es daher system- und/oderdarstellungsfunktional notwendig gewesensei, es abzulösen, wäre gewiß problematisch.(Warum bildete sich dann nicht gleich das‘bessere’, funktionstüchtigere System her-aus?) Zugespitzt formuliert Reichmann(1990, 146): „Die gesamte Grammatikge-schichte läßt sich nicht aus den Notwendig-keiten klareren Sachbezuges verstehen.“ Ichmöchte � ebenfalls zugespitzt formuliert �hinzufügen: auch nicht aus den Notwendig-keiten effektiverer Systemgestaltung.

Eine soziopragmatisch orientierte oder zu-mindest sensible Syntaxgeschichte des Nhd.müßte sich vor allem mit den auch syntakti-schen Konsequenzen der Herausbildung vonSprachwertsystemen (Mattheier 1981, 298ff.)und der Vertikalisierung des Varietätenspek-trums (Reichmann 1988 und 1990) auseinan-dersetzen (Beispiele für diverse soziopragma-tisch orientierte Erklärungen in der histori-schen Syntax führt von Polenz (1995, 52�56)an). Die „auffallend häufige“ Bezugnahme„auf die Beseitigung darstellungsfunktionalunnötiger Dubletten und die zunehmendeFunktionalisierung von Varianten“ in derSyntaxgeschichte (Reichmann 1990, 145)ließe sich z. B. durch die Forschungshypo-these ersetzen, daß es analog zur Monosemie-rungstendenz in der Lexikgeschichte des jün-geren Nhd. (Reichmann 1988) eine Tendenzzur Vertikalisierung syntaktischer Strukturie-rung, Regelbildung und der Realisierung vongrammatischen Kategorien gibt. Begleitetwird diese Vertikalisierung von immer inten-siveren Normierungs- und Kodifizierungsbe-strebungen bezüglich der Leitvarietät, wasdie gewichtige sprachwandeltheoretische Im-plikation hat, daß die saubere Trennbarkeitexogenen und endogenen Sprachwandels beider Erforschung von Sprachen mit Leitvarie-tät nicht aufrecht erhalten werden kann.

Die dt. Standardsprache von heute wäre wohl ähn-lich flexionsarm wie Englisch und Niederländisch,„wenn die deutsche Sprachentwicklung in der Zeitdes bildungsbürgerlich kultivierten deutschen Ab-solutismus nicht so stark schreibsprachlich, akade-misch, lateinorientiert, flexionsfreundlich undsprachideologisch gesteuert verlaufen wäre. In diesprachtypologische Entwicklung ist retardierendeingegriffen worden, aber nicht nur von gelehrtenGrammatikern; es ist vielmehr mit dem kollektivenevolutionären Verhalten der vielen unreflektiertpraktizierenden Professionellen in der Spracharbeitzu rechnen […]“ (von Polenz 1994, 254).

Ein Paradebeispiel ist die konservative Haltungvon Grammatikern um die Mitte des 17. Jhs.(Gueintz, Schottel) und um 1700 (Stieler, Bödiker)in bezug auf den Objektsgenitiv (Fischer 1992,336�342). Diese Grammatiker � mit Ausnahmevon Bödiker � benutzen in ihren Sprachtextenüberwiegend die Konkurrenzformen des Genitivs,treten jedoch bei den meisten � Schottel und Bödi-ker gar bei allen � genitivfähigen Verben für dieausschließliche Verwendung des Genitivs ein. Hierträfe das ahistorisch-historisierende Urteil zu: Sietrinken Wein/vom Wein und predigen Wassers.

Die soziopragmatische Forschungshypo-these � inklusive der in ihrer sprachwandel-und grammatiktheoretischen Reichweitekaum abschätzbaren Annahme von Peter vonPolenz � macht intensive methodologischeÜberlegungen zum Verhältnis kognitiver, ty-pologischer, system- und darstellungsfunktio-naler bzw. soziopragmatischer Beschrei-bungs- und Erklärungskomponenten desSyntaxwandels erforderlich. Außerdem legtsie nahe, daß das Bild der relativen Statizitätder nhd. Syntax in einer Beziehung dochstimmen kann:

(5) Die Verselbständigung der Schriftsprache, dieHerausbildung konzeptioneller (� struktureller)Schriftlichkeit und die damit verbundene immer in-tensivere „Spracharbeit“ � inklusive der orthogra-phischen Normierungen, deren grammatikkonser-vierende Wirkung wohl nicht hoch genug einzu-schätzen ist � bedeuten eine gewisse Abkapselungder Grammatik der Schriftsprache von den sprech-sprachlichen Wandeltendenzen, die sich wohl erstnach unserer Periode � im Verlaufe des sich demo-kratisierenden Sprachverhaltens der Gegenwart �lockert (Sonderegger 1979, 176f.).

Das Bild der relativen Statizität ist somit imEndeffekt eine ungleiche Mischung vonSchein (Punkte 1�4) und Sein (5). Was denSein-Anteil anbelangt, ist jedoch zu berück-sichtigen, daß auch die Statizität eine Formdes Wandels ist. Daher müßte die Syntaxfor-schung insbesondere des Nhd. m. E. vielmehr Aufmerksamkeit auch der Erklärung

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des Verhältnisses von (verhältnismäßig) stati-schen und (verhältnismäßig) dynamischenAnteilen des Syntaxwandels widmen.

Um wieder einmal das Genitivproblem aufzugrei-fen: Erklärungsbedürftig ist nicht nur der Genitiv-schwund, sondern nicht weniger der Genitiverhalt(bzw. das gelegentliche Vordringen des Objektsge-nitvs). Wenn es mit dem Objektsgenitiv seit dem15. Jh. abwärts geht, worüber ja in der ForschungEinigkeit besteht, so ist es nämlich erstaunlich, daßes 500 Jahre nach dem ‘Anfang des Endes’ immernoch genitivregierende Verben und Adjektive gibt,darunter sogar welche, bei denen der Genitiv nochimmer ohne Konkurrenzform ist (zum Objektsge-nitiv vgl. 3.2.1.). Mehr noch als die dynamischenAnteile des Wandels können die statischen nur imRahmen einer soziopragmatisch orientierten Syn-taxforschung erklärt werden.

2. Syntaxwandel in der NP

Die wichtigsten strukturellen Züge der mo-dernen dt. NP bildeten sich am Ende desFrnhd. und am Anfang des Nhd. heraus.Nach einem Überblick über die wichtigstenTeilprozesse wenden wir uns dem sich gram-matikalisierenden Mittel- und Nachfeld derNP zu.

2.1. ÜberblickUnter den einschlägigen Teilprozessen (s.auch Pavlov 1995, 149f. und Agel 1996, 32f.)stehen drei in besonders engem Zusammen-hang:

(1) Durch zunehmenden Artikelgebrauch (Ebert1986, 81; Pavlov 1995, 152�164) und durch dievermutliche Zunahme von Verschmelzungen wieam, zum, ins usw. (Agel 1996, 24�30; s. auch Paul1916, 245f. und ders. 1919, 172�178) kommt es �vor allem im Singular � zur Grammatikalisierungder analytischen NP-Flexion.(2) In engem Zusammenhang mit (1) werden syn-thetische NPs im Sg. zunehmend auch in den Fäl-len gemieden, in denen kein Determinans/Adjektivrealisiert werden kann/soll, z. B. bereits frnhd. einstück fleischs > ein stück fleisch (Erben 1985,1344). Nach Hermann Paul (1919, 455f.), der vom„Aufgeben des Kasusunterschiedes“ spricht, findensich noch bei Goethe synthetische Formen wie zuAnfang Septembers, aber natürlich auch flexivlosewie zu Ende May. Synthetische NPs im Sg. werdenim heutigen Deutsch nur noch nach dem Relikt-Muster wegen Diebstahls gebildet, aber auch dieseBildungen weichen dem flexivlosen Muster wegenDiebstahl (vgl. Agel 1996, 52f.). Partitive Genitiveohne Adjektiv, d. h. synthetisch flektierte partitiveNPs wie z. B. ein Glas Weines, gelten heute schonals ungrammatisch (Hentschel 1993, 321), währendanalytisch flektierte partitive NPs (ein Glas herben

Weines) zwar gehoben, aber voll grammatisch sind.Im Rahmen eines neuen, sprachhistorisch moti-vierten NP-Modells (Agel 1996) wurden die hierbeschriebenen Teilprozesse unter dem zur Analyti-sierung (der Substantivflexion) komplementärenSprachwandelprozeß der Infinitivierung (des syn-thetisch flektierten Substantivs) subsumiert.(3) In engem Zusammenhang mit (1) und (2) istder nhd. Abbau synthetischer Kasusflexive zu se-hen. Der frnhd. Großprozeß der „Kasusnivellie-rung“ (Solms/Wegera 1993, 165; 169) setzt sichfort, ja er wird intensiver im Nhd. (Rowley 1988).Die Tilgung des Dativ-e, die zunehmende Weglas-sung des Genitiv-s und des obliquen -(e)n im Sg.schwacher Maskulina bzw. die wahrscheinlichneueste Entwicklung, die Nichtrealisierung des Da-tiv-n im Plural, all diese Prozesse können und müs-sen wohl auch als syntaktisch motivierbare Teilpro-zesse desselben Strukturwandels angesehen wer-den, der die Folge der Analytisierung der NP-Fle-xion und deren Grammatikalisierung ist (Agel1996, 30f.; 39ff.). Daß die Anzahl schriftsprach-licher Belege gering ist, überrascht angesichts dernormativen „Spracharbeit“ (vgl. 1.) nicht. Doch istauch die schriftsprachliche Zunahme im 20. Jh. un-verkennbar (man vergleiche Ljungerud 1955, 149mit Rowley 1988, 67f.).

Die frnhd. „Tendenz zur strafferen Organisa-tion der Substantivgruppe“ (Erben 1985,1344) und deren Weiterführung im Nhd.äußern sich in einer Reihe von weiteren Teil-prozessen. Dabei kommt es zu einer formalund funktional recht durchsichtigen Um-strukturierung der NP:

(4) Zwar ist die sukzessive Rechtsverlagerung desGenitivattributs ein sehr alter Prozeß, und mit ei-nem zunehmenden Übergewicht des postnomina-len Genitivattributs kann bereits seit dem 15. Jh.gerechnet werden (z. B. Admoni 1990, 149), dochwird der pränominale Genitiv erst im 18. Jh. stili-stisch markiert (Pavlov 1972, 112). Statistisch gese-hen geht der Abbau nur zögernd voran. Im Bereichder NPs für die Bezeichnung von Zugehörigkeits-und Herkunftsrelationen geht der Anteil des prä-nominalen Genitivattributs seit der Zeit um 1500kaum zurück (27 % und 1500 > 25 % um 1700).Der Anteil der postnominalen Genitivattributewächst im gleichen Zeitraum von 53 % auf 64 %(Fritze 1976, 458). Führend im Ausbau des postno-minalen Anteils sind Wobd. und Omd., führend imAbbau des pränominalen Anteils das Omd. (ebd.,460f.). Überdurchschnittlich vertreten ist das post-nominale Genitivattribut um 1700 im Bildungs-schrifttum und in der Fachprosa, das pränominalein Briefen und Reisebeschreibungen, in denen Per-sonen- und sonstige Eigennamen häufig vorkom-men (ebd., 462f.). Die zunehmende strukturelleMarginalisierung des pränominalen Genitivs (derAppellativa) war allerdings bereits im 17. Jh. deut-lich zu sehen. Damals tauchte nämlich eine „merk-würdige orthographische Erscheinung“ (Pavlov

Angemeldet | [email protected] am | 19.11.15 17:33

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ebd., 111) auf: die fehlerhafte Bindestrich-Schrei-bung wie z. B. deiner Augen-Schein, des armen Le-bens-Ziel (ebd.). Indem hier ‘uneigentliche’ Zusam-mensetzungen vorgetäuscht wurden, konnte dieBesetzung der markierten Genitivposition schein-bar vermieden werden.(5) Wie auch der Fall der Pseudo-Komposita zeigt,steht die Inkorpierung des pränominalen Genitivs,d. h. die Herausbildung ‘uneigentlicher’ Zusam-mensetzungen, in engem Zusammenhang mit (4).Strukturell ‘eliminieren’ kann man nämlich denGenitiv links vom Kernsubstantiv entweder durchRechtsverlagerung oder durch ‘Univerbierung’.Zwar erfolgen Herausbildung und Grammatikali-sierung der ‘uneigentlichen’ Zusammensetzungenspätestens im Frnhd. (Grosse 1985, 1156; Erben1985, 1344; Nitta 1987 und Pavlov 1972, 95; 98�101 und ders. 1995 a, 113ff.), doch ist eine zweifels-freie Unterscheidung von NPs mit pränominalemGenitiv und ‘uneigentlichen’ Komposita erst ab derersten Hälfte des 17. Jhs. möglich. Nicht eindeutigeBelege wie z. B. der stat paumeister, des reichs regi-ments, hungers not, glaubens sache (Ebert 1993,338f.) gibt es im 16. Jh. noch massenweise.(6) Die im älteren Dt. mögliche diskontinuierlicheRealisierung eines Attributs an beiden Seiten desKernsubstantivs (an sant Peters abent des predigers,A. Langmann, zitiert nach Ebert 1986, 99) schwin-det im 17. Jh. (Schmidt 1993, 339 und dort wei-tere Literatur).

Die Teilprozesse (4) und (5) haben bisher nursystemfunktionale Deutungen erfahren:

Nach Pavlov (1972, 89�93) sei der pränominaleGenitiv ‘systemstörend’ gewesen, da er der Gram-matikalisierung des Artikelsystems im Wege stand.Nitta (1993, 92�99) macht die Analytisierung derKasusmarkierung des Substantivs, d. h. den „Ge-brauch des Artikelworts anstelle des Kasusflexivs“(ebd., 99), für die Nachstellung des Genitivattri-buts verantwortlich. Im Hintergrund dieses Prozes-ses stehe die konsequente Entwicklung des Deut-schen � oder zumimdest der deutschen NP � zurtypischen SVO-Sprache (ebd., 92). Diese These istjedoch insofern problematisch, als sich die Diskus-sion um die dt. Grundwortstellung „weitgehend zu-gunsten der Verbendstellung entschieden zu habenscheint“ (Askedal 1996, 371), d. h. zugunsten von(S)OV. Zu weiteren Erklärungen s. Ebert 1986, 97f.

Abgerundet wird die ‘Straffungstendenz’durch die flexivische und topologische Ver-einheitlichung des Adjektivattributs:

(7) Die „einheitliche Gestaltung des attributivenAdjektivs als einer flektierten Form“ (Admoni1985, 1542) hebt das attributive Adjektiv eindeutigvom nichtflektierten prädikativen ab. Zwar nimmtder Anteil flexivloser Adjektivattribute vom Mhd.zum Frnhd. zu, was gewiß eine Herausforderungfür die Forschung darstellt (Pavlov 1995, 21f.),doch gibt es im Nhd. praktisch keinen flexivlosenGebrauch mehr (ebd., 222).

(8) Die Tendenz zur deutlicheren Trennung vonNP mit Adjektivattribut und Kompositum ist inengem Zusammenhang mit (7) zu sehen. Sattler(1992), der die Entwicklung der sprachlichen Mit-tel, „die einer Produktbenennung eine Materialbe-nennung im Sinne von ‘produziert aus’ zuordnen(Typ: /hölzernes Haus/ � /Holzhaus/)“ (ebd., 229),in den Zeiträumen 1570�1630 und 1670�1730 un-tersuchte, stellte drei Teiltendenzen der oben ge-nannten Tendenz fest (zusammenfassend ebd.,266):(a) Der NP-Typ mit flektiertem Adjektivattribut(Typ: zinnenes Geschirr) nimmt auf Kosten derstrukturell ambigen Kette (Typ: zinnen Geschirr)zu, die sowohl als NP mit unflektiertem Adjektiv-attribut als auch als Kompositum mit adjektivi-schem Bestimmungsglied gelesen werden kann.(b) Komposita mit eindeutig substantivischem Be-stimmungsglied (Typ: Zinngeschirr) nehmen aufKosten fragwürdiger (en-)Komposita entweder mitadjektivischem Erstglied und Zusammenschreibung(Typ: Zinnenegeschirr) oder mit � ohne Berück-sichtigung der Schreibung � kategoriell ambigemErstglied (Typen: leinenLacken, Eisen Kette) zu.(c) Zusammengeschriebene (fragwürdige) en-Kom-posita (Typ: leinenLacken) nehmen auf Kosten ge-trennt geschriebener (fragwürdigerer) en-Kompo-sita zu (Typ: Eisen Kette) zu.Klare Motivationslinien der Tendenz, d. h. der Ge-samtheit der drei Teiltendenzen, sind weder text-gruppen- bzw. textsortenbezogen noch diatopischerkennbar. Die einzige soziologische Komponente,deren Wirksamkeit nach Sattler nachgewiesen wer-den kann, ist der Bildungsgrad, d. h. die Vertraut-heit mit Gedrucktem bzw. die bewußt angestrebteanspruchsvolle Gestaltung der Texte (ebd., 247;258). Diese Komponente wirkte in Richtung aufdie modernen Formen. Ob dem wirklich so ist bzw.wie sich diese Komponente zur Dichotomie‘Sprechsprache’/‘(sich formierende) Schriftsprache’verhält, könnte m. E. erst durch Untersuchungenauf breiterer Materialbasis entschieden werden.Z. B. gehört der in vielen anderen grammatischenBereichen sehr ‘fortschrittliche’ „Simplicissimus“(s. die Abschnitte 3.1.2., 3.1.3. und 3.4.3. des vorlie-genden Beitrags) bezüglich der Tendenz (a) mit den‘rückständigsten’ Texten überhaupt (s. Sattlers Sta-tistik ebd., 257).(9) Die Ablösung des pronominalen GenitivflexivsSg. M./N. an Adjektiven in NPs ohne Determinans(Typ: leichtes Schrittes > leichten Schrittes) fängtim 17. Jh. an und setzt sich zu Beginn des 18. Jhs.durch (Admoni 1985, 1541). Die Erklärung diesesWandels mit der Tendenz zur Monoflexion (Ad-moni ebd.) greift jedoch zu kurz. Vielmehr muß erwohl im Zusammenhang der generellen Analytisie-rung der NP-Flexion gesehen werden (Agel 1996,35�39).(10) Die Voranstellung von Adjektivattributen istam Anfang unserer Periode ebenfalls feste Norm.Die im Frnhd. mögliche Nachstellung kommt im17. Jh. nur noch in formelhaften Wendungen vor(Solms/Wegera 1993, 201).

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Der strukturelle Hut, unter den die Teilpro-zesse (1)�(10) gebracht werden können, istder Prozeß der Herausbildung und Gramma-tikalisierung der syntaktischen Nominalklam-mer im 17./18. Jh. (zur Interpretation diesesProzesses vgl. 4.1.; zur Satzklammer s.3.3.1.). Mit der Grammmatikalisierung dersyntaktischen Nominalklammer geht dieGrammatikalisierung des Mittel- und desNachfeldes der NP einher:

(11) Es erfolgt der Ausbau des Mittelfeldes durcherweiterte Adjektivphrasen. Das vorangestellte Ad-jektiv- und Partizipialattribut mit dem Partizip inEndstellung (Typ: der im Irrgarten der Liebe herum-taumelnde Kavalier, J. G. Schnabel 1738, zitiertnach Lötscher 1990, 14), das vor 1500 kaum belegtist, tritt im 17. Jh. „einen allgemeinen Siegeszug“an (Weber 1991, 308; mehr hierzu in 2.2.).(12) Im Nhd. kann im allgemeinen ein Anwachsender Zahl, des Umfangs und des Unterordnungsgra-des der Nachfeldbesetzungen beobachtet werden(Droop 1977, 267�272). Mehr dazu in 2.2. Zurweiteren Grammatikalisierung des NP-Nachfeldesvgl. 4.2.

Strukturell-typologisch deutlich zu trennenist von der Herausbildung und Grammatika-lisierung der ‘normalen’ NP-Struktur dieHerausbildung und Grammatikalisierung der‘anderen’ NP mit adnominalem possessivenDativ/Genitiv, d. h. der Typen dem Vater/desVaters sein Haus (Agel 1993).

Die Geschichte dieser Konstruktionen ist nur spär-lich dokumentiert. Nach Fritze (1976, 443) bleibendie Typen � verglichen mit der Zeit um 1500 �auch um 1700 selten. Daraus, daß der Genitiv (desVaters sein Haus) erst um 1700 verstärkt mit demDativ konkurriert (ebd., 447), kann geschlossenwerden, daß er eine Mischkonstruktion ist, die erstnach der Herausbildung des dativischen Typs demVater sein Haus entstand (Fritze ebd., 420f.; Ebert1986, 91; Agel 1993). Nach Fritze (ebd., 421) istder adnominale possessive Genitiv „besonders häu-fig in der Dichtung der Klassik zu finden, aberauch in der des 19. Jhs.“

2.2. Zur Grammatikalisierung derFeldstruktur

Ein wichtiges Moment der Grammatikalisie-rung der NP ist die Entstehung ihrer Feld-struktur, d. h. die Herausbildung von struk-turellen Freiräumen im Mittelfeld und imNachfeld. Verstärkt besetzt wird das Mittel-feld durch erweiterte Adjektiv- und Partizi-pialattribute, das Nachfeld durch Präpositio-nalattribute (und teils durch Genitivattri-bute). Zuerst zu den erweiterten Adjektiv-und Partizipialattributen (� EAP):

Die Grammatikalisierung des Mittelfeldes fängt inder Mitte des 16. Jhs. im Kanzleistil (im Stil desöffentlichen Verkehrs) an (Weber 1971, 95�98). Siebeinhaltet einerseits die deutliche Zunahme derHäufigkeit und des Umfangs der EAP, anderer-seits � natürlich in engem Zusammenhang mit derZunahme � die Entstehung von neuen Formen derErweiterung: Adjektivphrasen mit präsenspartizi-pialem Kopf (im 17. Jh. auch mit habend); nichtnur adverbiale, sondern auch nominale und präpo-sitionale Erweiterungen und � erst im 18. Jh. �Adjektivphrasen mit Gerundivkopf. Der System-wandel besteht hier nach Weber (ebd., 97) darin,daß die Adjektivphrase propositionalen Charakterannimmt.

Betrachtet man die Gesamtentwicklung aufder Grundlage des Materials von Weber (Stildes öffentlichen Verkehrs, der Wissenschaft,der Literatur (� der erzählenden Prosa) undder Presse (letzere wurde nur fürs 20. Jh. un-tersucht)), erfolgt der Umbruch im 17. Jh.Die Entwicklung danach verläuft ohne Ex-tremwerte (ebd., 124f.):

Verglichen mit dem 16. Jh. wächst die durch-schnittliche Häufigkeit der EPA im 17. Jh. aufsFünffache. Auch der durchschnittliche Umfangnimmt um ca. 50 % zu. Nach einer Phase der Stabi-lisierung im 18. Jh. nimmt die Häufigkeit im 19. Jh.um ca. 30 % zu, während der durchschnittlicheUmfang im wesentlichen stabil bleibt. Im 20. Jh.findet eine bedeutende Reduktion des Umfangs(um ca. 25 %) statt (somit steht der durchschnitt-liche Umfangswert ziemlich genau zwischen demdes 16. und des 17. Jhs.), und auch die Häufigkeitfällt auf das Niveau des 18. Jhs. zurück. Von einer‘Rücknahme’ des Umbruchs kann trotzdem nichtgesprochen werden, eher nur von dem ‘Abschnei-den der Wildwüchse’ des 19. Jhs.

Die einzelnen Funktionalstile sind grob ge-sprochen durch ihre Entfernung vom Amts-stil gekennzeichnet:

Obwohl es wie erwähnt im Stil des öffentlichenVerkehrs (ebd., 93�103) bereits seit Mitte des16. Jhs. einschneidende Veränderungen gibt, stelltdas 17. Jh. auch hier einen Wendepunkt dar: DieHäufigkeits- und Umfangswerte des Kanzleistilswachsen im 17. Jh. derart sprunghaft an, daß siedie durchschnittlichen Gesamthäufigkeits- und-umfangswerte des ‘wildwüchsigen’ 19. Jhs. über-treffen. Ein deutlicher Rückgang ist erst im 20. Jh.zu verzeichnen, wobei die Werte immer noch überden durchschnittlichen Gesamtwerten des 18. Jhs.liegen.

Im Stil der Wissenschaft (ebd., 103�107) wirddas erweiterte Attribut maßvoller verwendet als imAmtsstil. Die neuen Formen des EPA finden ca.100 Jahre später Eingang in den Wissenschaftsstil.Bezüglich Häufigkeit und Umfang erfolgt der Aus-gleich erst im 19. und 20. Jh. Da im Wissenschafts-

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stil im 20. Jh. kein signifikanter Rückgang zu beob-achten ist, kommt das EPA in diesem Jahrhundertim Wissenschaftsstil sogar häufiger vor als imAmtsstil (der Umfang bleibt jedoch weiterhin imAmtsstil größer).

Der Stil der Literatur (ebd., 107�114) ist nochmaßvoller als der Stil der Wissenschaft, aber dieTendenzen sind die gleichen wie in der Amts-sprache.

Die Werte des Stils der Presse (ebd., 114�116)liegen im 20. Jh. zwischen denen des Wissenschafts-und des Literaturstils.

Komplementär zur Entwicklung des erweiter-ten Attributs verläuft die Entwicklung der er-weiterten Adjektiv- und Partizipialapposi-tion, also des Typs der Kavalier, im Irrgartender Liebe herumtaumelnd (ebd., 129f.):

Diese Konstruktion nimmt im 17. Jh. drastisch abund bleibt auch im 18. Jh. unbedeutend. Im Stil derLiteratur tritt sie allerdings im 18. Jh. wieder auf,und sie „erfreut sich seitdem ständig wachsenderBeliebtheit“ (ebd., 111).

Der sich im 16. Jh. anbahnende und im17. Jh. vollzogene Strukturwandel im Bereichdes EPA hat bisher keine allgemein akzep-tierte Erklärung gefunden:

Weber (ebd., 138) weist nach, daß eine darstel-lungsfunktionale Erklärung scheitern muß, denndie Reichsabschiede, in denen das EPA zuerst auf-tritt, beschäftigen sich mit den gleichen Themenwie früher, neue Anforderungen an die Sprachewurden also nicht gestellt. Umgekehrt werden nachWeber (ebd.) heute neue Anforderungen an dieSprache gestellt, aber das EPA geht gerade im20. Jh. stark zurück.

Weber plädiert für lat. Einfluß (ebd., 141�148).Nach ihm entstand das EPA „infolge des Bedürf-nisses, die voranstehende attributive Partizipial-konstruktion des Lateinischen möglichst original-getreu wiederzugeben“ (ebd., 148). Die strukturelleVoraussetzung war, daß dies im Einklang mit derzunehmenden Tendenz zur zentripetalen Wortstel-lung war (ebd., 135).

Lötscher (1990, 14f.) wendet ein, daß Weber dieBedeutung des Typs Der im Irrgarten der Liebe her-umtaumelnde Kavalier (J. G. Schnabel 1738) vordem 16. Jh. herunterspiele und daß er den Struk-turwandel, die Bedeutung des neuen zentripetalen‘Sogs’ seit dem 16. Jh., überbewerte (ebd., 22). DieUrsachen für die ‘Wende’ im 16. Jh. sind nach Löt-scher (ebd., 22f.) eher in den sich wandelnden Stil-tendenzen der Kanzleisprache zu suchen. Hinterdem Stilwandel der Kanzleisprache im 16. Jh. ver-mutet Lötscher (ebd., 23) die Maxime „Je kompli-zierter, desto höher im sozialen Rang“.

In seiner Replik weist Weber (1991, 310f.) wie-derum auf die Plausibilität der lat. Entlehnunghin. Außerdem stellt er versöhnend fest, daß sichstilwandelbezogene Erklärungen (Lötscher) undsystemwandelbezogene Beschreibungen (Weber)nicht nur nicht ausschließen, sondern sich gegensei-

tig ergänzen (ebd., 311f.). Die Neigung zur kompli-zierten Ausdrucksweise erklärt er nicht mit derenSozialprestige (s. Löscher Maxime), sondern einer-seits mit dem Sozialprestige der Beherrschung derlat. Bildung bzw. Wissenschaftssprache und ande-rerseits mit den sich herausbildenden Normen derSchriftsprache, d. h. mit den neuen Möglichkeiteneiner ‘Syntax für die Augen’ (ebd., 312f.).

Von einem Nachfeld der NP kann vor derGrammatikalisierung der syntaktischen No-minalklammer nicht gesprochen werden. DieGrammatikalisierung des Nachfeldes ist vorallem in bezug auf die Präpositionalattribute(� PA) erforscht.

Sie wurden von Droop (1977, 222�227) in denTextsorten Verwaltung, Wissenschaft, Belletristikund Trivialliteratur in den Zeitabschnitten 1750�1780 (� I), 1850�1880 (� II) und 1950�1972(� III) untersucht.

Die wichtigsten Tendenzen:

(a) Sowohl die Häufigkeit der Präpositionalattri-bute als auch die der PA enthaltenen NPs (� NPA)nehmen kontinuierlich zu (ebd., 230f.). Die Zu-nahme ist drastisch in der Sprache der Verwaltung(ca. Verdreifachung), stark in der Wissenschafts-sprache (Verdopplung) und vergleichsweise gemä-ßigt in den fiktionalen Texten. Generell � abgese-hen von der Trivialliteratur � ist die Zunahme zwi-schen II und III stärker als zwischen I und II.(b) Die Häufigkeit der PA/NPA nimmt � abgese-hen von der stabilen Trivialliteratur � zu (ebd.,233).(c) Die Zahl der eine NP attribuierten PA nimmtin der Sprache der Verwaltung stark, in der Spra-che der Wissenschaft und der Belletristik schwachzu.(d) Aufschlußreich ist die Aufschlüsselung derHäufigkeit nach der Zahl der PA/NPA (ebd., 234).Wenn wir von Extremen (Einzelbelegen) absehen,so haben wir nämlich folgendes Bild: Normal sindin der Sprache der Verwaltung und der Wissen-schaft bis zu drei PA in einer NPA, in der Spracheder Belletristik und Trivialliteratur nur bis zu zwei.Der Unterschied zwischen der Sprache der Verwal-tung und der der Wissenschaft besteht darin, daßdie Gruppen mit mehr als einem PA/NPA in derVerwaltungssprache stärker vertreten sind. DieBelletristik entfernt sich ein wenig von der Trivialli-teratur erst zwischen II und III. Während es näm-lich in der Sprache der Trivialliteratur konstant inca. 95% der Fälle nur ein PA/NPA gibt, wächst inder Sprache der Belletristik des 20. Jhs. die Zahlder NPA mit zwei PA stark an (in der zweitenHälfte des 19. Jhs. gibt es noch überhaupt keinenUnterschied zwischen Belletristik und Triviallitera-tur).(e) Der Grad der Subordination der PA nimmt ge-nerell zu (ebd., 236). Der prozentuale Anteil derSubordination zweiten und dritten Gradeswächst � mit Ausnahme der Trivialliteratur � ste-

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tig. Am stärksten im 19. Jh. und vor allem in derSprache der Verwaltung.(f) Neue Typen von syntaktischen PA tauchen auf,ältere Typen verbreiten sich stark (ebd., 252�263).Z. B. kommen Präpositionalattribute als struktu-relle Entsprechungen von Agentien von Passivsät-zen erst im 18. Jh. in der Verwaltungssprache auf(insgesamt nur zwei Belege), und sie treten im19. Jh. stärker in Erscheinung (ebd., 255). Diestrukturellen Entsprechungen von Passivsubjekten(Typ: die Einstellung von Arbeitskräften) nehmen inden Sachtexten des 19./20. Jhs. drastisch zu (ebd.,259; 262). Der Anteil valenzgebundener PA steigtin den Sachtexten stark an, in den fiktionalen Tex-ten nimmt er ab (ebd., 262). Vergleichs-PA (Typ:Karls Vorsprung gegenüber Klaus), die allerdingsvon Droop zu den semantischen PA-Klassen ge-rechnet werden, tauchen möglicherweise � keineBelege im 18. � erst im 19. Jh. auf (ebd., 255).

Die Parallelen zur Grammatikalisierung desMittelfeldes sind nicht zu übersehen:

Auch im Nachfeld spielen die Verwaltungstexte dieVorreiterrolle, auch hier gefolgt von den Wissen-schaftstexten. Der Syntaktifizierung des Mittelfel-des durch die Einführung von neuen Kopftypenund Erweiterungsformen entspricht die Syntaktifi-zierung des Nachfeldes durch die Einführung bzw.starke Verbreitung von syntaktischen Klassen vonPräpositionalattributen und durch die Zunahmedes Grades der Subordination (zur weiteren Syn-taktifizierung des Nachfeldes s. 4.2.).

