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13 Kriminalstories

Date post: 04-Jan-2017
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EINE HEYNE-ANTHOLOGIE

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In gleich'er Ausstattung wte der vorliegende Banderschienen als Heyne'Anthologien

Banil 220 SCIENCE FICTION-STORIES

Band 321 WESTERN-STORIES

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13KRIMINAL

STORIES

E L L E R Y QUEEN'SK R I M I N A L - A N T H O L O G I E

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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HEYNE-ANTHOLOGIEN1

Aus dem Amerikanischen übertragenvon Hans P. Thomas

Copyright 1963 der deutsdien Ausgabe betetWilhelm Heyne Verlag, München

ßopyright © 1962 by Davis Pnbhcatlons, Inc., New YoAPrinted in Germany 1963

Umschlag: Heinridis & PilotyGesamtherstellung: Ebner, Ulm/Donaa

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I N H A L T

REX STOUTDer Doppelgänger

Seite 7

RUFUS KINGDie y=förmige Narbe

Seite 56

THOMAS WALSHCop Calhouns dienstfreie Nacht

Seite 77

ANTHONY BOUCHEREin Fall für kluge Leute

Seite 95

HUGH PENTECOSTMord beim Golftumier

Seite 96

JACK LONDONDer weise Schamane

Seite 147

M A C K I N L A Y KANTOR

Der AnfängerSeite 161

ELLERY Q U E E NDie drei Witwen

Seite 179

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CHARLOTTE ARMSTRONGDie Hecke

Seite 186

L E S L I E CHARTERISDer Mann mit den grünen Scheinchen

Seite 220

G E O R G E HARMON COXEDie Sterbeurkunde

Seite 244

JOHN D. MACDONALDImmer diese ganz Schlauen

Seite 266

JOHN D I C K S O N CARRDas verschlossene Zimmer

Seite 278

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Rex Stout

Der Doppelgänger

Am Morgen des Tages, in dessenweiterem Verlauf ihn die tödlicheKugel traf, stattete er uns einenBesuch ab.Ben Jensen war Verleger, Politiker,und - meines Erachtens - einDummkopf. Ich hege noch heuteden stillen Verdacht, er hätte dasArmeegeheimnis, das CaptainRootihm seinerzeit zum Kauf anbot,eigentlich recht gerne gekauft —wäre er bloß imstande gewesen,sich einen Weg auszudenken, wieer es verwenden könnte, ohne da=bei Kopf und Kragen zu riskieren.Doch dann hatte er seinen Part beidieser Sache auf ganz sicher ge=spielt und -- von Kopf bis Fußloyaler Staatsbürger - brav undgewissenhaft mit Nero Wolfe zu»sammengearbeitet, der vom Penta°gon mit der Entlarvung des ver»

räterischen Captains beauftragtworden war.Root wurde überführt und voneinem Militärgericht zu mehrerenJahren Gefängnis verurteilt. Daslag einige Monate zurück.Jetzt, an diesem Dienstagmorgen,rief Ben Jensen an und bat umeine Unterredung mit Wolfe. Alsich entgegnete, daß Wolfe, wieüblich, bis um elf Uhr im Gewächs»haus auf dem Dach mit denOrchideen beschäftigt sei, schien erzunächst leicht verstört, erklärtedann aber/erwerde also um Punktelf Uhr bei uns sein.Er erschien jedoch fünf Minutenvor dieser Zeit. Ich empfing ihn imBüro und forderte ihn höflich auf,sein langes Knochengestell in einemder rotledernen Besuchersessel un«terzubringen. Sobald er saß, fixierte

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Rex Stout

er mich und sagte: »Ich kenne Siedoch. Sind Sie nicht Major Good-win?«»Ja.«»Aber warum sind Sie nicht inUniform?«»Ich stelle fest«/ erwiderte ich, »daßSie sich eigentlich mal wieder dieHaare schneiden lassen sollten. InIhrem Alter und bei grauem Haarsieht es sauber geschnitten besseraus. Mindestens gepflegter... Wol=len wir den Austausch persönlicherBemerkungen fortsetzen/ Sir?«Ehe Jensen antworten konnte,klappte draußen in der Halle dieTür von Wolfes Privatlift. EinenMoment später trat Wolfe ein,wechselte einen kurzen Gruß mitdem Besucher und placierte seinezweihundertsechzig Pfund würde"voll in seinen thronartigen Schreib"sessel.Ben Jensen sagte: »Ich muß Ihnenetwas zeigen, Mr. Wolfe. Erhieltes heute mit der Frühpost.« Er zogein Briefkuvert aus der Tasche,stand auf und überreichte esWolfe.Wolfe warf einen Blick auf dasKuvert und entnahm ihm einenZettel, den er ebenfalls eines kur=zen Blickes würdigte, ehe er beideszu mir herübergab. Das Kuvert

trug in Blockbuchstaben die An"schrift Ben Jensens. Der ziemlichkleine Zettel war offenbar mit einerSchere oder einem scharfen Messeraus einem Magazin geschnitten.Der gedruckte Text des Zettels lau»tete: Sie werden sterben, und ichzverde Sie sterben sehen!Wolfe wandte sich an Jensen:»Und, Sir?«»Ich kann Ihnen«, warf ich ein,»kostenlos verraten, woher dasstammt.«»Sie meinen - wer das geschriebenhat?« fragte Jensen.»Nein. Für eine derartige Auskunftwürde ich Bezahlung verlangenmüssen. Aber dieser Satz stammtaus einer Reklameseite für denCenturyfilm >Begegnung im Mor"gengrauem. Ich sah die Reklame»seite im >American Magazine< unddenke -«Wolfe unterbrach mich mit einerHandbewegung und wiederholte,an Jensen gewandt, etwas unge=duldig: »Und, Sir?«»Was soll ich tun, Mr. Wolfe?«fragte Jensen.»Das weiß ich nicht. Haben Sie eineAhnung, wer der Absender ist?«»Nicht die geringste.« JensensStimme klang bekümmert. »Ver=dämmt, die Sache gefällt mir nicht!

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Der Doppelgänger

Das hier ist mehr als die üblicheWarnung irgendeines anonymenStrolches! Es ist absolut unmißver»ständlich, das werden Sie zugebenmüssen! Ich denke, jemand beab»sichtigt mich umzubringen. Undich weiß nicht, wer und warum undwann und wie! Der Absender dürfste kaum zu ermitteln sein. Was ichbrauche, ist persönlicher Schutz!Von Ihnen, Mr. Wolfe!«Ich hob eine Hand, um mein Gäh"nen zu verdecken. Ich wußte Be»scheid - kein Fall, kein Honorar,aber auch keine Aufregung. ImLauf der Jahre, die ich als Chefsassistent bei Nero Wolfe gearbeitethatte, waren gewiß an die fünfzigPersonen jeden Alters und Standeserschienen, jede behauptete, in un=mittelbarer Lebensgefahr zu sein,und Nero Wolfe hatte ihnen allengeantwortet, daß, wenn jemandihnen ernstlich nach dem Lebentrachte, dieser Jemand vermutlichErfolg haben werde. Hin und wie»der, wenn er dringend Einnahmenbenötigte, hatte sich Wolfe herbei'gelassen, diesen oder jenen seinerfreien Mitarbeiter gegen einen umhundert Prozent erhöhten Tages"satz als Leibwächter zu vermieten.Doch zur Zeit war sein Bankkontoansehnlich genug, daß er sich er»

lauben konnte, Jensens Ansuchenabzulehnen.Jensen zeigte sich daraufhin be=greiflicherweise verärgert, undWolfe riet ihm schließlich, er solledoch versuchen, die Polizei für sei»nen Fall zu interessieren oder einsder größeren Detektivinstitute, dieihm zwei oder drei oder gar vierMann als Leibwächter zur Verfü=gung stellen könnten, sofern ergenug bezahle. Jensen erwiderte,selbst sechs Mann würden seinemBedürfnis nach Schutz nicht genü=gen, denn was er in erster Liniebrauche, sei Wolfes Scharfsinn.Wolfe zog ein Gesicht und schüt»telte den Kopf. Nun wünschte Jen»sen zu wissen, was denn mitGood»win wäre. Wolfe sagte, MajorGoodwin sei Offizier der UnitedStates Army.»Er ist nicht in Uniform«, grollteJensen.Wolfe war geduldig. »Offiziere desMilitary Intelligence Service«, er«klärte er, »genießen bei Bearbei-tung von Spezialfällen besondereVorrechte. Major Goodwin wurdemir als Assistent zugeteilt, ummich bei der Aufklärung versdiie»dener Fälle zu unterstützen, die mirdie Armee übertragen hat. Ich habejetzt nur wenig Zeit, midi um pri=

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Rex Stout

vate Aufträge zu kümmern. Aberich denke, Mr. Jensen, Sie solltensich in den nächsten Wochen rechtvorsichtig verhalten. Zum Beispielbeim Anlecken der Gummierungauf Briefkuverts. Nichts ist leich»ter, als solche Gumnüerung mitGift zu versetzen. Und wenn Sieeine Tür öffnen - treten Sie zurSeite und stoßen oder ziehen Siedann die Tür mit einem Ruck auf,ehe Sie die Schwelle überschreiten.Lauter solche Sachen - verstehenSie?«»Gütiger Gott!« sagte Jensen.Wolfe nickte. »Ja, so ist das nunmal. Vergessen Sie nicht, daß die»ser Bursche sich eindeutig festge»legt hat. Er behauptet, er werde Siesterben sehen. Das setzt ihm Gren»zen hinsichtlich der Methode undTechnik - er muß dabei sein, wennes geschieht. Deshalb rate ich Ihnenzu Vorsicht und erhöhter Wach»samkeit. Strengen Sie Ihren Ver"stand an und geben Sie den Ge=danken auf, sich den meinigen zumieten. Sie haben keinen Grundzur Panik ... Archie, wie vieleMenschen haben in den letztenzehn Jahren gedroht, mich zu be=seitigen?«Ich spitzte die Lippen. »Oh, etwazweiundzwanzig.«

»Pfui!« Wolfe blickte mich finsteran. »Mindestens hundert! Trotz»dem lebe ich noch, Mr. Jensen.«Jensen steckte Zeitungsausschnittund Kuvert ein und verabschiedetesich. Außer dem Hinweis auf Giftin Briefkuvertgummierungen undauf Vorsicht beim Türenöffnenhatte ihm sein Besuch nichts ein»gebracht. Da er mir ein bißchenleid tat, wünschte ich ihm, wäh=rend ich ihn zur Haustür begleitete,viel Glück und riet ihm, falls er amEnde doch einen Leibwächter ha=ben wolle, sich an das Detektiv»Institut Comwall & Mayer in der42. Straße zu wenden.Dann kehrte ich ins Büro zurück,nahm vor Wolfes Schreibtisch Auf»Stellung, straffte die Schultern undreckte die Brust heraus. Ich nahmdiese Haltung ein, weil ich Wolfeeinige Neuigkeiten beibringenwollte und mir dachte, es könnenützlich sein, wenn ich dabei mög»liehst offiziersmäßig aussähe.»Ich habe«, begann ich, »am Don=nerstag früh neun Uhr in Wa"shington eine Verabredung mit |General Carpenter.«Wolfes Augenbrauen hoben sichum einen Millimeter. »Wirklich?«»Jawohl, Sir. Auf mein Ersuchen.Ich beabsichtige, um Versetzung

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auf einen Posten des Military In=telligence Service in Europa zu bit»ten.«»Nonsens«, entgegnete Wolfemilde. »Ihre drei bisherigen Ver»setzungsersuchen wurden abge»lehnt.«»Ich weiß, Sir.« Ich behielt meinestramme Haltung bei. »Doch dasgeschah durch alte Obersten. Ge°neral Carpenter wird mein Ver"langen verstehen. Ich gebe zu, daßSie ein großer Detektiv, der besteOrchideenzüchter von New York,ein Champion im genußvollen Es=sen und Biertrinken und ein Geniesind. Aber ich habe nun jahrelangfür Sie gearbeitet, und das ist ineiner so turbulenten Epoche nichtder richtige Zeitvertreib für einentatendurstigen Offizier der ameri=kanischen Armee. Das will ich Ge=neral Carpenter erklären. Natür=lieh wird er Sie antelefonieren. Ichappelliere nun an Ihre Vaterlands»liebe, Sir, an Ihre besseren Instink»te, an Ihre Abneigung gegen denKommunismus! Wenn Sie Carpen»ter einreden wollen, daß Sie ohnemich nicht zurechtkommen können,dann werde ich Ihnen das Essenversalzen und Zucker ins Bierschütten!«Wolfe öffnete die Augen und

starrte mich an. Der bloße Gedan»ke an Zucker in seinem Bier machteihn sprachlos ,.,

Das war am Dienstag.Am nächsten Morgen, Mittwoch,brachten die Zeitungen dickeSchlagzeilen über den Mord anBen Jensen. Ich hatte den Berichtin der New Yorfc Times kaum zurHälfte gelesen, als die Haustür»kimgel ertönte. Ich ging hin, fandauf der Schwelle unseren altenFreund, Inspektor Cramer vomMorddezernat Manhattan West,begrüßte ihn und ging mit ihmhinauf zu Wolfes Schlafzimmer imersten Stock.Ihn sehen und sofort zu erklären»Weder interessiert noch beteiligt,noch neugierig«, war eins für Wol»fe.Er bot einen interessanten Anblick,als er da mit dem Frühstückstablettim Bett saß. Weisungsgemäß hatteihm Fritz, der Dienerkoch, um achtUhr das Frühstück ins Zimmer zubringen. Jetzt, um 8 Uhr 15, warenbereits die Pfirsiche mit Sahne, dergrößere Teil des gebratenen Specksund zwei Drittel der Rühreier ver=tilgt, ganz zu schweigen vom Kaffeeund der grünen Orangenmarme»lade. Übrigens bedurfte es schar»

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fer Augen, um genau zu erkennen,wo die gelbseidene Steppdecke auf=hörte und der gelbseidene Pyjamabegann, mit dem Wolfe sich desNachts umhüllte. Außer Fritz undmir hatte ihn bisher niemand indieser Aufmachung zu sehen be=kommen. Inspektor Cramer hättees sich als Ehre anrechnen dürfen,eine Ausnahme zu sein. Doch dar»an schien der Inspektor nicht zudenken.»In den vergangenen zwölf Jahren,Mr. Wolfe«, sagte er in seinen ge"wohnten Knurrtönen, »haben Siemir, wie ich schätze, die runde Zahlvon zehn Millionen Lügen aufge=tischt.«Die Kommata wurden durch Kauenauf der unangezündeten Zigarremarkiert. Wie immer, wenn er eineNacht durchgearbeitet hatte, wirkteCramerverdrossenundaufgebracht,aber leidlich beherrscht, ausgenomsmen seine Haare, die sich gegen denScheitel sträubten.Wolfe, der beim Frühstück kaumaus der Ruhe zu bringen ist, ver=zehrte einen Toast mit Marmelade,nahm einige Schlucke Kaffee undignorierte die Beleidigung.»Jensen kam gestern vormittag zuIhnen«, fuhr Cramer fort, »zwölfStunden bevor er ermordet wurde.

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Das werden Sie nicht abstreiten.«»Ich habe Ihnen bereits am Telefongesagt, weshalb er kam«, erwiderteWolfe höflich. »Er hatte diesenDrohbrief bekommen und wollte zuseinem Schutz meinen Scharfsinnengagieren. Ich lehnte ab, und erging. Das war alles.«»Warum haben Sie abgelehnt, fürihn zu arbeiten? Was hat er Ihnengetan?«»Nichts.« Wolfe schenkte sich Kaf°fee ein. »Ich befasse mich nicht mitderartigen Dingen. Ein Mann, dereine anonyme Todesdrohung er=hält, ist entweder überhaupt nichtgefährdet, oder die Gefahr ist soakut und so stark, daß seine Lageals hoffnungslos gelten muß. Imübrigen kannte ich Mr. Jensen nurflüchtig. Er hatte ganz am Randemit dem Fall des Captains Root zutun, den ich vor einigen Monatenbearbeitete. Meine damalige Lei=stung imponierte ihm wohl. Ver=mutlich kam er deshalb zu mir, alser jetzt Hilfe brauchte.«»Dachte er denn, daß der Drohbriefvon jemandem kam, der mit Cap=tain Root in Zusammenhang stand?«»Nein. Root wurde nicht erwähnt.Jensen sagte, er hätte keine Ahnung,wer ihm nach dem Leben trachtenkönnte.«

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Der Doppelgänger

Cramer räusperte sich. »Genau dashat er auch zu Tim Comwall ge=sagt. Cornwall meint. Sie hättendie Sache abgelehnt, weil Sie wuß=ten oder ahnten, daß sie gefährlichwerden würde. Cornwall ist jetztnatürlich sauer. Hat seinen bestenMann verloren.«»Wirklich?« äußerte Wolfe unge=rührt. »Wenn das sein bester Mannwar...«»Comwall sagt es«, beharrte Cra»mer. »Und der Mann ist tot. HießDoyie. War seit zwanzig Jahren imFach und hatte sich stets bewährt.Nach unseren Feststellungen trifftihn keine Schuld am tödlichen Ver°lauf der Sache. Jensen kam gesterngegen Mittag zu Cornwall & Mayer,und Cornwall gab ihm Doyie alsLeibwächter mit. Wir haben jedeihrer Bewegungen zurückverfolgt -nichts Besonderes. Abends warJen=sen mit Doyie im Midtown Klub.Sie verließen den Klub um elf Uhrzwanzig und begaben sich offenbardirekt, entweder mit der Unter'grundbahn oder mit dem Bus, zuJensens Wohnhaus in der Dreiund»siebzigsten Straße. Um elf Uhr fünf«undvierzig wurden siebeide tot vordem Hauseingang gefunden. JedermitHerzdurchschuß aus einem Acht=unddreißig^r - Doyie von hinten,

Jensen von vom. Keine Pulvespuren, nichts. Die Geschosse ha<>ben wir allerdings.« \Wolfe murmelte ironisch: »Mr.!Comwalls bester Mann!«»Da gibt es nichts zu spotten«,knurrte Cramer. »Doyie wurde inden Rücken geschossen! Dicht ne»ben dem Tatort mündet ein schma»ler Durchgang, in dem sich der Tä°ter verborgen haben kann. Oder dieSchüsse kamen aus einem vorüber'fahrenden Auto. Oder von der an=deren Straßenseite. Wir haben nochniemanden, der die Schüsse hörte.Der Portier war zur fraglichen Zeitim Keller mit der Zentralheizungbeschäftigt. Der Liftmann fuhreinen anderen Mieter zum zehntenStock hinauf. Die Leichen wurdenvon zwei Frauen entdeckt, die voneinem Kinobesuch nach Hause ka=men. Die Sache mag sich nur eineoder zwei Minuten vor dem Er=scheinen der beiden Frauen zuge»tragen haben, aber sie waren ebenerst an der Eckhaltestelle aus demBus gestiegen und haben natürlichnichts gesehen oder gehört.«Wolfe erhob sich aus dem Bett -ein Schauspiel für Götter. Er warfeinen demonstrativen Blick auf dieNachttischuhr; es war 8 Uhr 55.»Ich weiß, ich weiß«, knurrte Cra=

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per gereizt, »Ihr Stundenplan! Siemüssen jetzt Toilette machen undsich anziehen. Und dann müssenSie hinauf in die Gewächshäuser zuden Orchideen! Aber hören Sie nochdies - der Mieter, der im Lift nachoben fuhr, ist ein angesehener Arzt,der Jensen kaum vom Sehen kann»te. Die beiden Frauen, die die Lei=chen entdeckten, sind Mannequins- sie hatten noch nie von Jensengehört. Der Liftmann arbeitet seitzweiundzwanzig Jahren im Hausund gilt als unbedingt verläßlich.Jensen bedachte ihn übrigens im=mer reichlich mit Trinkgeldern. DerPortier ist ein fetter, gutmütigerTölpel, der erst vor zwei Wocheneingestellt wurde und bisher nichteinmal die Namen der einzelnenMieter kennt, weil er fast nur mitder Heizung zu tun hat. Über diesefünf Personen hinaus hätten wirgegebenenfalls noch die gesamteNew Yorker Bevölkerung zuzüglichder Tag und Nacht hier eintreffen»gen Fremden! Deshalb bin ich zuIhnen gekommen, Mr. Wolfe! Ge=ben Sie mir um Himmels willen alleInformationen, die Sie haben! Siesehen, wie dringend ich sie brau=ehe!«»Mr. Cramer -«, der Fleischberg ingelber Pyjamaseide setzte sich in

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Bewegung, »ich wiederhole-ich binweder interessiert noch beteiligt,noch neugierig.« Mit diesen Wor»ten näherte sich Wolfe der Bade»zimmertür.Cramer stürzte von dannen, kopf=los vor hilfloser Wut. Und ich be°gab mich ins Büro.Dort fand ich die Frühpost vor undsah fast den ganzen Stapel durch,ohne auf irgend etwas Interessan=tes zu stoßen. Doch dann schlitzteich einen der letzten Briefe auf -und da war es!Ich starrte es an. Ich nahm das Ku=vert nochmals zur Hand und starr=te es ebenfalls an. Ich spreche nichtoft mit mir selbst, aber dieses Malsagte ich laut genug, daß ich es hö-ren konnte: »Grundgütiger Gott!«Ich ließ die Frühpost liegen undrannte mit dem einen Brief in derHand die drei Treppen zum Dachhinauf, wo die Gewächshäuser sind.Dort traf ich Wolfe, wie er mitTheodor Horstmann, seinem Or=chideenspezialgärtner, eine soebeneingetroffene Zuchtknollensendungbegutachtete.»Was gibt's?« fragte er ohne jedeSpur von Freundlichkeit.»Ich weiß, daß ich Sie hier nichtstören soll«, erwiderte ich. »Aberich fand etwas in der Post, das

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Ihnen bestimmt Vergnügen berei»ten wird.« Damit legte ich beidesnebeneinander vor ihn auf den Ar=beitstisdi - das Kuvert mit WolfesNamen und Anschrift und den Zei=tungsausschnitt mit dem fatalenSatz: »Sie werden sterben, und ichwerde Sie sterben sehen!«»Sicher ein Zufall«, sagte ich undgrinste Wolfe ermutigend an.»Ich werde mir«, erklärte er völligunbeeindruckt, »die Post, wie üb=lieh, um elf Uhr ansehen.«Er erklärte es gelassen und sehrvon oben herab. Ich erkannte, daßim Augenblick nichts mit ihm an=zufangen war, nahm wortlos Ku=vert und Zeitungsausschnitt wiederan mich und kehrte ins Büro zu=rück.Punkt elf Uhr kam Wolfe herunterund begann seine Routinearbeiten,ohne mich eines Blickes oder einerAnsprache zu würdigen. Erst nach»dem Fritz ihm das gewohnte Bierserviert und er es zur Hälfte ge»trunken hatte, lehnte er sich in sei=nem thronartigen Schreibtischsesselzurück und bemerkte, während ermich aus halb geschlossenen Augenfixierte: »Archie, Sie werden IhreReise nach Washington verschie=ben.«Ich markierte Überraschung. »Das

kann ich nicht. Ich bin mit einemGeneral verabredet. Und weshalbüberhaupt?« Ich deutete auf dasKuvert und den Zeitungsausschnitt.»Wegen dieses dummen Zettelsetwa? Kein Grund zur Panik. Ichbezweifle, daß Gefahr für Sie be=steht. Ein Mann, der einen Mordplant, verschwendet seine Energiewohl nicht auf das Zurechtschnip=sein von Zeitungsausschnitten,und -«»Sie fahren also nach Washingston?«»Jawohl, Sir. Ich habe eine Verab»redung. Freilich könnte ich GeneralCarpenter anrufen und ihm sagen,daß Ihre Nerven ein wenig an=gegriffen sind, weil Sie einenanony —«»Wann fahren Sie?«»Ich habe mir im Sechs=Uhr=Zugeinen Platz reservieren lassen.«»Gut. Dann haben wir noch genugZeit. Ihr Notizbuch.«Wolfe lehnte sich nach vorn, um einGlas Bier einzugießen und zu trin»ken, dann lehnte er sich wieder zu=rück. »Ein kiemer Kommentar zuIhren Scherzen. Als Mr. Jensen ge=stem kam und uns die Drohungzeigte, hatten wir keine Ahnungvom Charakter und dem wirklichenVorhaben des Absenders. Es hätte

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sich um das Werk eines geschmack»losen Spaßvogels handeln können.Daß es dies nicht war, ist uns nunbekannt. Der Absender des Droh"briefes hat nicht nur Mr. Jensen,sondern auch Mr. Doyie getötet,dessen Anwesenheit nicht vorher'zusehen war. Wir wissen jetzt, daßder Absender kaltblütig, rücksichts»los, schnell entschlossen im Denkenwie im Handeln und krankhaft ego=zentrisch ist.«»Jawohl, Sir. Völlig Ihrer Meinung.Wenn Sie sich ins Bett legen undvor meiner Rückkehr aus Washing»ton außer Fritz keine Menschen'seele in Ihr Zimmer lassen, wird esmir zwar nicht gelingen, späterhinmeine Zunge Ihnen gegenüber imZaum zu halten. Dennoch würdeich Ihr Verhalten verstehen undniemand anders davon erzählen.Etwas Ruhe täte Ihnen ohnehingut. Aber lecken Sie während die»ser Zeit keine Kuvertgummierun»gen an.«»Bah.« Wolfe machte eine indi»gnierte Handbewegung. »Nicht Siehaben diesen Brief erhalten. Ver=mutlich stehen Sie gar nicht auf derVormerkliste des Absenders.«»Das hoffe ich, Sir.«»Der Kerl ist gefährlich und erfor=dert Beachtung.«

»Völlig Ihrer Meinung, Sir.«Wolfe schloß die Augen. »SchaMachen Sie ein paar Notizen... D|der Absender der Drohung mir gegenüber genauso vorzugehen beabsichtigt, wie er es gegenüber MiJensen getan hat, ist anzunehmen!daß er in irgendeiner Beziehung ziCaptain Root steht. Denn nur inFall Root bin ich mit Mr. Jensen irBerührung gekommen ... StellerSie fest, wo Captain Root sich ziZeit befindet.«»Das Militärgericht verurteilte ilzu fünf Jahren Gefängnis.«»Ich weiß. Aber in welchem Ge»|fängnis sitzt er? Und wie steht es|mit dieser jungen Lady, seiner Ver"|lobten, die sich damals so sehr üb<die Sache erregt hat? Sie hieß JarGeer.« Wolfes Augen öffneten sieeinen Moment. »Sie haben dockjdie Gewohnheit, den Aufenthaltort attraktiver junger Ladies unvezüglich herauszubekommen. SindSie dieser hier in letzter Zeit nodibegegnet?«»Gewiß/ichhabe sie ein wenig kerfJnengelernt«, antwortete ich besehe»den. »Und ich denke, ich kann michwieder mit ihr in Verbindung se^zen. Aber ich bezweifle —« 1»Sie setzen sich mit ihr in Verbirgdüng! Ich wünsche diese Miss G(

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zu sehen ... Entschuldigen Sie dieUnterbrechung, aber Sie müssen jaden Sechs=Uhr=Zug erwischen...Informieren Sie Inspektor Cramerüber die neueste Entwicklung derDinge. Raten Sie ihm, sich für Cap=tain Roots Vergangenheit, seineVerwandten und seine intimenFreunde zu interessieren - ausge=nommen Miss Geer. Dieser Ladywünsche ich selbst auf den Zahn zufühlen ... Rufen Sie General Fitean. Er wird Ihnen sagen, in welchemGefängnis Captain Root unterge=bracht ist. Sorgen Sie dafür, daß ermir Root zur Befragung herbringenläßt... Wo ist der Zeitungsaus=schnitt, den Mr. Jensen gestern inseinem Brief erhielt? Fragen SieMr. Comwall und Inspektor Cra»mer danach. Vielleicht handelt essich bei diesem hier nicht um einenzweiten, sondern um denselbenAusschnitt.«Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Sir.Dieser hier ist auf der rechten Seiteetwas knapper ausgeschnitten.«»Das habe ich auch bemerkt. Fra=gen Sie trotzdem, der Ordnung hal=ber. . . Überprüfen Sie die Sicher'heitsketten an den Haustüren undden Nachtgong in Ihrem Zimmer...Wann kommen Sie aus Washing»ton zurück?«

»Meine Verabredung ist um neunUhr früh. Also sollte ich eigentlichden Mittagszug erreichen und umfünf Uhr nachmittags wieder hiersein können. Falls ich mit GeneralCarpenter wegen meiner Verset=zung klarkomme, werde ich ihn bit=ten, mich zu Ihrer Verfügung zubelassen, bis der Zeitungsaus'schnittversender gefaßt ist.«»Von mir aus brauchen Sie sich we=der mit der Rückkehr zu beeilennoch Ihre Pläne zu ändern. Ihr Ge=halt wird ja von der Regierung be=zahlt.« Wolfes Ton war trocken,scharf und eisig. »Rufen Sie jetztbei General Fife an. Wir wollenzunächst wissen, wie es mit Cap=tain Root steht...«