Die Vertikalisierung ist im Nachfeld vielleichtnoch ausgeprägter als im Mittelfeld:

Während die Unterschiede zwischen den vier Text-sorten im 18. Jh. noch unerheblich sind, zerfallendie Texte bereits im 19. Jh. in zwei Gruppen: Sach-texte und fiktionale Texte. Der erwähnten Syntak-tifizierung in den Sachtexten entspricht keine Syn-taktifizierung in der Fiktion. Der Anteil der Nomi-nalisierungen (Deverbativa und Adjektivabstrakta)als Kopf der NPA wächst in den Sachtexten enorm,umgekehrt werden die Nominalisierungsköpfe inden fiktionalen Texten zunehmend unbedeutend(ebd., 264). Die bedeutende Zunahme der nomina-lisierten Köpfe findet in den Sachtexten im 19. Jh.statt, innerhalb der Nominalisierungen verschiebtsich das Verhältnis stark zugunsten der Deverba-tiva (ebd., 266). Auch der prozentuale Anstieg derPassiv-NPs gemessen an allen NPA ist in den Sach-texten sehr groß. Dagegen wird die NP in fiktiona-len Texten eher als eine eindimensionale semanti-sche Größe benutzt, d. h. die Komprimierungs-funktion von Nominalisierungen wird hier wenigerwahrgenommen (s. auch ebd. 263). Die Streuungs-werte in den einzelnen Textsorten (ebd., 247�252)zeigen, daß sich die Verwaltungssprache zu einersehr einheitlichen Textsorte entwickelt hat (geringeStreuung). Praktisch das gleiche gilt für die Spra-che der Wissenschaft, während fiktionale Textesehr inhomogen sind.

Die Vertikalisierungstendenz erfaßt auch dieGenitivattribute (� GA) in NPA (ebd., 238f.):

Die Häufigkeit der GA nimmt in den Sachtextengenerell zu, in den fiktionalen Texten generell ab.Während das Verhältnis NPA/GA im 18. Jh. nochrelativ textsortenunspezifisch ist, sind die Unter-schiede zwischen Sachtexten einerseits und fiktio-nalen Texten andererseits im 19. Jh. bereits enorm.In den Sachtexten des 20. Jhs. kommt in fast jederzweiten NPA ein GA vor, in den fiktionalen Textenin ca. jeder neunten NPA. In den Sachtextennimmt auch die absolute Zahl der GA in NPA si-gnifikant zu.

3. Syntaxwandel im Satz

3.1. Verbalkategorien

Behandelt werden in diesem Abschnitt Genusverbi, Tempus und Modus.

3.1.1. Im Bereich der Verbalgenera konzen-triert sich die Forschung seit jeher aufs Pa-tienspassiv (Akkusativpassiv), insbesondereauf die funktionale Opposition von werden-und sein(/wesan)-Passiv.

Entgegen der traditionellen Auffassung, die keinewesentlichen Unterschiede zwischen Ahd. undNhd. gesehen hat, besteht in der neueren For-schung weitgehender Konsens darüber, daß sichdas ahd. System, das auf einer aspektuellen Oppo-sition beruhte, erheblich vom nhd. unterscheidet(Forschungsüberblick in Kotin 1995, 61f.). Dieaspektuelle Opposition, die durch die OppositionVorgang/Zustand abgelöst wurde, kann am bestenals �/�Zustandseintritt (Valentin 1987, 9f.; Eroms1990, 85) oder mutativ/statal (Kotin 1995, 66f.)charakterisiert werden.

Nachdem im 16. Jh. werden � Part. Prät. �etwa zeitgleich mit werden � Part. Präs./Inf.,s. Semenjuk 1981, 30; Ebert 1993, 394 � sei-nen ingressiven Charakter endgültig einge-büßt hatte (Valentin 1987, 13), wurde dieendgültige Ablösung durch die DichotomieVorgang/Zustand möglich (Eroms 1990, 91).Die heute gültige funktionale Oppositionzwischen werden-Patienspassiv und sein-Pa-tienspassiv scheint sich also zu Beginn desNhd. etabliert zu haben. Auch die Grammati-kalisierung des Patienspassivs scheint in derMitte des 17. Jhs. abgeschlossen zu sein (Ou-bouzar 1974, 71ff.; Valentin 1987, 13f.): DieVollzugsstufen des Präsens und des Präteri-tum � Perfekt und Plusquamperfekt � sindnun in das System eingegliedert. Die Einglie-derung der Vollzugsstufe des Futurs (FuturII) ins Verbalparadigma � hier übrigens

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nicht nur im Passiv, sondern auch im Aktiv(Oubouzar 1974, 94) � erfolgt ebenfalls inder Mitte des 17. Jhs.

Auch die statistischen Verhältnisse zur Nennungdes Agens im Passivsatz sind mit denen im heutigenDt. durchaus vergleichbar. Um 1700 wird nachSchieb (1976, 199; 211) beim werden-Passiv dasAgens in 18% der Fälle genannt, beim sein-Passivin 2,6%. Das Agens wird doppelt so häufig mit ei-ner von-PP als mit einer durch-PP angeschlossen.Dabei läßt sich die Wahl der Präposition nichtdurch �/�belebt erklären (wenn auch bei belebtemAgens die von-PP eindeutig bevorzugt wird).

Es gibt jedoch auch Anzeichen dafür, daß dasBild des ‘modernen’ Systems des Patienspas-sivs zu Beginn des Nhd. trügerisch sein kann:

Einerseits weist Sonderegger (1979, 276) daraufhin, daß die erst seit der Mitte des 17. Jhs. belegtenviergliedrigen Passivbildungen zunächst nur imKonjunktiv vorkommen: Ich würde gehöret wordenseyn (Schottelius); ich würde gesaget worden seyn(Stieler). Im Korpus von Schieb (1976) � bis1730 � kommt nicht einmal ein konjunktivischerFutur II-Beleg im Passiv vor (Futur II des Aktivsist belegt). Von einer vollen Eingliederung des Pa-tienspassivs ins Tempus/Modus-System kann alsonoch nicht gesprochen werden. Andererseits dauertdie Verdrängung des im Ahd. noch überlegenensein(wesan)-Passivs durch das werden-Passiv mög-licherweise seit dem 11. Jh. an (Kotin 1995, 67).Deren erste Phase besteht in der Verdrängung desvorgangspassivischen Gebrauchs von sein: Wäh-rend um 1500 das sein-Passiv noch vorgangspassi-visch verwendet werden konnte, war diese Verwen-dung um 1700 kaum mehr möglich (Schieb 1976,127; 199). In der zweiten Phase, die noch andauert,ist damit zu rechnen, daß werden allmählich aufden Zustandsbereich übergreift (Eroms 1992, 238).Hier sind aber noch weitere Untersuchungen not-wendig, da das Verdrängen des sein-Passivs wohlnicht linear verläuft: Nach Schieb (1976, 126f.;198f.) war das werden-Passiv um 1500 doppelt sofrequent wie das sein-Passiv, während sie um 1700etwa gleich häufig belegt waren.

Im Gegensatz zum Patienspassiv ist die histo-rische Erforschung des Rezipientenpassivs(Dativpassiv, bekommen/kriegen/erhalten-Pas-siv) völlig vernachlässigt. Aus unserer Sichtist jedoch gerade dieser Passivtyp von zentra-ler Bedeutung, da seine Herausbildung undGrammatikalisierung nahezu ausschließlichin die nhd. Periode fällt. „Sprachgeschicht-lich ist interessant, daß dieser Typ überhauptentstanden ist und daß er so relativ spät er-scheint“ (Eroms 1992, 242).

Die Vernachlässigung der Geschichte des Rezipien-tenpassivs hat mehrere Gründe. Erstens erkenntdie ältere Syntaxforschung � mit Ausnahme von

Sütterlin (Askedal 1984, 6) � die bekommen-Fü-gung nicht als passivisch an. Zweitens gibt es auchin der modernen Forschung � wenn auch immerweniger � Gegenstimmen. Drittens ist das Phäno-men jüngeren Datums und insofern ein klassischesBeispiel dafür, wie nhd. Phänomene aus dem Blick-feld der Forschung geraten, wenn ihre Entstehungnicht in das ältere Dt. oder das Germ. zurück-reicht.

Im Rezipientenpassiv wird im Gegensatz zumPatienspassiv nicht der Zweit- sondern derDrittaktant semantisch zentriert, d. h. alsSubjekt kodiert. Das Bedürfnis, den Drittak-tanten zu zentrieren, war jedoch bereits vorden ersten Ansätzen zur Herausbildung desheutigen Rezipientenpassivs da:

Bei Luther (An den christlichen Adel) findet sichdie Stelle (zitiert nach Eroms 1992, 241): Ich woltgerne yderman geholffen seyn ‘Ich wollte gern, daßjedermann Hilfe/Unterstützung bekommt’. NachEroms (ebd.) liegt hier ein „Systemversuch“ vor,„für den Dativ die Möglichkeit der Passivkonversezu eröffnen“. Der Luthersche Versuch, den Dativmit Hilfe eines werden-Passivs (oder sein-Passivs)zu zentrieren, wird auch später mehrmals unter-nommen, z. B.: Da sind wir auf viel Jahre geholfen(Goethe, Weimarer Ausgabe XIX); Sie werden aufden Zahn gefühlt werden (Holtei, Eselsfresser) (Be-lege nach Behaghel 1924, 212).

Das bekommen/kriegen/erhalten-Rezipienten-passiv ist zum ersten Mal am Ende des16. Jhs. belegt. Der zweitälteste Beleg tauchtallerdings fast 100 Jahre später auf (Eroms1978, 365; ders. 1990, 93):

Bat mich, ich wollt die kunst nicht schweigen, ichsoll’t sie wohl belohnet kreigen (Rollenhagen Fr., ca.1590); Mehr kriegt er hier gebunden die Häupterdieses Reichs (Daniel Caspar v. Lohenstein, Afrika-nische Trauerspiele, 1680).

Während in der heutigen Schriftsprache dasbekommen-Rezipientenpassiv deutlich über-wiegt (der Gebrauch des erhalten-Passivs iststark restringiert, das kriegen-Passiv ist sprech-sprachlich) (Eroms 1978, 367f.), kommt histo-risch zuerst das kriegen-Passiv vor. Das bekom-men- und das erhalten-Passiv sind erst we-sentlich später, im 19. Jh., belegt (Eroms1978, 365�367):

Der mißtrauische Blinde, der gewiß jedes seinerWorte wiedererzählt bekamm (Gutzkow); […] daßsie dergleichen […] als Dogmen überliefert bekom-men haben (Eckermann, aus dem Jahre 1823); Woder Mensch irgend bedeutsame Laute überliefert er-halten hat (W. v. Humboldt).

Das zentrale Thema der modernen Rezipien-tenpassivforschung ist die Grammatikalisie-rung, d. h. die paradigmatische Integrierung

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der bekommen/kriegen/erhalten-Fügungen unddie Auxialisierung von bekommen/kriegen/er-halten (s. etwa Ebert 1978, 63f.; Askedal1984; Heine 1993). Obwohl Konsens darüberbesteht, daß das Rezipientenpassiv nochnicht so weit grammatikalisiert ist wie daswerden-Patienspassiv, muß der Prozeß derGrammatikalisierung „viel rascher als beiwerden und sein verlaufen sein“ (Eroms 1992,242). Hieraus ergeben sich wenigstens zweiwichtige Aufgaben für die historische Syntax-forschung:

Erstens existiert � analog zur werden/sein-Arbeits-teilung � ein zustandspassivisches Pendant zumvorgangspassivischen bekommen/kriegen/erhalten-Passiv, nämlich das haben-Passiv (z. B. Eroms1978, 401f.; Askedal 1984, 12f.): Das Pferd be-kommt die Fesseln bandagiert (Vorgang) vs. DasPferd hat die Fesseln bandagiert (Zustand). Belegegibt es bis jetzt nur aus dem 20. Jh. (Eroms 1978,401), es ist also unklar, wann dieser Grammatikali-sierungsschritt eingeleitet wurde. Zweitens wird dasRezipientenpassiv zunehmend auch auf Verben desNehmens (Sie bekommt den Führerschein entzogen),auf dreiwertige Verben ohne Dativobjekt (Er be-kommt ständig Bitten herangetragen) und vereinzeltsogar auf zweiwertige Verben (Sie bekommt gehol-fen) anwendbar. Hentschel/Weydt (1995, 182) kom-men sogar zu dem „unerwarteten Ergebnis“, daßdas bekommen-Passiv in stärkerem Maße gramma-tikalisiert ist als das sein-Patienspassiv. Die bisherbekannten historischen Belege zeigen jedoch dasRezipientenpassiv nur mit Verben des Gebens(Typ: Sie bekommt Blumen geschenkt).

Insgesamt bleibt also die Frage offen, ob derentscheidende ‘Schub’ in der Grammatikali-sierung des Rezipientenpassivs erst im 20. Jh.erfolgte oder ob dieser Eindruck nur derdürftigen Quellenlage zu ‘verdanken’ ist.

Wenn möglich noch stiefmütterlicher als das Rezi-pientenpassiv werden von der historischen Syntax-forschung marginalere Passivformen behandelt:Das bleiben-Passiv (z. B. Eroms 1990, 92f.), überdessen Passivstatus in der heutigen Forschung keinKonsens besteht, ist seit dem Ahd. belegt. Die Er-forschung seines historischen Werdegangs stehtnoch aus. Zusammen mit anderen „Ausbautypen“des Patienspassiv (steht/liegt/steckt getan, legt ge-fangen, usw.) kommt es zwar selten, aber beständigvor (Schieb 1976, 219). Die Konstruktionsparallelezu den ebenfalls kontinuierlich belegten aktivi-schen Fin. � Part. Perf.-Typen (brachte geschleppt,kommt geritten usw.) legt einen genusübergreifen-den Zusammenhang nahe.Das subjektlose (‘unpersönliche’) Passiv (Behaghel1924, 211f.), das seit dem Ahd. (bzw. auch im Got.)belegt ist, ist ebenfalls nicht erforscht, obwohl das„historische Verhältnis der unpersönlichen Passiv-konstruktion zu der persönlichen nicht ganz klar(ist)“ (Dal 1962, 130).

Das Medial-Passiv/Reflexiv-Passiv (es wurde sichdurchaus nicht darum gekümmert, Andresen 1854,764), das eine Form des subjektlosen Passivs istund das neuerdings Interesse findet (s. zuletzt Agel1997), ist seit dem Mhd. belegt (Behaghel 1924,214f.). Nach Andresen (ebd.) ist die Erscheinungim 19. Jh. „nicht selten“, „namentlich im Familien-ton“ und „vorzüglich im Norden Deutschlands“.Außer Grimm, aus dessen Grammatik er zahlrei-che Belege zitiert, „pflegen (die Grammatiker) dar-über zu schweigen“ (Andresen ebd.). Dies gilt zwarfür die Grammatiker der Gegenwartssprache nurnoch in beschränktem Maße (Agel ebd.), jedochuneingeschränkt für die historischen Syntaktiker.Über das Modalpassiv (Wer über dreißig ist, gehörtaufgehängt, K. Mann) ist nicht einmal klar, wannes entstanden ist. Belege sind nur aus dem 20. Jh.bekannt.

3.1.2. Im Bereich der Tempora finden wir zuBeginn unserer Periode ein weitgehend gram-matikalisiertes System vor, mit all den analy-tischen Verbformen, die auch für die Gegen-wartssprache angenommen werden.

Den entscheidenden Anstoß zur Grammatikalisie-rung der Tempora gab wohl die Auflösung desansatzweise herausgebildeten Aspektsystems im15. Jh. Nachdem das Präfix ge- als Morphem derVollzugsstufe integriert worden war, breitete sichim 15./16. Jh. das Perfekt, zum Teil auch als Er-zähltempus aus (Betten 1987, 106). Und nachdemwerden � Inf. seinen ingressiven Charakter einge-büßt hatte, konnten die werden-Futurformen insSystem eingegliedert werden. Das Futur I mit wer-den ist um 1550 grammatikalisiert (Oubouzar 1974,85; Bogner 1989, 77; 84).

Die Grammatikalisierung der Vollzugsstufe be-deutet auch, daß auch das Plusquamperfekt voll in-tegriert wird. Seine Produktivität wächst zwischen1500 und 1700 (Semenjuk 1981, 113), seine funktio-nalen Potenzen entfalten sich (Semenjuk 1981,103f.): strukturell-kompositionelle Funktion (eineArt Reliefgebung inmitten präteritaler Erzählfor-men), grammatische Funktion (Vorzeitigkeit, Re-sultativität) und kommunikative Funktion („Signalzur Hervorhebung“, Markierung der wichtigstenInformation).

Auch das sog. Doppelperfekt (habe geschriebengehabt) erscheint zuerst in der Mitte des 16. Jhs.(Oubouzar 1974, 76). Bereits in der dt. Grammatikvon Albert Ölinger (1573), der auch auf die Kon-struktionsparallele mit dem frz. Passe surcompose(J’ay eu escrit) verweist, ist es verzeichnet (Eroms1984, 344).

Das Doppelplusquamperfekt (hatte geschriebengehabt) bildete sich wohl gleichzeitig mit dem Dop-pelperfekt heraus (s. Behaghel 1924, 271).

Die funktionale Verteilung der Tempusfor-men um 1700 zeigt das Bild eines jungen Sy-stems mit vielen Unsicherheiten, Überlap-pungen, gattungs- und landschaftsspezi-

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fischen Unterschieden. Zwar gilt die Faustre-gel der Phasenopposition unvollzogen/vollzo-gen (Oubouzar 1974, 8f.), doch allein dieVerzahnung von Tempus und Modus bzw.von Temporalität und Modalität, verbundenmit der Umbruchsituation im Modussystem(s. unten), macht die Annahme eines linearbeschreibbaren Systems illusorisch.

Als ein besonderes Problem erweist sich die Vertei-lung Präteritum/Perfekt (Betten 1987, 118ff.). DasVordringen des Perfekts im 16. Jh. hat wohl partiellmit dem obd. Präteritumschwund zu tun, umge-kehrt hat aber wohl auch der Präteritumschwundmit der Bevorzugung des Perfektstils in Kreisen dessozial aufrückenden Bürgertums � besonders insüddt. Handelsstädten wie Augsburg und Nürn-berg � zu tun. Es geht hier also um eine Art Demo-kratisierung der halböffentlichen und teils der öf-fentlichen Schriftkultur mit dem Ergebnis, daß mitdem Erzählperfekt ein Teil des mündlichen, fami-liären Stils in die Schriftlichkeit integriert wird. Da-von zeugt auch der Umstand, daß das Perfekt um1700 am häufigsten in den Briefen und am selten-sten in den Romanen vorkommt (Semenjuk 1981,91). Ein weiterer Faktor des Vordringens des Per-fekts ist, daß es im Gegensatz zum Präteritum derKlammerbildung zugänglich ist (Betten ebd.). Im17. Jh. wertet die „md. orientierte Sprachnor-mung“ das Präteritum als Erzähltempus wieder auf(von Polenz 1991, 199), was in der sich formieren-den Schriftsprache zur Zurückdrängung des Per-fekts als Erzähltempus geführt hat (Betten 1987,106).

Unsicherheiten bezüglich der Verteilung Per-fekt/Plusquamperfekt ergeben sich im 17. und inder ersten Hälfte des 18. Jhs. besonders wegen dervielen afiniten Konstruktionen (Semenjuk 1981,101). Die Tatsache, daß in den afiniten Konstruk-tionen (z. B. […] und nachdem sie sich wieder erho-let, hat sie erzehlet […], Semenjuk ebd.) das Hilfs-verb nicht realisiert wird und so die Tempuswahlim dunklen bleibt, trägt zur relativen semantischenVagheit der analytischen Vergangenheitsformen bei(zu den afiniten Konstruktionen s. 3.4.4.). Das Mo-dell Afin.-Prät. (Temporalsatz � affinite Konstruk-tion, Finitum im Hauptsatz steht im Prät.) ist nachallen temporalen Subjunktionen sehr produktiv(Semenjuk 1981, 106ff.).

Eines der Paradebeispiele für die dynamischeInterdependenz von Tempussystem und Mo-dalität bietet die letzte Phase der Grammati-kalisierung des Perfekts.

Ab dem 16. Jh. ist das Pefekt auch mit Modalver-ben bildbar (hat tun wollen) (Oubouzar 1974, 78).Der Typ hat tun wollen verdrängt demnach denälteren Typ will getan haben und etabliert sich um1700 fest im System. Dies gilt auch im Konj., woder ältere Typ sollte getan haben im Sinne von‘hätte tun sollen’ vom Typ hätte tun sollen ver-drängt wird (Oubouzar 1974, 72). Somit wird der

ältere Typ im Tempusbereich zunehmend funk-tionslos. Doch bahnt sich eine semantische Diffe-renzierung der beiden Typen an (Schieb 1976, 204).Der ältere Typ drückt zunehmend epistemischeModalität aus: Der Typ will getan haben, der um1500 noch ausschließlich nicht-epistemisch verwen-det wurde, wird um 1700 vorzugsweise schon epi-stemisch gebraucht (ebd., 222).

Eine besondere Stellung unter den Tempus-formen nimmt das Futur ein. Einerseits isthier die Verzahnung von Temporalität undModalität besonders ausgeprägt, was zu derlang andauernden Kontroverse geführt hat,ob werden temporales Hilfsverb, Modalverboder beides ist. Andererseits mußte sich unterden Hilfsverben der analytischen Tempusfor-men nur werden gegen konkurrierende Hilfs-verben durchsetzen. Hier muß also die histo-rische Grammatik nicht nur die Herausbil-dung der Tempusform, sondern auch dieWahl und die Durchsetzung des neuen Hilfs-verbs erklären.

Bei der Erklärung der Herausbildung des werden-Futurs konkurrieren traditionell drei Typen vonAnsätzen (Ebert 1978, 60f.; Leiss 1985, 250f.;Ebert 1993, 393):(1) rein lautliche Entwicklung aus werden mit Part.Präs. durch Abschleifung der Partizipialendung(wird tuende > wird tuen);(2) Analogiewirkung der semantisch verwandtenKonstruktion sollen/wollen mit Inf. und(3) Vermischung und Verwechslung des flektiertenInf. mit dem Part. Präs.Hinzu kommt eine moderne Erklärung von Elisa-beth Leiss (1985), die die � nach ihr sprechsprach-liche � Herausbildung des werden-Futurs für dasErgebnis dt.-tschech. Sprachkontakts hält: Werden� Inf. sei in Analogie zur Fügung budu � Inf., dieim gesprochenen Alttschech. bereits im 12. Jh. ver-breitet gewesen sein müsse (Leiss 1985, 258), gebil-det worden. Für die Theorie von Leiss spricht, daßbudu im Gegensatz zu werden imperfektivenAspekts ist (Leiss ebd., 264f.), gegen sie scheint zusprechen, daß der sprachgeographische Ursprungbzw. die Details der sprachgeographischen Verbrei-tung empirisch noch nicht abgesichert werdenkonnten (Ebert 1993, 393). Ich meine, daß dieTheorie von Leiss den traditionellen Ansätzen inso-fern überlegen ist, als sie nicht nur die Neuerung/Innovation zu erklären trachtet, sondern auch demsprachwandeltheoretisch wesentlich interessante-ren Problem der Übernahme nachgeht. Denndurch Abschleifung, Analogie oder Vermischung/Verwechslung kann zwar okkasionell eine neue Fu-turperiphrase entstehen, die entscheidende Frageist jedoch, warum und wie eine bestimmte Neue-rung zur Norm werden kann/konnte.

Während also die Herausbildung (Neuerung �Übernahme) der werden-Futurperiphrase weiterhinumstritten ist, können wir wenigstens die Wahl und

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die Durchsetzung von werden gegenüber seinenKonkurrenten sollen/wollen/(müssen) einigermaßenplausibel machen. Einerseits ist nämlich wollen �Inf. der wichtigste Vertreter der nicht-epistemi-schen Modalität, andererseits drückt sollen � Inf.immer häufiger epistemische Modalität aus (Schieb1976, 212). Überhaupt wurden müssen/sollen/wol-len � Inf. schon immer überwiegend modal ge-braucht, während werden � Inf. von Anfang an inüberwiegend temporaler Bedeutung auftrat (Bog-ner 1989, 74ff.). Nach Leiss (1985, 263) war werden� Inf. die einzige monoseme Futurperiphrase. So-mit waren sowohl das Ausscheiden der müssen/sol-len/wollen-Fügungen aus dem Modalfeld als auchdie volle Integration von werden ins Modalfeld vonvornherein unwahrscheinlich. Die neue Fügungwerden � Inf. hatte unter dem Aspekt einer Ge-samtschau des Temporal- und Modalfeldes imfunktionalen Sinne eigentlich keinen Konkurren-ten.

Neue Erkenntnisse über die Übernahme und dieDurchsetzung des werden-Futurs können m. E. nurerwartet werden, wenn auch nach ganz neuen For-schungsperspektiven gesucht wird. Im Rahmen dessprachtypologisch argumentierenden „grammati-calization“-Paradigmas gibt es schon recht über-zeugende und empirisch breit fundierte Untersu-chungen zur Herausbildung von Futurformen(z. B. Bybee/Pagliuca/Perkins 1991). Ergänzt durchneueste Einsichten in die Semantik und Pragmatikbzw. in die Grammatikalisierung deutscher Modal-verben (Heine 1995) könnten diese Untersuchun-gen zum besseren Verständnis nicht nur der Über-nahme, sondern auch der Durchsetzung der wer-den-Periphrase gegenüber den Konkurrenten bei-tragen.

Obwohl die Durchsetzung und Grammatika-lisierung der neuen Futurperiphrase schnellvor sich ging, dauerte die endgültige Verdrän-gung der älteren Futurperiphrasen mehrereJahrhunderte (Bogner ebd.):

Die Futurperiphrase müssen � Inf. geht in der er-sten Hälfte des 16. Jhs. endgültig unter.Sollen � Inf. ist vereinzelt noch in der zweitenHälfte des 17. Jhs. belegt, vor allem im Osächs.Am längsten hält sich die Futurperiphrase wollen� Inf. Die meisten Belege aus der zweiten Hälftedes 17. Jhs. stammen aus dem Osächs. undSchwäb. Im Rib., Thür. und Ofrk. ist sie jedoch indiesem Zeitraum nicht mehr belegt. Bis zu Gott-sched hält sich in normativen Grammatiken dieUnterscheidung des Typs Ich will sein (ungewißkünftig) und des Typs ich werde sein (gewiß künf-tig). „Auf diese Weise bleibt es bei der Einbezie-hung der Modalverbkonstruktionen in den Bereichdes Futurs“ (Semenjuk 1981, 115). Die Analyse desTyps ich werde sein als gewiß künftig widersprichtjedoch dem Ergebnis von Schieb (1976, 146), derzufolge der modale Typ wird tun um 1700 aus-schließlich Vermutung ausdrückt.

In der Verdrängung der älteren Futurperi-phrasen durch werden � Inf. stellt wie er-wähnt das 16. Jh. den Wendepunkt dar. DieVerbreitung des werden-Futurs verläuft vomOsten nach Westen (Bogner 1989, 84). Um1700 hat werden � Inf. „keine echten Kon-kurrenten“ mehr, beherrscht alle Sprachland-schaften, wobei der häufigste Gebrauch inBriefen zu beobachten ist (Schieb 1976, 199).

Abgerundet wird die Grammatikalisierungdes werden-Futurs durch den Ausbau zwei wei-terer Tempora: Futur II und FuturPräteritumI(oder Vergangenheitsfutur).

Das Futur II wird bis 1700 systematisch ausgebaut(Schieb 1976, 210), aber nur im Aktiv. Schieb (ebd.)rechnet irrtümlicherweise die Futur-I-Formen wirdgetan sein und wird getan werden zur Vollzugsstufedes Futurs und meint daher, das Futur II sei um1700 voll eingegliedert ins Verbalsystem. Bei Grim-melshausen erscheint das Futur II ebenfalls nur imAktiv (Oubouzar 1974, 70). Die volle Eingliede-rung (mit Futur II im Passiv Ind.) erfolgt offen-sichtlich erst im frühen 18. Jh. (Sonderegger 1979,276).

FuturPräteritumI wird von Thieroff (1992,16f.) die Form würde � Inf. genannt, wenndiese Zukünftiges aus der Vergangenheitsper-spektive bezeichnet, z. B. Ich dachte auch andie Gossen, in denen ich einmal liegen würde(H. Böll, nach ebd., 151). Überlegungen zueinem FuturPräteritumI finden sich bereitsbei Hermann Paul, doch wird die Formwürde � Inf. in den Gegenwartsgrammatikenbzw. in der Tempusliteratur meist nicht alseine vollgültige Tempusform anerkannt(Thieroff ebd., 50; 143�145). Thieroff (ebd.,140�159) und neuerdings auch Amrhein(1996, 21f.) machen darauf aufmerksam, daßwürde � Inf. im Vergangenheitskontext, d. h.nach Hauptsatzverb in einer Vergangenheits-form, dieselbe Funktion ausübt wie werden �Inf. im Gegenwartskontext: Sie sagt, sie wirdkommen > Sie sagte/hat gesagt/hatte gesagt,sie würde kommen. Sie plädieren dafür, würdein dieser Funktion nicht als Konj. sondern alsPrät. Ind. zu wird (Präs. Ind.) zu interpretie-ren. Folglich gilt nach dieser Auffassungwürde � Inf. als „FuturPräteritumI“ (Thie-roff) oder als „Vergangenheitsfutur“ (Am-rhein). Vorweggenommen wird diese Auffas-sung auch von Oubouzar (1974, 87), die dieForm würde tun ebenfalls in paradigmati-scher Annäherung zur Form wird tun sieht:würde tun war ursprünglich der Konj. zuward tun. Mit dem Untergang von ward tunwird würde tun umgedeutet „als Futur vomStandpunkt der Vergangenheit aus“.

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Die historischen Daten unterstützen die Auffas-sung über die Herausbildung eines FuturPräteri-tumI (wenn auch die Situation nach 1800 etwasverwickelt ist). Es ist nämlich auffallend, daß derwürde-Konjunktiv erst mit Festigung des werden-Futurs ins Verbalsystem eintritt (Schieb 1976, 77).Seine Verwendung nimmt zwischen 1500 und 1700absolut wie auch prozentual im Vergleich zu denanderen Fin. � Infin.-Typen merklich zu (Schieb1976, 77; 146 und 210). Auch hier gab es � so wiebeim werden-Futur � eine omd. Dominanz, die um1700 � wiederum wie beim werden-Futur � aus-geglichen wird. (Für Schieb ist würde � Inf. je-doch ausschließlich Konjunktivumschreibung.) BeiGrimmelshausen wird „die Vorschau aus der Ver-gangenheitsperspektive“ regelmäßig durch würde/müßte/wollte � Inf. ausgedrückt (Fernandez Bravo1980, 102). Nach einem Hauptsatzverb im Prät.steht immer die Form würde � Inf. (Oubouzar1974, 73). In Jung-Stillings „Heinrich Stillings Ju-gend“ (1777) und in „Anton Reiser“ von Karl Phil-ipp Moritz (1785) wird die Vorschau aus der Ver-gangenheitsperspektive in ca. 85% der Fälle mitwürde � Inf. ausgedrückt und nur in den restlichenFällen mit werde � Inf. (ebd., 127). Eine Verkom-plizierung der Situation tritt um 1800 ein, wenn derKonj. I zum Normalmodus der indirekten Redewird (ebd., 105). In Goethes „Italienischer Reise“(1786/88) finden sich je nach grammatischer PersonFormen des Konj. I wie des Konj. II (Oubouzar1974, 73, Anm. 1). In den „Wahlverwandtschaften“(1809) halten sich die Konj. I- und Konj. II-Peri-phrasen, die von Fernandez Bravo beide als For-men des Vergangenheitsfuturs gewertet werden, dieWaage (Fernandez Bravo 1980, 107). FernandezBravo (1980, 107) vertritt explizit die Meinung, daßdie Konjunktivform werde � Inf. „nun auch zumAusdruck künftigen Geschehens aus der Vergan-genheitsperspektive (dient), was vorher nicht ge-schah“.

Daß es sich hier um etwas anderes, nämlich umeine Art notwendige funktionale Überlappung desFuturparadigmas mit dem Paradigma der indirek-ten Rede handelt, zeigen am besten die von Fer-nandez Bravo angeführten Belege aus den „Wahl-verwandtschaften“: Sie machte ihm Mut, daß sichdas alles bald wieder herstellen werde vs. Der Kam-merdiener […] erforschte sogleich Tag und Stunde,wann Ottilie reisen würde.

Der erste Beleg ist einfach indirekte Rede mitNormalmodus Konj. I. Paradigmatisch gehört alsoSie machte […], daß […] herstellen werde zu Siemacht/hat gemacht/hatte gemacht […], daß […] her-stellen werde und nicht zu Sie macht […], daß […]herstellen wird. Die Form werde � Inf. dient nichtzum Ausdruck künftigen Geschehens aus der Ver-gangenheitsperspektive, sondern sie dient als einSignal der indirekten Rede. Aber als ein solches Si-gnal verweist die Form werde � Inf. im Vergangen-heitskontext automatisch auf ein künftiges Gesche-hen aus der Vergangenheitsperspektive. Der Ersatzvon herstellen werde durch herstellen würde würdem. E. die Verhältnisse ‘umkehren’: Die Futurinter-

pretation würde in den Vordergrund rücken, derAspekt der Mittelbarkeit hätte den Status einerautomatischen Mit-Interpretation.

Im zweiten Beleg liegen die Verhältnisse anders:Hier wäre der Ersatz von reisen würde durch reisenwerde m. E. nicht möglich, denn die Interpretationder Stelle als indirekte Rede scheint kaum denkbar.Hier fungiert würde � Inf. als ‘reines’ FuturPräteri-tumI.

Da der Konj. II nach 1800 zunehmend auch alsErsatzkonjunktiv gebraucht wird, wird die Funk-tionsambivalenz von würde � Inf. als FuturPräteri-tumI bzw. als ein Signal der indirekten Rede ver-stärkt. Diese tangiert aber die Plausibilität der An-nahme eines FuturPräteritumI nicht.