Alles klappte wie am Schnürchen,bis auf die Sache mit Jane Geer.Wäre Jane Geer nicht gewesen,hätte ich meinen Zug ohne weitereserreicht. General Fife telefoniertebinnen zwanzig Minuten zurückund teilte mit, daß Captain Root -genauer gesagt, Ex=Captain Root -baldigst nach New York transpor»tiert würde, damit Wolfe ihn ver=nehmen könne. Cornwall erklärte,er habe den von Jensen erhaltenenZeitungsausschnitt nebst Kuvert anInspektor Cramer weitergegeben,

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und Cramer wiederum bestätigte,beides zu besitzen. Nachdem ichCramer die neue Situation erläuterthatte, ließ er ein leises Lachen hö=ren und äußerte anzüglich: »Mr.Wolfe ist ja weder interessiert, nochbeteiligt, noch neugierig.« Ich wuß=te, daß Wolfe nunmehr wieder mitCramers Besuch rechnen durfte.Und das war, wenigstens nach Wol=fes Gesichtspunkt, nicht erfreulich.Mit Jane Geer klappte es, wie ge=sagt, nicht so recht.Als ich gegen Mittag die Werbe»agentur anrief, für die sie tätig ist,wurde mir mitgeteilt, sie sei zurZeit bei einem Kunden auf LongIsland. Erst nach vier Uhr gelanges mir, sie zu erreichen. Sie zeigtesich geschmeichelt, weil ich seitMittag ihretwegen fünfmal telefo=niert hatte, was sie als Offenbarungmeiner wahren Gefühle zu bewer«ten schien, war aber zu einem Be»such in Wolfes Haus nur unter derBedingung bereit, daß ich sie vor=her zu einem Cocktail einlud. Ichtraf sie also kurz nach fünf Uhr imStork Klub.Sie hatte ein anstrengendes Tage"werk hinter sich, doch wenn mansie ansah, konnte man meinen, siewäre erst vor einem halben Stund»chen von einem ausgiebigen Nach"

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mittagsschlaf aufgestanden. Sieblitzte mich aus ihren braunenAugen an und sagte: »Lassen Siemich einen Blick auf die Spitze Ihresrechten Zeigefingers tun.«Ich hielt ihr den Finger hin. Sie be=fühlte ihn vorsichtig. »Ich wollte«/sagte sie, »nur mal sehen, ob sichda keine Schwiele gebildet hat, weilSie doch innerhalb von vier Stun=den fünfmal meine Nummer wäh=len mußten.«Dann nippte sie an ihrem Cocktail,und dabei rutschte ihr eine Lockeüber das rechte Auge. Ich langtehinüber, um den Haarkringel wie«der hochzuschieben. »Diese Frei»heit«, erläuterte ich, »nahm ich mir,um einen ungehinderten Blick aufIhr hübsches Gesicht zu haben. Ichmöchte nämlich sehen, ob Sie jetztblaß werden.«»Wegen Ihrer Nähe?«»Nicht deshalb. Momentan dürfteich sowieso nicht anziehend wirken.Denn ich bin wütend, weil ichihreb»wegen meinen Zug versäumenwerde.«»Dieses Mal habe nicht ich Sie an»gerufen, sondern Sie mich.«»Stimmt.« Ich nahm einen Schluck.»Sie sagten mir am Telefon, daßSie Nero Wolfe noch immer nichtleiden können und daß Sie nicht in

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sein Haus kämen, es sei denn. Siewüßten vorher, weshalb, und viel»leicht selbst dann noch nicht. Hierist der Grund: Nero Wolfe will Siefragen, ob Sie die Absicht haben,ihn eigenhändig umzubringen, oderob Sie sich der gleichen Bande be»dienen wollen, durch die Jensenund Doyie beseitigt wurden.«»Merci, Monsieur!« Sie betrach»tete mich nachdenklich. »Ihr Hu=mor läßt zu wünschen übrig.«Ich zuckte die Schultern. »Tutmir leid. Normalerweise wäre esmir ein Vergnügen, ein wenig mitIhnen zu plänkeln. Aber ich kannIhretwegen nicht alle Züge versau»men. Da Wolfe auf dieselbe Artbedroht wurde wie Jensen, ist an=zunehmen, daß es sich bei JensensErmordung um eine Rache für dashandelt, was Jensen als Hauptbe»lastungszeuge mit Root gemachthat. Und weil wir uns recht gut anIhr Verhalten bei Roots Festnahmeund während der Gerichtsverhand=hing erinnern, liegt es nahe, daßwir erfahren möchten, was Sie inletzter Zeit angestellt haben.«»Denkt denn dieser Nero Wolfewirklich, ich hätte das getan?«»Das habe ich nicht gesagt. Wolfewill nichts, als mit Ihnen über dieSache sprechen.«

Ihre Augen funkelten, und ihreStimme wurde scharf. »Ja, und.dann kommt die Polizei! Hat Wolfees so vorbereitet, daß ich nach demGespräch mit ihm abgeführt wer=de?«»Oh, hören Sie, liebe Jane! Ichhabe Ihnen die Situation erläutert.Ihr Name wurde bisher nicht er=wähnt, obwohl die Polizei bereitsbei uns war. Doch da die Polizeinun einmal über die Zusammen'hänge im Fall Root unterrichtet ist,wird sie natürlich früher oder spä=ter auch bei Ihnen erscheinen. Unddeshalb möchte Wolfe sich vorhervergewissern, daß Sie keiner Fliegeetwas zuleide tun können.«»Und wie will Wolfe das ma=chen?« Sie schnaufte verächtlich.»Sicher wird er mich fragen, ob ichschon einmal einen Mord began=gen habe. Und wenn ich lächelndverneine, wird er sich entschuldi=gen und mir eine Orchidee sehen»ken — wie?«»Nicht ganz. Er ist ein Genie. Erstellt Ihnen einfache Fragen - zumBeispiel, ob Sie beim Angeln denKöder eigenhändig auf den Hakenspießen. Und mit der Antwort ent'hüllen Sie ihm Ihr ganzes Innen»leben, ohne es zu merken.«»Das klingt faszinierend.« Der

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Rex Stout

Ausdruck ihrer Augen und derTon ihrer Stimme veränderten sichplötzlich. »Ja - ich überlege.«»Was denn? Sagen Sie es mir,und wir werden gemeinsam über»legen.«»Selbstverständlich.« Der Aus=druck ihrer Augen war noch sanf=ter geworden. »Sagen Sie - verfol=gen Sie bei dieser Sache vielleichtein ganz persönliches Interesse? Siehaben/ wie es heißt, so viele Freun=dinnen, daß Sie einen präzisenStundenplan führen müssen, undfinden doch so viel Zeit für mich?Sollte etwa diese ganze idiotischeBeschuldigung -«»Lassen Sie das«, unterbrach idi,»oder ich werde anfangen, auchmeinerseits Verdacht gegen Sie zuschöpfen. Sie sind eine geschickteWerbeberaterin und haben mir da=zu verholten, meine Vorliebe fürbestimmte Formen, Farben und so=gar Parfüms zu präzisieren. Dafürbin ich Ihnen dankbar - aber dasist alles.«»Ha, ha.« Sie stand auf; ihre Au=gen begannen wieder zu funkeln,und als sie sprach, hatte ihre Stim=me wieder den scharfen Ton vonvorhin. »Ich werde also zu NeroWolfe gehen. Ich begrüße die Ge=legenheit, diesem Genie mein In=

nenleben zu enthüllen. Muß ichalleine gehen, oder begleiten Siemich?«Ich sagte, selbstverständlich würdeich sie begleiten. Ich zahlte; danngingen wir hinaus und nahmen einTaxi.Aber Jane Geer kam nicht dazu,Wolfe zu sprechen.Da Wolfe angeordnet hatte, dieHaustür mit der Kette zu sichern,konnte ich sie mit dem Schlüsselnicht öffnen und mußte Fritz her=ausklingeln. Ich hatte eben auf denKlingelknopf gedrückt, als hinteruns kein anderer die Vortreppe her»aufkam, als jener Armeeoffizier,der von allen Rekrutierungsplaka=ten herablächelt und in jedem Be=trachter die Überzeugung festigt,daß das männlich hübsche Äußereder Soldaten viel dazu beiträgt, dieUnited States Army unüberwind»lieh zu machen. Zugegeben-er warein verdammt gut aussehenderBursche. Er wirkte etwas gedanken»verloren, doch das hinderte ihnnicht, Jane Geer mit einem rechtintensiven Blick zu bedenken.Im nächsten Moment wurde dieHaustür geöffnet. »Danke«, sagteich zu Fritz. »Ist Mr. Wolfe imBüro?«»Nein. Er ist in seinem Zimmer.«

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Fritz verschwand in Richtung Kü°ehe. Ich betrat die Haustürschwelleund wandte mich an den Uniform'mannequin: »Bitte, Major? Hierwohnt Mr. Nero Wolfe.«»Das weiß ich.« Die Baritonstimmepaßte zu seiner Erscheinung. »Ichmöchte Mr. Wolfe sprechen. MeinName ist Emil Jensen. Ich bin derSohn von Ben Jensen, der gesternabend ermordet wurde.«»Oh.« Viel Ähnlichkeit mit sei=nem Vater hatte er nicht. »Mr.Wolfe hat eine Verabredung. Eswäre gut, wenn ich ihn über denZweck Ihres Besuches informierenkönnte.«»Ich - nun ja, das sagte ich schon- ich möchte ihn sprechen. WennSie gestatten, würde ich vorziehen,ihm den Zweck meines Besuchespersönlich zu erklären.« Er lächelteliebenswürdig, um es keinesfallskränkend klingen zu lassen; an=scheinend war er auch in Psycholo°gie gedrillt.»Verstehe. Bitte, treten Sie ein.«Ich gab Jane den Eingang frei, undEmil Jensen folgte ihr. Nachdem ichdie Tür zugemacht und die Kettewieder vorgelegt hatte, geleitete ichdie beiden ins Büro, forderte siezum Platznehmen auf, ergriff denHörer des Telefons auf meinem

Schreibtisch und verband mich mitWolfes Zimmer.»Ja?« knurrte es über die Leitung.»Archie Goodwin hier. Habe MissGeer mitgebracht. Außerdem istMajor Emil Jensen soeben hier ein=getroffen. Er ist Ben Jensens Sohnund möchte Sie sprechen, zieht esaber vor. Sie über den Zweck sei=nes Besuches persönlich zu unter'richten.«»Sagen Sie den beiden, daß ich be=daure. Ich bin beschäftigt und kannniemanden empfangen.«»Wie lange werden Sie beschäftigtsein, Sir?«»Das ist nicht vorherzusehen. Indieser Woche kann ich keine Ver=abredungen mehr treffen.«»Aber vielleicht erinnern Sie sich -«»Archie! Sagen Sie ihnen das, bit=te.« Die Verbindung wurde abge=brochen.Also sagte ich es ihnen. Sie warennicht entzückt. Insbesondere nichtJane Geer, und wer weiß, was füreine Szene sie aufgeführt hätte,wäre sie nicht durch die Anwesen»heit eines Fremden genötigt gewe=sen, ihr Temperament zu zügeln.Bei der anschließenden kurzen Un=terhaltung, die natürlich zu garnichts führte, bemerkte ich, daß siesich gegenseitig mit immer freund»

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lidler werdenden Blicken betrach"teten.Ich dachte, diese schnell entflammteSympathie werde mir helfen, diebeiden recht bald loszuwerden, undsagte mit effektvoller Betonung:»Miss Geer - das ist Major Jen"sen.«Jensen sprang auf, verbeugte sichwie ein Mann, der weiß, wie mansich zu verbeugen hat, und mur=melte: »Sehr erfreut, Miss Geer.«Nach einer zweiten, etwas geringe'ren Verbeugung fügte er weltmän»nisch hinzu: »Sieht leider aus, alswäre es hoffnungslos, wenigstensfür heute. Vor dem Haus wartetein Taxi auf mich, Miss Geer, undes würde mir ein Vergnügen sein,Sie heimzufahren.«Jane Geer willigte huldvoll ein, undsie verabschiedeten sich. Ich beglei»tete sie zur Haustür und bemerktenoch, wie er ihr auf der Vortreppeden Arm bot. Ging wirklich raschmit den beiden. Schließlich war ichja auch Major ...Ich zuckte resigniert die Schultern,machte die Tür hinter ihnen zu,stieg in den ersten Stock hinauf,klopfte an Wolfes Tür, hörte sei-nen brummigen Hereinruf, trat einund fand ihn mit eingeseiftem Ge=sieht, das altmodische Rasiermesser

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in der Hand, auf der Schwelle zumBadezimmer. Er blickte mich anund fragte barsch: »Wie spät istes?«»Sechs Uhr achtundzwanzig.«»Wann geht der nächste Zug?«»Punkt sieben Uhr. Aber zur Höllemit der Reise nach Washington!Offensichtlich gibt es hier eineMenge Arbeit. Ich kann die Fahrtauf nächste Woche verschieben.«»Nein. Die Sache spukt Ihnen imKopf herum. Sie fahren mit demSieben=Uhr=Zug.«Ich versuchte es noch einmal. »MeinMotiv ist selbstsüchtig, Sir. Wennich morgen früh bei General Car«penter sitze und wir die Nachrichtvon Ihrem Tode erhalten oder viel»leicht auch nur von einer mehr oderweniger schweren Verwundung,dann wird Carpenter mir die Schulddaran geben. Und das ertrüge ichnicht. Deshalb sind es rein selbst»süchtige Beweggründe, die michveranlassen —«»Zum Teufel!« brüllte Nero Wol»fe. »Sie werden auch den Sieben»Uhr=Zug versäumen! Ich habe nichtdie geringste Absicht, mich töten zulassen! Und nun hinaus mitIhnen!«Ich verschwand...

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Manchmal denke ich, die Mentalitätder Generale sollte reformiert wer»den. Das, was mir mit General Car"penter passierte, passiert andau»emd unzähligen anderen Offizierenmit allzuvielen anderen Generalen.Ich bin ja bloß Major. Und saß alsoam Donnerstagmorgen stramm undunbequem auf der Kante des Be«suchersessels in General Carpen»ters Dienstzimmer, immer wiederJawohl sagend, während der Gene»ral mir darlegte, er habe mir dieUnterredung nur gewährt, weil erglaubte, ich wolle ihm etwas vonbesonderer Wichtigkeit unterbrei»ten, aber mein Versetzungsgesuchsei völlig indiskutabel, und ich hätteweiterhin dort Dienst zu tun, woich für die United States Army vongrößtem Nutzen sei. Zum Schlußbemerkte er, daß ich, da ich nuneinmal in Washington wäre, miteinigen Offizieren seines Stabesüber den Stand mehrerer bisherunerledigter Fälle sprechen undmich zu diesem Zweck zunächst beiColonel Dickey melden solle.Das tat ich und geriet damit ineinen Strudel. Ein Colonel reichtemich immer zum nächsten weiter.Die Gentlemen hielten mich mitihren Besprechungen den ganzenDonnerstag und auch noch den

Freitagvormittag fest, und ich saßdie ganze Zeit wie auf glühendenKohlen.Infolgedessen wäre ich beinah ver=sucht gewesen, mit dem nächstenFlugzeug nach New York zurückzu»kehren, als ich am Donnerstag»abend im Hotel eine Anzeige imNew York Star las:

Hilfskraft gewünscht, männlich,Alter 50-55, Gewicht, 260-270Pfund, Größe ca. 1.80, normaleGesichtsfarbe, sicheres Auftre=ten. Nur vorübergehend. Ge»fährliche Tätigkeit. 100 Dollarpro Tag, 'Bildojferten an Box 202Star.

Ich las die Anzeige viermal, dachtezwei Minuten lang darüber nach,ging zum Telefon und ließ michmit New York verbinden. FritzBremer meldete sich und versicher»te, bei Wolfe sei alles in Ordnung.Nachher, beim Zubettgehen, über»legte ich, inwiefern mir, wenn ichden Plan gefaßt hätte, Wolfe um»zubringen, ein Mann von Nutzensein könnte, der Wolfe in mancher»lei Hinsicht ähnlich war. Da mirkeine befriedigende Lösung einfal»len wollte, streckte ich mich im Bettaus, löschte die Nachttischlampeund schaltete die Gedanken ab.

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Im Laufe des nächsten Nachmittagsbeendete ich die Besprechungen inWashington und fuhr nach NewYork zurück. Kurz vor elf Uhrabends stand ich vor Wolfes Hausin der Fünfunddreißigsten Straßeund gab das vereinbarte Klingel»zeichen - dreimal kurz. Fritz kamund ließ mich ein. Wolfe schien imBüro zu sein, denn durch den Tür=spalt schimmerte Licht. Ich eiltehin, stieß die Tür auf und trat ein.»Man hat mich also weiterhin zumStubenhocken verdammt«, begannich munter. Dann brach ich jäh wie=der ab. In Wolfes thronartigemSchreibtischsessel, der unter kei=nen Umständen von irgend jemandanders benutzt werden durfte,hockte ein fetter Fleischberg vonquasi menschlicher Form, mit an=deren Worten - ein dicker, entferntwolfeähnlicher Mann, aber nichtWolfe selbst. Ich hatte diesenMann noch nie gesehen.Fritz, der die Türkette vorgelegthatte, folgte mir ins Büro. DerMann im Sessel sprach nicht undrührte sich nicht, sondern starrtemich nur an. Fritz sagte mir, daßMr. Wolfe in seinem Zimmer wäre.Dann hüstelte der Dicke im Sesselund bemerkte mit heiser krächzen=der Stimme: »Schätze, Sie sind

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Goodwin. Archie. Hatten Sie einegute Reise?«Ich glotzte ihn an. Teils wünschteich, ich wäre noch in Washington,zum anderen wünschte ich, ich wärefrüher zurückgekommen.Der Dicke sagte; »Fritz, bringenSie mir noch einen Highball.«»Sehr woM, Sir«, erwiderte Fritz.Der Dicke blickte mich an undfrag=te abermals: »Hatten Sie eine guteReise, Archie?«Das reichte mir. Ich machte kehrt,verließ das Büro, stieg zum erstenStock hinauf, klopfte an WolfesZimmertür und rief: »Archie hier.«Wolfes Stimme forderte mich zumEintreten auf.Der echte Wolfe saß im Klubsesselunter der Lampe und las ein Buch.Er war vollständig angekleidet,und nichts deutete darauf hin, daßer den Verstand verloren hätte.Natürlich gönnte ich ihm nicht dieGenugtuung, mich verblüfft zu se=hen und sich darüber zu amüsieren.Daher sagte ich in beiläufigemTon: »Nun bin ich wieder da. Aberwenn Sie schläfrig sind, könnenwir uns ja morgen früh unterhalsten.«»Ich bin nicht schläfrig.« Er legteeinen Finger in das Buch undklappte es zu.

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Ich setzte mich und sagte: »Es warrecht interessant in Washington.Doch im Augenblick ist es mir einegroße Erleichterung, Sie wohlaufzu finden.«»Warum auch nicht? Haben Sie insBüro geschaut?«»Ja. Demnach haben Sie selbst die»se Anzeige im Neu? Yorfc Star aufsgegeben. Hundert Dollar Tagessatz- noble Sache. Wie bezahlen Sieden krächzenden Fleischberg eigent=lieh - jeden Tag in bar? Haben Sieauch Steuern, Versicherung undsonstige Abgaben genau ausge=rechnet? Er gleicht Ihnen so weit»gehend, daß ich zuerst dachte. Siewären es wirklich. Ich setzte michan meinen Schreibtisch und begannzu berichten, bis er Fritz auftrug,ihm noch einen Highball zu brin=gen. Da merkte ich, daß Sie es nichtwaren. Ich weiß doch, wie sehr SieHighballs hassen. Eine delikate Si=tuation. Erinnert mich an den Tag,als Ihre Tochter aus Jugoslawieneintraf.«»Archie! Halten Sie den Mund!«Wolfe legte das Buch aus der Handund rutschte im Sessel herum, biser wieder bequem saß. Dann sagteer: »Nähere Einzelheiten über ihnfinden Sie auf einem Zettel in IhrerSchreibtischschublade. Er ist ein

arbeitsloser Architekt namens H.H. Hackett, zur Zeit völlig mittel»los. Darüber hinaus ist er ein un°glaublicher Einfaltspinsel mit denManieren eines Ochsenfrosches. Ichsuchte ihn unter sechs Bewerbernheraus, weil er äußerlich am bestenpaßte. Außerdem war er der ein=zige, der ohne alles Feilschen dar=auf einging, für hundert Dollar amTag sein Leben zu riskieren.«»Wenn er mich weiterhin Archienennt, geht er ein zusätzliches Ri=siko ein.«»Bitte!« Wolfe hob einen mahnen'den Finger. »Meinen Sie, für michwäre es ein erhebender Gedanke,diesen Popanz in meinem Sesselsitzen zu haben? Vielleicht ist ermorgen oder übermorgen schon tot- das habe ich ihm gesagt. Heutenachmittag fuhr er in einem Taxizu Ditsons Blumenhandlung, besahsich dort einige Orchideen undbrachte der Echtheit halber danngleich zwei Töpfe mit. Morgennachmittag werden Sie ihn einigeStunden spazierenfahren. Mit mei=nem alten hellen Mantel, einenmeiner Hüte auf dem dummenKopf, sieht er mir so ähnlich, daßer. Sie ausgenommen, sicherlichalle Leute täuscht.«»Gewiß, Sir. Aber weshalb diese

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Umstände? Weshalb können Sienicht einfach im Haus bleiben/ wieSie es ohnehin meistens tun, undgut aufpassen, wer ins Haus zukommen versucht? Bis -«»Bis was?«»Bis der Bursche geschnappt ist,der Jensen und Doyie auf dem Ge=wissen hat.«»Bah!« Wolfe bedachte mich miteinem mißbilligenden Blick. »Vonwem geschnappt? Von Cramer?Was, meinen Sie, tut Cramer jetztwohl? Major Jensen, Ben JensensSohn, ist vor fünf Tagen auf Ur=laub gekommen, aus Europa. Daserste, was er hier erfuhr, war, daßsein Vater sich von seiner Mutterscheiden lassen wollte. Das führtezu einem Streit zwischen Vater undSohn - an sich nichts Außerge"wohnliches. Aber unser clevererMr. Cramer hat nun fünfzig Mannangesetzt, die Beweise aufstöbernsollen, damit Major Jensen desMordes an seinem Vater überführtwerden kann! Ein kompletter Blöd=sinn! Denn welches Motiv könnteMajor Jensen haben, auch midi zutöten?«»Nun«, ich hob die Augenbrauen,»diese Idee würde ich nicht ohneweiteres verwerfen, Sir. Vielleichtsetzt der Major voraus, daß, wenn

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er Ihnen den gleichen Drohbriefschickte, jedermann fragen würde,welches Motiv er denn habe könn=te, auch Sie zu töten.«Wolfe schüttelte den Kopf. »Nein,das hat er nicht vorausgesetzt. Es. sei denn, er wäre ein ausgemachterNarr. Es würde ja nicht genügen,daß er mir den Drohbrief schickt.Nein - er müßte die Drohung auchverwirklichen! Und bisher hat erkeinen Versuch unternommen, mirirgendwie nach dem Leben zu trach»ten. Ich bezweifle sehr/daß er dieseAbsicht überhaupt hegt. GeneralFife hat sich, auf meine Bitte hin,Major Jensens Unterlagen ange=sehen ~ danach ist Jensen ein ab=solut einwandfreier Mensch. In°spektor Cramer vergeudet alsoseine Zeit, die Energien seiner Män°ner und das Geld der New Yor=ker Steuerzahler. Meine Lage istschwierig. Wie Sie recht gut wie"sen, steht mir zur Zeit keiner mei"ner bewährten Mitarbeiter zur Ver=fügung. Cather und Durkin werdennach ihrem verdammten Autoun°fall von voriger Woche noch min»destens zehn Tage im Hospitalbleiben müssen. Panzer und Keemsverfolgen in Honolulu die kompli=zierte Angelegenheit mit den ver=schobenen Allisonmillionen. Und

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Sie wollen mich verlassen, weil Sienur an Ihre Karriere denken. Sobin ich an dieses Zimmer gebun»den und meinen Grübeleien ausge»setzt, während draußen ein blut=durstiger Irrer herumschleicht undauf eine Gelegenheit lauert, michumzubringen.«Vermutlich war dies wieder maleine seiner beliebten Übertreibun=gen. Aber ich hütete mich, Zweifelzu äußern - ich hatte meine Erfah=rungen mit ihm und seiner Emp=findlichkeit. Außerdem übersahich die Situation nicht genau genug,um zu erkennen, wie weit er eigent=lieh übertrieb. Deshalb fragte ichnur: »Wie steht es mit CaptainRoot? Hat man ihn hergebracht?«»Ja, man hat ihn mir gebracht.Heute vormittag. Und ich habemich mit ihm unterhalten. Er sitztseit seiner Verurteilung im Ge=fängnis und versichert, diese Sachekönne unmöglich mit ihm zu tunhaben. Von Miss Geer hat er an=geblich seit fast zwei Monatennichts mehr gehört. Seine Mutterist Lehrerin in Danforth, Ohio.Cramer stellte fest, daß sie seitMonaten den Ort nicht verlassenhat/da der Unterricht sie sehr starkbeansprucht. Vater Root, der frü°her in Danforth eine Tankstelle

betrieb, hat Frau und Sohn vorzehn oder elf Jahren verlassen undsoll jetzt irgendwo in Oklahomaleben. Frau und Sohn ziehen esvor, nicht über ihn zu sprechen.Geschwister sind nicht vorhanden.Wie Ex=Captain Root behauptet,gäbe es auf der ganzen Welt kei=nen Menschen, der ihm zuliebeeinen Doppelmord verüben wür=de.«»Vielleicht stimmt das.«»Nonsens! Abgesehen von meinerVerbindung zu Root gab es fürmich keinen weiteren Berührungs»punkt mit Jensen! Ich habe Gene»ralFife gebeten, Root ein paar Tagein New York zu behalten. Inzwi=sehen sieht sich der Gefängnisdi=rektor Roots persönliche Sachenein wenig genauer an.«»Nun, wenn Sie sich einmal in eineIdee verrennen -«»Das tue ich nie! Nicht so/wie Siees meinen. Aber ich passe mich denUmständen an. Und hierbleibt mirohnehin keine andere Wahl. DerMensch, der Jensen und Doyie er»schössen hat, ist verwegen. Wahr=scheinlich wird er sich veranlaßtsehen, sein Programm fortzuset»zen ...«Ich wünschte Gute Nacht und gingin mein Zimmer, wo ich den Nacht»

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gong einschaltete und mich vonseinem Funktionieren überzeugte.Dieser Nachtgong ist ein untermeinem Bett angebrachter ApparatNero Wolfescher Konstruktion, dermich alarmieren soll, wenn sichdes Nachts jemand der Tür zuWol=fes Zimmer nähert. Er war vor dreiJahren nach einem Vorfall erson=nen und installiert worden, in des=sen Verlauf Wolf e mit einem Dolchangegriffen wurde, und bisher nochnie im Ernstfall erklungen. Und ichhatte oft genug Zweifel gehabt, ober sich jemals als nützlich erweisenwürde. Doch in dieser Nacht, mitdem wolfeähnlichen Fremden imHaus, war ich zufrieden, daß es ihngab ...