Angesichts der Plausibilität dieser Annahmewäre zu überlegen bzw. empirisch zu über-prüfen, ob sich die Form würde � Inf. wirk-lich nur/primär als Konjunktivumschreibungherausgebildet hat.

Nach Guchmann (1981, 183) drückt die Formwürde � Inf. im Zeitraum 1470�1530 „gewöhn-lich, wenn auch nicht immer, eine temporale Nuan-cierung aus, die sich auf den Verlauf der Verbal-handlung in der Zukunft richtet.“ Nach Valentin(1990, 368) bekämpfen Sprachpuristen des 19. Jhs.die würde-Form mit dem Verdikt „Wenn Sätze sindwürde-los“, sie scheinen aber nichts gegen diewürde-Form als FuturPräteritumI zu haben. DieAsymmetrien in der funktionalen Verteilung derfrühen würde-Fügung und in den normativen Ur-teilen danach legen also die obige Hypothese nahe.

3.1.3. Im Bereich der Modi gibt es in unse-rem Zeitraum wichtige Veränderungen, diesowohl das Tempus-Modus-Verhältnis wieauch das Verhältnis der einzelnen Konjunk-tivformen zueinander wie auch die Beziehungdes Konjunktivs zum Indikativ betreffen.

Die Herausbildung des heutigen Gebrauchs derModi wurde durch die Opposition von Indikativund Konjunktiv bestimmt (Guchmann 1981, 125).Es fällt auf, daß der Imperativ keine nennenswerte‘historische Zusammenarbeit’ mit Indikativ undKonjunktiv eingeht. Dies ist mit den grundlegen-den Unterschieden zwischen den semantischenGrundfunktionen von Indikativ/Konjunktiv einer-seits und Imperativ andererseits zu erklären (Valen-tin 1990, 363). Daher ist Valentin (ebd.) der An-sicht, daß der Imperativ kein Modus sei (zur Son-derstellung des Imperativs s. auch Thieroff 1992,9f.).

Um die Umbruchsituation im Modusge-brauch des 17. Jhs. zu verstehen, müssen wireinen Blick auf die Zeit davor werfen:

Im Ahd./Mhd. gibt es zwei Modi (Ind., Konj.) mitjeweils zwei Formen (Präs. Prät.). Die Hauptfunk-tion des Konjunktivs ist der Ausdruck der Nicht-

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Aktualisation, d. h. die Markierung von Sachver-halten „die als nur gedacht oder eventuell angese-hen werden […] oder die nicht im Skopus des ak-tuellen Sprechers stehen“ (Valentin 1990, 364).Konj. Präs. und Konj. Prät. haben noch tatsächlicheinen präsentischen bzw. präteritalen Wert, wassich u. a. darin äußert, daß in der indirekten Redeeine Consecutio temporum (ich nenne diese Conse-cutio I) vorherrscht: nach präsentischem Einlei-tungsverb Konj. Präs., nach präteritalem Einlei-tungsverb Konj. Prät. (Fernandez Bravo 1980, 99).Das System hat jedoch zwei ‘Schwachstellen’. Er-stens die Ambiguität und Mehrfachbelastung desKonj. Prät. (ahd. legiti). Es steht nämlich in tem-poralem Gegensatz zum Präsens und drückt zu-gleich den Irrealis sowohl der Gegenwart (‘legenwürde’) wie der Vergangenheit (‘gelegt hätte’) aus(Valentin ebd.). Zweitens kann in der indirektenRede kein Unterschied zwischen Gleich-, Vor- undNachzeitigkeit gemacht werden. Dies ist sicherlichdie unproblematischere Schwachstelle, denn dieKlarstellung der zeitlichen Beziehung der Aktzeitzur Redezeit kann auch kontextuell erfolgen.

Die Auflösung des alten Systems (mit der Con-secutio I) vom Spätmittelalter an hängt sehr engmit der Herausbildung und Grammatikalisierungder periphrastischen Tempusformen zusammen(Fernandez Bravo ebd., 100; Valentin ebd., 366).Einerseits wird mit den neuen periphrastischenVerbformen die Phasenopposition unvollzogen/vollzogen auch ins Modussystem eingeführt. Folg-lich beginnt die indirekte Rede sich von den ande-ren Objektsätzen abzusondern, da dem Konj. Perf.(Präs. der Vollzugstufe) der indirekten Rede (gele-get habe) nunmehr sowohl Perf. als auch Prät. inder direkten Rede entsprechen können (Valentinebd.) und da jetzt die formale Erfassung der Rede-zeit/Aktzeit-Relation möglich wird. Andererseitswerden die alten Konj. Prät.-Formen (mhd. legte)immer ambiger: Sie sind präterital im Paar mit demKonj. Präs. (lege), werden jedoch zum Präsens desIrrealis im neuen Paar mit dem Konj. Plusquam-perf. (geleget hätte) (Valentin ebd., 367).

Im 17. Jh. � und noch bis ins späte 18. Jh. �bestehen also zwei Systeme nebeneinander(Valentin ebd.): das alte Zweiersystem mit derOpposition Aktualisation (Ind.)/Nicht-Ak-tualisation (Konj. Präs. und Prät.) und dasneue Dreiersystem mit Ind. als Realis undAktualisation, Konj. I�II als indirekte Redeund Konj. II als Irrealis. Hinzu kommt, daßsich dank den analytischen Verbformen einneues System der Zeitenfolge in der indirek-ten Rede � ich nenne es Consecutio II, ob-wohl es sich nach Fernandez Bravo (1980,101) nur noch um eine formale Übereinstim-mung handelt � herausgebildet hat (Guch-mann 1981, 268; Fernandez Bravo ebd.):

Nach einem Einleitungsverb im Präs. steht meistentweder Konj. Präs. (Gleichzeitigkeit) oder Konj.Perf. (Vorzeitigkeit). Nach einem Einleitungsverb

im Prät. steht meist entweder Konj. Prät. (Gleich-zeitigkeit) oder Konj. Plusquamperf. (Vorzeitig-keit). Nachzeitigkeit in der indirekten Rede kanndurch Konj.-Präs., Konj. Fut. und vor allem durchdas FuturPräteritumI � bei Guchmann: Konditio-nal I � ausgedrückt werden.

Die Consecutio II ist im wesentlichen schon um1500 vorherrschend, nur wird sie damals nochnicht so konsequent gehandhabt wie um die Mittedes 17. Jhs. (s. Guchmann ebd., 220f.).

Das Mischsystem aus altem Zweier- undneuem Dreiersystem kann aus verschiedenenGründen keinen Bestand haben:

Erstens geht wegen der semantischen Überdifferen-zierung des alten Konj. Prät. der langsame Rück-zug des alten Konj. der Nicht-Aktualisation weiter.Im 17./18. Jh. kommt er fast nur noch in indirekterRede und Finalsätzen sowie in Konzessiv-, Konse-kutivsätzen und indirekten Fragesätzen vor (Valen-tin ebd., 367). Am zähesten hält er sich in Finalsät-zen, wo er vereinzelt bis ins 20. Jh. hinein vor-kommt (etwa bei Th. Mann, B. Brecht, R. Musil,s. Flämig 1964). Der Prozeß ist wirklich langwierig,denn bereits Bödiker (1690), der nach finalem daß,damit, auf das den Konj. für die usuelle Form hält,räumt ein, daß in Finalsätzen selten auch der Ind.auftreten kann (Guchmann ebd., 225f.). Dieskonnte sowohl durch Guchmanns Untersuchung(ebd., 265f.) als auch durch Babenkos Vergleich des16. mit dem 17. Jh. bestätigt werden: Der im 16. Jh.noch unbedeutende Indikativ im Finalsatzprädikat(2 Belege, 0,7%) ist in ihrem Material des 17. Jhs.bereits mit 46 Belegen (6,3%) vertreten (Babenko1988, 122).

Zweitens geht die Absonderung der indirektenRede weiter. Dies läßt sich sowohl formal als auchfunktional-semantisch motivieren. Einerseits stiftetnämlich der alte Konj. Prät., der jetzt auch Präs.des Irrealis ist, nur noch Verwirrung: In Sätzen desTyps Sie versprach mir, daß sie käme ist der Konj.Prät. äußerst irritierend, wenn man bedenkt, daßdie gleiche Form in vollkommen anderer Funktionund temporalen Relation nun in Sätzen wie Wennsie käme, wäre ich glücklich der Normalfall ist (s.auch Oubouzar 1974, 74 und 96). Andererseits istdie Funktion der indirekten Rede keine modale,was die Ausgliederung ihrer Realisierung aus demModussystem fördert: „Der Gebrauch des Kon-junktivs zur Wiedergabe einer fremden Aussage be-wirkt eine höchst komplizierte Bedeutungsstruktur,weil damit in die semantische Sphäre des Konjunk-tivs eine Funktion eingeführt wird, die nicht unmit-telbar mit der klassischen Auffassung der Katego-rie der Modalität verbunden ist“ (Guchmannebd., 129).

Nach ersten Ansätzen zur Auflösung derConsecutio II bereits im 15./16. Jh. beginntdiese erst in der zweiten Hälfte des 17. Jhs.zu verschwinden (Oubouzar ebd., 95; Guch-mann ebd., 221; 267). In manchen volkstüm-

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lichen, sprechsprachnahen, in einfachem Stilgeschriebenen Texten beginnt sich der Konj. Izum Modus der indirekten Rede zu entwik-keln:

Vorreiter sind dabei Johann Balthasar Schupp, Ab-raham a Sancta Clara und vor allem Grimmelshau-sen.

In Schupps belehrendem Traktat „Der Freundin der Not“ (1657) stehen von 75 Belegen der indi-rekten Rede 64 mit Konj. Präs., „relativ oft ganzunabhängig von der Tempusform des einführendenVerbs“ (Guchmann ebd., 234; zu Schupp ebd.,234f.; 258f.). Analoge Verhältnisse wie bei Schuppherrschen in Guchmanns anderer moralisch-didak-tischen Quelle, in „Auf, auf ihr Christen“ von Ab-raham a Sancta Clara (1683) vor (ebd., 259).

Am weitesten geht Grimmelshausen, dessen„Simplicissimus“ unter allen herangezogenen Ro-mantexten „am freiesten von der Rücksichtnahmeauf das Tempus des einführenden Verbs“ ist (ebd.,262; zur Wahl Consecutio II oder Konj. I bei Grim-melshausen s. Fernandez Bravo 1980, 101). BeiGrimmelshausen erscheint auch die Variante Ind.Prät. (Einleitungsverb) � Konj. Präs. (indirekteRede): und deßwegen vermeinte jeder er verfahre sei-nem Stand nach gar recht und wohl (zitiert nachGuchmann ebd., 252). Dieses sichere Zeichen derAuflösung der Consecutio II erscheint überhaupterst um 1700 (Guchmann ebd., 267f.). Auch wasden Modusgebrauch generell anbelangt, ist der„Simplicissimus“ ein typisches ‘Übergangswerk’(Oubouzar ebd., 72f.).

Andere Texte der zweiten Hälfte des 17. Jhs.,darunter z. B. Reuters „Schelmuffsky“ (1696), sindeher konservativ und folgen mehr oder wenigerstreng der Consecutio II (Fernandez Bravo ebd.,103f.; Guchmann ebd., 259ff.).

Was die Realisierung der indirekten Rede an-belangt, sind also im 17. Jh. zwei gegensätzli-che Tendenzen zu beobachten: Consecutio IIeinerseits und Konj. I als Modus der indirek-ten Rede unabhängig von der Tempusformdes Einleitungsverbs andererseits (Guch-mann ebd., 262). Zu einer gewissen Regelmä-ßigkeit in der Verteilung der Konjunktivfor-men in der indirekten Rede kommt es erst im18. Jh. (Oubouzar ebd., 73). Am Ende des18. Jhs. wird der Konj. I � trotz mancherSchwankungen und Unsicherheiten (Fernan-dez Bravo ebd., 106f.) � zum „Normalmo-dus der indirekten Rede“ (ebd., 105).

Der Durchbruch läßt sich belegen in „HeinrichStillings Jugend“ (1777) und in „Anton Reiser“(1785) (Fernandez Bravo ebd., 105ff.; 127). In derindirekten Rede hat also der Konjunktiv � im Ge-gensatz zu den Finalsätzen � eine „sehr feste Posi-tion“ (Guchmann ebd., 267).

Daß die Vorreiter des Durchbruchs (Schupp,Abraham a Sancta Clara, Grimmelshausen) Ver-

fasser von volkstümlichen sprechsprachnahen Tex-ten waren, legt die Hypothese nahe, daß die Ent-wicklung des Konj. I zum Normalmodus der indi-rekten Rede � ähnlich der Entwicklung des Per-fekts zum Erzähltempus � wiederum das Eindrin-gen des Stils der gesprochenen Sprache in dieSchriftlichkeit dokumentiert.

Kaum ist der neue Normalmodus der indi-rekten Rede gefestigt, zeichnen sich neueTendenzen ab:

Erstens tritt der Konj. II als Ersatzkonjunktiv fürnicht eindeutige Konj.-I-Formen ein. Zweitenskommen jedoch auch Konj.-II-Formen vor, dienicht als Ersatzkonjunktive gedeutet werden kön-nen (Fernandez Bravo spricht hier von einem „hy-percharakterisierenden Signal“ der indirektenRede). Während bei Wieland, Goethe und E. T. A.Hoffmann die Hypersignale eine Randerscheinungdarstellen, sind sie z. B. bei Kleist und Börne auf-fallend häufig (Fernandez Bravo ebd., 108ff.; 127).Drittens kommt der Indikativ, der im 17./18. Jh. inder indirekten Rede nur ganz vereinzelt belegt ist(Fernandez Bravo ebd., 118; Guchmann ebd., 267),seit ca. 1800 immer häufiger vor. Sukzessive er-obert er bestimmte Domänen des Konj. I und wirdsogar in manchen Typen der indirekten Redewie-dergabe � so z. B. nach Einleitungsverb im Impe-rativ, bei der Wiedergabe eigener Gedanken oderwenn der Sprecher, dessen Gedanken wiedergege-ben werden sollen, unbestimmt oder unbestimmbarist � bereits seit Ende des 18. Jhs./Anfang des19. Jhs. zum Normalmodus der indirekten Rede(Fernandez Bravo ebd., 118f.).

Die neuen Tendenzen dauern bis heute anund bilden die historische Erklärung für dieheutigen Unbestimmtheiten und Unsicher-heiten im Konjunktivgebrauch. Es überraschtnicht, daß der Indikativ vordringt, es über-rascht jedoch, daß sich der Konj. I so guthält. Nicht ganz klar ist, warum das hyper-charakterisierende Signal weiterhin verbrei-tet ist.

Das Vordringen des Indikativs bedeutet nur, daßdem nichtmodalen Charakter der indirekten Rede-wiedergabe zunehmend Rechnung getragen wird.Valentin hat Recht, wenn er aus dem modernenModussystem den Konj. I ganz ausschließt: Der In-dikativ steht für Nicht-Irrealis, der Konjunktiv(� Konj. II) für Irrealis (ders. 1990, 367). Die fürdie indirekte Rede typischen Formen (� Konj. I)gehören keinem Modusgegensatz an. „Sie habenmit dem Wirklichkeits- oder Wahrscheinlichkeits-wert des Satzgehalts nichts zu tun“ (ebd., 368). „Siegehören in den Bereich der Illokution und nichtmehr der Lokution“ (ebd.).

Daß der Konj. I noch immer so häufig verwen-det wird, ist nach Valentin „ein durch Schule undMedien künstlich am Leben erhaltener Zustand“(ebd.). Ähnlich urteilt auch Fernandez Bravo (ebd.,

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114f.), die jedoch zusätzlich auch zwei grammati-sche Faktoren dafür verantwortlich macht: die Ein-deutigkeit der Konj.-I-Formen bei den meisten Ver-ben und die Zunahme von Ellipsen � der Erspa-rung syntaktischer Redewiedergabemittel � in derProsa des 20. Jhs. Vielleicht käme als Begründungnoch die seit ahd. Zeit registrierte Konstante in derModuswahl Ind./Konj. in Abhängigkeit von derBedeutung des Einleitungsverbs in Frage (Fleisch-mann 1973, 262ff.; 271). Allerdings zeigt der Ver-gleich des Dt. mit Sprachen, in denen es keinenKonjunktiv, sondern nur einen Konditional gibt,daß Formen der Redewiedergabe ohne Subjunk-tion und/oder Einleitungsverb bzw. die Bedeutungdes Einleitungsverbs keine zwingenden Gründe fürdie Erhaltung des Konj. I darstellen. Zu einer ge-wissen Stabilisierung des Konj. I in der indirektenRede könnte allerdings beitragen, daß er in zweianderen Teilsystemen einstweilen unumgänglichist: als Suppletivform im Imperativparadigma(Seien Sie/Sei so gut …) und als Nebensatzsignalim uneingeleiteten Konzessivsatz. In letztererFunktion nimmt der Gebrauch des Konj. I seit ca.1800 sogar signifikant zu (Baschewa 1983, 98ff.).

Während die Verwendung des Konj. II als Er-satzkonjunktiv einleuchtet, ist der Grund für dieBeibehaltung des Konj. II als Hypersignal nichtganz klar. Zum einen deshalb nicht, weil wie er-wähnt der Konjunktiv (� Konj. II) der Normalmo-dus des Irrealis ist. Zum anderen deshalb nicht,weil die weit verbreitete Annahme, der Konj. II seiein grammatikalisiertes Distanz-Signal, empirischnicht bestätigt werden kann (Fernandez Bravoebd., 115ff.). Möglicherweise sind hierfür stilisti-sche Überlegungen � z. B. das Streben nach Ver-meidung von Wiederholungen � oder eben die Un-bestimmtheiten und Unsicherheiten, die sich ausder nunmehr seit 200 Jahren andauernden Über-gangsphase ergeben, verantwortlich zu machen.Des weiteren könnte auch an die Übergeneralisie-rung des Ersatzkonjunktivs oder generell derKonj.-II-Formen, die ja die unmarkierten Kon-junktivformen darstellen, gedacht werden.

Außer in der indirekten Rede und im Final-satz erscheint der Indikativ erst im jüngerenNhd. als „auffordernder Indikativ“, als eine„Ersatzfügung für den Imp.“ (Behaghel 1924,217f.; 248):

Sie werden uns pardonieren, daß wir von einer sol-chen Resolution nichts gewußt haben (Weise); IhroGnaden werden verzeihen (Lessing); Du wirst denApfel schießen von dem Kopf des Knaben (Schiller)(Belege ebd.).

Behaghel vermutet, daß diese Konstruktionunter frz. Einfluß entstanden ist.

3.2. Valenz

In diesem Abschnitt konzentrieren wir unsauf den Objektsgenitiv und den Prozeß derGeneralisierung der Subjektskodierung (tra-

ditionell: ‘Personalisierung’ unpersönlicherVerben). Auf einen möglichen Zusammen-hang zwischen der Verdrängung des Objekts-genitivs und der Generalisierung der Sub-jektskodierung kommen wir in 4. zu spre-chen.

3.2.1. Der am besten erforschte Prozeß desValenzwandels ist die allmähliche Verdrän-gung des Objektsgenitivs. Im Mhd., der Blüte-zeit des Objektsgenitivs, gab es noch ca. 260genitivregierende Verben (Van der Elst 1984,321; Ebert 1986, 42), heute sind es nur noch56 (Lenz 1996, 3; 48f.). Der größte Formen-umbau, die erste Welle des teilweisen odervölligen Wechsels zum Akkusativ und/oderzur PP (vereinzelt auch zum Dativ), tritt im15. Jh. ein.

An Erklärungsversuchen des Genitivschwundsmangelt es nicht (vgl. etwa die Überblicke von Vander Elst 1984, 312ff.; Ebert 1986, 42ff. und Schrodt1992, 369ff.). Unter den vielversprechenden neuenErklärungsansätzen gibt es solche, die funktional-semantisch (Donhauser 1990; Leiss 1991), solche,die system- und teils darstellungsfunktional (Kol-venbach 1973; Van der Elst 1984) und solche, dieauf mehreren Ebenen (Schrodt 1992) argumentie-ren. Bei künftigen Überlegungen könnten als Er-klärungsinstanzen m. E. auch die Transitivitäts-parameter (Hopper/Thompson 1980) in Erwägunggezogen werden, schließlich ist ja die vergleichs-weise geringe Transitivitätsinduktion der Genitiv-verben teils bereits von den betroffenen Verbgrup-pen her vorhersagbar (s. z. B. die privativen Ver-ben, die Verben des Mangels und Verfehlens unddie sog. formal-reflexiven Verben, Dal 1962, 18ff.).Ebenfalls zu bedenken wäre, ob die Ablösung derGenitivobjekte nicht auch mit der Entwicklung ad-verbialer PPs zu Präpositionalobjekten zusammen-hängt.

Aus der Sicht des jüngeren Nhd. stellt sichweniger die Frage nach der Erklärung desGenitivschwundes (da ja dieser schon eine‘beschlossene Sache’ ist) als nach der Be-schreibung des Verdrängungsprozesses bzw.nach der Erklärung seines Verlaufs. Hierzuliegt eine ausgezeichnete Studie von AnnetteFischer (1992) vor:

Die Untersuchung umfaßt zwei Untersuchungs-zeiträume (I � 1570�1630; II � 1670�1730) undbasiert auf einem nach Textgruppen (unterhaltendeTexte, chronikalische und Berichtstexte, Sach- undFachliteratur, Rechtstexte, Privattexte, religiöseSchriften), Textsorten und Sprachlandschaften ge-gliederten Korpus. In I konnten 160 genitivregie-rende Verben ausgemacht werden. Von diesen wa-ren es immerhin noch 85, deren Genitiv keine Kon-kurrenzform hatte. In II gab es nur noch 131 Ver-

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ben, davon 66 ohne Konkurrenzform des Genitivs.Das Vordringen der akkusativischen und präposi-tionalen Konkurrenzformen kann an der signifi-kanten Änderung der token-Proportion Genitiv/Konkurrenzformen abgelesen werden: 52,8%/47,2% in I (also noch ein leichtes Übergewicht derGenitivbelege), jedoch 38,7%/61,3% in II (also eindeutliches Übergewicht der Konkurrenzformen,obwohl ja nur die Hälfte der genitivregierendenVerben überhaupt konkurrierende Objekte habenkann). Einige Beispiele für den signifikanten Wan-del zwischen I und II (ebd., 299ff.): starker Rück-gang des Objektsgenitivs zugunsten des Akkusativsbei erwarten, pflegen, vergessen, verschonen, wahr-nehmen, zugunsten von PPs bei acht haben, sich be/fürchten, sich behelfen, sich beklagen, erschrecken,fehlen, schweigen, unterrichten, sich ver/wundern.Gänzlich abgelöst wurde der Genitiv z. B. bei sichbekümmern, sich beschweren, danken, fliehen, hof-fen, hüten, räumen, verjagen, warnen, sich widerset-zen, weitestgehend abgelöst z. B. bei begehren,brauchen, ge/brauchen, mißbrauchen. Zwei Verben,harren und sich bedanken, die in I ausschließlichmit Objektsgenitiv vorkamen, lassen in II schonPPs zu, wobei der Verdrängungsprozeß bei sich be-danken ganz drastisch ist (gleich 72,2% der Belegemit PP).

Die Untersuchung von Fischer zeigt, daß derGenitivrückgang als ein Vertikalisierungspro-zeß in der Realisierung einer grammatischenKategorie anzusehen ist. Die Verdrängungdes Objektsgenitivs wird von Textgruppenund -sorten getragen, die der Sprechsprachenäher stehen, volkstümlich sind, einen locke-ren Stil haben und ein breites Publikum an-sprechen (ebd., 304�314; 317�326; 332f.):

Der niedrigste Genitivobjekt-Anteil ist in beidenZeiträumen bei den unterhaltenden und denPrivattexten zu verzeichnen. Die progressiven Text-sorten in beiden Zeiträumen sind Romane, Zeitun-gen, Briefe und Reisebeschreibungen, in I auch dieHausväterliteratur und in II auch Tagebücher undPredigten.

Den höchsten Genitivobjekt-Anteil weisen inbeiden Zeiträumen die Rechtstexte auf. Die kon-servativsten Textsorten in I sind Chroniken undFachliteratur, in II die Sprachtexte.

Ein anderer Verdrängungsfaktor, dessen Ein-fluß allerdings nach Fischer (ebd., 316f.) hin-ter dem textsortenspezifischer Faktoren zu-rücktritt, sind die Sprachlandschaften (ebd.,314�317; 327f.):

In I gibt es eine klare omd.-oobd. Führungsrolle,d. h. die Kernlandschaft der sich formierendenSchriftsprache erweist sich auch beim Abbau desObjektsgenitivs als progressiv (!). Zwischen I undII findet jedoch ein weitgehender Ausgleich (mitleichtem oobd. Vorsprung) zwischen den Sprach-landschaften statt.

Fischer konnte auch nachweisen, daß derVerdrängungsprozeß nicht gleichmäßig ver-lief. Einen Einschnitt bildet die Mitte des17. Jhs. (ebd., 329f.). Damals fand nämlicheine Beschleunigung des Genitivrückgangsstatt, die mit der Nivellierung der Textgrup-penunterschiede � weniger mit der der Text-sortenunterschiede � in Verbindung zu brin-gen ist (ebd., 331).

Nach Eichinger (1995, 310f.) hängt der Wandel desGenitivgebrauchs mit der Grammatikalisierung derVerbalklammer zusammen (hierzu ausführlich in4.1.). Da sich die Klammerung nach EichingersAuffassung erst zu Beginn des 18. Jhs. durchsetzt(ebd., 311), liegt es nahe anzunehmen, daß die Be-schleunigung des Genitivrückgangs einen wichti-gen Gramatikalisierungsschritt der Endphase dar-stellt.

Der weitere Verlauf der Ablösung des Ob-jektsgenitivs, die Zeitspanne von 1730 bisheute, ist nur sporadisch dokumentiert. Ei-nige wenige Details über einzelne Verbenkönnen zwar der Untersuchung von HarryAnttila (1983), die auf einem kleineren Kor-pus mit drei Querschnitten (17. Jh.; um 1900;Gegenwartssprache) basiert, entnommenwerden, das Verlaufsbild nach 1730 läßt sichjedoch nicht rekonstruieren.

In Antillas Untersuchung wird jedoch auf die sonstwenig reflektierte (und nirgendwo erklärte) Tatsa-che abgehoben, daß sich der Objektsgenitiv in eini-gen Fällen gegen die Konkurrenten durchsetzenkonnte (ebd., 100f.): Bei sich befleißigen und sicherwehren gibt es im 17. Jh. noch präpositionaleKonkurrenzformen, um 1900 ist nur noch der Ge-nitiv belegt. (Den wachsenden Genitivobjekt-Anteil bei sich befleiß(ig)en konnte auch Fischer(1992, 302) nachweisen.) Bei sich annehmen, sichenthalten, sich entledigen, sich erbarmen und geden-ken ist PP-Konkurrenz noch bis 1900 nachweisbar,heute gilt ebenfalls nur noch der Genitiv. Zeitwei-lige PP/Dativ-Konkurrenzen gab es auch bei dendreiwertigen Verben berauben, entledigen, entheben,überheben, beschuldigen, die heute alle nur mit Ge-nitivobjekt belegt sind (wobei überheben unter denvon Barbara Lenz aufgelisteten 56 Genitivverbender Gegenwartssprache nicht vorkommt).

Ein weiteres Problem, dem die Forschung bishernoch gar nicht nachging, ist die Wahl der den Geni-tiv ersetzenden Präpositionen. Hierzu liefert Ant-tila (1983, 104) ein instruktives Beispiel, nämlichdie Geschichte von anklagen, die eine Geschichtedes Ringens um die passende präpositionale Kon-kurrenzform ist: im 17. Jh. über, um 1900 wegen,um […] willen, um und über, heute wegen.

Am besten hat sich der Objektsgenitiv beisog. formal-reflexiven und bei präfigiertenVerben erhalten (Lenz 1996, 3 und 10).

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3.2.2. Der andere auffällige Valenzwandel imNhd., der zum Teil auch mit dem Genitiv-schwund zusammenhängt, ist die Generalisie-rung der Subjektskodierung (zum Begriff s.Bossong 1992). Es handelt sich um eine in derganzen Germania und Romania (mit Aus-nahme des Rumänischen) verbreitete Struk-turwandeltendenz der Umkodierung ergati-visch kodierter Verben (meist Empfindungs-verben). Traditionell wird davon gesprochen,daß unpersönliche Verben vielfach zu persön-lich werden (Behaghel 1924, 139).

Im Dt. sind zwei Typen von Umkodierun-gen zu unterscheiden (s. auch Seefranz-Mon-tag 1983, 194):

1. Die ergativische Struktur wird auf dem ‘Um-weg’ der Nominativierung der Zweiaktantenreali-sierung beseitigt (mir fehlt eines Dinges/an einemDing > mir fehlt etw.).2. Die Valenzrealisierungsstruktur wird durch No-minativierung der Erstaktantenrealisierung demakkusativsprachlichen Konstruktionsmuster ange-paßt (mich friert > ich friere).

Verben, die sowohl ein- wie zweiwertig ge-braucht werden (mir/mich träumt (von etw.)) kön-nen prinzipiell beiden Umkodierungsmustern fol-gen (ich träume (von etw.); etw. träumt mir).

Als eine besondere Form des 1. Typs kann ange-sehen werden, wenn die ergativische Strukturdurch die Schaffung einer Nominativstelle (Valenz-erweiterung) beseitigt wird (mich/mir juckt > mich/mir juckt die Haut, Ebert 1986, 31).

Unmittelbar in Verbindung mit der Generalisie-rung der Subjektskodierung steht die „Pseudosub-jektivierung“ (Seefranz-Montag 1983, 179ff.), d. h.die verstärkt seit dem Frnhd. erfolgende (auchpostverbale) Einführung des Formalsubjekts es (esgraut mir/mir graut es). Hier geht es um die Beseiti-gung der Ergativstruktur nicht durch Valenzwan-del, sondern durch die formale Anpassung desSatzmusters an den 1. Umkodierungstyp.

Die Generalisierung der Subjektskodierungsetzt in größerem Umfang wohl im 16. Jh. ein(s. auch Erben 1985, 1345), aber erfaßt dieMehrzahl der Verben erst im 18. Jh. (See-franz-Montag 1983, 162; 186; 194).

Einige Beispiele (Dal 1962, 169; Seefranz-Montag1983, 162; 186; 193; Ebert 1986, 30f.; 58ff.):

Beim Typ 1 kommen subjektlose Konstruktio-nen mit gelingen, mißlingen, genügen (mich genügt �Gen.; mir genügt � an/mit) und wundern (des wun-dert mich) bis ins 18. Jh. vor. Noch im 19. Jh. ge-läufig sind jmdn. verdrießt � Gen. und jmdn.jammert � Gen. Seit dem 18. Jh. setzen sich ichekle mich/etw. ekelt mich durch.

Beim Typ 2 werden hungern, dürsten, frieren mitSubjekt (früher mich/mir hungert, mich/mir dürstet,mich friert) erst nhd. „allgemein gebräuchlich“(Ebert 1986, 31). Ich schaudere ist erst seit dem

18. Jh. belegt (früher mich/mir schaudert). Bei träu-men ist die Konstruktion mit Subjekt im 17. Jh.noch wenig verbreitet (verbreitet ist mir/michträumt), vorherrschend wird sie erst im 19. Jh. Dieneue Konstruktion tritt nach Ebert (1986, 31) zu-erst „in bestimmten erweiterten Bedeutungen“(z. B. ‘irrtümlicherweise glauben’) auf“. Ebenfallserst seit dem 18. Jh. setzen sich durch: ich ahne,ge/bereue, gelüste. Subjektlos geläufig sind bis ins18. Jh. (teils bis ins 19./20. Jh.): mir gelingt/gebrist/zweifelt/gebricht. Bis ins 19. Jh. erscheinen: mir ge-denkt, mich erbarmt/gereut/dauert/jammert.

Wenn auch keine Gegentendenz, so doch dieVerdrängung der Konstruktion mit referentiellemSubjekt ist bei mangeln zu beobachten (Dal 1962,169f.; Ebert 1986, 62): Bis ins 18. Jh. konnte esauch mit persönlichem Subjekt konstruiert werden(jmd. mangelt eines Dinges). Die heutige Konstruk-tion mit Pseudosubjekt ist erst seit dem Frnhd. be-legt (es mangelt jmdm. eines Dinges/an einem Ding).

Eine umfassende Erklärung der Generalisie-rung der Subjektskodierung steht noch aus.

Seefranz-Montag (z. B. 1983, 200f.) nimmt an, daßsich das Dt. in einem Übergangsstadium der typo-logischen Entwicklung von einer TVX-Syntax(� Topik-Verb-Sonstiges) zu einer SVX-Syntax be-finde, was ja den Abbau der Subjektlosigkeit (in-klusive der Pseudosubjektivierung) tatsächlich zuerklären scheint. Das Problem ist einerseits, daßdie Diskussion um die dt. Grundwortstellung zu-gunsten von (S)OV auszugehen scheint (s. 2.1.).Andererseits kann eine Einordnung in eine typolo-gische Tendenz m. E. erst dann als eine Erklärunggelten, wenn die typologische Tendenz selbst er-klärt worden ist.