Am nächsten Morgen, nach demFrühstück, verbrachte ich eineStunde bei Wolfe im Orchideen»gewächshaus auf dem Dach.Wir besprachen die Einzelheiten.Jane Geer schien zu einer Plagegeworden zu sein. Jetzt verstandich, weshalb Wolfe sich am Mitt=wochnachmittag geweigert hatte,sie zu empfangen. Denn nachdemer mich losgeschickt hatte, sie zuholen, war ihm der geniale Einfallmit dem Double gekommen, undnun wünschte er begreiflicherweise

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nicht mehr/daß sieden echten NeroWolfe noch einmal zu sehen be=käme, weil sie dann kaum noch aufdas Double hereinfallen würde.Inzwischen hatte sie mehrmals an=telefoniert und war am Freitagamorgen sogar persönlich erschie=nen, um eine Unterredung mitWolfe durchzusetzen; hierbei wa=ren volle fünf Minuten vergangen/ehe es Fritz gelang, sie durch einenSpalt der kettengesicherten Haus=tür von der momentanen Aussichts=losigkeit ihres Bemühens zu über»zeugen. Doch jetzt hatte Wolfewieder einen seiner brillanten Ein=fälle - ich sollte Jane Geer anrufenund sie auf sechs Uhr nachmittagszu Wolfe bestellen, um sie dann,wenn sie kam, ins Büro zu führen,wo das Double auf Wolf es Schreib»tischsessel thronen würde. Wolfewollte Hackett auf diese Unterresdüng vorbereiten.Ich zog ein skeptisches Gesicht.»Es mag ihr Gelegenheit geben,Mr. Hackett umzubringen«, sagteWolfe.Ich schnaufte verächtlich. »Undmeine Aufgabe wäre es dann wohl,ihr zu sagen, wann sie das Feuereinstellen kann?«»Zugegeben, es wäre nicht schön.Aber ich könnte sie dabei sehen

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und hören. Ich würde am Guck=loch sein.«Das also hatte er im Sinn! Er wür=de sich im Alkoven aufhalten unddurch das Guckloch spähen, das imBüro durch ein von hinten durch=sichtiges Bild getarnt ist. Er liebtees, sich Vorwände für die Benut=zung des Guckloches auszudenken.Major Jensen, offenbar weit weni=ger hartnäckig als Jane Geer, hatteinzwischen nur einmal angerufenund dabei die Auskunft erhalten,daß Wolfe noch immer beschäftigtsei.Als ich ins Büro kam, saß Mr. H.H. Hackett in Wolfes Sessel, knab=berte Kekse und verstreute dieKrümel über den ganzen Schreib=tisch.Ich setzte mich an meinen Schreib'tisch' und rief Jane Geer in ihremBüro an. »Hier Archie«, meldeteich mich.Sie fauchte: »Welcher Archie-eh?«»Oh, seien Sie nicht gleich unge=mütlich! Immerhin haben wir Ihnendie Polizei nicht auf den Hals ge=hetzt. Nero Wolfe möchte Sie se=hen.«»Möchte er das? Ha, ha. Bisherbenahm er sich aber nicht danach.«»Er hat es sich anders überlegt. Ichzeigte ihm ein Bild von Elsa Max=

well und sagte, das wären Sie. Jetztwill er nicht einmal mehr erlauben,daß ich Sie in einem Taxi abhole.«»Das erlaube ich auch nicht.«»Gut. Aber Sie kommen? Seien Sieum sechs Uhr da, und Sie werdenbestimmt empfangen. In Ord°nung?«Sie sagte zu.Ich führte noch ein paar Telefon'gespräche und erledigte einige an»dere Arbeiten. Dabei fiel mir einirritierendes Geräusch immer mehrauf die Nerven. Schließlich fragteich den Mann in Wolfes Sessel:»Was für Kekse essen Sie dennda?«»Gingersnaps.« Anscheinend wardas heisere Gekrächze seine nor=male Stimme.»Oh. Ich wußte gar nicht, daß wirGingersnaps im Hause haben.«»Hatten wir auch nicht. Ich fragteFritz. Er schien Gingersnaps über»haupt nicht zu kennen. Deshalbging ich zur Neunten Avenue hin»über und kaufte mir welche.«»Wann? Heute früh?«»Ja. Eben vor einem Weilchen.«Ich nahm den Telefonhörer, ver=band mich mit dem Gewächshausund sagte, nachdem Wolfe sich ge=meldet hatte: »Mr. H. H. Hackettknabbert Gingersnaps. Eben vor

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einem Weilchen ist er zur NeuntenAvenue spaziert, um sich dieseGingersnaps zu kaufen. Wenn erdas Haus ganz nach eigenem Be=lieben verläßt und wieder betritt -welche Gegenleistung bekommenwir dann eigentlich für unsere hun=dert Dollar pro Tag?«Wolfe drückte sich sehr präziseaus. Ich hörte es mir an, legte aufund drückte mich ebenfalls sehrpräzise aus. Hackett durfte verein»barungsgemäß das Haus nur ver«lassen/wenn er von Wolfe oder vonmir die Genehmigung dazu erhal«ten hatte. Das brachte ich ihm inErinnerung. Er schien nicht beson'ders beeindruckt.»Schon gut«, krächzte er, »wenndas so ist, werde ich die Abma»chung einhalten. Aber die Abma=chung hat zwei Seiten. Es ist ver»einbart, daß ich täglich im vorausbezahlt werde. Und für heute habeich noch nichts bekommen. Hun=dert Dollar netto, bitte. «Er streckteeine unglaublich dicke Hand aus.Ich entrahm der Spesentasche fünfZwanzigdollarnoten und gab sieihm.»Ich muß gestehen«, bemerkte er,während er die Banknoten falteteund in seine Brieftasche schob, »daßdies eine großzügige Bezahlung für

so geringfügige Arbeit ist. Aller"dings ist mir klar, daß ich vielleichteinmal - äh - ganz plötzlich undunerwartet allerhand dafür leistenmuß.« Er lehnte sich ein wenignach vorn. »Aber ich möchte Ihnenanvertrauen, Archie, daß ich nichtdamit rechne. Ich bin Sanguinikervon Natur.«»Sicher«, brummte ich. »Ich auch.«Dann öffnete ich die Schublademeines Schreibtisches, in der dieSchußwaffen verwahrt werden,holte mein Schulterhalfter herausund wählte von den drei Schieß»eisen meine eigene Pistole; die bei=den anderen Schießeisen gehörenWolfe. Im Magazin meiner Pistolesteckten nur drei Patronen; ich zogdie Schublade etwas weiter auf undentnahm der Patronenschachtelvier Patronen, um das Magazin zufüllen.Nachdem ich das Halfter angelegtund die Pistole darin untergebrachthatte, warf ich zufällig einen Blickauf Hackett und sah, daß er einganz verändertes Gesicht zeigte -seine Lippen waren zusammenge=kniff en, in seinen Augen lag einun«mißverständlicher Ausdruck wach«samer Furcht.»Hab' das bisher nie bedacht«,krächzte er, und ich merkte, daß

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auch sein Tonfall verändert war.»Dieser Mr. Wolfe ist wohl einegroße Nummer, und Sie sind seinMann. Ich habe den Job in demGlauben übernommen, daß plötz=lieh jemand auftauchen, mich fürMr. Wolfe halten und versuchenkönnte, mich über den Haufen zuschießen. Aber ich habe nur Mr.Wolfes Wort, daß die Situationwirklich so ist. Sollten die Dingeanders liegen, vielleicht so, daß Siedie Absicht hegen, mich eigenhän=dig zu erschießen - dann möchteich allerdings betonen, daß diesnicht fair wäre.«Ich lächelte ihm zu und erkannte,daß es ein Fehler gewesen war, inseiner Gegenwart mit der Pistoleherumzuspielen. Der Anblick derWaffe und der Patronen hatte ihmFurcht eingeflößt.»Hören Sie«, sagte ich ernst, »vorwenigen Minuten erklärten Sie,daß Sie nichts Ernstliches befürch=ten. Vielleicht haben Sie recht. Ichbin eigentlich auch der Meinung,daß Ihnen keine Gefahr droht. Fürden Fall aber, daß doch jemandeine Dummheit versuchen sollte,habe ich hier dieses nette kleineDing bereit.« Ich klopfte mit derflachen rechten Hand vertrauener"weckend auf die Stelle, an der das

Schulterhalfter saß. »Und zwar zudoppeltem Zweck bereit! Erstens,um zu verhindern, daß Ihnen einLeid geschieht. Zweitens, fallsIhnen doch ein Leid geschieht, dettiTäter ein noch größeres Leid zu-zufügen.«Dies schien ihn zu beruhigen, dennseine Züge entspannten sich wie»der. Mit den Gingersnaps beschär»tigte er sich allerdings nicht mehr.Soviel hatte ich immerhin ersreicht ...

Um die Wahrheit zu sagen - alsder Nachmittag vorüber war undich H. H. Hackett nach unsererSpazierfahrt wieder glücklich imHause hatte, bedurfte es solcherKleinigkeiten wie der Gingersnapsund seiner Gewohnheit, mich Ar»chie zu nennen, um zu verhindern,daß ich eine Art Bewunderung fürihn empfand.Auf unserem ausgedehnten Triphatten wir das Metropolitan Mu=seum, den Botanischen Garten unddrei oder vier Geschäfte besucht.Im Auto hatte H. H. Hackett, ge=nau wie sonst Wolfe, wuchtig undpompös auf einem der Fondsitzegesessen, aber weit mehr Interessefür den Anblick aller möglichenDinge gezeigt, als Wolfe dies zu

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tun pflegte. Doch wenn wir irgend»wo anhielten, ausstiegen und denGehsteig überquerten, war er groß=artig; er hastete nicht, und er trö=delte nicht, sondern schritt würde=voll, wie es einem reputierlichenMann von zweihundertsechzigPfund geziemt. Mit Wolfes Hut,Mantel und Spazierstock hätte ersogar mich täuschen können. Ichmußte zugeben, daß er sich tadellosverhielt. Dennoch wollte mir dieSache mit dem Double nicht gefal=len; ich hielt sie für den größtenBlödsinn, den Wolfe bisher ausge=heckt hatte.Nach Hause zurückgekehrt, steuer=te ich H. H. Hackett ins Büro undging in die Küche, wo Wolfe amgroßen Tisch saß und Bier trank.Ich markierte Haltung und be=richtete im Rapportton: »OhneZwischenfälle von befohlener Un=ternehmung zurück. Nichts Ver=dächtiges beobachtet. Versuchs»person hat sich an Drehtür beiRustermans unbedeutende Prel=lung des linken Ellbogens zuge=zogen, ist aber sonst wohlauf.«Wolfe, der meine militärischenMätzchen nicht schätzte, warf mireinen mißbilligenden Blick zu undbrummte; »Wie hat er sich benom=men<«

»Recht brauchbar, Sir.«Wolfe überlegte. Dann sagte er:»Nach Eintritt der Dunkelheit soll»ten wir bessere Ergebnisse erwar=ten können ... Ich fasse nochmalszusammen: Sie beteiligen sich ander Unterhaltung mit Miss Geer,werden sich aber zurückhalten. FallsSie einen Ihrer Scherze machen, istnicht abzusehen, wie Mr. Hackettsich verhalten wird. Sie wissen, daßer von mir genau instruiert wurde,aber seine Disziplin ist zweifel=haft ... Sorgen Sie dafür, daß MissGeer laut und deutlich spricht, da=mit ich hinter dem Guckloch allesmitbekomme. Setzen Sie sie mittenvor meinen Schreibtisch - dortkann ich sie am besten sehen.«»Sehr wohl, Sir. Sämtliche Anwei»sungen werden genauestens be=folgt!«Aber es ergab sich, daß ich, unge=achtet bester Vorsätze, die Anwei=sungen nicht befolgen konnte.Ich stand eben im Begriff, die Kü°ehe zu verlassen, als die Haustür»klingel anschlug; da es kurz vorsechs Uhr war, mochte es sich umJane Geer handeln. Im Vorüberge=hen warf ich einen Blick ins Büro,um nachzusehen, ob Mr. Hackettauch nicht mit den Füßen auf demSchreibtisch dasäße. Dann machte

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ich die Haustür auf und sah, daßJane Geer sich nicht alleine durchdie Straßen der großen Stadt ge=wagt hatte. Major Emil Jensenstand neben ihr.»Hallo«, sagte ich munter, »allebeide auf einmal?«Jensen grüßte militärisch, und Janeerläuterte: »Major Jensen bestanddarauf, mich zu begleiten. Wir sa=ßen bei einem Cocktail.« Sie blicktemich etwas seltsam an, und ichmerkte, daß ich noch immer denEingang blockierte. »Dürfen wirhereinkommen?«Freilich hätte ich Jensen erklärenkönnen, wir hätten mit seinem Be=such nicht gerechnet, und er mögeso nett sein, ein halbes Stündchenspazierenzugehen. Andererseitsdachte ich, daß wir - wenn bei derGegenüberstellung mit Hackett et=was herausspringen sollte - es ge=trost auch mit Jensen probierenkönnten. Nun war aber Hackettnur auf Janes Besuch vorbereitetworden, und es ließ sich nicht vor=aussehen, wie er auf das zusätzli»ehe Erscheinen eines Majors inUni=form reagieren würde. Auf jedenFall mußte ich nähere Anweisungenvon Wolfe einholen. So kompli=montierte ich die beiden in das so=genannte Vorderzimmer, einen gro=

ßen, neben dem Büro gelegenenRaum, der uns als Wartezimmeroder Konferenzzimmer dient.Nachdem sie Platz genommen hat»ten und ich schon wieder hinaus'gehen wollte, bemerkte ich einenrecht mißlichen Umstand - die Ver=bindungstür zwischen Vorderzim»mer und Büro stand weit offen.Wenn sie beim Umherschauen dieHälse ein wenig reckten, konntensie einen Blick auf H. H. Hacketthinter dem Schreibtisch werfen.Doch dafür - beim Teufel! - wardieses Prachtstück eigentlich da.Ich eilte in die Halle hinaus, fandWolfe im Alkoven am Gucklochund flüsterte ihm zu: »Sie hat einenBegleiter mitgebracht, Major Jen=sen. Sie sitzen im Vorderzimmer.Die Verbindungstür zum Büro stehtziemlich weit offen. Was jetzt?«Wolfe blickte mich stirnrunzelndan und entgegnete, gleichfalls imFlüsterton: »Verwünscht. GehenSie durchs Büro ins Vorderzimmerzurück und machen Sie die Verbin=dungstür hinter sich zu. Bitten SieMajor Jensen, zu warten. ErklärenSie ihm, daß ich Miss Geer alleinesprechen möchte. Bringen Sie siedurch die Halle ins Büro. Und wennSie -«Da dröhnte ein Revolverschuß.

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Wenigstens hörte es sich wie einRevolverschuß an. Und der Knallwar zweifellos aus dem Innern desHauses gekommen - genauer ge=sagt, aus diesem Stockwerk!Mit zwei, drei Sätzen war ich imBüro. Hackett saß hinter demSchreibtisch — erschrocken undsprachlos. Ich jagte ins Wartezim=mer. Dort standen Jensen und Janeund starrten sich an - gleichfallserschrocken und sprachlos. IhreHände waren leer, Jane hielt ihrekleine Handtasche unter den rech=ten Oberarm gedrückt.Wäre dieser typische Geruch nichtgewesen, dann hätte ich gedacht,Mr. H. H. Hackett habe vielleichtallzu gierig auf einen seiner Gin=gersnaps gebissen. Aber ich kannteden Pulvergeruch nur zu gut.»Nun, Sir?« fauchte ich in JensensRichtung.»Was - nun, Sir?« Er starrte jetztnicht mehr Jane, sondern mich an.»Was, zum Teufel/ war das?«»Haben Sie geschossen?«»Nein! Sie?«Ich wandte mich an Jane. »HabenSie geschossen?«»Sie-Sie Idiot«, stammelte sie undversuchte nicht zu zittern. »Wes=halb sollte ich schießen?«»Lassen Sie doch mal die Pistole in

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Ihrer Hand anschauen, Sir!« ver»langte Jensen.Ich blickte auf meine Hand und warüberrascht, meine Pistole darin zusehen. Ich hatte sie auf dem Weghierher automatisch aus dem Schul=terhalfter gezogen, ohne es zu mer»ken. »Diese hier ist nicht abge»feuert worden«, erklärte ich undhielt die Mündung unter JensensNase. »Oder?«Er schnupperte. »Nein.«»Aber in diesem Zimmer wurde einSchuß abgefeuert!« beharrte ich.»Riechen Sie es nicht?«»Gewiß. Es riecht ganz deutlichnach Pulver. Aber —«»Gut«, unterbrach ich, »gehen wirins Büro zu Mr. Wolfe und bespre=chen wir die Sache. Dort hinein,bitte.«Ich wies mit der Pistole zur Ver»bindungstür.Jane begann etwas von einem ab=gekarteten Spiel zu zetern. Ichmachte nicht viel Federlesens undschob sie mit sanfter Gewalt insBüro. Jensen folgte unter mildemProtest.»Das ist Mr. Wolfe«, erklärte ichmit einer Handbewegung auf denMann hinter dem Schreibtisch.»Bitte, nehmen Sie Platz. Sie, MissGeer, in diesem Sessel, wenn ich

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bitten darf. Und Sie, Major Jen=sen, in jenem.« Da der echte Wolfedraußen am Guckloch stand, hatteich allein zu entscheiden, was mitden beiden Besuchern anzufangenwäre, bis ich die Waffe und viel»leicht auch das Geschoß entdeckenkonnte.Jane zeterte noch ein bißchen, hieltaber inne, als Jensen plötzlich rief:»Mr. Wolfe hat ja Blut am Kopf!«Ich warf einen Blick auf H. H. Hak»kett. Er stand hinter dem Schreib»tisch, eine Hand auf die Schreib»tischplatte gestützt, und glotzte unsan. Unter seinem linken Ohr sik«kerte etwas Blut den Hals hinab.Ich holte Luft und brüllte: »Fri»i»itz!«Fritz war im selben Augenblick zurStelle; er schien sich direkt hinterder Tür aufgehalten zu haben. Ichgab ihm meine Pistole und sagte:»Wenn jemand sich rührt, und seies auch nur, um das Taschentuchzu ziehen, schießen Sie sofort!«»Diese Anweisung«, erklärte Jen»sen scharf, »ist sehr riskant, fallser-«»Keine Sorge! Fritz ist absolut inOrdnung.«»Ich wünsche, daß Sie mich durch»suchen«, verlangte Jensen undhob die Arme zur Zimmerdecke.

»So ist es schon besser«, entgegneteich und trat zu ihm, um seinemWunsch nachzukommen. Nachdemich ihn gründlich abgeklopft hatte,bat ich ihn, wieder Platz zu nehmenund wandte mich an Jane. Sie warfden Kopf zurück und blickte midiverächtlich und herausfordernd an.»Seien Sie vernünftig, Miss Geer«,mahnte ich. »Wenn Sie eine Durch»suchung verweigern, kann es pas»sieren, daß Fritz Sie bei einer unbe«dachten Bewegung erschießt. MeineSchuld wäre es dann nicht.«Sie warf mir noch einen besondersverächtlichen und besonders her»ausfordemden Blick zu, ließ sichdann aber abklopfen. Ich tat esrücksichtsvoll und diskret und warfanschließend einen Blick in ihrHandtäschchen, entdeckte jedochnichts. Dann trat ich hinter WolfesSchreibtisch und besah mir Hackett.Nachdem Jensen das Blut an Mr.Wolfes Kopf erwähnt hatte, warsich Hackett mit der Hand hintersOhr gefahren und glotzte seitherauf seinen blutigen Zeigefinger.»Mein Kopf?« krächzte er. »Blutetmein Kopf?«Durch sein Verhalten trug er nichtdazu bei, Nero Wolfes Ruf absolu»ter Unerschütterlichkeit zu unter»mauern.

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Nach kurzer Inspektion erklärteich: »Nicht Ihr Kopf, Sir. Lediglichvom oberen Rand der Ohrmuschelfehlt ein winziges Stückchen.«»Ich - ich bin also nicht gefährlichverletzt?«Ich hätte ihn ermorden mögen/hieltjedoch an mich. Ich instruierte Fritz,der noch immer meine Pistoleschußbereit hielt, daß Bewegungennach wie vor verboten seien, gelei=tete Hackett ins Badezimmer un=mittelbar neben dem Büro undmachte die Tür hinter uns zu. Nach"dem ich ihm das Ohr im Spiegelgezeigt und etwas Jod sowie einkleines Pflaster daraufgetan hatte,befahl ich ihm, so lange im Bade=zimmer zu bleiben, bis seine Ner=ven sich beruhigt hätten. Ich fügtehinzu, wenn er dann wieder insBüro käme, solle er versuchen,überlegene Ruhe zu zeigen, und imübrigen mich sprechen lassen.Bei meiner Rückkehr ins Bürofauchte Jane mich an: »Haben Sieihn auch durchsucht?«Ich ignorierte es und widmete micheiner Inspektion der Lehne desSchreibtischsessels. Die Lederpol=sterung hatte etwa in Kopfhöheein Durchschußloch; an der dahin=tergelegenen Wand zeigte sich inentsprechender Höhe die Stelle, wo

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das Geschoß eingeschlagen war.Mit Taschenmesser und Nagelfeilebegann ich in der Wand herumzu»polken. Etwa anderthalb Minutenspäter, als H. H. Hackett eben wie=der eintrat, hielt ich einen kleinenMetallgegenstand zwischen Dau=men und Zeigefinger.»Geschoß«, rapportierte ich schnar=r-end, »Kaliber achtunddreißig.Durchbohrte Mr. Wolfes Ohr, istdann durch Sessellehne in Wandgeschlagen und hat ringsum Mör=tel abgebröckelt.«Jane jappte, Jensen starrte mich in=digniert an, und H. H. Hackettschüttelte sich. Dann sagte Jensenkühl: »Könnte doch sein, daß Mr.Wolfe den Schuß selbst abgefeuerthat.«»Ach nein?« entgegnete ich.»Möchten Sie Mr. Wolfes Gesichtnach Pulverspuren untersuchen?«»Die hat er sich im Badezimmerabgewaschen!« zeterte Jane.»Pulverspuren lassen sich nicht ein=fach abwaschen«, belehrte ich sieund wandte mich an Jensen: »Ichwerde Ihnen ein Vergrößerungs»glas geben. Damit können Sie sichdann auch den Durchschuß in derSessellehne ansehen.«Jensen besaß die Unverfrorenheit,diesen Vorschlag anzunehmen. Ich

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holte das größte der drei Vergröße»rungsgläser aus Wolfes Schreib»tisch und reichte es Jensen. Zuerstbesah er den Durchschuß in derSessellehne, dann untersuchte erHacketts Gesichtshaut nahe demOhr. Hackett stand still wie einMonument, die Lippen zusammen"gepreßt, die Augen starr geradeausgerichtet. Jensen gab mir das Ver=größerungsglas zurück und setztesich wieder.Ich fragte ihn; »Hat Mr. Wolfe sichselbst ins Ohr geschossen?«»Nein. Es sei denn, er hatte dieWaffe umwickelt.«»Freilich!« Mein Ton war ironisch.»Er stülpte ein Kissen über dieMündung, hielt das Ganze aufArmlänge entfernt und drückte ab.Würden Sie uns das mal vorma»dien? Es wäre ein Wunder, wennSie dann den oberen Rand IhrerOhrmuschel träfen.«Jensen starrte mich an. »Ich versu=ehe objektiv zu sein, wenn es auchschwerfällt.«»Sofern ich das Geschehene richtigbeurteile -«, wollte Hackett begin=nen.Ich unterbrach ihn sofort: »Ent=schuldigen Sie, Sir. Das Geschoßist bestimmt eine gewisse Hilfe.Aber es wäre besser, wenn wir auch

die Waffe bekämen - wir wollenja ebenfalls objektiv sein. Vielleichtfinden wir sie im Wartezimmer.«Ich nahm Hackett beim Ellbogenund steuerte ihn auf die Verbin»dungstür zu. »Fritz - Sie passenauf, daß unsere Besucher keineDummheiten machen.«Jensen stand auf. »Ich möchte ander Suche teilnehmen.«»Den Teufel werden Sie das!« fuhrich ihn an. »Bleiben Sie gefälligstsitzen! Wessen Haus ist das hierwohl - eh? Und wen geht es in er=ster Linie an, wenn hier Geschosseherumschwirren wie die Fliegen?«Er machte wieder eine Gegenbe»merkung und Jane natürlich auch,aber ich ignorierte es, bugsierteHackett vollends ins Wartezimmerund machte die schalldichte Türhinter uns zu.»Kommt mir schier unfaßlich vor«,murmelte Hackett, »daß einer vonden beiden durch die offene Türauf mich geschossen haben könnte,ohne daß ich wenigstens die Handmit der Waffe gesehen hätte -«»Das sagten Sie schon vorhin imBadezimmer. Außerdem sagten Sie,Sie könnten sich nicht mehr erin»nern, ob Ihre Augen offen oder ge=schlössen waren, als Sie den Schußhörten.« Ich packte ihn beim Jak=

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kettaufschlag. »Jetzt geben Sie acht!Falls Sie argwöhnen, Wolfe oderich hätten auf Sie geschossen/ dannmüssen Sie Mehlwürmer im Ge=hirn haben! Vergegenwärtigen Siesich die Geschoßbahn! Der Durch»schuß in der Sessellehne wie auchder Einschlag in der Wand bewei»sen, daß die Kugel aus der Rieh»tung der Wartezimmertür gekom=men sein muß, aber niemals vonder Tür zur Halle her! So, jetzt set°zen Sie sich hin und sind still!«Er gehorchte, allerdings leise mur»rend. Meine Blicke überflogen denRaum. Angenommen, der Schußwar hier im Wartezimmer abge=feuert worden, dann mußte sich dieWaffe noch hier befinden, denn ichwar fünf Sekunden später herein"gekommen und hatte Jane und Jen=sen vorgefunden, wie sie sich reg=los anstarrten. Die von außen vor=gelegten Fensterläden machten esunmöglich, daß die Waffe aus demFenster geworfen worden seinkonnte. Ich begann zu suchen, hatteaber das seltsame Gefühl, daß ichtrotz sorgfältigsten Stöberns nichtsfinden würde.Falls das eine Ahnung war, schienheute ein schlechter Tag für Ahnun»gen zu sein. Denn als ich an diegroße Blumenvase auf dem Tisch

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zwischen den Fenstern kam undhineinschaute, sah ich darin etwasWeißliches schimmern. Ich schobdie rechte Hand in die Vase undholte - einen taschentuchumwickeisten Revolver heraus!Dem Mündungsgeruch zufolge wardas Ding erst vor kurzem abge=feuert worden. Es handelte sich umeinen alten Granville, Kaliber 58,schon ein bißchen angerostet. DasTaschentuch hatte ein Loch, durchdas der Lauf hindurchgeschobenwar. Behutsam prüfte ichdieTrom»mel und fand, daß sie fünf Patro'nen und eine leere Hülse enthielt.Hackett hatte sich erhoben, standjetzt neben mir und setzte zu einerÄußerung an. Ich sagte unwirsch:»Ja, verdammt, es ist eine Schuß»waffe! Erst vor kurzem abgefeuert.Gehört aber weder mir noch Wol=fe. Ist es Ihre? Nein? Gut, bleibenSie still! Wir gehen jetzt ins Bürozurück. Ich werde vollauf damit zutun haben, eine Lösung für dieseSituation zu finden. Klar, daß ichmich nicht viel um Sie kümmernkann. Versuchen Sie nicht, mir zuhelfen. Drücken Sie Ihre Überle»genheit durch vielsagendes Schwei=gen aus! Wenn wir diese Sache inOrdnung bringen, bekommen Siehundert Dollar extra. Klar?«

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»Zweihundert«, erwiderte er zumeiner Verblüffung. »Ich bin ver=wundet worden und nur um Haa=resbreite dem Tod entronnen.«Ich sagte ihm, die anderen Hundertmüsse er versuchen Wolfe abzu=schwatzen, machte die Tür auf undschob ihn vor mir her ins Büro. Erging an Jane Geer vorbei und umWolfes Schreibtisch herum undsetzte sich in den Sessel, in dem erbeinah erschossen worden wäre.Ich nahm an meinem SchreibtischPlatz und blickte abwechselnd Janeund Jensen an.Jensen fragte: »Was haben Siedenn da in der Hand?«»Dies«, erwiderte ich zuvorkom»mend, »ist ein alter Revolver, einGranville, Kaliber 58, erst vor kur=zem abgefeuert.« Ich legte den Re=volver vor mich auf den Schreib'tisch. »Fritz, geben Sie mir meinePistole wieder.«Fritz tat es, und ich behielt die Pi=stole in der Hand.»Danke, Fritz ... Ja, und um aufden Revolver zurückzukommen -ich fand ihn, umwickelt mit diesemTaschentuch, in der großen Blu»menvase im Wartezimmer. DieTrommel enthält fünf Patronenund eine leere Hülse. Dieses Schieß»eisen gehört nicht ins Haus, ich

habe es nie zuvor gesehen. Siehtaus, als verschärfe es die ohnehinrecht kritische Situation nochmehr.«Jane explodierte. Sie nannte midiein nichtswürdiges Stinktier. Siesagte, sie wünsche einen Anwaltund werde sich unverzüglich aufden Weg dahin machen, zu einembesonders scharfen. Sie belegteHackett mit drei oder vier recht er=lesenen Schimpfnamen und erklär»te, dieses hier sei ein infam abge*kartetes Spiel. »Jetzt weiß ich«,zischte sie Hackett an, »daß Sieauch mit Captain Root ein abge»kartetes Spiel getrieben haben. Die«sem Stinktier Goodwin ist es da»mals gelungen, mir das auszureden.Doch dieses Mal habt ihr keinGlück bei mir!«Hackett versuchte, einige Erwide»rungen vorzubringen. Seine Stim=me wurde dabei immer lauter undlauter, aber erst als Jane zumAtemholen innehielt, war er zuvernehmen: ».. . dulde das nicht!Kommen hierher und versuchenmich umzubringen! Um ein Haargelingt Ihnen das! Dann beleidi-gen Sie mich und erzählen etwasvon einem Captain Root. Dabeihabe ich nie im Leben etwas voneinem Captain Root gehört!« Er

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war wütend. Anscheinend bildeteer sich in seiner Erregung ein/ sel=ber Nero Wolfe zu sein. Schnau»fend und krächzend fuhr er fort:»Hören Sie mir zu, junge Lady! Ichwerde Ihnen —«Jane machte kehrt und ging zurTür. Ich sprang auf und wollte ihrnacheilen, blieb aber wieder stehen,weil die Tür sich öffnete und voneiner wuchtigen Gestalt blockiertwurde. Jane starrte die Erscheinungaus weit aufgerissenen Augen anund wich langsam zurück.Die wuchtige Gestalt trat über dieSchwelle, blieb stehen und sagte:»Hallo, Miss Geer. Hallo, Mr. Jen=sen. Ich bin Nero Wolfe.«Das machte er großartig, und dieWirkung war demgemäß. Niemandgab einen Mucks von sich. Er kamnoch etwas näher, und Jane wichimmer weiter zurück.Neben seinem Schreibtisch bliebWolfe stehen und winkte Hackettmit einem Finger aus dem thron»artigen Sessel. »Nehmen Sie einenanderen Stuhl, Sir, wenn ich bittendarf.«Wortlos stand Hackett auf, wort=los schlich er um die andere Seitedes Schreibtisches herum, wortlossetzte er sich in einen der Besu=chersessel. Wolfe inspizierte den