Klar ist, daß syntaktische Umdeutung beibeiden Umkodierungstypen eine Rolle ge-spielt hat (Dal 1962, 169; Seefranz-Montag1983, 172ff.; Ebert 1986, 58ff.):

Beim Typ I mit genitivischem Zweitaktanten be-günstigt der (bereits seit dem 13. Jh. belegte) Zu-sammenfall von es (Gen.) und e (Nom./Akk.) dieUmdeutung: mich verdrießt es (Gen.) > es (Nom.)verdrießt mich. Auch bei Zweitaktantenrealisierun-gen in Form von Nebensätzen oder Infinitivkon-struktionen ohne Korrelat wird die Oppositionzwischen Genitiv und Nominaitv neutralisiert, wasdie Umdeutung ebenfalls begünstigen kann: michwundert, daß […] Schließlich erleichtert auch derProzeß der Verdrängung des Objektsgenitivs dieUmdeutung.

Beim Typ 2 mit akkusativischem Aktanten be-günstigen Kasussynkretismen beim N./F. Sg. dieUmdeutung: das Kind (Nom./Akk.) hungert; dieFrau (Nom./Akk.) friert.

Nach Ebert (1986, 60) tritt bei syntaktischenUmdeutungen die neue Konstruktion zuerst nur ingewissen syntaktischen Umgebungen auf und wirddann generalisiert.

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Zwar ist der Valenzwandel bei beiden Gene-ralisierungstypen mit Bedeutungswandel ver-bunden (was kaum � beim Typ 1 überhauptnicht � erforscht ist), doch ist der Bedeu-tungswandel beim Typ 2 wesentlich radikaler(Seefranz-Montag 1983, 195). Hier findeteine deutliche Agentivierung des zum Subjektgewordenen Erstaktanten statt, vgl. z. B.mich friert vs. ich friere.

Systemfunktional gesehen ist die Agentivierungeine notwendige Konsequenz der Generalisierung(s. Seefranz-Montag 1983, 195). Doch ist eine der-artige systemfunktionale Erklärung � egal, ob mitoder ohne Bezugnahme auf sprachtypologischeZusammenhänge � höchst fragwürdig, weil sie im-pliziert, daß einzelne Sprecher, unabhängig davon,was sie in ihren konkreten Diskursakten auch in-tendieren mögen, d. h., unabhängig davon, ob ih-nen ein Agenssubjekt ins Konzept paßt oder nicht,früher oder später dem Systemdruck weichen unddie Verben in den neuen Bedeutungen verwendenmüssen. Hier sind noch weitere Untersuchungennotwendig. Ebenfalls untersucht werden sollte,warum sich der ergativische Konstruktionstyp beiAdjektiven wesentlich besser erhalten hat als beiVerben (Seefranz-Montag 1983, 163f.), warum erbei Adjektiven sogar noch produktiv ist (mir istangst/kalt/schlecht usw.).

3.3. Wortstellung

In diesem Abschnitt wollen wir uns in ersterLinie mit der Satzklammer und der Verbstel-lung beschäftigen. Auf die Stellung der nicht-verbalen Glieder können wir nur am Randeeingehen.

3.3.1. Der wohl bedeutendste topologischeWandel in der Geschichte des Dt. ist die Her-ausbildung von Klammerstrukturen und de-ren Grammatikalisierung.

Es sollen folgende terminologische Festlegungengelten: Oberbegriff für alle Klammertypen istKlammer(ung)/Klammerstruktur. Die Klammer-struktur der NP heißt Nominalklammer (s. 2.1. und4.1.), die Klammerstrukturen des Satzen heißenzusammenfassend Satzklammer/Satzrahmen. DieHauptsatzklammern heißen zusammenfassend Ver-balklammer (Weinrich 1993, 33ff.). Die Verbal-klammern zerfallen in zwei große Gruppen: Gram-matikalklammern (mit auxiliarem ersten Klammer-teil) und Lexikalklammern (mit nichtauxiliarem er-sten Klammerteil) (ebd., 41ff. und 47ff.). DieNebensatzklammern heißen zusammenfassend Ad-junktklammer (ebd., 56ff.).

Trotz der zahlreichen Einzeluntersuchungenzur Satzklammer haben wir immer noch keinklares, empirisch und methodologisch abgesi-chertes Bild von deren Geschichte.

Wohl kein anderer Bereich der Syntaxgeschichtewürde so viel methodologische Sorgfalt erfordernwie die Untersuchung der Satzklammer. Und wohlkein anderer Bereich ist durch einen so niedrigenGrad der methodologischen Reflexion gekenn-zeichnet wie dieser:(1) Manchmal stellt es sich nicht oder nur implizitheraus, ob sich die Ausführungen des Autors aufdie Verbalklammer, die Adjunktklammer oder aufbeides beziehen. Dabei läßt sich die Verbalklammerwährend der ganzen nhd. Periode leichter ‘durch-brechen’ als die Adjunktklammer (Engel 1970, 55;Ebert 1986, 112). Insofern � und natürlich vorallem aus strukturellen Gründen � stellt sich auchdie Frage, warum die Adjunktklammer überhauptals Klammer gilt. Daß eine Normalabfolge wie OVunter Umständen als VO � oder viel eher alsOVO � realisiert wird, ist noch lange kein Grund,die Subjunktion als ein klammeröffnendes Elementanzusehen. Die Anwendbarkeit des Klammerprin-zips auf die Wortstellung im Nebensatz wird in 4.1.grundsätzlich in Frage gestellt.(2) Nicht jeder Verfasser klärt, was er unter Ver-balklammer versteht. Dabei ist es ein erheblicherUnterschied, ob in einer Untersuchung nur dieGrammatikalklammern oder auch die Lexikal-klammern berücksichtigt werden bzw. welche Ty-pen der zahlreichen lexikalischen Kandidaten alsklammerschließende Elemente von Lexikalklam-mern betrachtet werden.(3) Statistische Untersuchungen zur Ausklamme-rung haben wenig Aussagekraft, wenn (a) nichtnach Klammertypen differenziert wird, wenn (b)der ‘Klammerinhalt’ und dessen Anordnung nichtberücksichtigt werden, wenn (c) den strukturellenUmständen zwischen den ‘ausgeklammerten’ Ele-menten und (d) dem unterschiedlichen Grammati-kalisierungsgrad der einzlenen Ausklammerungennur ungenügend Rechnung getragen wird:Zu (a): Schildt, dessen Untersuchung immer nochdie wichtigste Quelle für die Zeit um 1700 darstellt(s. unten), unterscheidet zwar diverse Typen derVerbalklammer (1976, 241), bei der statistischenAuswertung seines Korpus spielen jedoch die ein-zelnen Typen keine Rolle mehr. Dabei verhaltensich klammerschließende Elemente recht unter-schiedlich, Präfixe oder Partizipien II begünstigenz. B. die Ausklammerung (Benes 1979, 333).Zu (b): Bereits 1970 formuliert Ulrich Engel (1970,51): „Durchbrechbar sind […] nur Rahmen, denendurchbrechungsfähige Glieder (im Falle derDurchbrechung) folgen, oder bei denen das Mittel-feld durchbrechungsfähige Glieder enthält.“ Hiergeht es nicht nur um die Binsenwahrheit, daß dieStatistik verfälscht wird, wenn Sätze ohne Mittel-feldelemente (z. B. Peter ist angekommen) zu denSätzen mit vollständigem (� nicht durchbroche-nem) Rahmen geschlagen werden. Verfälscht wirddie Statistik auch, wenn Sätze, deren Mittelfeld nurElemente enthält, die nicht (z. B. Reflexivum, pro-nominale Objekte), kaum oder nur unter besonde-ren Umständen ausgeklammert werden können, zuden Sätzen mit vollständigem Rahmen gezählt wer-

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den. Zuweilen wird ja auch die ‘Ausklammerung’von Subjekten und Akkusativobjekten belegt. Istdas aber ein Grund, alle Sätze nur mit einem Sub-jekt oder nur mit einem Akkusativobjekt im Mittel-feld zu den Sätzen mit vollständigem Rahmen zuschlagen? Zum Problem des ‘Klammerinhalts’ ge-hört auch die Frage, ob vor der tendenziellenGrammatikalisierung der Anordnung der Mittel-feldelemente überhaupt von einer Klammerstruk-tur gesprochen werden kann. S. hierzu 4.1.Zu (c): Sicherlich müßte wenigstens zwischen ‘satz-förmigen’ (Nebensätze, Infinitivkonstruktionen)und nicht satzförmigen ausgeklammerten Elemen-ten oder genereller zwischen verschiedenen Kom-plexitätsgraden bei den ausgeklammerten Elemen-ten unterschieden werden (s. auch Makovec 1983,100). Da die ‘satzförmigen’ Glieder viel mehr zurAusklammerung � eigentlich wohl: viel wenigerzur ‘Einklammerung’ � neigen, ‘verbessern’ sie dieStatistik überall signifikant. Bei Schildt (1976, 267)erfahren wir, daß um 1700 52% aller ausgeklam-merten Glieder Attribute sind, „vor allem in Formvon Pronominalsätzen, Infinitivkonstruktionenund Vergleichen.“Zu (d): Bereits in seinem klassisch gewordenenAufsatz (Erstveröffentlichung 1968) plädiert Benes(1979, 327ff.) für die Trennung von Ausklamme-rung als Norm und Ausklammerung als stilisti-schem Effekt. Man müßte hier m. E. noch einenSchritt weitergehen: Ausklammerung als Norm isteben gar keine Ausklammerung mehr, sondernnormale Nachfeldbesetzung (s. in diesem Sinneauch Makovec 1983, 98 und Betten 1993, 125).Wenn Schildt (ebd.) feststellt, daß 8,9% aller Aus-klammerungen um 1700 auf Vergleiche entfallen,so muß man sich fragen, ob die ‘Einklammerung’von Vergleichsadjunkten überhaupt belegbar ist.Wenn es nämlich keine oder nur vereinzelte Belegegibt, müßte dieser Typ von Nachfeldbesetzung ausder Geschichte der nhd. Ausklammerung ausge-klammert werden, damit die Statistik nicht entstelltwird. Mit Erfolg praktiziert wurde diese Methodein der Untersuchung von Makovec, in der „dieSätze mit schon grammatikalisierten Ausrahmun-gen nicht mitgezählt wurden, weil sie nicht mehrdie Tendenz darstellen können“ (Makovec ebd.). Inder Arbeit von Makovec werden auch Ausklamme-rung und Nachtrag sorgfältig auseinandergehalten(ebd.).

Die Verbalklammer (als Grammatikalklam-mer) wird erst durch das Vorhandensein ana-lytischer Verbformen ermöglicht (Betten1987, 102). Zwar wird die Zunahme derKlammerbildung bereits fürs Frnhd. ange-nommen (Erben 1985, 1344f.), doch ist „dertypisch deutsche Satzklammerstil“ erst im17./18. Jh. „auf seinen Höhepunkt gelangt“(von Polenz 1994, 268).

In dem Zeitraum 1670�1730 können nach Schildt(1976, 241) folgende Typen der Verbalklammer be-legt werden: Modalverb � Inf., Hilfsverb � Part.

Perf. (Grammatikalklammern) und Grundverb �Präfix/Kompositionsglied, Hilfsverb � Adjektiv(Lexikalklammern). Die Analyse dieser Typen er-gibt folgendes Bild:Voll ausgebildet ist die Klammer zu 81,4% (ebd.,257; 269). Im Vergleich zu dem Zeitraum 1470�1530 (68,1%) ist dies eine deutliche Zunahme. DerAnteil der vollständigen Klammern stieg überwie-gend auf Kosten der Kontaktstellung (z. B. grau-sam ist gewest Herodes, ebd., 257), die von 9,4%auf 0,8% zurückging (ebd., 271). Vorreiter derKlammerbildung unter den Sprachlandschaftenum 1700 sind das Omd. (85,9%) und das Oobd.(84,6%). Das Wmd. (77,3%) und das Wobd.(77,5%) liegen unterdurchschnittlich (ebd., 257).Während das Omd. bereits um 1500 vorne lag(71,7%), erkämpft sich das Oobd. (um 1500 65,5%,d. h. noch unterdurchschnittlich) in der Zeit zwi-schen 1500 und 1700 seine Vorrangstellung (ebd.,272). Unter den vier von Schildt herangezogenenGattungen (ebd., 259; 269) liegen Fachprosa(85,4%) und Roman (84,9%) überdurchschnittlich,Briefe durchschnittlich (81,1%), während im Bil-dungsschrifttum der Prozentsatz der vollständigenKlammern relativ niedrig ist (74%). Ein Vergleichmit der Zeit um 1500 ist kaum möglich, da für denersten Untersuchungszeitraum mit Ausnahme derFachprosa andere Gattungen gewählt wurden. Beider Fachprosa ist der Zuwachs an vollständigenKlammern geradezu dramatisch (ebd., 273f.): um1500 noch 47,3% (weit unterdurchschnittlich, anletzter Stelle unter den Gattungen), um 1700 85,4%(an erster Stelle).

Entsprechend der Zunahme der Klammerbil-dung kommen Ausklammerungen im 17. Jh.nur begrenzt vor (Admoni 1980, 343ff.; ders.1985, 1540).

In Schildts Material wird um 1700 zu 93,7% nurein Satzglied ausgeklammert (1976, 265). Im Ver-gleich zu der Zeit um 1500 (89,4%) ist dies einleichter Zuwachs (ebd., 277). Ausgeklammert wer-den kann nahezu alles: (nichtpronominale) Sub-jekte, Objekte, präpositionale Adverbiale und At-tribute aller Art. Das Reflexivum kann nicht ausge-klammert werden (ebd., 266). Wie oben erwähnt,entfallen über 50% der Ausklammerungen auf At-tribute und Vergleichsadjunkte. Häufig ausgeklam-mert werden auch Präpositionalobjekte (12,7%)und Kausalbestimmungen in Form von Infinitiv-konstruktionen (11,1%) (ebd., 267). Der Vergleichmit der Zeit um 1500 (ebd., 278) enthält deutlicheTrends, darunter auch Überraschungen: Die Zahlder ausgeklammerten kasuellen und präpositiona-len Objekte ging stark zurück (16,6% > 3% bzw.33,7% > 12,7%). Am radikalsten ist der Rückgangbei den Lokalbestimmungen (23,4% > 3,6%), aberauch die Ausklammerung nicht ‘satzförmiger’Temporal- und Kausalbestimmungen nimmt pro-zentual ab (5,9% > 1,3% bzw. 5,9% > 1,8%). DieAusklammerung von Subjekten ist zwar unbedeu-tend, nimmt jedoch kaum ab (3,8% > 3,3%).

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Der extreme Rückgang bei den ausgeklammer-ten Lokalbestimmungen deutet auf ein Problemder Korpuswahl hin: Das häufige Vorkommen vonausgeklammerten Lokalbestimmungen um 1500konzentriert sich auf Einfachsätze in Reisebe-schreibungen und Chroniken, auf zwei Gattungen,die in die Untersuchung der Zeit um 1700 nichtmehr einbezogen wurden (ebd., 279). Folglichkönnte der Befund um 1500 „auf eine gattungsspe-zifische Eigenheit dieser beiden Genres hindeuten“(ebd.). Dieses scheinbar kleine Problem der Gat-tungswahl führt jedoch nicht nur zu einem offen-sichtlichen und auch von Schildt erkanntenPseudo-Trend bei den Lokalbestimmungen, son-dern es führt natürlich auch zu Verschiebungen inder gesamten Statistik.

79,5% der Ausklammerungen um 1700 sindnach Schildt (ebd., 269) semantisch oder strukturellnicht notwendig, was den Schluß nahelege, daß eseinen Zusammenhang zwischen der Valenz desHauptverbs und der Stellung der Satzglieder gibt.

Was die Adjunktklammer anbelangt (Ebert1986, 109f.), ist sie bereits im 16. Jh. die Regel (dieStellung des Finitums im mhd. abhängigen Satzwar noch „weitgehend frei“ (Grosse 1985, 1157)).Ausgeklammert werden meist Präpositionalphra-sen. Im 17./18. Jh. geht die Frequenz der Ausklam-merung aus der Adjunktklammer noch weiter zu-rück. Da die Nachstellung des Finitums des Neben-satzprädikats erst im 18. Jh. zur Norm wird unddanach weiter vordringt (s. 3.3.2.), ist es jedochdenkbar, daß die ‘Permeabilität’ der klammer-schließenden Verbalkomplexe im 17. Jh. (und nochmehr davor, als die Zwischenstellung des Finitumsebenfalls eine wichtige Rolle gespielt hatte) generellgrößer war als im 18. Jh. (und später). M. a. W.,Ausklammerung aus der Adjunktklammer findetunter sich permanent wandelnden strukturellen Be-dingungen statt.

Geht man mit Eichinger (1995, 311f.) davonaus, daß die Grammatikalisierung der Satz-klammer zu Beginn des 18. Jhs. erfolgte (s.hierzu ausführlich 4.1.) muß angenommenwerden, daß seit dieser Zeit die Normen derKlammerbildung und der Ausklammerungrelativ stabil sind und daß demnach Häufig-keitsunterschiede zwischen einzelnen Texten,Gattungen oder Funktionalstilen weder eineTendenz zum Abbau der Satzklammer (wiegelegentlich fürs 20. Jh. angenommen wurde,s. hierzu Admoni 1973, 87f.) noch eine wei-tere ‘Zementierung’ der Klammerstrukturensignalisieren.

Ausgeklammert werden im 18. Jh. „vor allem Infi-nitivkonstruktionen, Nebensätze […], Konstruktio-nen mit der Vergleichssemantik, verselbständigteKomponenten und in geringerer Anzahl die Präpo-sitionalkonstruktionen“ (Admoni 1990, 215), d. h.die Glieder, „die strukturell und intonationsmäßigmit dem Satzkern nicht ganz eng verbunden sind“

(ders. 1987, 111). In den Bibelübersetzungen ab derMitte des Jhs. verschwinden die in den früherenÜbersetzungen belegten Ausklammerungen desSubjekts und des Prädikatsnominativs, des Dativ-objekts bzw. � nach einem Infinitiv mit zu � dieAusklammerungen sowohl des Dativ- als auch desAkkusativobjekts (Folsom 1985, 147�149).

Im 19./20. Jh. werden dieselben Typen von Ele-menten ausgeklammert wie im 18. Jh. (Admoni1985, 1552; ders. 1987, 111). In den Bibelüberset-zungen ab 1825 kehren zwar die Ausklammerungenvon Subjekten und Objekten vereinzelt zurück(Folsom ebd., 147f.), doch handelt es sich dabei umoffensichtliche Archaisierungen.

Über die Häufigkeit der Ausklammerungen im18. Jh. wissen wir wenig. Bei Lessing und den Stür-mern und Drängern werden sie auf jeden Fall be-vorzugt gebraucht (Admoni 1990, 215f.), doch gehtes hier vor allem um bewußte Stilprägung.

Was Admonis Häufigkeitszählungen für Klam-merbildung und Ausklammerung im 19. Jh. anbe-langt (1987, 100ff.), lassen sie sich leider zu denenvon Schildt nicht in Beziehung setzen. Nicht nurwegen der Korpuswahl nicht � Admoni unter-suchte Auszüge aus Konversationslexika und Ro-manen �, sondern weil Admoni andere Klammer-typen untersuchte (unter diesen auch die Adjunkt-klammer) und vor allem, weil er bei den Konversa-tionslexika auch die Elementarsätze ohne Klam-mer, bei den Romanen jedoch nicht einmal dieSätze mit vollständigem Rahmen in die statistischeAuswertung einbezogen hat. Deshalb läßt sich dasVerhältnis der vollständigen zur unvollständigenSatzklammer nicht einmal bei den Konversations-lexika feststellen, da der Prozentsatz der Sätze ohneKlammer (also wohl vor allem der Sätze mit prä-sentischem/präteritalem Finitum) je nach Text sehrverschieden ist (er schwankt zwischen 20% und59%, ebd., 102). Admoni kommt zu dem Schluß,daß bei den Konversationslexika die Zahl (!) derElementarsätze mit vollständigem Rahmen in derRegel deutlich höher sei als die Zahl der Elemen-tarsätze mit unvollständigem Rahmen. Ausklam-merungen scheinen am Anfang und am Ende des19. Jhs. häufiger gebraucht zu werden als in derMitte des Jahrhunderts (ebd., 104). Hinsichtlichder Ausklammerungen in den Romanauszügenkann Admonis Statistik (ebd., 109) lediglich ent-nommen werden, daß es zwischen dem Individual-stil der einzelnen Autoren große Unterschiede gibt(extrem viele Ausklammerungen bei Jean Paul, diewenigsten bei Kleist, das ‘Mittelmaß’ wird von Kel-ler, Stifter und Fontane verkörpert). „In den Ro-manauszügen ist die Länge des Nebensatzes für dieZahl der Ausklammerungen von Bedeutung“(ebd., 110).

Nach Betten (1993, 142) gewinnt die Ausklam-merung in den verschiedenen Funktionalstilen(auch in der Literatur) seit dem 19. Jh. wieder anBedeutung. Sie soll � so wie auch die vielfältig ge-nutzten Satzellipsen � „Assoziationen an die ge-sprochene Sprache hervorrufen“ (ebd.). Eine be-sondere Form der Ausklammerung, die Admoni als

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Parzellierung bezeichnet (Dann zog sie die Hand-schuhe aus. Ganz langsam. P. Altenberg, s. Admoni1985, 1548), verbreitet sich um die Jahrhundert-wende und wird im 20. Jh. zuweilen massenhaft ge-braucht (Admoni ebd.).

Seit Ende des 19. Jhs. ist die Ausklammerung„ziemlich häufig“ (Admoni 1985, 1552), aber dieKlammerstruktur des Dt. scheint nicht in Gefahrzu sein (Admoni 1973, 86ff.). Selbst bei Sätzen mittrennbaren Präfixen kommt es � gemessen an derZahl der klammerenthaltenden Sätze � durch-schnittlich zu nur 26% Ausklammerungen (nachZählungen von R. Rath in Texten der modernenpopulärwissenschaftlichen Literatur, zitiert nachAdmoni ebd., 92). In der schöngeistigen Literaturum die Mitte des 20. Jhs. liegt der Prozentsatz derAusklammerungen im Durchschnitt niedriger; esgibt hier jedoch zwischen den einzelnen Autorenbzw. auch zwischen den Werken desselben Autorserhebliche Differenzen (ebd., 92f.).

Untersuchungen zur Gegenwartssprache (Lite-raturüberblick in Makovec 1983, 95f.) belegen inallen Funktionalstilen eine deutliche Zunahme derAusklammerung, die aber im wesentlichen auf dasKonto der Präpositionalphrasen geht. In dem Ma-terial von Makovec (60er und 70er Jahre) stellennämlich in der Belletristik 98,2%, in der Presse94% aller ausgeklammerten Elemente Präpositio-nalphrasen dar (Makovec ebd., 99).

Auf das Problem der Erklärung der Heraus-bildung, des Vordringens und der Grammati-kalisierung der Klammerstrukturen (Nomi-nal- und Verbalklammer) kommen wir in 4.1.zu sprechen.

3.3.2. Die Verbstellung ist getrennt nachHaupt- und Nebensatz bzw. Finitum (imHauptsatz) und Finitum � infinitem Kom-plex (im Nebensatz) zu untersuchen.

Die Stellung des Finitums im Aussagehaupt-satz entspricht bereits im Mhd. und Frnhd.im wesentlichen der heutigen Norm (Grosse1985, 1157; Ebert 1993, 432). Doch sind ineinigen Fällen bis ins Nhd. hinein auch an-dere Stellungen belegt. Zuerst zur Erststel-lung:

Die sog. Inversion nach und (Wir wollen fort undsoll die Hasenjagd angehn (Goethe), zitiert nachFleischmann 1973, 291) erregte noch „kurz vor derJahrhundertwende die Gemüter“ (Fleischmannebd.). Die Erststellung des Finitums nach und warvom Ahd. bis ins 17. Jh. genauso normal wie dieheute übliche Zweitstellung (Ebert 1986, 103). ImVerlauf des 18. Jhs. kommt sie zunehmend außerGebrauch, bei Lessing, Schiller und Goethe ist sienur noch vereinzelt belegt (Behaghel 1932, 31;33f.). Selbst die Bibelsprache, in der Luthers Ein-fluß (auch in der Wortstellung) lange nachwirkt,bleibt von dieser Entwicklung nicht ausgenommen(Folsom 1985, 145f.): Die Luthersche Inversion

nach und wird in den Bibelübersetzungen nach1770 aufgegeben (in einigen archaisierenden Über-setzungen von 1850 bis heute taucht sie jedoch ge-legentlich wieder auf). Im 19./20. Jh. kommt dieInversion nur noch archaisierend (z. B. bei denBrüdern Grimm) bzw. in amtlichen Schreiben vor(Behaghel 1932, 35).

Die Inversion nach und fand bisher „keine über-zeugende Erklärung“ (Ebert ebd.). Behaghel (1932,31) meinte, und hätte ursprünglich ‘demgegenüber’bedeutet. Daher besetze das Finitum nach diesemadverbialen und eigentlich gar nicht die Erst-, son-dern ganz normal die Zweitstelle. Ähnlich urteiltenach Fleischmann (1973, 291ff.) auch Wustmannmit dem Unterschied, daß er als Bedeutung ‘undfolglich/und dabei’ annahm (Fleischmann ebd.,293). Eine andere Erklärungshypothese bietet sichauf der Basis der Untersuchungsergebnisse zumÜbergang von der Hör- zur Leserezeption an (Bet-ten 1993, 135ff.): Bis ins 16. Jh. überwog die Hör-rezeption. Die Ereignisgrundierung (Vordergrundvs. Hintergrund) erfolgte nicht mit Hilfe einer kla-ren Unterscheidung von Haupt- und Nebensatz,sondern z. B. durch die Einfügung von Konnekto-ren wie do und und. Nach den Untersuchungen vonClaudia Riehl (ebd., 137f.) zeigt und in der Periodeder Hörrezeption „den Fortbestand der momenta-nen Grundierung an (Vordergrund oder Hinter-grund), während da die Vordergrundkenntnissekennzeichnet“ (ebd., 138). Hieraus meine Hypo-these: Und ohne Inversion zeigt den Fortbestandder momentanen Grundierung an, und mit Inver-sion kennzeichnet analog zu da die Vordergrund-kenntnisse. Nach dem Übergang zur Leserezeptionund der Herausbildung der klaren Hauptsatz/Nebensatz-Unterscheidung kommt es nach einerZeit der Übergeneralisierung des traditionellen, je-doch funktionslos gewordenen Musters (‘Blüte-zeit’, 17. Jh.) zu dessen Untergang.

Sonst ist die Erststellung im Aussagehauptsatzim Nhd. selten. Bei Verba dicendi ist sie seit demMhd. belegt, im Frnhd. wird dieses lateinische Mu-ster auch auf andere Verben übertragen und selbstim Volkslied verwendet (Behaghel 1932, 37f.). Da-her sein volkstümlicher Anschein, z. B. sah einKnab’ ein Röslein stehn (Goethe). Üblich ist dieErststellung im Nhd. nach Dal (1962, 174) auch inSätzen mit doch, z. B. hat der alte Hexenmeistersich doch einmal wegbegeben (Goethe). Ein Rest derahd. Erststellung ist nach Paul (1919, 71) die heu-tige Erststellung in weiß Gott bzw. in analogen Bil-dungen (weiß der Himmel/der Henker/der Kuk-kuck).

Die Letzt- oder Späterstellung des Finitumsist im nhd. Aussagehauptsatz genauso ‘exo-tisch’ wie die Erststellung:

Die Letztstellung war der strukturelle Normalfallin Parallelsätzen vor allem mit je … je/desto/umso(Behaghel 1932, 27f.; Paul 1919, 76f.; Dal 1962,175f.; Ebert 1986, 104), z. B. je toller das Bier ge-brauet warde, je besser es mir schmeckte (Courage,nach Behaghel ebd., 27). Anstelle der früheren

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Letztstellung tritt die Zweitstellung im Nachsatz im15. Jh. auf. Sie setzt sich im 17. Jh. durch, verein-zelte Belege gibt es jedoch auch noch im 18. Jh. ImSprichwort wes Brot ich esse, des Lied ich singe istdie alte Wortstellung bewahrt. Auffallend auch beidiesem Typ von Wortstellungswechsel ist es, daß erparallel zum Übergang von der Hör- zur Lesere-zeption bzw. zur Herausbildung der klaren Haupt-satz/Nebensatz-Unterscheidung erfolgt ist.

Ansonsten lebt die Letzt- oder Späterstellung alsgerm. Erbe vor allem in der Dichtung, bisweilenaber auch in der Prosa weiter (Paul 1919, 75f.; Be-haghel 1932, 23f.), z. B. die Leute verwundert michansahn (Heine). Nach Paul (ebd., 76) erlebt diesealte, volkstümliche Letztstellung im 18. Jh. eineArt Renaissance.

Das Problem der Verbstellung im Nebensatzist zum einen im Zusammenhang mit demProblem der Herausbildung der Adjunkt-klammer zu sehen (3.3.1.). Zum anderen gehtes dabei um das Problem der Stellung des Fi-nitums und der infiniten Teile im mehrgliedri-gen Nebensatzprädikat/Verbalkomplex. Wirwenden uns im folgenden diesem zweitenProblem zu, möchten aber weiter unten (4.1.)noch zeigen, daß die beiden Probleme nurverschiedene Aspekte desselben Problemsdarstellen.

Zum Problem der Verbstellung im mehrgliedrigenVerbalkomplex gibt es beispielhafte empirische Un-tersuchungen: Härd 1981 und � ergänzend dazu �Takada 1994. Da Härd (ebd., 7f.) 16 Typen vondrei- und viergliedrigen Verbalkomplexen (z. B.hätte machen können; würde sehen lassen können)unterscheidet, ist eine detaillierte Vorstellung derUntersuchungsergebnisse nicht möglich.

Was die Stellung des Finitums im mehrgliedri-gen Verbalkomplex anbelangt, ist im Nhd.das Vordringen der Nachstellung zu beob-achten. Doch handelt es sich hier um einerecht komplexe Entwicklung:

Die im 16. Jh. verbreitete Zwischenstellung desFin. (gehandelt seyn worden) wird im 17. Jh. aus derSchriftsprache beinahe vollkommen verdrängt, dieNachstellung wird bei zweigliedrigen Prädikatenschon gegen Ende des 16. Jhs. zur Norm (Härd1981, 98f.). Somit gilt in der ersten Hälfte des17. Jhs. folgende (tendenzielle) Opposition (ebd.):Nachstellung des Fin. bei zweigliederigen, Voran-stellung bei drei- und viergliedrigen Verbalkomple-xen. Aufgehoben wird diese Opposition lediglichbei 2 (von 16) Typen (s. auch Takada 1994, 195):In den Nebensatzprädikaten mit den Hilfsverbensein bzw. haben wird das Hilfsverb im 17. Jh. typi-scherweise weggelassen (s. 3.4.4.). Da nach Härdvon einer vollständigen Adjunktklammer erst beiNachstellung des Fin. gesprochen werden kann(1981, 123), verzögere die genannte Opposition dievollständige Herausbildung der Adjunktklammer

(ebd.). Bei den dreigliedrigen Nebensatzprädikatenkönne erst um die Mitte des 17. Jhs. das Vordrin-gen der Nachstellung beobachtet werden. Die„Einbruchsstellen der Nachstellung“ sind die Kom-plexe mit den „semantisch gewichtigeren Modal-verben“ (ebd., 90).

Takadas Untersuchungsergebnisse modifizierendie von Härd dahingehend, daß das Vordringender Nachstellung bei den dreigliedrigen Komplexen(mit modalem Fin.) bereits in der ersten Hälfte des17. Jhs. deutlich nachweisbar ist (Takada 1994,195�197), was nach ihm die ‘Verzögerungsthese’von Härd widerlegt (ebd., 198). (Wer in diesemPunkt recht hat, läßt sich nicht entscheiden. Aufjeden Fall ist es methodologisch sehr aufschluß-reich, wie stark sich unterschiedliche Periodisierun-gen nahezu desselben Untersuchungszeitraumesund/oder unterschiedliche Korpora auf das Ergeb-nis auswirken können.)

Die Strukturwandlung, die sich im 17. Jh. beiden dreigliedrigen Verbalkomplexen angekündigthat, bricht im 18. Jh. durch (Härd 1981, 123f.).Beispielsweise überwiegt beim Typ verwirklichtwerden konnte die Nachstellung erstmals in der er-sten Hälfte des 18. Jhs. In der zweiten Jahrhundert-hälfte steigt ihr prozentualer Anteil auf über 75%,1801�1840 liegt er bereits bei 89,1% (ebd., 124).Die Nachstellung wird auch in drei anderen drei-gliedrigen Nebensatzprädikaten zur Norm, darun-ter auch beim Typ gemacht worden ist, bei dem im17. Jh. noch die Weglassung dominierte (ebd.,115�117). Somit gilt die frühere Opposition zwi-schen zweigliedrigen Verbalkomplexen einerseitsund drei- bzw. viergliedrigen andererseits nichtmehr. Der vollständigen Verwirklichung der Nach-stellung wirkt allerdings nach Härd (ebd., 124) dieTendenz entgegen, daß der Satzschluß einem Ele-ment mit hohem Mitteilungswert vorbehalten seinsollte. Daher tendieren Modalverben zur Nachstel-lung, nicht jedoch Hilfsverben (hätte wissen kön-nen; wird einnehmen können).

Für den Zeitraum 1841�1975 ist „eine Reduzie-rung der schriftsprachlich gebräuchlichen syntakti-schen Strukturen und eine damit zusammenhän-gende Stabilisierung der Normen“ kennzeichnend(Härd ebd., 150). Beobachtbar ist das weitere Fort-schreiten der Nachstellung, ohne daß sie alle Typenerfaßt hätte bzw. ohne daß bei allen Nachstellungs-typen die Nachstellung uneingeschränkt geltenwürde (ebd., 145ff.; 150f.): Bei den viergliedrigenTypen getroffen worden sein wird und gebracht wor-den sein sollte, bei denen 1711�1840 noch die Vor-anstellung dominierte, ist eine Umkehrung der Fre-quenzverhältnisse feststellbar. Das gleiche gilt fürden dreigliedrigen Typ übertragen lassen würde. Diefrühere nur leichte Überlegenheit der Nachstellungbeim Typ übertragen lassen wollte ist nun überwäl-tigend. ‘Resistent’ sind der Typ wird machen kön-nen, bei dem es im Material von Härd ausschließ-lich Belege mit Voranstellung gibt (aber er belegtdie Nachstellung � darstellen können werden �außerhalb des Korpus bei Kuno Lorenz (1973), s.ebd., 185, Anm. 127), und der Typ sollte verstören

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können. (Das Fin. des dreigliedrigen Verbalkomple-xes mit ‘Ersatzinf.’ � hätte machen können � warbereits im 16. Jh. nahezu ausschließlich vorange-stellt, s. ebd., 49; 51).

Zusammenfassend können folgende histo-risch wirksame Faktoren genannt werden, diedie Tendenz zur Nachstellung gefördert ha-ben und fördern bzw. gehemmt haben undhemmen (Härd 1981, 168f.).

(1) Die Anzahl der Verben im Verbalkomplex:Viergliedrige Verbalkomplexe leisten der Nachstel-lung mehr Widerstand als dreigliedrige, letzteremehr als zweigliedrige;(2) Die grammatische Form des inifiten Feldes:Aus Infinitiven bestehende infinite Felder (z. B.hätte machen können) widerstreben mehr der Nach-stellung als aus Partizipien bestehende (z. B. getrof-fen worden sein wird);(3) Der Bedeutungsgehalt der Auxiliare: Die Mo-dalverben tendieren stärker zur letzten Stelle als dieHilfsverben. (Wie am Typ sollte verstören könnenerkennbar, gilt dies trotz Voranstellung des Fin.auch bei zwei Modalverben).

Takada (1994, 199f.) bestätigt die Wirksamkeitder Faktoren (1) und (3) auch fürs 17. Jh., meintjedoch, daß der zweite Faktor im 17. Jh. „gar nichtmehr wirksam zu sein (scheint)“ (ebd., 199). Dar-über hinaus nennt er noch zwei weitere Faktoren(bezogen nur aufs 17. Jh.):(4) In den (von Härd nicht untersuchten) Typen zuverstehen sein wird und zu verstehen sein muß för-dert sein die Nachstellung des jeweiligen Auxiliars;(5) Die Nachstellung des Fin. in den Komplexenmit sein-Patienspassiv (‘Zustandspassiv’) � z. B.gefüttert sein soll/wird � kommt früher und häufi-ger vor als in denen mit werden-Patienspassiv(‘Vorgangspassiv’).

Dialektale Unterschiede scheinen im Nhd.nicht (mehr) entscheidend zu sein, es gibt je-doch große Unterschiede zwischen Autorenderselben Region (Takada ebd., 206�208):

Die frühere Konzentration der Nachstellung aufobd. Texte gilt im 17. Jh. nicht mehr, in der zweitenJahrhunderthälfte übernimmt das Md. sogar dieFührung. Auch in dem nd. Raum nimmt die Nach-stellung signifikant zu. Für ein erstarkendes Norm-und Stilbewußtsein im 17. Jh. spricht die Tatsache,daß die idiolektalen Unterschiede u. U. größer sindals die regionalen (s. auch ebd., 209�213).

Was die Stellung der inifiniten Teile im Ver-balkomplex anbelangt, können wir im Nhd.das Vordringen des Prinzips ‘rechts determi-niert links’ beobachten.

Bei der Darstellung der Abfolge der Verben im Ver-balkomplex folgen Härd wie Takada einer depen-denziellen Konvention, nach der die tiefgestellteZiffer den Grad der Dependenz im Verbalkomplexbezeichnet. Z. B. gemacht werden konnte � V3V2V1

(rechts determiniert links); wird einnehmen kön-

nen � V1V3V2 (rechts determiniert links mit Aus-nahme des vorangestellten Finitums). Da bei derPräsentation der Untersuchungsergebnisse zur Ab-folge der infiniten Teile V1 (� das Fin.) ausgeklam-mert wird, gilt das obige Prinzip auch für (wird)einnehmen können � (V1)V3V2.

Entscheidend bei der Durchsetzung des Prin-zips ‘rechts determiniert links’ ist einerseitsdie Anzahl der Verben im Verbalkomplex,andererseits die Art des jeweiligen AuxiliarsV2, d. h. des obersten infiniten Regens:

Bei den dreigliedrigen Nebensatzprädikaten gilt dieAbfolge V3V2 (hat) behandeln müssen bereits in derUntersuchungsperiode 1581�1710 fast durchge-hend (Härd 1981, 96). Wie Takada (1994, 201f.)gezeigt hat, hält sich jedoch die Abfolge V2V3 (z. B.(werden) müssen sitzen) am Anfang des 17. Jhs.noch recht gut, bei manchen Typen überwiegt siesogar. Der Wandel von V2V3 zu V3V2 wird bis ca.1620 durch präfigierte oder durch eine Bestim-mung erweiterte V3 verhindert, z. B. nicht hat kön-nen in den Bund kommen (Harsdörffer) (ebd., 203).Die Abfolge V2V3 wird erst ab Mitte des 17 Jhs.marginal. Ab dem 18. Jh. gilt dann das Prinzip‘rechts determiniert links’ fast ausnahmslos, dieAbfolge V2V3 erlischt (Härd ebd., 130). Kompli-zierter ist die Entwicklung bei den viergliedrigenVerbalkomplexen:

In der Untersuchungsperiode 1581�1710 gibt esnoch drei charakteristische Abfolgen (ebd., 94�96): die älteren Varianten V4V2V3 (z. B. (werden)gebraucht sein worden) und V2V4V3 ((werden) seingebraucht worden) und die früher marginaleV4V3V2 ((werden) gebraucht worden sein). Doch istdie Variante V4V2V3 mit wenigen Ausnahmen ausder Zeit um 1600 belegt (Härd ebd., 94; Takadaebd., 202), als ‘ernstzunehmende’ Konkurrentenbleiben also bereits im 17. Jh. nur V2V4V3 undV4V3V2. Im 17. Jh. überwiegt noch deutlichV2V4V3, doch nimmt am Ende des JahrhundertsV4V3V2 signifikant zu (Takada ebd.). Bei denKomplexen mit drei Infinitiven (‘Ersatzinf.’ einge-schlossen) gibt es nach Härd (ebd.) einen deutli-chen Unterschied in Abhängigkeit davon, ob V2

haben oder ein Modalverb ist. In den Komplexenmit Modalverb (z. B. (wird) lauffen lassen können)ist V4V3V2 der Abfolge V2V4V3 nur leicht unterle-gen (14 vs. 19 Belege). In den Komplexen mit haben(z. B. (soll) haben erbauen lassen) ist hingegenV4V3V2 gar nicht belegt, V2V4V3 dominiert deut-lich über V2V3V4. ((soll) haben lassen herumb tra-gen).

In der Untersuchungsperiode 1711�1840kommt es zur ‘statistischen’ Verwirklichung desPrinzips ‘rechts determiniert links’ (ebd., 128�132): Die (bereits im 17. Jh. marginale) AbfolgeV4V2V3 erlischt. In allen Komplexen mit Aus-nahme der Typen mit haben als V2 dominiert jetztV4V3V2, wenn auch in den Komplexen mit Modal-verb als V2 nur leicht (10 vs. 9 Belege). In denKomplexen mit haben als V2 ist nur noch die Ab-

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folge V2V4V3 ((würde) haben gebrauchen können)belegt.

In der letzten Untersuchungsperiode (1841�1975) werden die aus dem vorangehenden Zeit-raum belegten statistischen Tendenzen zu struktu-rellen Normen (ebd., 152): Die Abfolge V4V3V2 giltausnahmslos in allen Komplexen mit Ausnahmeder Komplexe mit haben als V2. Hier gilt aus-nahmslos V2V4V3.

Während dialektale Unterschiede bei derStellung des Finitums keine wesentliche Rollespielen, sind sie bei der Abfolge der infinitenTeile im 17. Jh. noch durchaus bedeutend(Takada ebd., 208f.):

Die ältere Abfolge V2V3 ist in den omd. und obd.Texten wesentlich seltener als in den übrigenSprachlandschaften.

3.3.3. Die Stellung der nichtverbalen Gliederim Nhd. muß im Vergleich zur Verbstellungals schlecht erforscht eingestuft werden. Da-her wollen wir uns nur auf einige Abweichun-gen von der Gegenwartsnorm beschränken:

Im Mittelfeld steht im späten 18 und frühen 19. Jh.das pronominale Objekt häufig nach dem nomina-len Subjekt (Ebert 1986, 117). Unter den unbeton-ten Pronomina nimmt das pronominale Subjektzwar gewöhnlich die Erststelle ein, doch gibt es beiEnklise Ausnahmen, z. B. so geht mir’s mit allem(Goethe) (ebd., 118).

Auch bei der Dativ/Akkusativ-Abfolge spielt dieKlitisierbarkeit eine Rolle. Bei pronominalem Da-tiv und Akkusativ ist zwar die gewöhnliche Reihen-folge Akk. vor Dat., doch kommen auch die Ket-ten sich’s, mich’s, mir’s, dir’s, ihr’s häufig vor (Be-haghel 1932, 73�75), z. B. er sah mir’s um die Lip-pen zucken (Mörike, nach Behaghel ebd., 75). Kliti-siert und dem Dativ nachgestellt werden könnenauch ihn und sie, z. B. so kannst du dir ihn […] be-zeuchen (Keller), Just hat mir sie wiedergegeben(Lessing) (Behaghel ebd., 74). Bei nominalem Da-tiv und Akkusativ gilt die heutige Reihenfolge, Ab-weichungen haben besondere textgrammatischeoder pragmatische Gründe (Behaghel ebd., 166f.).

Bei der Anordnung von obliquen Personalpro-nomina und Reflexiva gibt es gegeneinander arbei-tende Prinzipien: Einerseits sind sie thematisch(Personalpronomina) bzw. kongruieren mit demFinitum (Reflexiva), was für eine Linksplazierungim Mittelfeld spricht. Andererseits befindet sichdas Vollverb, mit dem sie grammatisch und seman-tisch (auf eine jeweils andere Weise) eng verbundensind im Falle einer Satzklammer am rechten Randdes Mittelfeldes, was eine Rechtsplazierung imMittelfeld begünstigen müßte. Es ist wohl dieser‘Spannung’ zu verdanken, daß die Späterstellungvon obliquen Personalpronomina und besondersvon Reflexiva bis ins 19. Jh. belegt ist (Behaghelebd., 69; 72), z. B. warum soll das alte Traumbildnoch immer uns vor die Augen gestellt werden

(Fichte), so werden einst die Würmer auch an eurenfleischernen Stötzchen sich erlustigen (Mörike) (Be-haghel ebd., 69). (Belege für die Späterstellung gibtes nur in Sätzen mit Satzklammer.) Nach Schildt(1976, 248) steht das Reflexivum allerdings bereitsum 1500 gewöhnlich unmittelbar hinter dem Fini-tum, und um 1700 gelte dasselbe (ebd., 262).

3.4. Komplexe SätzeIn diesem Abschnitt sollen nach einer kurzenSkizze quantitativer Entwicklungstendenzenvor allem einige Nebensatztypen und Verän-derungen im Bereich der Satzkonnektoren(Konjunktionen, Subjunktionen, Relativa,Konjunktionaladverbien, Infinitivkonnekto-ren (� Einleitungsmorpheme von Infinitiv-konstruktionen)) behandelt werden. Der Be-handlung der Nebensatztypen/Satzkonnekto-ren gehen methodologische Überlegungen zuden strukturellen Tendenzen in diesem Be-reich voraus. Zum Schluß wird kurz auf ei-nige � teils epochentypische � Konstruktio-nen eingegangen. Empfohlen sei zum Themadieses Abschnitts auch die an übersichtlicherKompaktheit kaum zu überbietende Zusam-menschau von Peter von Polenz (1994, 274�279). Für ausführliche statistische Angabenzur neueren Geschichte des Satzgefüges undzum Verhältnis Ganzsatz/Elementarsatz seiauf die einschlägigen Arbeiten von WladimirAdmoni (z. B. 1985) verwiesen.

3.4.1. Als tendenziell epochentypisch sind dieUmfangsveränderungen der Ganzsätze unddas jeweilige Verhältnis Hypotaxe/Parataxeanzusehen. Seit Ende der Barockzeit gibt eseine Tendenz zur Satzverkürzung und Para-taxe, die sich jedoch am Ende des 18. Jhs. insGegenteil verkehrt. Durch die Zunahme derSatzlänge und der Hypotaxe, die bis ca. 1850andauert, werden aber die barocken Wertenicht mehr wiederhergestellt. Die seit 1850andauernde erneute Tendenz zur Satzverkür-zung und Parataxe ist viel ausgeprägter, als esdie entgegengesetzte Tendenz vor 1850 war.Einige Details (die Werte zum Durchschnitts-umfang der Ganzsätze in der schöngeistigenProsa stammen alle von A. Subik, zitiertnach Admoni 1985, 1550):

Das 17. Jh. ist die „Blütezeit des überlangen undmehrgliedrigen Satzgefüges“, auch der Umfang desElementarsatzes und der NP nimmt zu (ebd.,1540). Trotzdem kann der Schachtelsatz, der erstim 16. Jh. aufkommt (Ebert 1986, 176), nicht als„eine besonders beliebte Konstruktion“ der Kanz-leisprache um 1700 angesehen werden (Admoni1980, 338). In der schöngeistigen Prosa enthält derGanzsatz im Durchschnitt 36,3 Wortformen.

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Im 18. Jh. geht der Umfang des Ganzsatzes unddes Satzgefüges zurück, Elementarsatz und NPwachsen jedoch weiter (ebd., 1542f.; 1545). In derschöngeistigen Prosa enthält der Ganzsatz imDurchschnitt 26,2 Wortformen. Auch die verhält-nismäßig langen Ganzsätze bei Winckelmann undKant � bei beiden ca. 41 Wortformen � sind we-sentlich kürzer als die Traktate des 17. Jhs. Längersind dagegen bei Winckelmann und Kant die Ele-mentarsätze (ebd., 1543).

Im 19./20. Jh. gehen Umfang und Komplexitätvon Ganzsatz und Satzgefüge zurück, NP und Ele-mentarsatz bleiben dagegen verhältnismäßig stabil(ebd., 1548f.). Allerdings ist hier die erwähnte ent-gegengesetzte Tendenz in der ersten Hälfte des19. Jhs. zu berücksichtigen: In der wissenschaftlich-technischen Literatur wächst die Anzahl der Wort-formen pro Ganzsatz von 25,54 im Jahre 1800 auf32 im Jahre 1850, pro Elementarsatz von 11,3 auf12,7 (Möslein 1974, 182f.). In der schöngeistigenProsa enthält der Ganzsatz in der ersten Hälfte des19. Jhs. im Durchschnitt 30 Wortformen. Nach1850 ist dann die Abnahme kontinuierlich: Ganz-satz in der wissenschaftlich-technischen Literatur(Möslein ebd.), 23,58 (1990) > 19,6 (1940); Ganz-satz in der schöngeistigen Prosa 23 (zweite Hälftedes 19. Jhs.) > 14,3 (20. Jh.). Nach 1940 ist in derwissenschaftlich-technischen Literatur eine leichteErhöhung sowohl der Ganz- als auch der Elemen-tarsatzlänge zu verzeichnen, die jedoch nach Mös-lein (ebd., 183) kein erneutes Vordringen der Hypo-taxe signalisiert. Sie ist vielmehr durch die stärkereAuffüllung der Elementarsätze mit Wortmaterialverursacht. Hier ist vor allem an die sog. Blockbil-dung, d. h. an Rechtserweiterungen in der NP, zuerinnern (Makovec 1983, 93ff.).

Das Vordringen der Parataxe nach 1850 kannvon verschiedenen Gesichtspunkten aus be-leuchtet werden (Möslein ebd., 186�189):

(1) Die Zahl der auf einen Einfachsatz entfallen-den Teilsätze nimmt geradezu dramatisch ab (be-sonders in der zweiten Hälfte des 19. Jhs.).(2) Die Zahl der auf einen Satzkomplex entfallen-den Einfachsätze nimmt dramatisch zu (besondersin der zweiten Hälfte des 19. Jhs. und zwischen1920 und 1940).(3) Das prozentuale Verhältnis Einfachsatz/Satz-gefüge verschiebt sich zugunsten des Einfachsatzes,kurz nach 1920 erlangt der Einfachsatz sogar dieprozentuale Überlegenheit.(4) Die Zahl der auf einen Hauptsatz entfallendenNebensätze nimmt ab (s. auch Sommerfeldt 1983,160).(5) Die Nebensätze vierten und höheren Gradesverschwinden gänzlich, die dritten Grades nahezuvollständig, und die Zahl der Nebensätze zweitenGrades nimmt auch ab (besonders drastisch in derzweiten Hälfte des 19. Jhs.).

Innerhalb des abnehmenden Anteils der Ne-bensätze seit Mitte des 19. Jhs. gibt es Fre-quenzverschiebungen im Gebrauch der ein-

zelnen Nebensatztypen. Einige Tendenzen(Möslein ebd., 190f.; Sommerfeldt ebd.,160�164):

Trotz leichter Abnahme dominieren immer nochdie Attributsätze: 47% in den Zeitungen (1964/65),ca. 34% in der wissenschaftlich-technischen Litera-tur (1960) und zwischen ca. 20% und 40% in derBelletristik (Mitte des 20. Jhs.). In Zeitungstextenund in der schöngeistigen Prosa nimmt der prozen-tuale Anteil der Objektsätze signifikant zu, in derwissenschaftlich-technischen Literatur bleibt er sta-bil. Eine beträchtliche Zunahme in allen Gattungenkönnen die weiterführenden Nebensätze verbu-chen. In der wissenschaftlich-technischen Literaturnimmt der Anteil der Subjektsätze drastisch, derKausal- und Konsekutivsätze signifikant zu.

Die häufigste Subjunktion ist schon im 19. Jh.daß, gefolgt von wenn. In Publizistik, Wissenschaftund Populärwissenschaft nimmt daß im 20. Jh. zu(über 50%), in der Belletristik wird es weniger häu-fig gebraucht.

3.4.2. Unter methodologischem Aspekt fälltauf, daß Veränderungen im Bereich der Satz-konnektoren und der Nebensätze überwie-gend unter ‘makrosyntaktischen’ Gesichts-punkten registiert werden: die Subjunktion xverdrängt y; z wechselt aus dem adverbialenBereich A1 in A2 über; der polyfunktionaleKonnektor k wird monofunktional; die Verb-letztstellung wird zur Norm usw.

Durch die ‘makrosyntaktische Brille’ gesehen kön-nen Veränderungen in diesem Bereich kaum andersals system- oder darstellungsfunktional gedeutetwerden. Darüber hinaus erwecken generelle Aussa-gen der obigen Art den Eindruck, daß das heutigeSystem der Konnektoren und Nebensätze in demhistorischen Augenblick ‘fertig’ geworden ist, indem ihre funktionale Verteilung mit der heutigenzur Deckung kam: „Das System der unterordnen-den Konjunktionen erreicht am Ende des 18. Jhs.ungefähr den Stand, der auch für die heutige Spra-che gültig ist“ (Admoni 1990, 212).

Empirische, d. h. auch unter ‘mikrosyntakti-schen’ Gesichtspunkten durchgeführte, Un-tersuchungen zu einigen Nebensatztypen ha-ben jedoch gezeigt, daß es auch im 19./20. Jh.bedeutende Veränderungen gibt. Wenn mangenauer, also auch ‘mikrosyntaktisch’, hin-schaut, stellt es sich sogar heraus, daß die seitdem Mhd. andauernde Tendenz zur struktu-rellen Trennung von Haupt- und Nebensatz,deren „sehr konsequent(e)“ Durchführungvon Admoni (1980, 348) bereits für die Zeitum 1700 postuliert wird, auch noch im20. Jh. anhält. Und durch das Vordringen desIndikativs in der indirekten Rede kommt seitca. 1800 sogar auch die gegenläufige Tendenz

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in Gang: In der uneingeleiteten indirektenRede (Klaus meint, er hat alles Menschenmög-liche getan) wird die formale Unterscheidungzwischen Haupt- und Nebensatz zunehmendaufgehoben. In dem Sinne, daß die Tendenzzur strukturellen Trennung auch den Abbauder Polyfunktionalität der Konnektoren be-inhaltet, gehört die vieldiskutierte Verbzweit-stellung nach weil, d. h. das (sprechsprach-liche) Aufkommen/Weiterbestehen einer Kon-junktion und einer Subjunktion weil (bzw.obwohl und während), ebenfalls zur gegenläu-figen Tendenz. Unklar ist der ‘historischeStatus’ von ‘unechten’ (Valentin), d. h. vonnichtintegrierten, Nebensätzen mit da, bevor,wenn, obwohl, auch wenn usw., z. B. Wenn duDurst hast, Bier ist im Kühlschrank (Valentin1986, 364; 369 und König/Auwera 1988), beidenen die formale Trennung durch die Zweit-stellung des Fin. im Hauptsatz ‘geschwächt’wird. Im Sinne von König/Auwera (1988,107�109) läge hier zwar ein unidirektionalerhistorischer Integrationsprozeß ‘non-integra-tive (� Zweitstellung des Fin. im Hauptsatz,kein Korrelat) > resumptive (� Zweitstel-lung des Fin. im Hauptsatz, Erststelle durchein Korrelat besetzt) > integrative’ (� Erstel-lung des Fin. im Hauptsatz) vor, der auch fürdie Geschichte der skand. Sprachen und desNl. charakteristisch sei, doch scheint mir kei-nesfalls sicher, daß das Dt. und das Nl. dasStadium der totalen Integration je erreichenwerden. Die Wortstellungsopposition zwi-schen ‘echten’ und ‘unechten’ Nebensätzen istnämlich ikonisch (Wenn du kommst, kommeich auch vs. Wenn du Durst hast, Bier ist imKühlschrank) und somit sehr wohl motiviert.Zwar kann also bei ‘unechten’ Nebensätzenvon keiner Gegentendenz, doch vielleichtauch nicht (mehr?) von einer klaren Tendenzzur formalen Trennung gesprochen werden.

Daß es eine deutliche historische Tendenz zurstrukturellen Trennung von Haupt- und Nebensatzgibt, wird hier natürlich nicht bestritten. Im folgen-den wird es zum Teil gerade darum gehen, diese zubelegen � aber eben auch für die Zeit nach dem18. Jh. Die wohl nicht so deutlich ausgeprägte Ge-gentendenz ist � abgesehen vom Modusgebrauchin der indirekten Rede � historisch noch kaum er-forscht. ‘Unechte’ Nebensätze und Infinitivkon-struktionen belegt Valentin bei Th. Mann, S. Lenz,Fr. Dürrenmatt und auch bei Th. Fontane: Um ih-nen so recht meine Stimmung zu zeigen, ich liebe dieschwarze Jette (nach Valentin ebd., 369). Ob dasparataktische weil zwischen dem 17. und dem20. Jh. ausgiebig belegt werden kann, ist eher frag-lich, denn in diesem Zeitraum hat es bereits ein festetabliertes schriftsprachliches Pendant: denn. Arndt

(1959, 408) bringt drei Belege aus Brechts „MutterCourage und ihre Kinder“. Hier wurden die weil-Hauptsätze zur bewußten Stilgebung eingesetzt.

Die Kriterien, auf deren Basis von einer Ten-denz zur strukturellen Trennung zwischenHaupt- und Nebensatz gesprochen werdenkann, sind mannigfaltig. Die folgende Listeist gewiß unvollständig:

(1) Die Herausbildung der Opposition Verb-Zweit/Verb-Letzt. Die Verabsolutierung dieses Kriteriumsführt zur übereilten Feststellung, daß die Tendenzzur formalen Scheidung zwischen Haupt- und Ne-bensatz bereits im Frnhd. ihren Abschluß gefundenhabe (Arndt 1959, 390f.).(2) Die Reduktion der Polyfunktionalität der ein-zelnen Satzkonnektoren, d. h. die Ausgliederungvon Konjuntionaladverbien, Subjunktionen, Kon-junktionen und Relativa.(3) Die Eingliederung des Noch-nicht-Nebensatzesin den Noch-nicht-Hauptsatz in Nachstellungdurch die Erstplazierung des Hauptsatzfinitums.Nach Fleischmann (1973, 318) kann im Mhd. ge-rade deshalb von keinem formalen, sondern nurvon einem rhythmischen Satzgefüge gesprochenwerden, weil diese Eingliederung noch nicht erfolgtist. Von einem ‘echten’ formalen Eingliederungs-prozeß sollte aber im Sinne des oben Gesagten vor-erst nur im Falle von ‘echten’ Nebensätzen (z. B.beim ‘echten’ Konditional Wenn du kommst,komme ich auch, aber nicht beim Pseudo-Konditio-nal Wenn du Durst hast, Bier ist im Kühlschrank)gesprochen werden.(4) Der Rückgang der Verbzweitstellung zugun-sten der Erststellung im uneingeleiteten Adverbial-satz (Verb-Zweit ist ja das ‘Gütezeichen’ des Aussa-gehauptsatzes).(5) Der Rückgang der uneingeleiteten Adverbial-sätze (mit Ausnahme des uneingeleiteten Konditio-nalsatzes).(6) Die Reduktion der Polyfunktionalität derVerberststellung (im Zusammenhang mit (5)).(7) Zunahme der subjunktional eingeleiteten unterden eingeleiteten Nebensätzen.(8) Einfügung von Partikeln in den Nebensatz,Herausbildung neuer Subjunktionen durch zuneh-mende Zusammenrückung von Subjunktion undPartikel und schließlich durch Festlegung des Ak-zents auf die Zweitsilbe der neuen Subjunktion(Konzessivsätze).(9) Der Übergang von d-Konnektoren zu w-Kon-nektoren bei den sog. weiterführenden Nebensätzen.(Erläuterung und/oder Belegung von (2)�(9) er-folgt in 3.4.3.)(10) Ein epochentypisches Kriterium (s. etwa Ad-moni 1985, 1540) sind die afiniten Konstruktio-nen (3.4.4.).

Kein Kriterium, aber wohl eine notwendigeBegleiterscheinung der Tendenz zur struktu-rellen Trennung ist die Reduktion der Poly-funktionalität der einzelnen Subjunktionen(s. auch Erben 1985, 1345).

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3.4.3. In unserem Zeitraum gibt es mannig-faltige Veränderungen im Bereich der Satz-konnektoren und der Nebensätze. Der umfas-sendste Strukturwandel (über die Grammati-kalisierung der Wortstellung hinaus) findetim Sinne des Kriteriums (2) statt. Es handeltsich in erster Linie um die Ausgliederung vonKonjunktionaladverbien und Relativa durchdie Aufhebung der Polyfunktionalität vond/s- und w-Konnektoren:

Noch im Frnhd. wurden d/s-Konnektoren und w-Konnektoren wie z. B. dafür, daher, darum und sobzw. weswegen, wofür, wie (wie auch die formalnicht d/s/w-Konnektoren sonst, also, insofern, inso-weit, inwiefern und inwieweit) regelmäßig mit Verb-Zweit und mit Verb-Letzt gebraucht (s. Fleisch-mann 1973, 115�119 mit vollständiger Liste dereinschlägigen Konnektoren). Folglich konnten so-wohl die d/s- als auch die w-Konnektoren relati-visch eingesetzt werden. Die Systemumwandlungd/s-Adverbien vs. w-Relativa findet nach Fleisch-mann (1973, 142; 204) bis Mitte des 16. Jhs. statt,doch finden sich Ausläufer des alten Systems, d. h.relativisch verwendete d/s-Konnektoren, noch amEnde des 18. Jhs., z. B. so einen Zwischenraumpflegte sie ihm nicht mit Annehmlichkeiten auszufül-len, deszwegen er lieber nicht ehe zu Tische kam(Goethe, nach Behaghel 1932, 19; weitere Belege inBehaghel ebd., 18f.). Goethe ist jedoch in dieserHinsicht kein typischer Chronist seiner Zeit(Hundsnurscher 1990, 426�429): Relativische d-Konnektoren (vor allem daher) sind im 18. Jh. nurnoch im konservativen Sprachgebrauch � beson-ders im Kanzleistil � üblich (sehr häufig sind siebei Gottsched). Bei Goethe erscheinen sie eher nurin amtlichen Schreiben, „quasi als textsortenspezi-fisches Zitat“ (ebd., 428).

Aus der Sicht der w-Konnektoren bedeutetdie Festlegung der d/s-Konnektoren auf dieadverbiale Funktion einen Wandel im Systemder sog. weiterführenden Nebensätze (zur Ab-grenzung, satz- und textsemantischen Lei-stung vgl. Holly 1988):

Da die relativischen d-Konnektoren (mit Verb-Letzt) im älteren Dt. auch die Funktion der ‘Wei-terführung’, d. h. der Einleitung eines kommentie-renden Elementarsatzes ausgeübt hatten, führte dieFestlegung der d/s-Konnektoren auf die adverbialeFunktion dazu, daß die ‘weiterführende’ Funktionvon den relativisch gebliebenen w-Konnektorenübernommen wurde. Im Falle der Ablösung vonweiterführendem das sieht dieser Prozeß wie folgtaus (Behaghel 1928, 724�727; Dal 1962, 201f.): ImFrnhd. herrscht das vor, mit dem zunehmend wel-ches konkurriert. Im 17. Jh. wird welches vorherr-schend, das jedoch in der zweiten Hälfte des18. Jhs. durch was abgelöst wird. Doch ist das aus-laufende das noch bis ins 18. Jh., das auslaufendeund im 18. Jh. noch sehr häufige welches bis ins19./20. Jh. belegt. Z. B.: ihm hatte man Hilarien be-

stimmt, das ihm sehr wohl bekannt war (Goethe,nach Dal ebd., 202); es heißt […] eine Gewissenlo-sigkeit […] voraussetzen, welches ich […] nicht statt-haft finde (Bismarck, nach Behaghel ebd., 725).

Den häufigsten weiterführenden Nebensatztypstellen heute nach Sommerfeldt (1983, 164f.) dieredesituierenden wie-Sätze mit 31,3% dar, gefolgtvon während-Sätzen (25,5%), wobei-Sätzen (17%)und was-Sätzen (14%). Weiterführende welches-Sätze sind in der Gegenwartssprache statistisch ir-relevant.

Wie der Wechsel von d-Konnektoren zu w-Konnektoren im System der weiterführendenNebensätze zu interpretieren ist, ist unklar.Einige denkbare Varianten:

(1) Will man den Prozeß als einen formalen Sy-stemzwang deuten, so ist es nicht eindeutig, vonwelcher ‘Seite’ der Zwang ausgeht: ‘Bewirkt’ dieFestlegung der d/s-Konnektoren auf die adverbialeFunktion den formalen Wandel bei den weiterfüh-renden Nebensätzen? Oder trägt umgekehrt derformale Wandel bei den weiterführenden Neben-sätzen zur Festlegung der d/s-Konnektoren auf dieadverbiale Funktion bei?(2) Holly (1988, 319) erwägt, daß „das Lateinischemit seinen gemeinsamen Formen von Interrogativaund Relativa das Vorbild geliefert haben (dürfte)“.(3) Die neue Gemeinsamkeit der Formen von In-terrogativa und Relativa ermöglicht auch die Hy-pothese, daß der Formwandel nur Ausdruck einessemantischen Wandels war. Während kommentie-rende Textanschlüsse früher eine Form der anapho-rischen Textdeixis darstellten, haben sie heute dieForm indirekter Fragen (Er fragte mich, weshalb siekündigen will vs. Er nutzt sie aus, weshalb sie kündi-gen will). Wenn man nun bedenkt, daß das Ver-drängen von das durch welches in der Übergangs-zeit von der Hör- zur Leserezeption erfolgt ist, undwenn man sich die Untersuchungsergebnisse vonClaudia Riehl über das die Vordergrundkenntnissekennzeichnende da � einen d-Konnektor � ins Ge-dächtnis ruft (s. 3.3.2.), so liegt die Hypothesenahe, daß kommentierende Textanschlüsse in derZeit der Hörrezeption als Vordergrundkenntnissevermittelt wurden, während sie in der Zeit der Le-serezeption Hintergrundkenntnisse ausdrücken. Inder Zeit der Hörrezeption wurde demnach ‘direk-ter’, ‘aufdringlicher’ kommentiert � so, wie esauch in der heutigen Sprechsprache geschieht (Ernutzt sie aus, deshalb will sie kündigen). Den Form-wandel d-Konnektor > w-Konnektor würde ich inAnlehnung an Überlegungen von Schrodt (1992 a,264; s. auch gleich unten) als eine Verstärkung derSubordination interpretieren (s. Kriterium (9)).

Die Veränderungen im Verhältnis der dreiwichtigsten (nichtweiterführenden) Relativawelch(-er/-e/-es), d(-er/-ie/-as) und so sindwohl zum Teil im Zusammenhang mit der Sy-stemumwandlung d/s-Adverbien vs. w-Rela-tiva zu sehen:

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Die Blütezeit des Relativums so reicht von derzweiten Hälfte des 15. Jhs. bis ins 17. Jh. (Behaghel1928, 730; Dal 1962, 206; Erben 1985, 1342). Im18. Jh. geht seine Verwendung zurück (Semenjuk1972, 145; Ebert 1986, 163). Im Einklang mit derSystemumwandlung wird dieser s-Konnektor alsoauf die adverbiale Funktion festgelegt.