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Durchschuß in der Lehne und dasLoch in der Wand, brummte miß=billigend und ließ sich in seinenSessel fallen.»Dies«, sagte Jensen heiser, »machtnun alles zur Farce.«»Ich gehe!« schrie Jane und eiltewieder zur Tür. Ich hatte das er»wartet, sprang ihr nach und er»wischte sie beim Arm. Jensen -offenbar bereits in einem Stadium,wo er nur noch rot sah, wenn je»mand seine Jane berührte - stürm"te mit geballten Fäusten auf michlos.»Halt!« Wolfes Stimme war wieein Peitschenknall. Reglos wie ver»zauberte Gestalten standen wir da.»Miss Geer«, sagte Wolfe, »Siewerden mir erlauben, einige Wor=te mit Ihnen zu sprechen. Mr. Jen=sen, nehmen Sie wieder Platz. Ar»chie, kehren Sie an Ihren Schreib-tisch zurück und behalten Sie diePistole in der Hand... Miss Geer,Mr. Jensen - einer von Ihnen istein Mörder.«»Gemeine Lüge!« schrie Jensen.»Wer, zum Teufel, sind Sie eigent=lieh?«»Ich habe mich vor einer Minutevorgestellt, Sir. Dieser Gentlemandort drüben ist mein zeitweiligerAngestellter. Als mein Leben be=

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droht wurde, beauftragte ich ihn,mein Double zu spielen.«»Sie fetter Feigling!« zischte Jane.»Irrtum, Miss Geer.« Wolfe schüt=telte den Kopf. »Es ist zwar schwie=rig, kein Feigling zu sein, aber ichdarf dies für mich in Anspruchnehmen. Mit Feigheit hatte meineMaßnahme nichts zu tun. Ich binüberzeugt, daß es nur mir gelingenkann, ein Individuum zu fassen,das es sich in den Kopf gesetzt hat,mich umzubringen. Und ich möchteerleben, daß es mir gelingt.« Erwandte sich an mich: »Archie - ru=fen Sie Inspektor Cramer an.«Jane und Jensen protestiertengleichzeitig.Wolfe unterbrach sie. »Bitte! Et=was später werde ich Sie vor dieWahl stellen - entweder ich oderdie Polizei. Aber noch nicht jetzt.Zunächst bedürfen wir nur ein we=nig der technischen Unterstützungdurch die Polizei.« Er blickte zuHackett. »Wenn Sie aus diesemDurcheinander hinauswollen, kön=nen Sie in Ihr Zimmer gehen.«»Ich«, entgegnete Hackett, »ichmöchte lieber bleiben. Bin ja selbstan der Sache interessiert, nachdemich beinah erschossen wurde.«»Inspektor Cramer am Apparat«,meldete ich.

Wolfe nahm den Hörer seinesSchreibtischtelefons. »Hallo, Sir...Bitte? ... Nein ... Nein, ich möch»te Sie bloß um einen Gefallen bit=ten. Schicken Sie einen Ihrer Man»ner zu mir. Ich will Ihnen einen Re=volver und ein Geschoß übermifc»teln. Lassen Sie den Revolver aufFingerabdrücke untersuchen undteilen Sie mir das Ergebnis mit.Wenn möglich, versuchen Sie auch,die Herkunft der Waffe festzustel=len. Geben Sie einen Schuß darausab und vergleichen Sie die Kugelmit der, die ich Ihnen zugehenlasse, und auch mit denen, durchdie Mr. Ben Jensen und Mr. Doyieerschossen wurden. Das wäre al»les . . . Nein . . . Nein . . . Ver=wünscht, nein! Wenn Sie selbst er=scheinen, bekommen Sie das Paketan der Haustür ausgehändigt undwerden auf keinen Fall empfangen.Ich bin beschäftigt.«Als Wolfe aufgelegt hatte, fragteich: »Kriegt Cramer auch das Ta»schentuch?«»Lassen Sie es mal ansehen.«Ich brachte ihm den Revolver, des=sen Lauf noch immer durch dasLoch im Taschentuch geschobenwar. Er runzelte die Stirn, als ersah, daß das Taschentuch keine be=sonderen Merkmale trug und von

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einer Qualität war, die man injedem beliebigen Kaufhaus be=kommt.»Das Taschentuch behalten wirhier«, entschied er.Jensen fragte: »Was, zum Teufel,ist denn damit los?«Wolfe lehnte sich zurück undschloß die Augen. In Gedankenanalysierte er jetzt, wie ich wußte,Jensens Ausdruck, Tonfall undHaltung, um zu entscheiden, ob dieFrage unschuldiger Neugier ent=sprang oder als Tarnung einerSchuld gedacht war. Er schloß im=mer die Augen, wenn er intensivnachdachte.Nach anderthalb oder zwei Sekun»den machte er die Augen wiederauf und sagte: »Wenn ein Manneinen Revolver oder eine Pistoleabgefeuert und nicht gleich Gele»genheit gefunden hat, sich die Hän=de zu waschen, ergibt eine Unter«suchung seiner Hände einen un=widerleglichen Beweis. Das wissenSie wahrscheinlich selbst, Mr. Jen»sen. Auf jeden Fall weiß es der=jenige unter uns, der den Schußabgefeuert hat. Das Taschentuchsollte dazu dienen, den Pulver»schleim aufzufangen. Daß es eineinfaches Männertaschentuch ist,bringt uns nicht weiter - Mr. Jen»

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sen mag ein solches in der Taschegehabt haben, Miss Geer hätte sicheins leihen oder kaufen können.«»Sie baten mich hierzubleiben, weilSie mir etwas zu sagen hätten«,fauchte Jane; sie und Jensen hattensich wieder gesetzt. »Bisher habeich vergeblich gewartet... Wo wa"ren Sie eigentlich, als der Schußfiel?«»Pfui!« Wolfe seufzte. Dann wand»te er sich an Fritz: »Fritz, legen Sieden Revolver und das Geschoß, je»des für sich in Seidenpapier ge»wickelt, in einen passenden Kartonund geben Sie das Paket dem Poli*zisten, der bald erscheinen wird.Aber zuvor bringen Sie mir Bier...Wünscht jemand von Ihnen eben»falls Bier?«Niemand wünschte Bier.»Nun zu Ihrer Frage, Miss Geer«,fuhr Wolfe fort. »Jede Vermutung,der Schuß sei von mir oder einemmeiner Leute abgefeuert worden,ist unsinnig. Im Augenblick, da derSchuß fiel, stand ich mit Mr. Good"win in der Halle, nahe der Küchen»tür. Wir unterhielten uns. Danachhabe ich mich bis zu meinem Er»scheinen an einem Ort aufgehal-ten, von wo man dieses Zimmerübersehen und jedes Wort hörenkann, das hier gesprochen wird.

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Und dort habe ich den Eindruckgewonnen, daß einer von Ihnen -«,sein Blick richtete sich auf Jensenund kehrte gleich wieder zu Janezurück, »daß einer von Ihnen imBegriff ist, einen Fehler zu machen.Ich möchte versuchen, ihn davor zubewahren. Bisher habe ich Sie nichtgefragt, wo Sie im Augenblick desSchusses waren und was Sie dorttaten. Bevor ich danach frage, wol"len wir festhalten, daß der Schuß,wie eindeutig erwiesen ist, aus derRichtung der offenstehenden Ver»bindungstür zwischen Büro undWartezimmer kam. Mr. Hackettkommt als Schütze nicht in Frage- davon haben Sie, Mr. Jensen,sich bereits überzeugt. Fritz hieltsich in der Küche auf. Mr. Good»win stand bei mir in der Halle. Ichmuß Sie oder wenigstens einenvon Ihnen -«, wieder ging seinBlick von Jane zu Jensen und vonJensen zu Jane, »ich muß also Sieoder wenigstens einen von Ihnendarauf aufmerksam machen, daßder erwähnte Sachverhalt ausrei»dien würde, die Geschworenen beieinem Mordprozeß zu einemSchuldspruch kommen zu lassen...Nun mag es sein, daß Sie beideaussagen würden. Sie seien imfraglichen Augenblick recht nahe

beieinander gewesen und hättensich gegenseitig in die Augen ge»schaut. Das könnte den, der denSchuß abgegeben hat, vorüberge»hend entlasten. Doch am Endewürde es den anderen zum Mit-täter stempeln, und die Situationwäre für beide schlimm ... Wielange kennen Sie sich schon?«Jane biß sich auf die Unterlippe.»Ich traf ihn Mittwoch zum erstenMale. Hier.«»Wirklich? Stimmt das, Mr. Jen-sen?«»Ja.«Wolfe hob die Augenbrauen.»Kaum lange genug, um den Ge»danken an ein derartiges Opfer zurechtfertigen... Ich hoffe. Sie ver"stehen, Miss Geer, daß wir hier le=diglich die Wahrheit suchen. Wowaren Sie und was taten Sie, alsder Schuß fiel?«»Ich stand nebenan im Wartezim»mer am Klavier. Ich hatte meinHandtäschchen daraufgelegt undwollte es gerade öffnen.«»In welche Richtung blickten Sie?«»Zu den Fenstern.«»Nicht zu Mr. Jensen?«»Nein, in diesem Moment nicht.«»Danke, Miss Geer.« Wolfes Blickwanderte zu Jensen. »Und Sie, Mr.Jensen?«

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»Ich stand nahe der Tür zur Halleund überlegte unwillkürlich, wohinMr. Goodwin gegangen sein moch=te. Miss Geer habe ich in diesemAugenblick nicht angesehen.«»Danke, Mr. Jensen.« Wolfeschenkte sich ein Glas von demBier ein, das Fritz ihm gebrachthatte. »Gut . . . Miss Geer, Sie sag»ten vorhin. Sie wünschten sich zueinem besonders scharren Anwaltzu begeben. Ich begreife das. Dochleider kann ich, wie die Dinge lie=gen, zur Zeit weder Sie noch Mr.Jensen gehen lassen, wohin Sieoder Mr. Jensen möchten. Da ich eswar, dem der Schuß galt, muß ichmir jedes Entgegenkommen versa'gen und Sie beide noch für einWeilchen hierbehalten. Anderer»seits kommen wir nicht weiter, eheInspektor Cramers Bericht vorliegt.Also müssen wir uns zunächst ge=dulden.« Er seufzte und wandtesich an mich: »Archie - begleitenSie Miss Geer und Mr. Jensen insWartezimmer und leisten Sie ihnendort Gesellschaft, bis Sie von mirhören. Fritz wird aufmachen, wennes klingelt.«

Zwei Stunden eisigen Schweigenssind eine ermüdende Angelegen»heit.

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Ich war erleichtert, als ich es kurzvor neun Uhr an der Haustür klin"geln hörte. Kurz danach kam Fritzherein und sagte: »Mr. Goodwin,Sie möchten ins Büro kommen. In»spektor Cramer und Sergeant Steb»bins sind eingetroffen. Ich soll hierim Wartezimmer bleiben.«Hatte im Wartezimmer eine höchstfatale Stimmung geherrscht — imBüro war die Stimmung ausgespro"Aen grimmig. Ein einziger Blickauf Wolfe zeigte mir, daß er vorWut kochte; er saß da und maltemit dem rechten Zeigefinger immerwieder denselben Kreis auf dieSchreibtischplatte. Hackett warnicht anwesend. Sergeant PurleyStebbins stand in knochiger Längegegen die Wand gelehnt und blick»te streng dienstlich drein. Inspekstor Cramer saß in einem der rot»ledernen Besuchersessel; sein Ge"sieht sah ebenfalls rot aus.Wolfe warf ein Papier auf denSchreibtisch, daß es klatschte. »Ar-chie - sehen Sie sich das mal an!«Ich besah mir das Dokument. Eswar ein Haussuchungsbefehl.Verdammt! Es verblüffte mich, daßCramer und Stebbins einerseitsund Wolfe andererseits noch unbe=schädigt waren. Äußerlich wenig=stens.

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»Ich will versuchen«, knurrte Cra=mer mühsam beherrscht, »ich willversuchen zu vergessen, was Sieeben sagten, Sir. Zum Teufel,Sie haben mich oft genug ander Nase herumgeführt! Undnun die Sache mit diesem Re=volver! Das mitgeschickte Geschoßstimmt genau überein mit dem vonmir abgefeuerten Vergleichsge=geschoß und mit den Geschossen,durch die Jensen und Doyie getötetwurden. Diese Waffe haben Siemir zugesandt! Also haben Sie indiesem Fall einen Klienten, den Siemir vorenthalten wollen! Ein Narrmüßte ich sein, wenn ich noch hier=herkäme und Sie um irgend etwasbäte. Oft genug habe ich Sie ver=geblich um etwas gebeten. Jetztwird gehandelt!« Er wollte aufste=hen. »Jetzt werden wir dieses Hausdurchsuchen!«»Wenn Sie das tun, werden Sie denMörder von Jensen und Doyie nie=mals fangen!«Cramer fiel in den Sessel zurück.»Nein?«»Nein.«»Wollen Sie mich daran hindern?«»Bah!« Wolfe war indigniert.»Nächstens werden Sie noch ver°suchen, mir klarzumachen, daß esein Verbrechen sei, den Lauf der

Gerechtigkeit zu behindern - wie?Ich habe nicht behauptet, daß derMörder nicht gefangen werdenwürde. Ich habe nur behauptet, daßSie ihn nicht fangen würden. Weilich ihn nämlich schon habe.«»Den Teufel haben Sie!« rief Cra»mer.»Doch, Sir. Ihr Bericht über denRevolver und die Geschosse machtdie Sache klar. Ich bekenne aller»dings, daß der Fall recht kompli"ziert ist, und deshalb sage ich auch:Sie, Mr. Cramer, sind nicht in derLage, das Rätsel zu lösen. Aber ichbin dazu in der Lage. «Wolfe schobden Haussuchungsbefehl über denSchreibtisch zu Cramer. »ZerreißenSie dieses Ding.«Cramer schüttelte den Kopf. »Sir -ich kenne Sie! Bei Gott, ich kenneSie! Dennoch will ich mich ein we=mg mit Ihnen unterhalten, ehe ichmit der Hausdurchsuchung be=ginne.«»Irrtum, Sir.« Nun schüttelte Wol=fe den Kopf. »Ich werde mich kei=ner Zwangsmaßnahme beugen.Lieber wende ich mich direkt anDistriktsanwalt Skinner ... Also,Sir - entweder zerreißen Sie denHaussuchungsbefehl oder Sie füh=ren ihn durch.«Das durfte als fatale Alternative