Von den Konkurrenten ist welch seit dem 17. Jh.„ganz geläufig“, im 18. Jh. ist es „eher die gelehrteund bildungssprachliche Variante“ (Ebert 1986,161). Die Konkurrenz von welch und d ist in denperiodischen Schriften der ersten Hälfte des18. Jhs. gut nachvollziehbar (Semenjuk 1972, 147;149�151): In den moralischen und literarischenZeitschriften herrscht d vor, in den historisch-poli-tischen Zeitschriften und in den Zeitungen welch.In den wissenschaftlichen Zeitschriften gibt es imDurchschnitt ein Gleichgewicht, aber die Schwan-kungen sind groß.

Das Gleichgewicht (mit territorialen und funk-tionalstilistischen Unterschieden) hält wenigstensbis Mitte des 19. Jhs. an, wobei welch in künstleri-schen Texten häufiger war als sein Konkurrent(Sommerfeldt 1983, 162f.). Nach Dal (1962, 203)hätte welch im 19. Jh. d sogar beinahe aus derSchriftsprache verdrängt. Der normative Kampfgegen das als schwerfällig eingeschätzte welch (Dalebd.) führte schließlich zu seiner fast völligen Ver-drängung. Heute entfällt auf 99 Relativanschlüssemit d höchstens einer mit welch (Sommerfeldtebd.).

Daß die Verdrängung des welch vor allem seinernormativen Bekämpfung zu verdanken ist, stehtwohl außer Zweifel. Darüber hinaus könnte jedochauch die erwähnte Systemumwandlung eine Rollegespielt haben. Nachdem die w-Konnektoren aufdie weiterführende Funktion festgelegt worden wa-ren und somit formal mit den Interrogativa zusam-menfielen, war auch welch(-es) eher für die Rolledes weiterführenden Relativums (� Interrogati-vums) als für die des Relativpronomens prädesti-niert. Daß welch � wie oben erwähnt � auch indieser Funktion (von was) verdrängt wurde, istschon eine andere Geschichte.

Im Zusammenhang mit dem Relativum d istnoch zu erwähnen, daß seine syntaktisch, seman-tisch bzw. grammatiktheoretisch höchst interes-sante Liaison mit den Personalpronomina histo-risch noch kaum erforscht ist. Dabei deuten die we-nigen Hinweise zur Herausbildung dieser komple-xen Relativa auf eine Asymmetrie hin. Während esnämlich für die erst- und zweitpersonigen komple-xen Relativa des Typs d(-er/-ie/-as) ich, d(-er/-ie/-as) du Belege seit ca. 1500 gibt (Ebert 1986, 160),ist der (logophorische) drittpersonige Typ d(-er/-ie/-as) er/sie/es erst im Nhd. belegt (Behaghel1928, 753): der Staatsanwalt repliziert hierauf, wennihm diese Äußerungen gelten, der er doch auch dieHerren geladen habe (Nationalzeitung 25). (Obwohldie Annahme logophorischer Pronomina im Deut-schen wohl begründet ist (z. B. Canisius 1994), ha-ben sich Begriff und Terminus noch nicht durchge-setzt, da der drittpersonige Typ von den Gramma-tikern der Gegenwartssprache weitestgehend igno-riert wird.)

Ebenfalls im Sinne des Kriteriums (2) findetdie Ausgliederung von Konjunktionaladverbienund Subjunktionen durch akzentuelle Diffe-renzierung statt (Fleischmann 1973, 205;Schrodt 1992 a, 264f.):

Bei polyfunktionalen Konnektoren, die nicht wiedie d/s/w-Konnektoren in ein System formaler Op-position eingebunden waren, erfolgt � wohl erstim Nhd. � die Herausbildung einer akzentuellenOpposition: Anfangsbetonung bei adverbialerFunktion (damit, trotzdem, nachdem, seitdem, wäh-renddessen, so weit), Zweitgliedbetonung bei sub-junktionaler Funktion (damıt, trotzdem, nachdem,seitdem, währenddessen, soweit). Zu diesem Sub-system gesellt sich auch das Paar insofern/sofern(das Präfix in- ist unbetonbar).

Der Akzentunterschied korreliert nachSchrodt (ebd., 264) nicht nur mit der Opposi-tion Koordination/Subordination, sondernauch mit anaphorischer vs. kataphorischerTextdeixis.

Die Korrelation von Zweitgliedbetonung, Subordi-nation und kataphorischer Textdeixis können wirauch bei der Herausbildung der konzessiven Sub-junktionen der ob-Gruppe (obwohl, obzwar usw.)beobachten (s. unten).

Entsprechend dem Kriterium (2) findet aucheine Art funktionale ‘Begradigung’ der daß-Gruppe statt (Fleischmann 1973, 170�184mit einer vollständigen Liste der daß-Verbin-dungen ebd., 172�177):

In der Zeit zwischen dem 16. und dem 18. Jh. tre-ten gehäuft daß-Verbindungen auf, deren Partikelnaus dem adverbialen oder präpositionalen Bereichkommen, z. B. anstatt daß, unerachtet daß, zudemdaß, trotzdem daß, während daß, um daß, kaum daß(einen ersten Schub derartiger daß-Verbindungengab es schon vorher im Mhd./Frnhd.). Die funktio-nale ‘Begradigung’, die im 18./19./20. Jh. erfolgt ist,besteht aus zwei Komponenten (ebd., insb. 183f.):(1) Die Zahl der daß-Verbindungen und somit diepotentielle Polyfunktionalität von daß verringertsich.(2) Es bleibt keine einzige Partikel, die sowohl mitdaß als auch ohne daß als Subjunktion fungierenkönnte (also z. B. während, aber nicht mehr wäh-rend daß, umgekehrt anstatt daß, aber nicht mehranstatt). Die Partikeln (an)statt, um und ohne kön-nen ohne daß nur noch Infinitivkonstruktioneneinleiten, sind also zu Infinitivkonnektoren gewor-den.

Als Ergebnis der generellen Reduktion derPolyfunktionalität der Satzkonnektoren gibtes im modernen Dt. kaum mehr Partikeln,die sowohl subjunktional als auch adverbial/präpositional verwendet werden können:

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Bei seitdem und trotzdem trat wie erwähnt eine ak-zentuelle Differenzierung ein. Formal ambig bliebda, das jedoch Temporal-/Lokaladverb, aber Kau-salsubjunktion ist. Fleischmann (ebd., 183) er-wähnt noch adverbiales/subjunktionales indessenund nun, wobei jedoch subjunktionales nun ‘nach-dem, da’ veraltet/poetisch ist. In präpositional-sub-junktionaler Doppelfunktion blieben die tempora-len Partikeln seit, bis und während bestehen.

Im folgenden wollen wir uns den Veränderun-gen im Bereich der Adverbialsätze zuwenden.

Um die Kriterien (4)�(8) zu belegen und die Auf-merksamkeit auf bedeutende ‘mikrosyntaktische’Veränderungen zu lenken, konzentrieren wir unsauf den verhältnismäßig gut erforschten Final- undKonzessivsatz. Erst anschließend gehen wir auf an-dere Adverbialsatztypen bzw. adverbiale Subjunk-tionen ein, wobei wir uns hier � entsprechend derForschungslage � auf ‘makrosyntaktische’ Verän-derungen beschränken müssen.

Über Veränderungen im Bereich der Final-sätze sind wir auf Grund der Untersuchun-gen von Babenko (1988) und Flämig (1964)gut unterrichtet.

Das Material von Babenko erfaßt zwei Zeiträume:I � zweite Hälfte des 16. Jhs. und erstes Viertel des17. Jhs.; II � die letzten drei Viertel des 17. Jhs.Flämig untersucht ebenfalls zwei Zeiträume: III �1760�1820; IV � 1900�1960.

Das untersuchte Schrifttum für I�II umfaßt li-terarische Werke, Erbauungsliteratur, religiöseÜbersetzungen, Chroniken und amtliche Fach-prosa (Geschäftskorrespondenz, Verträge). FürIII�IV wurden dichterische Prosa, Briefe, wissen-schaftliche Sachprosa, allgemeinverständliche Sach-prosa, amtliche Sachprosa (nur für III) und Presse(nur für IV) herangezogen.

Drei konstante Tendenzen sind zu beobach-ten: Das Vordringen (1) von damit, (2) desIndikativs und (3) der Rückgang der Final-sätze zugunsten finaler Infinitivkonstruktio-nen.

Zuerst zu (1):

Die drei dominierenden bzw. ausschließlich finalenSubjunktionen sind im 16. Jh. wie heute daß, aufdaß und damit (zur Entstehung des finalen damit s.Schrodt 1992 a, 271�274). Ihr prozentuales Ver-hältnis zueinander in den einzelnen Zeiträumensieht wie folgt aus (Babenko ebd., 100�104; Flä-mig ebd., 24; Angaben zu damit und daß in II feh-len):

I II III IVdamit 68,5% (�) 75,4% 96,0%daß 19,5% (�) 24,0% 3,1%auf daß 12,7% 7,7% 0,6% 0,9%

Eine darstellungsfunktionale Erklärung dieser Ent-wicklung scheint problematisch. Denn es stimmtzwar, daß damit eine eindeutig finale Subjunktion

(geworden) ist, wohingegen die Finalität eines daß-Satzes nur durch Kontextelemente festgelegt wer-den kann (Babenko ebd., 106ff.; Flämig ebd., 17f.),doch kann sich das (heute) eindeutig finale auf daßnoch viel weniger halten als daß. Auch die gelegent-liche final-konsekutive Ambiguität scheint dieAutoren nicht zu stören: Laut sang er, daß (‘sodaß’? ‘damit’? beides?) er die Angst nicht mehr hörte(W. Borchert, nach Flämig ebd., 18). Finale undkonsekutive daß-Sätze können sogar koordiniertwerden: ich […] mach Feuer an, daß (‘so daß’) dasWasser über und über kocht […] und (‘damit’) erseinen Kaffee hat (Goethe, nach ebd.).

Systemfunktional gesehen paßt jedoch der stär-kere Rückgang von auf daß zum oben entworfenenBild im Sinne von Kriterium (2).

Die zunehmende Marginalisierung von aufdaß und daß erfolgt durch gattungsspezifischeVertikalisierung der finalen Subjunktionen:

Die Subjunktion auf daß (Babenko ebd., 102�104)wurde schon im 16./17. Jh. zunehmend auf hohePoesie, religiöse Lyrik und didaktische Prosa be-schränkt. Bereits im „Simplicissimus“ (2 Belege un-ter insgesamt 84 Finalsatz-Belegen) wird sie be-wußt als Stilmittel � zur Nachahmung des Bibel-stils � eingesetzt.

Finales daß (ebd., 100�102) war bereits im16. Jh. typisch für poetische Werke. Die Einengungauf die Poesie verstärkt sich im 17. Jh. In der dich-terischen Prosa im Zeitraum III übertrifft der daß-Satz mit 62% aller Finalsatz-Belege noch deutlichden (sonst längst überlegenen) damit-Satz, undauch in IV ist er mit 12% immer noch stark vertre-ten (Flämig ebd., 24).

(2) Der radikale Abbau des Konjunktivs inFinalsätzen erfolgt erst im 19./20. Jh.:

Im 16. und 17. Jh. dominiert eindeutig der Kon-junktiv (99,3% bzw. 93%, Babenko ebd., 109). InIII hat er noch 77%, in IV hingegen nur noch 21%(Flämig ebd., 25f.). Das starke Vordringen des In-dikativs erfolgt erwartungsgemäß (s. 3.1.3.) vorallem auf Kosten des Konj. I. In daß-Sätzen hältsich der Konjunktiv (I wie II) sehr gut, der Indika-tiv, der jedoch schon in III weit überdurchschnitt-lich frequentiert war (55,9%), konnte nicht weitervordringen (57,4%). Konservativ in III�IV ist diedichterische Prosa (45% bzw. 40% Konj.-I-Anteil),ganz radikal die volkstümliche Sachprosa, in derder Konj.-I-Anteil von 74% auf 0% gesunken ist(auch kein Konj. II). Unter den Verbklassen ist derRückgang des Konj. I besonders drastisch bei denModalverben.

Der Konjunktiv in III�IV ist kein Struktur-merkmal mehr des Finalsatzes (Flämig ebd., 19�21): Außer in der indirekten Rede wird der Konj. Izum Ausdruck einer Aufforderung verwendet, z. B.Mache gute und tiefe Streu, damit es [das Vieh] sanftruhe (G. F. Seiler, 1791, ebd., 19). Der Konj. II er-scheint ganz regulär als Ersatzkonj. oder als Irre-alis. Wie zäh sich alte und längst unproduktive

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Strukturmerkmale halten können, sieht mandaran, daß mit präsentischem Hauptsatzprädikatkein Finalsatzprädikat im Konj. II belegt ist (Flä-mig ebd., 24). Dies ist als eine Resterscheinung deralten Consecutio (I und/oder II) zu werten.

(3) der Rückgang der Finalsätze zugunstenfinaler Infinitivkonstruktionen ist für III�IV belegt:

Bereits in III überwiegen finale Infinitivkonstruk-tionen (65% aller Finalbelege) und die Tendenzdauert an (Flämig ebd., 21): 77% in IV. Besondersprogressiv ist die wissenschaftliche Prosa, auffal-lend ‘infinitivfeindlich’ die allgemeinverständlicheSachprosa (ebd., 23; 28f.): 78% > 95% bzw. 42%> 58%. Nicht ‘infinitivfeindlich’, sondern konser-vativ ist die dichterische Prosa (ebd., 24): 75% inbeiden Zeiträumen.

Bemerkenswert konstant ist die strukturelleAufgabenverteilung zwischen Finalsatz und finalerInfinitivkonstruktion (ebd., 22; 28f.): In beidenZeiträumen haben ca. 86% aller Finalkonstruktio-nen verschiedene Subjekte im Haupt- und Final-satz.

Was das Verhältnis der beiden Infinitivkon-struktionen anbelangt, verdrängt um � zu � Inf.das nicht eindeutige zu � Inf. nahezu vollständig(ebd., 27�29). Überhaupt kein zu � Inf. ist in IIIin der amtlichen Sachprosa, in IV in der Presse be-legt.

Von den inkonstanten Entwicklungstenden-zen im Finalsatz soll nur auf eine hingewie-sen werden:

Im Einklang mit der allgemeinen Analytisierungs-tendenz im Dt. entwickelt sich das Nebensatzprädi-kat möchte � Inf. im 17. Jh. zu einer Art analyti-scher Finalsatzverbform, die vor allem als Um-schreibung für konjunktivisch schwach markier-bare Verbformen eintrat (Babenko ebd., 110�115).Der Anteil der Modalverben an den Finalsatzfi-nita � vor allem von mögen, aber auch von könnenund sollen � nimmt zwischen I (21,2%) und II(49,2%) überhaupt signifikant zu (ebd., 110). Daßsich dieser Analytisierungsansatz nicht fortsetzte,geht mit Sicherheit auf den späteren Abbau desKonjunktivs zurück.

Veränderungen im Bereich der Konzessivsätzeim Nhd. wurden von Emilia Baschewa (1983)nachgezeichnet.

Zum Konzessivbegriff Baschewas sei angemerkt,daß er im Lichte der präzisen semantischen Unter-suchung von Lars Hermodsson (1978) bzw. imLichte neuerer Grammatikalisierungsanalysen deskonditional-konzessiven Bereichs (z. B. König/Au-wera 1988) heterogen erscheint. Hermodsson, derden Terminus und Begriff ‘konzessiv’ heftig kriti-siert (ebd., 61f.; 66�70), analysiert den obwohl-Ty-pus als primär „inkausal“, d. h. als das semantischeGegenteil des kausalen weil-Typus, und den auch-wenn-Typus als „inkonditional“, d. h. als das se-

mantische Gegenteil des konditionalen wenn-Typus(s. insbesondere ebd., 61 und 71f.). König/Auwera(1988, 106f.) machen einen Unterschied zwischenKonzessiv (obwohl-Typus) und konzessivem Kon-ditional (auch-wenn-Typus).

Baschewa vergleicht Texte aus Wissenschaft,Belletristik und Presse der Zeiträume 1770�1830und nach 1900.

Folgende drei Tendenzen können registriertwerden: (1) Eingeleitete Nebensätze nehmenabsolut wie prozentual zu (s. Kriterien (5)�(6)); (2) Bedeutende Veränderungen im Be-reich der Subjunktionen; (3) UneingeleiteteNebensätze werden zunehmend in denHauptsatz eingegliedert (s. Kriterium (4)).

Zuerst zu (1) (Baschewa 1983, 86f.):

Der Anteil eingeleiteter Konzessivsätze wächst von82,4% auf 90,47% (gleiche Tendenz auch in derwissenschaftlich-technischen Literatur, s. Möslein1974, 196). Unter den eingeleiteten Nebensätzennehmen die subjunktional eingeleiteten stark(60,87% > 78,07%) zu (Kriterium (7)). Auffallendprogressiv ist die Pressesprache mit kaum uneinge-leiteten (5%) und einem überdurchschnittlichenAnteil von subjunktional eingeleiteten Nebensätzen(81%). Konservativ ist die Belletristik (10,66%bzw. 75,83%).

Die absolute Zunahme eingeleiteter Konzessiv-sätze könnte damit zusammenhängen, daß im kon-zessiven Bereich die ansonsten postnominal sehrvariable NP den Nebensatz nicht ‘entlastet’. Unterden semantisch motivierten Klassen des Präposi-tionalattributs sind in dem Korpus von Droop dieKonzessiva die einzigen, die kein einziges Mal be-legt sind (Droop 1977, 254f.).

(2) Im Subsystem der konzessiven Subjunk-tionen finden durchgreifende Veränderungenstatt:

Die Zahl der belegten Subjunktionen reduziert sichvon 23 auf 18 (� 7, � 2). Berücksichtigt man nurdiejenigen, die mit mehr als 1% (ca. 10 Belege) ver-treten sind, so verringert ihre Zahl sich von 15 auf9 (Baschewa ebd., 88).

Dramatisch sind auch die Veränderungen in der‘Arbeitsteilung’ der einzelnen Subjunktionen (ebd.):Um 1800 war obgleich die mit Abstand häufigsteSubjunktion (36,03%) gefolgt von wenn auch(16,54%) und wiewohl (7,99%). Relativ bedeu-tend � von ca. 8 bis 3% � waren noch (in dieserReihenfolge) wenngleich, obschon, obwohl, ungeach-tet, unerachtet und obzwar. Ab 1900 ist die mit Ab-stand häufigste konzessive Subjunktion obwohl(38,15%), die um 1800 mit nur 5,05% die 6. Stellebelegte, gefolgt von wenn auch (21,26%), auch wenn(10,08%) und obgleich (8,62%). Relativ bedeu-tend � von ca. 6 bis 3% � sind noch (in dieserReihenfolge) (gleich/egal usw. �) ob � oder, selbstwenn, wenngleich und obschon. Das in den Gegen-wartsgrammatiken gelegentlich angeführte trotz-

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dem (� trotzdem) ist nur elfmal (0,94%) belegt, da-von neunmal bei Franz Kafka (ebd., 92).

Eine Tendenz zum Veralten zeigen obschon, ob-zwar, ob […] auch, wiewohl (ebd., 91); obschon istnur noch in der Schweiz produktiv.

Fünf der quantitativen Veränderungen sindals zugleich qualitativ zu werten:

Die ‘Umkehrung’ der Relevanz von obgleich undobwohl; der Schwund der um 1800 noch relativ be-deutenden ungeachtet und unerachtet (heutekommt nur noch � sehr selten � ungeachtet, daßvor, ebd., 88); das Absinken des drittplazierten wie-wohl in die Bedeutungslosigkeit (0,85%, Platz 11)bzw. das starke Vordringen von ob � oder (0,99%,Platz 16 > 6,23%, Platz 5) und selbst wenn (1,09%,Platz 15 > 3,5%, Platz 6).

Auffallend ist das Vordringen derjenigen Sub-junktionen, die � bedingt durch ihren konzessiv-konditionalen oder konzessiv-konditional-disjunk-tiven (ob � oder) Mischcharakter � eine definiti-vere, kategorischere Formulierung der Irrelevanzdes im Nebensatz ausgedrückten Sachverhalts er-lauben (wenn auch, auch wenn, ob � oder, selbstwenn).

Die Grammatikalisierung der Subjunktionender ob-Gruppe findet erst im 19./20. Jh. statt(s. Kriterium (8)):

Im 18. Jh. überwiegt noch die Distanzstellung (Ba-schewa ebd., 92), d. h. die Subjunktion ob und diePartikeln wohl, zwar, schon und gleich erscheinenmeist getrennt, z. B. […] ob sie sich gleich davon inder Ausführung gar sehr entfernet (Kant). DieGrammatikalisierung der neuen Subjunktionen er-folgt (a) durch zunehmende Zusammenrückungvon Subjunktion und Partikel und (b) durch Festle-gung des Akzents der neuen Subjunktion auf dieZweitsilbe. In der ‘halbgrammatikalisierten’ Über-gangszeit nach der Zusammenrückung und vor derAkzentfestlegung waren Erst- und Zweitgliedbeto-nung gleichermaßen möglich. Schrodt (1992 a,270f.) konnte die Akzentvarianten obgleich/ob-gleich noch bei Goethe nachweisen.

Die drei (ehemaligen und/oder jetzigen) kon-ditionalen Subjunktionen ob, wenn und fallszeigen große Produktivitätsunterschiede imkonzessiven Bereich:

Obgleich/-schon/-wohl/-zwar bzw. ob […] auch undob � oder; wenngleich/-schon/-zwar, selbst (dann)wenn, wenn auch/auch wenn, und wenn, wenn �mehrere Partikeln (z. B. wenn […] auch gleich) undwenn; falls […] auch (insgesamt einmal � um1800 � belegt, Baschewa ebd., 88).

Einerseits ist also keine Subjunktion wennwohlbelegt. Auch wennzwar, das nur einmal � in HegelsÄsthetik � belegt ist, konnte sich nicht zu einerproduktiven Subjunktion entwickeln (ebd., 89).

Andererseits ist es unklar, warum falls im kon-zessiven Bereich vollkommen unproduktiv war/ist.Zum Teil könnte dies damit zusammenhängen, daß

es eine Tendenz zur formalen Vereinheitlichung desKernbestandes gibt (ebd., 90): Alle Kern-Subjunk-tionen (die neun häufigsten) gehören ab 1900 zurob- oder zur wenn-Gruppe, während um 1800 auchwiewohl, ungeachtet und unerachtet zum Kernbe-reich gehören.

(3) Im Bereich der uneingeleiteten Konzes-sivsätze gibt es ebenfalls große Veränderun-gen (ebd., 98�102):

Auch hier reduziert sich die Anzahl der Formen (6> 4). Die wichtigste Veränderung ist jedoch dasnahezu totale ‘Umkippen’ der Stellung des Fini-tums: um 1800 mehr als 50% Zweitstellung, ab1900 fast nur noch Erststellung (93,71%). Wäh-rend um 1800 mögen � Zweitstellung dominierte(32,2%), überwiegt ab 1900 mögen � Erststellung(42,66%). Mögen � Zweitstellung rutschte an dieletzte Stelle ab (6,29%). Bemerkenswert ist auchdas Vordringen der Erststellung mit Konj. I(9,84%, Platz 4 > 32,87%, Platz 2). Z. B. sind um1800 sowohl es sei, daß bzw. es koste, was es wolleals auch sei es, daß bzw. koste es, was es wolle be-legt, während ab 1900 nur noch sei es, daß bzw.koste es, was es wolle vorkommen.

Die Verstärkung des subordinativen Charaktersder uneingeleiteten Konzessivsätze ist nicht nurdurch die Reduzierung der Anzahl der finiten Stel-lungsvarianten bzw. die weitgehende Eliminierungder Zweitstellung im Nebensatz erfolgt, sondernauch durch die zunehmende formale Distanzierungdes konzessiven vom interrogativen und konditio-nalen Bereich: Sowohl Indikativ als auch Konjunk-tiv II gingen als Konzessivsignale stark zurück(ebd., 100; 102).

Nhd. Veränderungen im Bereich der sonsti-gen Adverbialsätze sind bei weitem nicht sogut erforscht wie im Bereich der Final- undKonzessivsätze.

Historisch am besten erforscht ist der Kausalsatz.Hier konzentriert sich die Forschung jedoch einer-seits aufs Mhd./Frnhd., um die Ablösung des mhd.Systems mit parataktischem und hypotaktischemwan(de) (Niedergang zwischen Mitte 15. und Mitte16. Jhs., Arndt 1959, 389; 415) durch das als redun-dant eingeschätzte nhd. System mit denn/weil (undspäter da) zu erklären. Andererseits gilt das Inter-esse der sich im heutigen Deutsch abzeichnendensprechsprachlichen ‘Rückkehr’ zum mhd. Systemmit nunmehr parataktischem und hypotaktischemweil (Eroms 1980, 115). Ausgerechnet beim Nhd.vom 17. Jh. bis heute, dessen Untersuchung denProzeß dieser ‘Rückkehr’, die eventuell gar keineist (Sandig 1973, 42), beleuchten könnte, tappt manjedoch empirisch noch gänzlich im dunkeln. Wennes tatsächlich, wie von Rudi Keller (1993, 7ff.) an-genommen, einen Bedeutungswandel des weil gege-ben haben sollte, mußte er sich in erster Linie inunserer Periode abgespielt haben. Auf jeden Fallmuß das parataktische weil wesentlich älter sein alsdas Forschungsinteresse an ihm, denn die funktio-

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nalen Unterschiede zwischen parataktischem undhypotaktischem weil scheinen im heutigen Dt.schon recht ausgeprägt zu sein (s. etwa Günthner1993; Wegener 1993). Das schwerwiegende metho-dische Problem ist hier jedoch � wie in 3.4.2. er-wähnt � das historische ‘Einfangen’ von sprech-sprachlichen Belegen.

Ein typischer Herausbildungspfad bei Kau-salsätzen ist die Uminterpretation temporalerVerhältnisse durch alltagslogische Trug-schlüsse. Die Grammatikalisierung der kau-salen Verwendung erfolgt dabei via Konven-tionalisierung konversationeller Implikaturen(Traugott/König 1991, 194�199). Folglich istimmer mit Übergangstypen von temporal-kausalen Adverbialsätzen bzw. mit temporal-kausaler Polysemie mancher Konnektoren zurechnen:

� Temporal-kausale Adverbialsätze:Vorzeitigkeit � Kausalität mit weil (Arndt 1959,403): Und bedachte anbey wie ich etwan mein Sachanstellen möchte, weil (‘nachdem � weil’) ich nunmehr auch […] viel Geld und Freund bekommenhatte (Grimmelshausen, Continuatio).Gleichzeitigkeit � Kausalität (� Adversativität)mit weil (Arndt ebd., 404): wie kann ich etwas ge-wiesses sagen, weil (‘wo � während � weil’) ichselbst noch im zweifel stecke? (Schauspiel vom Ju-den in Venetien, 17. Jh.).� Temporal-kausale Polysemie der Konnektoren:Temporales weil ist noch aus der Zeit um 1800 be-kannt (Arndt 1959, 397): Freut euch des Lebens,weil (‘solange’) noch das Lämpchen glüht (UsterisLied, 1793). Bei Lessing, Wieland und Goethe istdieweil/weil auch im Sinne von ‘während’ belegt(Schieb 1974, 101).

Kausales seit verschwindet im 17. Jh. und wirdvon da abgelöst (Eroms 1980, 92). Dieser Prozeßwürde eine nähere Untersuchung verdienen, da essich hier um eine Art ‘Retemporalisierung’ einerbereits temporal-kausal polysemen Subjunktionhandelt.

Die Subjunktion da ist am Anfang des Nhd.noch polysem. Einerseits breitet sich die seit demMhd. vereinzelt belegte kausale Verwendung umdie Wende zum 18. Jh. aus (Arndt 1959, 388). (Dalöst übrigens nicht nur seit, sondern auch weil inder Bedeutung ‘da, weil ja/doch/bekanntlich’ ab.Weil wird in dieser Bedeutung nämlich nur bis An-fang des 18. Jhs. gebraucht (Arndt ebd.).) Anderer-seits wird da noch von Goethe und Schiller für denAusdruck der Gleichzeitigkeit verwendet (Schiebebd.).

Die formale Scheidung zwischen Temporalad-verb dann und kausaler Konjunktion denn erfolgtin der Schriftsprache erst im 18. Jh. (Dal 1962,209).

Die temporale Subjunktion nachdem wird nachEroms (1980, 81f.) schon lange auch kausal be-nutzt, ist aber als kausale Subjunktion nicht allge-mein anerkannt.

Die Herausbildung neuer temporaler Konnek-toren scheint zum Teil mit der Grammatikali-sierung kausaler Konnektoren in Verbindungzu stehen:

Modernes während (Gleichzeitigkeit) kommt erstim 18. Jh. auf (Schieb 1974, 102). Es tritt zuerst alswährend (dessen/dem) daß auf und wird allmählichalleine zur Subjunktion (Dal 1962, 216). Konkur-renten von während im 18. Jh. waren unterdes(sen)(daß) und indes(sen) (daß), die zeitweilig ebenfallsals temporale Subjunktionen zum Ausdruck derGleichzeitigkeit gebraucht wurden (Dal ebd., 195).Die untergehende temporale Subjunktion da wirderst im Nhd. durch als ersetzt (Dal ebd., 208).

Sonstige ‘Bewegungen’ im temporalen Be-reich haben bisher keine derartige system-funktionale Deutung erfahren:

Die Subjunktion unz (‘bis’ bzw. ‘solange’) wird mitder Herausbildung der Literatursprache aufgege-ben und kommt heute nur noch in „Randmundar-ten“ vor (Schieb 1974, 103). Sie scheint also einFall für die Vertikalisierung grammatischer For-men zu sein.Bevor (Nachzeitigkeit) ist „kaum älter“ als während(Schieb ebd., 104).

Während im temporal-kausalen Bereich trotzfehlender ‘mikrosyntaktischer’ Untersuchun-gen immerhin bestimmte Veränderungen re-gistriert werden können, scheint der Sprach-wandel im konditionalen Bereich ‘makrosyn-taktisch’ gesehen im Nhd. praktisch zumStillstand gekommen zu sein:

Obwohl die Ablösung von konditionalem ob durchwenn ins 15. Jh. zurückreicht (Schieb 1974, 105),kommt konditionales ob noch bei den Klassikernvor (Dal 1962, 214): was wäre es, ob ich erst beidem dritten oder bei dem vierten abgebrochen hätte(Lessing).

Eine formale Scheidung zwischen Temporalad-verb wann und (temporal-)konditionaler Subjunk-tion wenn wird erst zu Beginn des 19. Jhs. vorge-nommen (Schieb ebd., 104).

‘Mikrosyntaktisch’ könnte jedoch die Hypo-these eines rezeptionsgesteuerten Wandelsaufgestellt werden (s. die Kriterien (5) und (6)in 3.4.2.):

In der wissenschaftlich-technischen Literatur gehtder prozentuale Anteil der eingeleiteten Konditio-nalsätze zwischen 1800 und 1960 stark zurück,während bei den sonstigen Adverbialsätzen dieTendenz gegenläufig ist (Möslein 1974, 196). Soll-ten diese beiden Trends funktionalstilistisch un-markiert sein, könnte eine strukturelle Tendenz zueiner immer eindeutigeren Signalfunktion derNichteinleitung angenommen werden: Wird ein po-tentieller Rezipient mit einem Nebensatz in Voran-stellung mit Erststellung des Fin. konfrontiert,

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kann er mit hoher � und immer höherer � Wahr-scheinlichkeit schlußfolgern, daß es sich um einenKonditionalsatz handelt.

Zum Schluß soll noch auf einige adverbialeKonnektoren, die im älteren Nhd. teils andersals heute gebraucht wurden, und auf Ent-wicklungen bei synonymischen Infinitivkon-nektoren hingewiesen werden:

� Der ohne daß-Satz (Dal 1962, 194) bezeichnetefrüher eine Ausnahme (‘nur daß’), erst seit dem18. Jh. nimmt die Subjunktion die heutige Be-deutung an. Früher wurde die Bedeutung ‘ohnedaß’ durch einen negierten daß-Satz ausge-drückt. Noch bei Schiller heißt es: nie setz’ ichmeinen Fuß auf diese Schwelle, daß nicht (‘ohnedaß’) mein Herz zerrissen wird von Qualen.Der Infinitivkonnektor ohne (� zu �Inf.), dasseit dem 16. Jh. belegt ist, wird erst im 18. Jh.häufig (Ebert 1978, 32).

� Der an(statt) (daß)-Satz (Dal 1962, 194)konnte im 18. Jh. noch adversativ gebrauchtwerden: sie stellten sich in eine Reihe, anstatt daß(‘während’) jene vereinzelt blieben (Goethe). Imformalen Unterschied zu heute konnte die Sub-junktion auch ohne daß stehen: so will in Scherzich mich ergehn, in Possen, anstatt ich jetzt michbloß an Tränen labe (Platen).Der Infinitivkonnektor (an)statt (� zu �Inf.)ist eine späte Nachbildung von um (� zu� Inf.), zuerst belegt im Jahre 1687 bei Thoma-sius (Ebert ebd.).

� Konsekutives daß (‘so daß’) wird von den Klas-sikern noch reichlich verwendet (Dal 1962, 196):Der Advokat zitterte, daß ihm die Zähne klapper-ten (Schiller).Der konsekutive Infinitivkonnektor um (� zu �Inf.) ist erst seit dem 18. Jh. belegt (Ebert ebd.).

3.4.4. Die wichtigsten epochentypischen Ge-bilde vor allem des 17. Jhs. sind die sog. afini-ten Konstruktionen. Das sind eingeleitete Ne-bensätze ohne Finitum (insbesondere ohnedie Hilfsverben haben oder sein), z. B. weildas Gedräng beides von Laufenden und Reu-tenden ziemlich dick worden (Simplicissimus,nach Behaghel 1928, 487).

Die afiniten Konstruktionen, die bereits im frühen16. Jh. auf die nichtkanzleimäßigen Texte übergrei-fen, werden im 17. und in der ersten Hälfte des18. Jhs. nahezu in allen Textgattungen massenhaftgebraucht (Behaghel 1928, 486�492; Semenjuk1981, 111; Ebert 1993, 442). Nach Härd (1981, 88)ist die Auslassung von sein/haben vor 1575 sehr sel-ten, um 1600 je nach Nebensatzprädikatstyp 57%(seynd gemacht worden) bzw. 32% (haben wünschenkönnen), um 1700 bereits 67% bzw. 50% (sein warschon immer häufiger weggelassen als haben). Inder zweiten Hälfte des 18. Jhs. � in den morali-schen und literarischen Zeitschriften bereits in derersten Hälfte � nimmt der Gebrauch der afiniten

Konstruktionen stark ab (Admoni 1985, 1544;ders. 1990, 214; Semenjuk 1972, 135�137). Zwarsind sie auch noch aus dem 19. Jh. bekannt (z. B.bei Heine und E. T. A. Hoffmann), doch ist ihreBlütezeit längst vorüber. Am Ende des 19. Jhs.kommen sie gänzlich außer Gebrauch (Härd ebd.,127; 150).

Die Weglassung des Fin. unterlag offensichtlichbestimmten strukturellen Gesetzmäßigkeiten (Härdebd., 88; Ebert 1986, 133): Beim Irrealis ist dieWeglassung untypisch, typisch ist nur die Auslas-sung eines potentiell indikativischen Finitums.Weggelassen wird meist nur bei vollständiger Ad-junktklammer. Oft dient die Weglassung dazu, denZusammenstoß zweier wortgleicher Hilfsverben ander Grenze von Nebensatz und nachgestelltemHauptsatz zu verhindern (Ebert ebd.).

Während die Entstehung der afiniten Konstruk-tionen umstritten ist (Ebert 1986, 134), wird ihrRückgang mit der Grammatikalisierung der Ad-junktklammer erklärt (s. aber 4.1.). Diese kannnämlich nur bei Wiederherstellung des Fin. (mitNachstellung) zur Geltung kommen (Härd ebd.,127). Nach Härd (ebd.) ist die Abschaffung der afi-niten Konstruktionen im 18. Jh. zu einem kleinenTeil auch der Aktivität der Grammatiker (vor allemder von Gottsched) zu verdanken, die diese „Un-art“ (Gottsched) gegeißelt hatten.

Andere epochentypische Gebilde ebenfallsvor allem des 17. Jhs. sind die sog. unpräzisenKonstruktionen. Darunter sind einerseits‘Satzkomplexe’ ohne Hauptsatz, andererseitsSatzgefüge mit mehreren durch semantischmehrdeutige Subjunktionen eingeleiteten Ne-bensätzen zu verstehen.

Unpräzise Konstruktionen sind im 17. und zu Be-ginn des 18. Jhs. sehr verbreitet, zu Beginn des19. Jhs. verschwinden sie fast vollständig (Admoni1985, 1539f.; 1544). Länger bestehen bleibt derhauptsatzlose Typ. Der andere Typ schwindet näm-lich bereits um 1700 (Admoni 1980, 339).

Keine epochentypischen, jedoch (sprach-historisch) unverdient vernachlässigte Kon-struktionen sind die diversen Typen vonSatzverschränkungen (Behaghel 1928, 547�552; Andersson/Kvam 1984, 104�107), wiez. B. die Erklärung, die du willst, daß ich ge-ben soll (Schiller), den muß ich schaun, daß ichfind (Nestroy) (nach Behaghel ebd., 548f.).

Satzverschränkungen sind aus der Sicht der Erfor-schung der nhd. Syntax u. a. interessant, weil sie �nach Andersson/Kvam (ebd.) � in der Schriftspra-che seit der Mitte des 19. Jhs. selten werden, ohnedaß hier der Einfluß einer logisierenden Sprach-pflege nachweisbar wäre. Bei den Klassikern (z. B.bei Lessing) kommen Satzverschränkungen nochhäufig vor.

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4. NP und Satz in struktureller undfunktionaler Interdependenz

Im Einklang mit der modernen Grammatik-forschung wurde im vorliegenden Beitragvon zwei Hauptgebieten der Syntaxforschungausgegangen: der NP-Syntax und der Satz-syntax. Diese stellen die strukturellen Domä-nen der zwei Hauptwortarten � des Substan-tivs und des Verbs � dar. Die Annahme vonzwei Hauptgebieten führt unter sprachwan-deltheoretischem Gesichtspunkt zu derFrage, ob sich NP und Satz voneinander ab-hängig oder unabhängig wandeln. DieseFrage kann mit ziemlicher Sicherheit dahin-gehend beantwortet werden, daß sie auf wei-ten Strecken strukturell und/oder funktionalinterdependent sind. Dafür sprechen sowohlgrammatiktheoretische als auch sprachhisto-rische wie auch sprachtypologische Überle-gungen (Agel 1993 a und 1996).

‘Interdependenter Sprachwandel’ ist abernoch ein sehr vager Begriff, da man sich vieleTypen von gegenseitigen Abhängigkeiten �und natürlich nicht nur zwischen NP undSatz � vorstellen kann. Außerdem brauchenweder strukturelle Interdependenzen funk-tionale noch funktionale Interdependenzenstrukturelle zu implizieren oder zu induzie-ren. Von den zahlreichen empirisch motivier-baren und/oder logisch möglichen Typen vonInterdependenzen möchte ich im folgendenlediglich zwei, die m. E. in der Geschichte desDt. besonders ausgeprägt sind, ins Auge fas-sen: den Parallelwandel und den Komple-mentärwandel.

Von einem Parallelwandel zwischen NPund Satz soll gesprochen werden, wenn sichstrukturelle Gemeinsamkeiten in der Do-mäne des Verbs und des Substantivs etwagleichzeitig herausbilden und grammatikali-sieren.

Ein gutes Beispiel ist die parallele Herausbildungder Kern-Begleiter-Struktur beim Verb und beimSubstantiv im Ahd. und deren Grammatikalisie-rung im weiteren Verlauf der dt. Sprachgeschichte(Sonderegger 1979, 264�268; Wolf 1981, 86ff.;97f.). Mit Recht nimmt daher Klaus-Peter Lange(1981) an, daß bestimmter Artikel und Subjektpro-nomen kombinatorische Varianten derselben Wort-art sind (zur ‘Entfaltung’ dieser These s. Agel 1996,46�48).

Den Parallelwandel betrachte ich als einenstrukturell motivierbaren Typ des interdependen-ten Sprachwandels, was keinesfalls ausschließt, daßer u. U. auch funktional motivierbar ist und/oderfunktionale Parallelen induziert.

Von einem Komplementärwandel zwischen NPund Satz soll gesprochen werden, wenn eseine spezifische dynamische Interdependenzzwischen der Domäne des Verbs und der desSubstantivs gibt (‘dynamische Interdepen-denz’ im Sinne von Coseriu 1974). Die Spezi-fik besteht � grob gesagt � darin, daß mitdem Abbau/Ausbau von Kategorien, Struk-turen oder Funktionen in der einen Domäneder Abbau/Ausbau von denselben/anderenKategorien, Strukturen oder Funktionen inder anderen einhergeht.

Ein empirisch recht kompliziertes, aber methodolo-gisch anschauliches Beispiel ist der Wandel des Ver-hältnisses Nominativ/Genitiv. Der Nominativ ent-wickelte sich zur kategorialen Rektion des Verbs,d. h. die Kasusform subklassifiziert im heutigenDt. � wenn man von den wenigen Ausnahmen wiemich friert absieht � die Verben nicht mehr. Kom-plementär dazu entwickelte sich der Genitiv zurkategorialen Rektion des Substantivs, d. h., jedesnhd. Substantiv hat eine strukturelle Leerstelle fürein Genitivattribut. Kompliziert ist der Fall vorallem deshalb, weil hier sowohl der Ausbau derRealisierung der Nominativkategorie (s. die Gene-ralisierung der Subjektskodierung in 3.2.2.) alsauch der Abbau der Realisierung der Genitivkate-gorie (s. 3.2.1.) scheinbar nur die Domäne desVerbs betreffen. In Wirklichkeit ist aber der Abbauder Genitivvalenz im verbalen Bereich der sozusa-gen negative Ausbau der kategorialen Genitivrek-tion des Substantivs: Die Verdrängung von Geni-tivobjekten bedeutet, daß der Genitiv zu einemNP-Signal avanciert (s. z. B. Van der Elst 1984,329; Admoni 1985, 1546). Gefördert wird dieser‘negative’ Ausbauprozeß positiv dadurch, daß inder nhd. Schriftsprache eher von einer Zunahmeals von einem Rückgang des adnominalen Genitivsauszugehen ist (Anttila 1983, 99). Die Herausbil-dung von je einer kategorialen Rektion im verbalenund nominalen Bereich könnte somit � ähnlich dertendenziellen Herausbildung einer komplementä-ren Verteilung von eingeleiteten und uneingeleite-ten Nebensätzen (s. 3.4.3.) � als rezeptionsge-steuert angesehen werden. Nominativ und Genitivsind im heutigen Dt. relativ eindeutige Orientie-rungskategorien, die dem Rezipienten die jeweiligeDomäne der Strukturbildung signalisieren.

Den Komplementärwandel betrachte ich als ei-nen funktional motivierbarenen Typ des interde-pendenten Sprachwandels, was keinesfalls aus-schließt, daß er u. U. auch strukturell motivierbarist und/oder strukturelle Konsequenzen, ja Paralle-len induziert. Z. B. sind Nominativ und Genitivstrukturell parallel in dem Sinne, daß sie beide derRealisierung der domäneneigenen Subjektfunktiondienen: Der Hund bellt > das Bellen des Hundes;Die Stadt wird befreit > die Befreiung der Stadt.(Letzerer Typ wird irrtümlicherweise Genitivusobiectivus genannt. Korrekt wäre entweder einestrukturell motivierbare Bezeichnung wie Genitivussubiectivus passivi oder eine semantisch motivier-bare wie Genitivus patientis.)

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Angesichts der Komplexität eines jedenSprachwandels ist mit ‘schwächeren’ und‘stärkeren’ Parallelen und Komplementaritä-ten zu rechnen. Hinzu kommt, daß ange-sichts der Komplexität des Begriffs desSprachwandels mit Parallelen und Komple-mentaritäten auf diversen Abstraktionsebe-nen zu rechnen ist: Wandel des Typus, des Sy-stems und der Norm (in Coserius Begrifflich-keit). Im folgenden soll auf eine ‘starke’ Pa-rallele, die möglicherweise sogar den Typusbetrifft, und auf eine ‘starke’ Komplementa-rität, die die Norm betrifft, die aber � übereinen Normwandel � zur Vertikalisierungvon Systemen führt, eingegangen werden.

4.1. Parallelwandel: KlammerstrukturenDie Herausbildung und Grammatikalisie-rung der Nominalklammer (2.1. und 2.2.)und der Satzklammer (3.3.1.), die Entwick-lung des Dt. zu einer Klammersprache, wirftdie Frage nach einer umfassenden Interpreta-tion der Klammerstrukturen auf.

Als entscheidend wird dabei gar nicht die Frage an-gesehen, ob es einen Parallelwandel in NP und Satzgibt, denn dieser gilt für so gut wie sicher (s. etwaWeber 1971, 130�135). Trotzdem soll der metho-dologische Aspekt dieses Problems gleich noch an-geschnitten werden. Für entscheidend wird viel-mehr die Frage gehalten, wie dieser im Spannungs-feld von Sprechsprache, Schreibdialekten, Schrift-sprache und Standardsprache stehende Parallel-wandel zu interpretieren ist.

Um von Klammerstrukturen sowohl in derDomäne des Verbs wie auch in der des Sub-stantivs bzw. von einem Parallelwandel bei-der Domänen überhaupt sprechen zu kön-nen, müssen die nominalen und verbalenKlammerstrukturen analog strukturiert sein.Das methodologische A und O der analogenStrukturierung ist der analoge Aufbau derklammerstiftenden Elemente.

Gottfried Kolde unterscheidet zwischen morpholo-gischem Rahmen, dessen linkes und rechtes Ele-ment einen Kongruenzbereich abstecken, und syn-taktischem (� topologischem) Rahmen, dessenKlammerelemente eine Konstituente bilden (Kolde1985, 257ff.). Im Sinne dieser Unterscheidung istdie Nominalklammer mit Determinans links undKernsubstantiv rechts ein morphologischer Rah-men, die Verbalklammer (hier: Grammatikalklam-mer) mit Finitum links und infinitem Prädikatsteilrechts ein syntaktischer Rahmen. Die Adjunkt-klammer mit Subjunktion/Relativum/w-Wort linksund Prädikatskomplex rechts ist weder ein mor-phologischer noch ein syntaktischer Rahmen. Dieden analogen Aufbau implizierende Redeweise vonKlammerstrukturen erweist sich somit im Lichte

der präzisen Begriffserklärung Koldes als ein ter-minologischer Trick. Folglich ist es solange metho-dologisch unzulässig, von Parallelen und Parallel-wandel in NP und Satz zu sprechen, als die her-kömmliche Auffassung über Klammerstrukturenbesteht.

Da die Verbalklammer zweifelsohne einensyntaktischen Rahmen darstellt, könnte voneinem analogen Aufbau der klammerstiften-den Elemente in der Domäne des Verbs unddes Substantivs nur gesprochen werden,wenn sich nachweisen läßt, daß die Nominal-klammer ebenfalls einen syntaktischen Rah-men darstellt.

Die Nominalklammer stellt einen syntaktischenRahmen dar, wenn im Rahmen einer NP-Theoriedafür argumentiert werden kann, daß die pronomi-nalen Flexive, die an Adjektiven, Determinantien,in Verschmelzungen oder selbständig (s’ Fenster)erscheinen, alle analytische Substantivflexive sind.Eine solche Theorie liegt mit dem Konzept des fini-ten Substantivs (Agel 1993 a und 1996) vor. ImSinne dieses Konzepts gibt es in der NP tatsächlicheinen syntaktischen Rahmen, der durch die beidenTeile der diskontinuierlich realisierten (� analyti-schen) Substantivform gebildet wird, z. B. d[ie]drei genannten analytischen [Aspekte] (Agel 1996,31f.).

Wie erwähnt stellt die Adjunktklammer we-der einen morphologischen noch einen syn-taktischen Rahmen dar. Überhaupt öffnet dieAnsicht, die Wortstellung im Nebensatz seiim Rahmen des Klammerprinzips zu erklä-ren, jedweder methodologischen Willkür Türund Tor.

Wenn nämlich Subjunktion/Relativum/w-Wort undPrädikat Klammerteile seien, dann könnten imPrinzip beliebige Konstituentenpaare, die regelhaftandere Konstituenten umschließen, für Klammer-teile erklärt werden. Z. B. umschließen Subjekt undAkkusativobjekt im Aussagehauptsatz regelhaft diesynthetische Verbform ([Klaus] macht [die Auf-gabe]) oder Subjekt und infiniter Prädikatsteil re-gelhaft das Finitum und die restlichen Konstituen-ten ([Klaus] hat die Aufgabe [gemacht]). Im NP-Nachfeld könnte z. B. der Agensanschluß für einenrechten Klammerteil erklärt werden ([die Befrei-ung] der Stadt [durch die Truppen]), in der Präpo-sitionalphrase die Präposition für einen linkenKlammerteil ([für] diese atemberaubende [Elise])usw.

Aus sprachhistorischer Sicht ist zu bedenken,daß „sich die zwei Unterarten der Satzklammernicht ganz gleich entwickelt haben […]“ (Ebert1986, 105). „Der vollständige Rahmen im Haupt-satz scheint auf allen Etappen des Nhd. wenigerfolgerichtig durchgeführt zu sein als die Endstel-lung des Verbs im Nebensatz […]“ (ebd., 112).

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Ich meine daher, daß es methodologischnicht gerechtfertigt ist, die Wortstellung imNebensatz im Rahmen des Klammerprinzipszu deuten. Die Parallelen zwischen derGrammatikalisierung von (S)OV und derHerausbildung und Grammatikalisierung derVerbalklammer müssen anders erklärt wer-den (s. hierzu das Ende dieses Abschnitts).

Recht behalten hatte m. E. die ältere Forschung,die das Problem der Endstellung des Finitums imNebensatz von dem der Endstellung des infinitenPrädikatsteils im Hauptsatz konsequent trennte(ohne die offensichtlichen Zusammenhänge zuleugnen).

Eine überzeugende Theorie der parallelenGrammatikalisierung von Nominal- und Ver-balklammer liegt mit Eichinger 1995 vor.

Eichinger (ebd., 304) unterscheidet terminologischzwischen Distanzstellung und Klammerung. UnterKlammern versteht er Konstruktionen „mit einemspezifisch strukturierten ‘Inhalt’ “ zwischen denbeiden Randteilen. M. a. W., Klammerteile um-schließen kein ungeordnetes Aggregat von Elemen-ten, sondern ein Mittelfeld, dessen Kriterium einespezifische Anordnung seiner Elemente ist. UnterDistanzstellung versteht er hingegen lediglich dieEntfernung zweier grammatisch zusammengehö-render Teile voneinander. Im Rahmen dieser termi-nologischen Unterscheidung findet im Frnhd. undim frühen Nhd. die Grammatikalisierung der Di-stanzstellung statt, die „aus externen Gründen“(ebd.) erst zu Beginn des 18. Jhs. in die Herausbil-dung der Klammerung mündet.

Die Distanzstellung im Hauptsatz wird be-kanntlich erst durch die Herausbildung analyti-scher Verbformen möglich. Die Distanzstellung inder NP wird im Sinne des oben Gesagten durchdie Herausbildung analytischer Substantivformenmöglich. Ich habe dafür argumentiert (Agel 1996,31), daß die Uminterpretation der pronominalenFlexive zu analytischen Substantivflexiven im frü-hen Frnhd. erfolgte. Daß Eichinger von der her-kömmlichen Auffassung der Nominalklammer aus-geht, tangiert jedoch seine Argumentation nicht:Das Konzept des finiten Substantivs und seineTheorie sind kompatibel.

Eichinger erklärt den Wechsel von der Di-stanzstellung zur Klammerung „mit dengrundsätzlich gewandelten kommunikativenAnsprüchen einer veränderten Öffentlich-keit“ (Eichinger 1995, 312).

Vorbereitet wird dieser Wechsel durch dieEntstehung strukturell begründeter Rezep-tionsprobleme in Texten des öffentlichen Ver-kehrs:

Im 17. Jh., wo das Prinzip der Distanzstellung so-wohl in der NP als auch im Hauptsatz bereits wei-testgehend durchgeführt ist, herrsche immer noch

ein eher anreihender Strukturtyp vor (ebd., 313�315). Anreihung ist ein Strukturprinzip, das ur-sprünglich für die konzeptionelle Mündlichkeitcharakteristisch war. Ihre Übertragung in die me-diale Schriftlichkeit in der Kanzleisprache führt zurInterferenz mit der immer mehr überdehnten undim 17. Jh. schon grammatikalisierten Distanzstel-lung (ebd., 315�317). Die späteren Klammerteilestehen also schon, noch wird aber keine „gramma-tikalisierte Rücksicht auf die Dehnbarkeit“ (ebd.,311) der diskontinuierlich realisierten Konstituen-ten genommen. Die Mischung aus zwei altensprechsprachlichen Strukturprinzipien führt alsoim Medium der Schrift nahezu unvermeidlich „zuziemlich schwerverständlichen Konstruktionen(ebd., 315).

Diese Rezeptionsprobleme stellen � paradoxformuliert � solange kein Problem dar, als„das in den entsprechenden Schriften vermit-telte Wissen von öffentlichen Dingen Herr-schafts- und Spezialistenwissen ist“ (ebd.,317).

Genau in diesem Sinne ist auch die in 2.2. bereitszitierte Maxime „Je komplizierter, desto höher imsozialen Rang“ (Lötscher 1990, 23) zu verstehen.

Die beschriebene Strukturmischung ist alsozwar schon im 17. Jh. stilistisch markiert,aber als fach-, ja geradezu sondersprachlichesMerkmal hätte sie sich im Prinzip bis heutehalten können. Warum kam es dann trotz-dem zur Herausbildung der Klammerung?

Unter den „grundsätzlich gewandeltenkommunikativen Ansprüchen einer veränder-ten Öffentlichkeit“ versteht Eichinger, daß in-folge der Demokratisierung des öffentlichenLebens das markierte Strukturprinzip derKanzleisprache durch einen neuen Schubkonzeptioneller Mündlichkeit repariert wird:

Die „bürgerliche Bildungs- und Funktionalelite,die den Staat organisatorisch tragen muß, (wird)nicht nur größer, sondern auch mächtiger. Mächti-ger wird sie, wo sie sich unmittelbar aus Nützlich-keit rechtfertigen kann“ (Eichinger ebd., 317). Indieser Situation � vorbereitet durch Entwicklun-gen in England und Frankreich � komme dasIdeal der Deutlichkeit (Reichmann 1992, 448�459)zu neuen Ehren.

Reichmanns Ausführungen über das Deutlich-keitskonzept ist implizit zu entnehmen, daß dieStrukturmischung aus Anreihung und Distanzstel-lung der rationalistischen Auffassung von einemmöglichst ungebrochenen Entsprechungsverhältniszwischen Sachen/Sachverhalten, Gedanken undSprachzeichen (Reichmann 1992, 453�455; ders.1995, 172�178) widerspricht. Das deutliche (undeindeutige) Sprechen (� mündliche wie schriftlicheProduktion und Rezeption) aufgeklärter, gebilde-ter Bürger setzt u. a. deutliche syntaktische Regelnvoraus, die u. U. eine natürliche, sich aus der Ord-

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nung der Sachen in der Natur ergebende, Begrün-dung (ordre direct) haben können (Reichmann1995, 188). Eine deutliche Regel im ausgehenden17. Jh. ist die Distanzstellung der analytischenVerb- und Substantivformen. Deutlich muß nurnoch das werdende Mittelfeld strukturiert werden,um die Realisierung des idealen Entsprechungsver-hältnisses syntaktisch zu ermöglichen.

Die Umsetzung des Deutlichkeitsideals führtzur Grammatikalisierung der Anordnung derElemente zwischen den zwei Teilen analyti-scher Verb- und Substantivformen, also zurHerausbildung der Klammer und somit desMittelfeldes (zur Serialisierung im Mittelfeldder Nominal- und Verbalklammer s. Eichin-ger ebd., 304�310; s. auch weiter unten).

Mit Eichingers Theorie läßt sich nicht nurder Übergang von grammatikalisierter Di-stanzstellung zur Klammerung erklären, son-dern(1) kann auch die Entwicklung von Klam-merstrukturen (� der Distanzstellung) imFrnhd. interpretiert werden:

Nach Schildt (1976, 282) wurde die Verbalklammeraus der Umgangssprache in die Schreibdialekteübernommen. Er gründet diese Ansicht auf seineempirische Untersuchung, der zufolge in der Zeitum 1500 die unter starkem Einfluß der gesproche-nen Sprache stehenden Flugschriften vorne bei derRahmenbildung sind, während die Vorreiterrolleum 1700 der Fachprosa zufällt (ebd., 273f.).

Der Befund Robert Peter Eberts, der Nürnber-ger Quellen untersuchte, scheint dem von Schildtzu widersprechen (Ebert 1986, 112�114). Die voll-ständige Verbalklammer wird im 15. und 16. Jh. inden Kanzleidokumenten häufiger gebraucht als „infast allen anderen Quellen“ (ebd., 113). Der Ge-brauch von Hauptsätzen mit vollständigem Rah-men hat eine relativ ausgeprägte soziologischeKomponente. Die beiden Extremgruppen sind stu-dierte Männer, die städtische Ämter innehatten(häufigster Gebrauch) und Handwerker bzw. welt-liche Frauen (seltenster Gebrauch). Aus diesem Be-fund in Nürnberg zieht Ebert (ebd.) den Schluß,daß es sich um bewußte „Übernahme eines presti-gereichen geschriebenen Musters“ handelt.

Im Sinne der Theorie von Eichinger ist nun fol-gende ‘Versöhnung’ denkbar: Da die gesprocheneSprache schon immer einen Hang zur Distanzstel-lung in kurzen Sätzen hatte (z. B. Admoni 1973,89f.), ist die Spitzenstellung der Flugschriften um1500 nicht überraschend. Auch Ebert (ebd., 114)beobachtet in den Nürnberger Quellen, „daß alleGruppen aus dieser Zeit in einfachen, kurzen Sät-zen in Privatbriefen einen hohen Prozentsatz vonvollständigem Rahmen gebrauchen.“ Bei der Über-tragung dieses gesprochenen Musters in die me-diale Schriftlichkeit kommt es aber natürlich zudessen Anwendung nicht nur in kurzen, sondernauch in langen Sätzen � vor allem in der Kanzlei-

sprache bzw. generell in der Fachsprache. Da im(werdenden) Mittelfeld noch die Anreihung vor-herrscht, bietet es keine grammatikalisierten Si-gnale für die Anordnung der analytischen Verbfor-men. Umgekehrt stellen die analytischen Verbfor-men noch keine grammatikalisierten Signale für dieAnordnung der sonstigen Satzkonstituenten dar.Die Sprecher mit hoher Lese- und Schreiberfah-rung (die gebildeten, lateinkundigen und Ämter in-nehabenden Sprecher) werden mit dieser Situationfertig und wenden die Distanzstellung mit Erfolgauch auf lange Sätze an. Die Sprecher mit niedrigerLese- und Schreiberfahrung sind im Medium derSchrift überfordert, sobald es um längere Sätzegeht.

Auch Ebert (ebd., 114) unternimmt den Ver-such, seine Auffassung mit der von Schildt zu ver-söhnen. Im Endeffekt (aber nicht im Detail)kommt er zu demselben Schluß: Der fast aus-nahmslose Gebrauch der vollständigen Klammerin der amtlichen Sprache, auch in ganz langen Sät-zen, sei vielleicht als statistische Hyperkorrekturentstanden.

Eichingers eigener ‘Versöhnungsversuch’ (1995,318) stimmt nicht, da er offensichtlich annimmt,daß die Ebertsche Position für die Zeit des Wech-sels von der Distanzstellung zur Klammerung gilt.

(2) kann zumindest plausibel gemacht wer-den, warum die Satzlänge und die Häufigkeitdes erweiterten Adjektiv- und Partizipialattri-buts im 19. Jh. zunahm (s. die Statistiken in2.2. und 3.4.1.):

Durch den Übergang von der Schrift- zur Stan-dardsprache um 1800 (Besch 1985, 1805) wird „dieEigenständigkeit der schriftsprachlichen Kommu-nikation wesentlich höher“ (Eichinger 1995, 320).Die Übereinstimmung von medialer und konzep-tioneller Schriftlichkeit führe zum häufigeren Auf-treten von Strukturen, die eindeutig auf Leserezep-tion zielen (ebd.). Eichinger meint hier das häufi-gere Auftreten des erweiterten Adjektiv- und Parti-zipialattributs. Im Sinne des postulierten Parallel-wandels ist hier aber auch die deutliche Zunahmeder Satzlänge in der ersten Hälfte des 19. Jhs. miteinzubeziehen. Da die Ausklammerung vermutlicherst in der zweiten Jahrhunderthälfte zunimmt (s.3.3.1.), muß nämlich das Gros der Zunahme derSatzlänge auf die Zunahme des Mittelfeldumfangszurückgeführt werden. Und umfangreicheres ver-bales Mittelfeld zielt primär ebenfalls auf Lesere-zeption. (Eichinger (ebd., 319) will auch erklären(und erklärt auch), warum das erweiterte Adjektiv-und Partizipialattribut im 18. Jh. abnimmt. Hiergibt es aber nichts zu erklären, da sowohl Häufig-keit als auch Umfang des erweiterten Adjektiv- undPartizipialattributs im 18. Jh. (leicht) zunehmen(Weber 1971, 125).)

Das Auseinanderdriften von konzeptionellerSchriftlichkeit und Mündlichkeit kann übrigensauch in der Nominalisierungstendenz nach 1850beobachtet werden (s. 2.2. und 4.2.). Vorsichtshal-

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ber soll hinzugefügt werden: In der gleichen Zeitist aber auch die Gegentendenz (Ellipsen, Aus-klammerungen, Anakoluthe, Parenthesen usw.)wirksam.

(3) kann Eichingers Theorie Anhaltspunktefür die Parallelen zwischen der Grammatika-lisierung von (S)OV und der Herausbildungund Grammatikalisierung der Verbalklam-mer bieten:

Nach Eichinger (ebd., 309�311) bedeutet dieGrammatikalisierung des Mittelfeldes, daß es so-wohl bei der Nominal- wie auch bei der Verbal-klammer in zwei ‘Großbereiche’ zerfällt. Diese sindbei der Verbalklammer die Positionen für die Fini-tumsklassifikatoren (linker Bereich, d. h. rechtsvom Finitum) und die für die Rektionsklassifikato-ren (rechter Bereich, links vom infiniten Prädikats-teil). Es ist nun auffallend, daß der Wechsel vonder Distanzstellung zur Klammerung zeitlich mitder Strukturwandlung in der Plazierung desNebensatzfinitums zusammenfällt: Nach einer‘Vorbereitungsphase’ im 17. Jh., in der die frühereOpposition zwischen zweigliedrigen Verbalkomple-xen und drei- bzw. viergliedrigen ins Wanken gerät,kommt es im 18. Jh. zum Durchbruch der Nach-stellung in den dreigliedrigen Verbalkomplexen (s.3.3.2.). Warum findet der Durchbruch gerade indieser Zeit statt und warum dauert das Vordringender Nachstellung auch seitdem an?

Der Grund dafür liegt wohl darin, daß das Fini-tum in Voranstellung eine strukturelle Barriere zwi-schen dem Bereich der Rektionsklassifikatoren,d. h. der engsten Dependentien des Hauptverbs,und dem Hauptverb im infiniten Prädikatsteil bil-det. M. a. W., das vorangestellte Finitum verhin-dert die Herausbildung einer deutlichen, zur Seriali-sierungsregel des Mittelfeldes analogen Regel imNebensatz.

Auch die afiniten Konstruktionen, deren Rück-gang von Härd mit der Grammatikalisierung derAdjunktklammer erklärt wird (s. 3.4.4.), sind mitdem rationalistischen Deutlichkeitsideal schwer zuvereinbaren. Sie lassen nämlich Tempus, Modusund die Grenze zum Nachfeld offen. Somit könnendie Zeitrelationen, das intendierte Glied der Oppo-sition Realis/Irrealis und die Interpretation der Ele-mentarsatzgrenze vage bleiben. Folglich läßt es sichmit afiniten Konstruktionen kein ungebrochenesEntsprechungsverhältnis zwischen Sachverhalten,Gedanken und Sprachzeichen verwirklichen.

Das Deutlichkeitsideal ist also wohl auch nochfür ein scheinbar so ‘streng syntaktisches’, zur ‘in-neren’ Sprachgeschichte gehörendes, Phänomenwie den Durchbruch und das weitere Vordringender Nachstellung des Nebensatzfinitums bzw. denRückgang von afiniten Konstruktionen mitverant-wortlich.

4.2. Komplementärwandel: Dependenzrechts von N

Statistische Tendenzen werden von modernenGrammatikern oft verpönt und aus der wis-senschaftlichen Argumentation ausgeschlos-

sen. Somit versperrt man sich aber den Weg,über manche Gründe, Implikationen undKonsequenzen, die alle schon das ‘System’betreffen können, nachzudenken.

Auf eine komplementäre statistische Ten-denz in NP und Satz wurde bereits früh hin-gewiesen:

„Es ist freilich nicht anzunehmen, daß der Verzichtauf das reich gegliederte Satzgefüge ohne irgendei-nen Ersatz vor sich gegangen wäre. Und wirklichkann man von einer Umgliederung unserer heuti-gen Sprache reden. Was das Satzgefüge an Glied-und Teilsätzen verliert, das gewinnt (mag es auchein zweifelhafter Gewinn sein) der Einfachsatzdurch ein Aufschwellen der einzelnen Glieder“ (Eg-gers 1979 [Erstveröff. 1961], 243).

Das Aufschwellen der nominalen Glieder kanndurch Komposition, Substantivierungen und prä-positionale Attribute (darunter versteht Eggersauch diejenigen links von N) erfolgen (ebd.,243ff.).

Die Komplementarität der Tendenz, die seitMitte des 19. Jhs. andauert, scheint erstaun-lich exakt zu sein (Schmidt 1993 a, 60�64):

Die mittlere Satzlänge reduziert sich zwischen 1850und heute um 30%, und genau 30% weniger Wör-ter braucht der moderne Satz, der dieselbe Infor-mationsmenge, die um 1850 noch in Nebensätzeverpackt war, in komplexen, rechtslastigen NPsrealisiert.

Die Komprimierung, d. h. die ‘Umverpak-kung’ von Nebensatz-Propositionen in NPs,bringt jedoch nicht nur Vorteile, sondernauch ernsthafte kommunikative Nachteilemit sich (Schmidt 1993 a, 65f.): Die übermä-ßige Verdichtung induziert Rezeptionspro-bleme, es droht daher der Verlust des Ökono-mievorteils.

Aus dieser Situation gibt es prinzipiell zwei Aus-wege: Entweder die zumindest teilweise Rückkehrzu den alten Verschachtelungen oder die ‘Fluchtnach vorne’, d. h. ein syntaktischer Wandel, der beiBeibehaltung des Ökonomievorteils zur Behebungder Rezeptionsprobleme führt.

Gestützt auf eine großangelegte empirischeUntersuchung zur sog. Attribuierungskom-plikation (Schmidt 1993, 169�327) konnteJürgen Erich Schmidt (1993 a) überzeugendnachweisen, daß eine soziologisch relativ klarabgrenzbare Gruppe von Sprachteilhaberndie ‘Flucht nach vorne’ antrat und antritt,daß es somit zu einer zunehmenden Vertikali-sierung der Syntax des NP-Nachfeldes kamund kommt.

NPs wie (Bitte beantworten Sie) unsere Fragen aufder Rückseite zum bisher versicherten KFZ (Origi-nalbeleg aus einem Brief einer Kraftfahrzeugversi-

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cherung) wurden von Schmidts Probanden er-staunlicherweise nicht übereinstimmend beurteilt.Im konkreten Falle hielten 45% die NP für inkor-rekt, 35% für vollkommen korrekt und 20% für„irgendwie schief“ (Schmidt 1993 a, 67). Die 35%waren Leser mit relativ niedriger Leseerfahrung,die die Struktur semantisch interpretiert hatten,was zu einer Koordination der beiden Präpositio-nalattribute und somit zu einer sinnvollen Deutungführte. Hingegen waren die 45% Leser mit relativhoher Leseerfahrung, die einfach mit einem mecha-nisch zunehmenden Dependenzgrad rechts von Ngerechnet hatten, was zu einer unsinnigen Interpre-tation führte. „Entscheidend […] ist nun die Frage,wie die Mehrheit der Leser dazu kommt, eine sol-che syntaktische Struktur anzusetzen, obwohl dieentsprechenden Regeln in keiner Grammatik ste-hen. Daß diese Gruppe, die Gruppe mit relativ ho-her Leseerfahrung, die vom Schreiber intendiertenBeziehungen nicht erkennt, ist auszuschließen“(ebd., 69).

Die Vertikalisierung der Syntax des NP-Nachfeldes erfolgt durch einen subtilen undlangsamen Sprachwandel, dessen TrägerSprachteilhaber mit relativ hoher Leseerfah-rung sind, d. h. die Gruppe, die mit dem er-wähnten Rezeptionsproblem en masse kon-frontiert wurde und wird. Ohne den Ökono-mievorteil aufzugeben, wird dem Rezeptions-problem abgeholfen „durch Syntaktifizierungder Reihenfolgebeziehung, der Serialisierung,d. h. dadurch, daß die Substantivgruppe syn-taktisch zunehmend nach dem Prinzip dermonotonen, der fortlaufenden Unterordnungorganisiert wird“ (ebd.).

Schmidt (ebd., 70f.) betrachtet die Syntaktifizie-rung der Serialisierung nicht einfach nur als einesyntaktische Konsequenz der komplementärenEntwicklung in Satz und NP im Nhd., sondernauch als Teil eines sich seit dem Ahd. vollziehendenSyntaxwandels: „Die anfängliche extreme Stel-lungsfreiheit der Glieder der deutschen Substantiv-gruppe wurde mit der Zeit immer mehr einge-schränkt, die Serialisierungsregeln wurden undwerden noch immer strikter, immer rigider“ (ebd.,71).

5. Zusammenfassung und Ausblick

Die vielleicht wichtigste Aufgabe eines HSK-Beitrags ist es, die Forschung anzuregen.Dazu müssen einerseits die themen- und ma-terialbezogenen, andererseits die theoreti-schen und methodologischen Engpässe er-kennbar gemacht werden. Beides funktioniertnur, wenn man die Forschungsergebnissenicht einfach referiert, sondern auch � undwenn nötig: kritisch � kommentiert. Letzte-

res funktioniert wiederum nur, wenn man �wenn nötig und möglich � ins Detail (in demja der Teufel steckt) geht. Detailbeschreibun-gen sind in einer Überblicksdarstellung wie-derum nur akzeptierbar, wenn sie nicht dazuführen, daß der Wald vor lauter Bäumennicht mehr gesehen werden kann. Dann warnämlich alles für die Katz und nicht für diekünftige Forschung.

Anregen sollte der Beiträger im Optimal-fall aber nicht nur die Forschung ‘im beson-deren’, sondern auch die ‘im allgemeinen’.Darunter verstehe ich hier die Sprachtypolo-gie, die Grammatiktheorien, die Sprachwan-deltheorien und vor allem die dt. Sprachge-schichtsschreibung bzw. deren Methodologie.Was für Auswirkungen der vorliegende Bei-trag zur Forschung ‘im besonderen’ auf dieMethodologie der Sprachgeschichtsschrei-bung ‘im allgemeinen’ haben könnte, möchteich in 5.1. an einem Beispiel andeuten.

5.1. Von Tendenzen und vom Begriffder Tendenz

Das skizzierte Bild des Syntaxwandels imjüngeren Nhd. läßt eine Reihe von sog. Ent-wicklungstendenzen erkennen. Die wichtig-sten sind m. E. Analytisierung und Vertikali-sierung. Die übrigen Tendenzen können zwarunter diesen nicht subsumiert, doch im Rah-men der beiden Tendenzen beschrieben wer-den. Da die Analytisierungstendenz beimVerb altbekannt ist und da ihr Pendant beimSubstantiv in 2.1. und 4.1. � inklusive derzur Analytisierung komplementären Infiniti-vierung des synthetisch flektierten Substan-tivs � skizziert wurde, soll im folgenden nurnoch auf die Beschreibungsmöglichkeiten imZusammenhang der Vertikalisierungstendenzeingegangen werden:(1) Die verstärkt seit dem Frnhd. an-dauernde Syntaktifizierung (� Grammatika-lisierung der NP- und Satzstruktur) steht imZusammenhang mit dem Übergang von derHör- zur Leserezeption und mit der Heraus-bildung der Schrift- und Standardsprache:

Die Syntaktifizierung ist entweder ein Vertikalisie-rungsprozeß innerhalb der Standardsprache (z. B.Dependenz rechts von N, s. 4.2.) oder einer zwi-schen Standardsprache und anderen Varietäten(z. B. adverbaler Genitiv, s. 3.2.1.) oder einer zwi-schen den einzelnen Funktionalstilen (z. B. erwei-tertes Adjektiv- und Partizipialattribut und adno-minaler Genitiv, s. 2.2.). Auch die zunehmendeTendenz zur strukturellen Trennung von Haupt-und Nebensatz (3.4.2.) ist nur im Rahmen der ver-tikalen Ausdifferenzierung von Schreibdialekten �

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dann: der Schriftsprache � und Sprechsprache in-terpretierbar. Das gleiche gilt für die allgemein ver-breitete Ansicht, daß die syntaktischen Regeln derSchriftsprache immer ‘ökonomischer’ und ‘logi-scher’ werden (z. B. Lötscher 1990, 24). Denn ‘öko-nomischer’ und ‘logischer’ wird, d. h. im Namendes rationalistischen Deutlichkeitsideals, dessenPrestige bis heute anhält, reguliert wird primär dieSchrift- bzw. die Standardsprache, nicht jedoch dieUmgangssprachen und die Dialekte. Von der zu-nehmenden Arbeitsteilung der Kasusformen zwi-schen NP und Satz über die Reduzierung der Poly-funktionalität der Satzkonnektoren bis hin zur zu-nehmenden Arbeitsteilung zwischen eingeleitetenund uneingeleiteten Nebensätzen, all diese ‘ökono-mischen’ und ‘logischen’ Prozesse sind daher ausder Sicht des gebildeten, belesenen und lesendenRezipienten und von dessen kognitiv und geistesge-schichtlich motivierbaren Ansprüchen zu sehen.

(2) Die im gesamten Nhd. und verstärkt seitdem 19. Jh. andauernde Tendenz zur Kompri-mierung, die auch mit (1) eng zusammen-hängt, zeigt ebenfalls eine starke vertikaleGliederung:

Zu denken wäre z. B. an die funktionalstilistischenDifferenzen beim erweiterten Adjektiv und Partizi-pialattribut und beim Nachfeld der NP, an die ‘So-ziologisierung’ der Dependenz rechts von N odereben an die Zunahme der Bedeutung der reduzier-ten Konzessivsätze (� der Konzessivsätze ohne Fi-nitum) in der Pressesprache (Baschewa 1983, 92f.)und die Herausbildung einer AKÜ-Sprache (AKÜ� Abkürzung) im 19./20. Jh. (Admoni 1985, 1546).

(3) Die Umsetzung des Ideals der ökonomi-schen und deutlichen Schriftsprache durchSyntaktifizierung und Komprimierung hatihren Preis. Denn dieses Ideal ist angesichtsder ‘Natur’ der normalen Sprache (ordinarylanguage) und des ‘normalen’ Menschenidealistisch. Syntaktifizierung und Kompri-mierung führen in vielen Fällen zwangsweisezur semantisch-pragmatischen Undeutlichkeit(Unbestimmtheit). In anderen Fällen (z. B.im Amtsstil, in Fachsprachen oder in derPressesprache) werden die ‘Ergebnisse’ derSyntaktifizierung und Komprimierung regel-recht ausgenutzt, um semantisch-pragmati-sche Undeutlichkeit zu erzeugen:

Hier ist nicht nur an Heringers berühmte Fischfrauzu denken. Die Beispiele sind auch in der Syntaxzahlreich. Zu denken wäre z. B. an die vertikali-sierte Verwendung vieler agensdezentrierendenKonstruktionen (Passive, unpersönliche Konstruk-tionen, Medialkonstruktionen, Funktionsverbge-füge mit ‘passivischer’ Bedeutung), an die Zu-nahme von sog. nebensatzäquivalenten Infinitiv-konstruktionen (Möslein 1974, 190: die Tendenz istbereits frnhd., s. Erben 1985, 1345), an sog. Klam-

merungsparadoxe wie etwa der klinische Medizin-student (Schmidt 1993, 232ff.), an die im Amtsstilbesonders blühenden Attribuierungskomplikatio-nen (Schmidt 1993) oder an die in der bisherigenForschung fast völlig übersehene Polyfunktionali-sierung der Präpositionen infolge des Nominal-stils. Die Bevorzugung von Präpositionalphrasen(� Präpositionalangaben oder -attributen) vor Ad-verbialsätzen (z. B. Möslein 1974, 169�171; Lühr1991, 14�20) bedeutet nämlich in und nach derZeit des Abbaus der Polyfunktionalität der Sub-junktionen, daß dieselbe Präposition u. U. die Auf-gabe mehrerer teilsynonymer Satzkonnektorenübernehmen muß. Man vergleiche: Er konnte kei-nen Urlaub machen, da/weil/denn er verurteilt wurde/wurde verurteilt > wegen seiner Verurteilung konnteer keinen Urlaub machen. Im Gegensatz zu da/weil/denn ist wegen unspezifiziert in der Hinsicht, ob essich um eine Sachverhalts- oder eine Äußerungsbe-gründung handelt bzw. ob der Textproduzent an-nimmt, daß der Grund dem Rezipienten bekanntist oder nicht.

Das Beispiel an dem die möglichen Auswir-kungen der Forschung ‘im besonderen’ aufdie Methodologie der Sprachgeschichts-schreibung ‘im allgemeinen’ illustriert werdensollen, ist die bekannte und weitgehend ak-zeptierte Unterscheidung zwischen konstan-ten Tendenzen und inkonstanten Merkmalenin der sprachgeschichtlichen Entwicklung(Sonderegger 1979, 217f.):

Unter einer konstanten Entwicklungstendenz ver-steht Sonderegger „eine diachronische Entfaltungs-größe mit permanenter oder immer wieder hervor-tretender Wirksamkeit in der Gesamtgeschichte desDeutschen“ (ebd., 218). Demgegenüber würden in-konstante Merkmale auf eine kürzere Zeit-spanne � auf eine Sprachstufe, einen Teil einerSprachstufe oder überlappend auf zeitlich aneinan-derschließende Teile von zwei Sprachstufen � be-schränkt bleiben (ebd.).

Diese Unterscheidung scheint auf den erstenBlick einleuchtend, ist aber insofern verwir-rend, als die obigen Definitionen implizieren,daß die konstanten Tendenzen zeitlich auchinkonstant („immer wieder hervortretend“)realisiert werden können bzw. daß die inkon-stanten Merkmale zeitlich konstant realisiertwerden müssen. Stellen z. B. die diversenStandardisierungsbestrebungen in der Ge-schichte des Dt. (Besch 1985) einzelne inkon-stante Merkmale oder die inkonstante Reali-sierung derselben konstanten Tendenz dar?Von der Beantwortung dieser Frage hängtnämlich ab, ob die Vertikalisierungstendenzin der nhd. Syntaxgeschichte als Teil einerkonstanten Entwicklungstendenz oder als eininkonstantes Merkmal einzustufen ist.

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(a) Geht man im Einklang mit der modernen For-schung davon aus, daß die einzelnen Standardisie-rungsbestrebungen in der Geschichte des Deut-schen Neuansätze darstellen, so müssen die peri-odisch auftretenden Vertikalisierungstendenzen imRahmen dieser Neuansätze als „immer wieder her-vortretende“ (!), jedoch inkonstante Merkmale an-gesehen werden.(b) Geht man ebenfalls im Einklang mit der mo-dernen Forschung davon aus, daß die Herausbil-dung volkssprachlicher Schriftlichkeit in jederSprachgemeinschaft zu Standardisierungsbestre-bungen führt, so muß die Vertikalisierungstendenzals eine konstante Entwicklungstendenz in ver-schrifteten Kulturen, die aber nur periodisch in Er-scheinung tritt, eingestuft werden.

Fazit: Eine „Diachronie des Sprachsystems“(so der Untertitel von Sondereggers Sprach-geschichte) kann nur auf der Grundlage‘sprachwandelimmanenter’ Kriterien entwor-fen werden. Das Kriterium Konstanz/Inkon-stanz ist ein von außen herangetragenes Klas-sifikationskriterium, das zwar die Beschrei-bung einer „Diachronie des Sprachsystems“nicht unmöglich macht, wohl aber die erklä-rende Zusammenfügung der einzelnen Ent-wicklungstendenzen zu Großprozessen.

5.2. Zu den Aufgaben der ForschungDie in 1. explizit angeschnittene Frage, ob essich lohnt, die nachklasssische Syntaxge-schichte zu untersuchen, und die in 1. implizitgestellte Frage, ob die Syntax des jüngerenNhd. schlecht oder gut erforscht ist, könnennun in aller Deutlichkeit beantwortet werden:

Die nachklassische Syntaxgeschichte undgenerell der Syntaxwandel im Nhd. müssenintensiv untersucht werden, weil die syntakti-schen Strukturen nicht einmal in der Stan-dardsprache ‘zementiert’ worden sind undweil die Syntax des jüngeren Nhd. � abgese-hen von wenigen Ausnahmen wie z. B. derStellung der Glieder im Nebensatzprädikat(3.3.2.) � verhältnismäßig schlecht erforschtist. Sie ist mit Sicherheit schlecht erforscht imVergleich zur Syntax des Frnhd. und mögli-cherweise schlecht erforscht auch im Ver-gleich zur Syntax des Ahd./Mhd. � beson-ders, wenn man bedenkt, daß die Zahl derUntersuchungen auf breiter Materialgrund-lage für die Zeit ab der Mitte des 18. Jhs. rela-tiv gering ist.

Ich habe im vorliegenden Beitrag den Ver-such unternommen, auf die wichtigsten the-men- und materialbezogenen Engpässe mög-lichst deutlich hinzuweisen, ohne auch nurannähernd Vollständigkeit anstreben, ge-schweige erzielen zu können. Im Sinne dieser

subjektiv wie ‘objektiv’ determinierten Un-vollständigkeit möchte ich zum Schluß einethematisch gruppierte Auswahl von syntakti-schen Phänomenen geben, deren Untersu-chung im jüngeren Nhd. � und u. U. auchdavor � m. E. wichtige Aufgaben der For-schung darstellt.

Eine Auflistung von Forschungsdesideraten �allerdings für die Zeit von 1300 bis 1750 � findetsich auch in der dt. Syntax von Robert Peter Ebert(1986, 25f.).

Forschungsdesiderate (in Auswahl):

(I) Nominalphrase:(1) Artikelgebrauch:

Da die Verschmelzungen (am, zur, ins usw.) ge-wöhnlich immer noch als phonetische Reduktionenvon Vollformen (an dem, zu der, in das usw.) aufge-faßt werden, werden ihre Determinierungsleistun-gen in der Regel im Rahmen des Artikelgebrauchsbehandelt. Historisch müßte aber gerade von derHypothese ausgegangen werden, daß sich die Ge-brauchssphären von Verschmelzungen und Vollfor-men zunehmend entfernen (� Grammatikalisie-rung der Verschmelzungen). Dies führt einerseitsdazu, daß die Verschmelzungen immer weniger als‘artikelhaltig’ aufgefaßt werden können, anderer-seits dazu, daß die Vollformen, die analog den Ver-schmelzungen gebraucht werden (auf die Schule vs.aufs Gymnasium gehen), zu Pseudo-Vollformenwerden, deren d kein bestimmter Artikel, sondernnur noch ein Fossil mit rein phonetischer Funktionist. Fazit: Bei der historischen Untersuchung desArtikelgebrauchs sind nicht nur die Determinie-rungsleistungen von NPs, sondern auch die vonPPs mit und ohne Verschmelzungen zu berücksich-tigen.

(2) Flexion unter syntaktischen Gesichts-punkten:

(a) Abbau synthetischer Kasusflexive des Substan-tivs entweder als Analytisierung (durch die Reali-sierung analytischer Flexive) oder als Infinitivie-rung (durch die Nichtrealisierung analytischer Fle-xive);(b) Adjektivflexion nach Personalpronomina (ihrkalten prosaischen Menschen, E. T. A. Hoffmann,nach Agel 1996, 42) ausgehend von der Hypotheseder Eingliederung der Personalpronomina ins Pa-radigma des bestimmten Artikels (ebd., 42�48).

(3) Topologie:

(a) Reihenfolge der Adjektivattribute (Stufungund Reihung);(b) Reihenfolge der postnominalen Attribute unterBerücksichtigung der Hypothese der ‘Soziologisie-rung’ der Dependenz rechts von N nach 1850(Schmidt 1993 a);(c) Grammatikalisierung des Mittelfeldes (ausge-hend von Eichinger 1995).

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(4) ‘Arbeitsteilung’ in der NP:

(a) Verhältnis pränominaler/postnominaler Geni-tiv nach 1730;(b) ‘Arbeitsteilung’ zwischen Wortbildung undSyntax (Beobachtung der Natur vs. Naturbeobach-tung; Frischmilchlieferung der Firma vs. die Liefe-rung frischer Milch durch die Firma) ausgehend vonder Hypothese, daß durch ‘Univerbierung’ keineTrennung, sondern eine Verbindung zwischenWortbildung und Syntax hergestellt wird (s. hierzuauch von Polenz 1994, 284);(c) Komplementarität und/oder Alternanz von Ge-nitivattribut und Präpositionalattribut.

(5) Die typologisch ‘andere’ NP:

Geschichte des adnominalen possessiven Dativs/Genitivs im Nhd.

(II) Satz:(1) Verbalgenera:

(a) Aktiv und Passiv: statistisches und funktiona-les Verhältnis;(b) werden- und sein-Patienspassiv: Veränderungenin der formalen Verteilung der Vorgang/Zustand-Opposition (s. Eroms 1992);(c) Veränderungen der Passivfähigkeit von Verben;(d) Herausbildung und Grammatikalisierung desRezipientenpassivs (ab Ende des 16. Jhs.);(e) Geschichte des subjektlosen Passivs inklusivedes Medial-Passivs/Reflexiv-Passivs (nicht nur imNhd.);(f) Geschichte des Modalpassivs.

(2) Tempora:

(a) Tempusgebrauch: insbesondere das historischeVerhältnis Präteritum/Perfekt und Präsens/Futur I;(b) Herausbildung und Grammatikalisierung vonDoppelperfekt und Doppelplusquamperfekt;(c) Geschichte des FuturPräteritumI (des Vergan-genheitsfuturs) ausgehend von der Hypothese, daßdie Geschichte der Konjunktivumschreibung mitwürde eventuell neu geschrieben werden muß.

(3) Modi:

(a) Geschichte der Konjunktivumschreibung inKonditionalsätzen;(b) Indikativ, Konjunktiv I und II in der indirek-ten Rede besonders nach 1800 ausgehend von derHypothese, daß sich historisch kein grammatikali-siertes Distanz-Signal herausbildete, daß sich alsoder Konj. II in der indirekten Rede primär andereFunktionen haben mußte/muß;(c) Verdrängung des alten Konjunktivs der Nicht-Aktualisation aus Final-, Konzessiv- und Konseku-tivsätzen bzw. aus indirekten Fragesätzen im Nhd.

(4) Valenz:

Da es keine umfassenden Valenzuntersuchungenzum jüngeren Nhd. gibt, müssen hier im Prinzipnoch alle Themen bearbeitet werden, die in Valenz-arbeiten zum Ahd./Mhd./Frnhd. und zur Gegen-wartssprache vorkommen. Eine kleine Auswahl:

(a) Objektsgenitiv von 1730 bis heute (inklusivedes Problems der Wahl der den Genitiv ersetzendenPräpositionen) unter Berücksichtigung der Hypo-these, daß der Ersatz des Genitivs durch Akkusa-tiv/PP im Rahmen der Transitivitätsparameter desSatzes (Hopper/Thompson 1980) zu erklären ist;(b) Generalisierung der Subjektskodierung;(c) Die einzelnen Dativtypen;(d) Konkurrenz von Dativobjekt und PP (s. Ebert1986, 50);(e) Die Ablösung des Pertinenzakkusativs durchden Pertinenzdativ im 19./20. Jh. (Ljungerud1972, 331ff.);(f) Das historische Verhältnis von adverbialen PPsund Präpositionalattributen;(g) Subjektsätze und Subjektsinfinitive;(h) Objektsätze und Objektsinfinitive;(i) Valenz und Ellipse;(j) Geschichte der Satzmuster (nicht nur im Nhd.):statistische ‘Arbeitsteilung’ und Perspektivierungs-leistung (das Zusammenspiel von Kasusformen,syntaktischen Funktionen und semantischen Rol-len).

(5) Wortstellung

Über die Wortstellungsprobleme hinaus, die gleichunten in (6) angesprochen werden, stellt(a) die Serialisierung im Mittelfeld das größte For-schungsdesiderat dar;(b) Der Rückgang von afiniten Konstruktionen(18./19. Jh.).

(6) Infinitivkonstruktionen:

Zwei wichtige Typen des topologischen Wandelssind wohl im Zusammenhang der Grammatikali-sierung der Feldstruktur zu sehen:(a) Die Infinitivkonstruktion kann „hauptsächlichim Nhd.“ (Behaghel 1932, 119) ins Mittelfeld inte-griert werden: der billige Leser wird sich deren aucheine ziemliche Anzahl auch hier anzutreffen nichtwundern (Lessing, zitiert nach ebd.);(b) Ergänzungen des Infinitivverbs können in denMatrixsatz gehoben werden (Behaghel ebd., 118):unsere Reise war ich ohnehin seit gestern entschlos-sen abzukürzen (Mörike, zitiert nach ebd.);(c) Kohärenz/Inkohärenz: Im Zusammenhang desWandels der Stellung des Nebensatzfinitums wan-delt sich wohl auch das Verhältnis kohärenter undinkohärenter Infinitivkonstruktionen (s. hierzu Be-haghel ebd., 122);(d) Das Kontrollproblem (Subjekt- und Objekt-kontrolle, arbiträre Kontrolle, Kontrollwechsel) hi-storisch (nicht nur im Nhd.);(e) Adverbiale Infinitivkonstruktionen im jünge-ren Nhd.

(7) Nebensätze, Satzkonnektoren:

Von den zahlreichen Forschungsthemen, die in 3.4.behandelt oder erwähnt wurden, sollen hier ledig-lich drei noch einmal hervorgehoben werden:(a) Korpusbasierte Untersuchungen zu allen Ad-verbialsatztypen in der Art, wie sie zum Final- undKonzessivsatz vorliegen;

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1898 XIII. Ergebnisse: VI: Das Neuhochdeutsche

(b) ‘Unechte’ Nebensätze (unter Berücksichtigungder Hypothese der zunehmenden Integration desNebensatzes, s. König/Auwera 1988);(c) Satzverschränkungen.Zwei weitere wichtige Themen wurden in 3.4.nicht erwähnt:(d) Korrelate von Subjekt- und Objektsätzen (Ty-pen, Setzung/Nichtsetzung, Stellungsbedingtheit);(e) Ausgliederungen (Glück/Sauer 1990, 51�53):Es scheint eine nhd. Entwicklung zu sein, daß sichKonjunktionaladverbien wie allein, doch, jedoch,also, nur usw. zu Textkonnektoren entwickeln (Be-haghel 1932, 57�61): jedoch, ich muß euch noch einsfragen (Schupp, nach Behaghel ebd., 60). Auchparataktisches weil, obwohl und während stellentextgrammatisch gesehen Ausgliederungen, d. h.Textkonnektoren dar.

(8) Negation:

Die Negationsprobleme, die bei der Erforschungdes älteren Dt. und des Frnhd. im Mittelpunktstanden, sind fürs jüngere Nhd. im wesentlichen ir-relevant geworden: Das proklitische en- wurde vonnicht endgültig verdrängt; die doppelte Verneinungwurde in der Schriftsprache aufgegeben; Objekts-genitiv statt Objektsakkusativ in negativen Sätzenkommt im Nhd. nur noch archaisierend vor (Dal1962, 165f.; Pensel 1976; Ebert 1986, 39; Admoni1990, 187; von Polenz 1994, 267). Fürs Nhd. istvon der Hypothese auszugehen, daß(a) mit der Grammatikalisierung der Verbalklam-mer bedeutende Veränderungen in der Topologievon nicht einhergehen.Im Zusammenhang damit stellt sich die Frage, obdie komplizierte topologische Situation im Mittel-feld immer eine klare Unterscheidung zuläßt zwi-schen(b) Satz- und Sondernegation.

(9) Sonstiges:

(a) Mittelverben und Medialkonstruktionen: Siesind erst „der neueren Sprache eigen“ (Paul 1919,29). Der älteste Beleg stammt aus dem Jahre 1673(ebd.): es gehorchet sich übel. In Christian Reuters„Schelmuffsky“ (1696) fand ich die Stelle: undschlieff sichs auch so weich darinnen. Die Untersu-chung von Medialkonstruktionen setzt die grund-sätzliche Klärung des Verhältnisses von Medialitätzur Reflexivität voraus, was zu einer radikalen‘Umklassifikation’ der traditionell reflexiv genann-ten Verben führt (Agel 1997);(b) Reflexive Verben und Konstruktionen (im Zu-sammenhang mit (a));(c) Das nichtreferentielle es im Nhd. (Typen,Funktionen, Stellung);(d) Syntax der Partikeln (vor allem der Abtö-nungspartikeln): Die historischen Untersuchungenzu den Abtönungspartikeln beschäftigen sich mitderen Genese und semantischer Ableitung (Hent-schel 1986; Burkhardt 1994). Untersuchungen zurTopologie der Partikeln � inklusive der Stellungder einzelnen Partikeln in Partikelkombinatio-nen � fehlen bisher;

(e) Geschichte der Ellipsen (nicht nur im Nhd.):Gemeint ist insbesondere die Untersuchung des‘harten Kerns’, d. h. der sog. kontextkontrolliertenEllipsen (z. B. Koordinationsellipsen, darunter dashistorische Verhältnis von Vorwärts- und Rück-wärtsellipsen);(f) Absoluter Akkusativ: Die Konstruktion ver-breitet sich erst im 18. Jh. (Paul 1919, 278ff.; Ad-moni 1985, 1544).

(III) Stabilität und/oder Wandel des ‘Syntax-bewußtseins’:

Die Untersuchungen zum Verhältnis des Syntax-bildes der Grammatiker zur Syntax der Texte imSammelband „Soziolinguistische Aspekte desSprachwandels in der deutschen Literatursprache1992“ (s. hierzu das Beispiel mit dem Objektsgeni-tiv in 1.) zeigen eindrucksvoll, daß Grammatiker-Systeme u. U. nicht einmal mit dem eigenenSprachgebrauch des Grammatikers im Einklangstehen. Die Diskrepanz zwischen dem, was derGrammatiker sagt, und dem, was er tut, ist einewichtige Quelle der Einschätzung sowohl desSprachwandels als auch der historischen Schwer-punkte der „Spracharbeit“ (s. 1.).

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Angemeldet | [email protected] am | 19.11.15 17:33

Page 49: 131. Syntax des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20 ...¼r... · nen durchschlagenden Sprachwandel begründen ... oft diejenigen Phänomene im Blickpunkt, ... (Beispiele für diverse

1903132. Deutsche Grammatikschreibung vom 16. bis 18. Jahrhundert

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132. Deutsche Grammatikschreibung vom 16. bis 18. Jahrhundert

1. Die Anfänge der deutschenGrammatikschreibung im 15. und16. Jahrhundert

2. Das 17. Jahrhundert3. Das 18. Jahrhundert4. Rezeptions- und wirkungsgeschichtliche

Aspekte. Sprachgebrauch und Sprachnorm5. Ergebnisse und Desiderata der Forschung6. Literatur (in Auswahl)

1. Die Anfänge der deutschenGrammatikschreibung im 15. und16. Jahrhundert

Die Herausbildung der nhd. Schriftsprachewird als komplexer Prozeß der Normierungund des Ausgleichs verstanden, an dem viel-fältige sprachliche, historische und kulturelleKräfte mitgewirkt haben, und der sich überden gesamten frnhd. Zeitraum erstreckt. We-sentliche fördernde Momente dieser Entwick-lung sind die immer stärker ausgeweitete Ver-wendung der dt. Sprache gegenüber dem Lat.in den verschiedensten Bereichen der schrift-lichen Überlieferung, die Papierherstellung,die Erfindung des Buchdrucks, die wach-sende Bedeutung der Städte und des Bürger-tums sowie die humanistischen und reforma-torischen Bewegungen. In diesen Kontextläßt sich auch der Anfang der theoretisch-grammatischen Beschäftigung mit der dt.Sprache am Ende des 15. Jhs. einordnen. Seitdem Anfang der volkssprachigen Überliefe-rung vergehen also fast achthundert Jahre biszum Erscheinen der ersten grammatischenWerke des Dt.; funktional gesehen ist dies je-doch aus den oben erwähnten historischenBedingungen zu erklären. Diese ersten gram-matischen Schriften sind keine vollständigenGrammatiken des Dt., wofür die Überliefe-

Wolf, Norbert Richard, Althochdeutsch�Mittel-hochdeutsch. Bd. 1 der „Geschichte der deutschenSprache“ von Moser/Wellmann/Wolf. Heidelberg1981. (UTB 1139).

[ZAN/synt. Ebene �] Zur Ausbildung der Norm derdeutschen Literatursprache auf der syntaktischenEbene (1470�1730). Der Einfachsatz. Hrsg. v. Ger-hard Kettmann/Joachim Schildt. Berlin 1976.(Baust. 56/I).

Vilmos Agel, Szeged

rung nochmals hundert Jahre vergehen läßt.Es handelt sich um verschiedene Schriften,die sich mit der dt. Sprache aus grammati-scher oder orthographischer Sicht befassenund deren Tradierung sich unterschiedlichstark durch den gesamten Zeitraum hinzieht:Charakteristisch für die humanistische Tradi-tion am Ende des 15. Jhs. sind Prosawerke,vor allem Übersetzungswerke mit beigefüg-ten Interpunktionslehren zum leichteren Le-sen der Texte (Niclas von Wyle, HeinrichSteinhöwel, Hans Neithart, Dietrich von Ple-ningen). Auch wendet sich das philologischeInteresse der Humanisten in Europa unteranderem Fragen der Orthographie zu. Einigedieser „gelehrten Orthographiereformer“(Jellinek 1913, 56ff.) beschäftigen sich mitder dt. Sprache, jedoch sind nur zum Teilnormative Darstellungen zu Teilbereichenüberliefert (Hieronymus Wolf, Paul SchedeMelissus).

Als spezifische Motive für das Entstehennormativer Werke des Deutschen im 16. Jh.gelten das steigende Interesse am Erlernendes Lesens und Schreibens, das damit ver-bundene Bedürfnis nach einem muttersprach-lichen Unterricht sowie die Ausdehnung desGebrauchs einer möglichst normierten, über-landschaftlichen Schriftsprache in den ver-schiedensten Bereichen der Kommunikation,vor allem im Kanzleiwesen (Jellinek 1913,39f.; Bergmann 1982, 267). Damit treten zweiHauptgruppen von Verfassern normativerWerke mit spezifischen Adressaten hervor:die Schulmeister und die Schreiber, wobeibeide Funktionen auch durch eine Personwahrgenommen werden konnten. Kanzlei-und Formularbücher mit sprachlich-ortho-graphischen Teilen zur dt. Sprache sind be-

Angemeldet | [email protected] am | 19.11.15 17:33


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