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gelten. Denn Cramers Meinungüber Skinner war einer der Mängelunserer demokratischen Gesell»schaftsordnung. Cramer dachtenach, starrte den Haussuchungsbeafehl an, starrte Wolfe an, dannmich und schließlich wieder denHaüssuchungsbefehl. Dann nahmer das Schriftstück und zerriß es.Wolfe nickte. »Ist die Herkunft desRevolvers feststellbar?«»Nein. Das Ding mag an die fünf"zig oder mehr Jahre alt sein. DieNummer ist bereits verschwunden.Und die Fingerspuren taugen auchnichts, da sie verschmiert und ver=wischt sind.«»Natürlich.« Wolfe nickte aber"mals. »Eine viel einfachere Metho"de, als mit Handschuhen zu arbei"ten... Der Mörder befindet sich indiesem Haus.«»Das dachte ich mir! Ihr Klient -nicht wahr?«Wolfe zuckte die Schultern. »Diebesondere Komplikation ist fol=gende: Im Wartezimmer sitzen einMann und eine Frau. Einer vonbeiden ist der Mörder. Aber wer?«Cramer runzelte die Stirn. »Daserwähnten Sie bisher nicht. Siesagten. Sie hätten den Mörder.«»Das stimmt insofern, als beidesich unter Bewachung im Warte»

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zimmer befinden ... Aber ich seheschon, daß ich Ihnen jetzt berichtenmuß, was überhaupt passiert ist,damit Sie sich entschließen. IhreArmee von Leuten einzusetzen.Sieht nämlich so aus, als hätten wirsie nötig. Und mir steht keine Ar-mee von Mitarbeitern zur Verfü»gung ... Es begann damit, daß ichden ominösen Drohbrief bekam.Und bald nachdem ich ihn bekom-men hatte, engagierte ich einenMann, der mir ähnlich sieht...«Wolfe berichtete ziemlich schnell;Purley Stebbins biß sich fast dieZunge ab bei dem Bemühen, allesmitzustenografieren.Als Wolfe geendet hatte, starrteCramer ihn düster an. Wolfe lä=°dielte und sagte liebenswürdig:»Ja, Sir - so liegt die Sache. Rechtzweifelhaft, ob wir sie klären kön»nen, so wie sie liegt. Sie werdenalle Ihre Reserven mobilisierenmüssen.«»Möchte nur wissen«, knurrte Cra»mer, »wieviel Sie daran herumfri-siert haben.«»Gar nichts, Sir. Ich bin nur aneinem einzigen Punkt dieser Sacheinteressiert. Ich habe nichts hinzu"gefügt und nichts ausgelassen.Und im übrigen habe ich keinenKlienten.«

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»Soso«, brummte Cramer und er»hob sich tatendurstig. »Na schön,gehen wir zunächst mal von dieserBasis aus. Ich hätte da ein paar Fra=gen an die von Ihnen erwähntenPersonen.«»Natürlich.« Wolfes Stimme klangplötzlich etwas ärgerlich; er liebt esnicht, still dabeizusitzen, währendein anderer die Fragen stellt. »Wenmöchten Sie zuerst sprechen?«»Bevor ich die beiden befrage, willich mir den Raum ansehen. Ein=schließlich Einrichtung. Besondersdie Blumenvase!«Wir gingen hinüber ins Wartezim=mer. Jane saß auf der Klavierbank,Jensen auf dem Sofa; Fritz standwachsam an eins der Fenster ge=lehnt. Jensen erhob sich.Wolfe sagte: »Miss Geer - dies istInspektor Cramer, und dies ist Ser»geant Stebbins.«Miss Geer schien nicht beeindruckt.Wolfe fuhr fort: »Sie, Mr. Jensen/haben, glaube ich, den Inspektorund den Sergeanten bereits ken=nengelernt.«»Ja.« Infolge des langen Schweisgens war Jensens Stimme spröde;er räusperte sich und fügte hinzu:»Ihre Zusicherung, die Polizei nichtzu holen, war also auch eine Far°ce.« Er wirkte verbittert.

»Ich habe keine derartige Zusiche»rung gegeben, Mr. Jensen. Ich habedarauf verwiesen, daß wir Mr.Cramer auf die Dauer nicht aus»schalten können ... Das Geschoß,das auf mich - genauer gesagt, aufmein Double Mr. Hackett - abge»feuert wurde, kam aus der gleichenWaffe, die dort in der Vase gefun»den wurde. Und mit eben dersel"ben Waffe sind Ihr Vater und Mr.Doyie ermordet worden. Das macht,wie Sie zugeben werden, die Situa-tion noch bedeutend kritischer.«»Ich bestehe«, rief Jane mit völligfremder Stimme, »auf meinemRecht, mich mit einem Anwalt zuberaten!«»Moment, Moment«, sagte Cramerin einem Ton, den er offenbar fürberuhigend hielt, »darüber werdenwir noch sprechen. Warten Sie, bisich mich hier umgesehen habe.«Assistiert von Stebbins ging er andie Arbeit. Sie schätzten Entfer»nungen/ prägten sich die Positionengewisser Dinge ein und beschäftig'ten sich vor allem mit der Frage,von welcher Stelle des Raumes eineKugel durch die offene Verbin'dungstür ins Büro und weiter durchdas Loch in der Sessellehne bis indie hintere Bürowand geschicktworden sein konnte.

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Mit diesem Problem waren sie nochbeschäftigt, als Wolfe sich plötzlichan Fritz wandte und ihn fragte:»Wo ist das andere Kissen?«»Welches Kissen, Mr. Wolfe?«antwortete Fritz überrascht.»Auf das Sofa gehören sechs Kis=sen. Jetzt sind es nur fünf. HabenSie eins entfernt?«»Nein, Mr. Wolfe.« Fritz sah zumSofa und zählte die Kissen. »Wahr=haftig, nur fünf. Und sie sind an=ders hingelegt, damit die entstan»dene Lücke verdeckt ist. Das ver=stehe ich nicht. Heute früh warenbestimmt noch alle sechs da.«»Wissen Sie das genau?«»Ganz genau, Mr. Wolfe.«»Suchen Sie das fehlende. Archie— bitte helfen Sie ihm dabei.«Für einen Großalarm wegen einesfehlenden Kissens schien der Zeit»punkt nicht .recht geeignet. Dochda ich ansonsten nichts weiter zutun hatte, gehorchte ich.»Nicht hier«, sagte ich nach einemWeilchen.»Das sehe ich selbst«, murmelteWolfe.Ich starrte ihn an. Auf seinem Ge=sieht war ein Ausdruck erschienen,den ich gut kannte. Nicht eigentlichein Ausdruck der Spannung, ob=schon er jedesmal Spannung in mir

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hervorrief. Wolfe hielt das Genicksteif, als wünsche er jede Erschüt=terung von seinem Verstand fern=zuhalten; seine Augen waren halbgeschlossen und schienen nichts zusehen; seine Lippen bewegten sichohne einen Laut.Unvermittelt wandte er sich umund sagte: »Mr. Cramer - bitte,lassen Sie Mr. Stebbins hier beiMiss Geer und Mr. Jensen. WennSie wollen, können Sie ebenfallshierbleiben. Oder Sie könnenmit hinüberkommen, ganz nachWunsch. Archie und Fritz - bitte,folgen Sie mir.« Er ging durch dieVerbindungstür ins Büro.Cramer, der Wolfes verschiedeneReaktionen fast so gut kannte wieich, kam mit uns und machte dieVerbindungstür hinter sich zu.Wolfe/ auf seinem Sessel thro»nend, sagte zu Fritz und mir: »Wirmüssen herausfinden, ob das sechsste Kissen noch im Haus ist.Durchsucht das ganze Haus vomKeller bis zum Dach mit Ausnahmevon Mr. Hacketts Zimmer, da Mr.Hackett bereits schlafen dürfte.Fritz, Sie nehmen sich zuerst denKeller vor. Archie, Sie fangen mitdiesem Raum hier an.«Fritz ging hinaus. Cramer knurrte:»Was soll das nun wieder?«

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»Ich werde es Ihnen auseinander»setzen«, entgegnete Wolfe, »so=bald ich die Erklärung gefundenhabe. Bis dahin will ich hier sitzenund nachdenken und nicht gestörtwerden.«Er lehnte sich zurück und schloßdie Augen; seine Lippen begannensich wieder zu bewegen.Cramer rutschte tiefer in den Be=suchersessel hinein, schlug dieBeine übereinander, schob sicheine Zigarre zwischen die Zähneund kaute darauf herum.Ich war noch nicht weit gekom=men mit der gründlichen Suche imBüro, als ich hörte, daß Wolfe einganz bestimmtes Gebrumm vonsich gab. Auf der kleinen Klappeleiter vor dem Bücherregal ste=hend, drehte ich mich so hastig zuihm um, daß ich beinah von derLeiter gefallen wäre.Wolfe war in Bewegung. Er nahmden Papierkorb neben dem Schreib=tisch auf, inspizierte ihn und stellteihn kopfschüttelnd wieder hin.Dann öffnete er nacheinanderdie einzelnen Schubladen seinesSchreibtisches und griff in jede soweit wie möglich hinein. Zuerstohne jeden Erfolg. Doch als er dieunterste rechte Schublade offenhatte und sich bückte, um ganz

weit hineinzulangen, knurrte erplötzlich: »Ich habe es gefunden.«In diesen vier Worten lag tiefeGenugtuung.Cramer und ich starrten ihn an.Er bedachte mich mit einem kur=zen Blick und kommandierte: »Ar«chie, klettern Sie von der Leiterund sehen Sie in Ihrem Schreib=tisch nach, ob mit einer meinerWaffen geschossen worden ist.«Ich. tat es. Das erste Schießeisen,eine große Pistole, erwies sich alsunberührt. Beim zweiten, einemRevolver, mußte ich melden: »Ja=wohl, Sir - von den sechs Patro»nen fehlt eine, genau wie bei denKissen. Die leere Hülse ist da.«»Ha, dieser Esel! Archie, sagen SieMiss Geer und Mr. Jensen, siekönnten hereinkommen, wenn siedie Lösung des Rätsels mitanhö=ren möchten. Meinetwegen könnensie aber auch nach Hause gehenoder wohin sie sonst wollen, wirbrauchen sie nicht mehr ... Neh=men Sie Mr. Stebbins und Fritzmit hinauf und bringen Sie Hak=kett her. Aber seien Sie vorsichtig.Durchsuchen Sie ihn sorgfältig. Erist ein gefährlicher Mann.«Natürlich waren Jane und Jensenbereit, die Schlußphase des Fallesim Büro mitzuerleben, und gingen

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hinüber, während ich Purley Steh»bins über unseren gemeinsamenJob informierte und mich mit ihmzu Hacketts Zimmer begab. Fritzgesellte sich auf der Treppe zuuns.

Etwa zehn Minuten mochten ver«gangen sein, als wir Mr. Hackettins Büro schleppten. Obwohl ereine der überzeugendsten Demon»strationen von Widerspenstigkeitgeliefert hatte, die mir je begegnetsind, brachten wir ihn in eineinStück, und keiner von uns hattebei der recht gewalttätigen Unter=nehmung mehr abbekommen, alsdurch ein paar Pflaster und etwasWatte zu reparieren war. Wirpferchten ihn in einen Sessel undmußten uns halb und halb auf ihnsetzen, um ihn dort zu halten.Außer Atem waren wir alle vier.Ich meldete; »Entgegenkommendwar er nicht.«Eins muß ich Wolfe lassen - ichhabe nie gesehen, daß er sich ander Ohnmacht eines Gefangenenweidet. Er betrachtete Hackett eherso, wie man ein interessantes Sam=melobjekl betrachtet.Mit dem nächsten Atem fügte ichhinzu: »Sergeant Stebbins glaubtihn zu kennen.«

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Stebbins keuchte in Cramers Rieh«tung: »Will drauf schwören. In»spektor, daß ich ihn schon gesehenhabe. Erinnere mich nur nicht/wo.«Wolfe nickte. »Weil er damals Uni»form trug - wie?«»Uniform?« jappte Stebbins ver=wundert. »Armee?«»Nein. «Wolfe schüttelte den Kopf.»Mr. Cramer sagte mir neulich, derPortier des Appartementhauses,vor dessen Eingang Mr. Jensenund Mr. Doyie erschossen wurden,sei ein fetter, erst vor zwei Wo»dien eingestellter Tölpel, der nochnicht mal die Namen der einzelnenMieter kenne und behaupte, zurZeit des Mordes im Keller mit derZentralheizung beschäftigt gewe"sen zu sein. Ein Telefonanruf wür=de uns informieren, ob dieser Por«tier noch dort arbeitet.«»Er ist nicht mehr dort«, knurrteCramer. »Er hat seinen Arbeits»platz am Mittwochnachmittag ver=lassen, weil er nicht in einem Hausbleiben wollte, in dem Leute er«mordet würden. Ich habe ihn niegesehen, aber Stebbins und nocheinige meiner Männer sind ihmibegegnet.«»Richtig!« bestätigte Stebbins undstarrte Hackett an. »Bei Gott, dasist er!«

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»Dieser Mensch ist«, erklärte Wol«fe, »eine bemerkenswerte Mi=schung von Narr und Genie. Erkam mit dem festen Entschluß nachNew York, Mr. Jensen und michumzubringen ... Mr. Hackett/ Siesehen verwirrt aus. Können Siemeinen Ausführungen folgen?«Hackett gab keinen Laut von sich.»Ich schätze. Sie verstehen rechtgut, was ich sage«, fuhr Wolfefort. »Folgendes wird Sie interes=sieren: Auf mein Ersuchen hat mansich Ex'Captain Roots persönlicheSachen im Marylandgefängnis et°was genauer angesehen. Ich tele"fonierte vorhin mit dem Gefäng»nisdirektor. Root log, als erbehauptete/er habe schon seit zehnJahren keine Verbindung mehr zuseinem Vater gehabt. Man hateinige Briefe gefunden, die DaddyThomas Root seinem lieben Sohnwährend der letzten Monateschrieb. Anscheinend sehr bemer=kenswerte Briefe. Denn DaddyRoot ist derart stolz auf seinenSprößling und dessen versuchtenVerrat, daß es fast an Irrsinngrenzt.« Wolfe gestikulierte zuHackett. »Was sagen Sie jetzt?«»Nur einen Tag länger«, krächzteHackett, »nur einen einzigen Taglänger, und -«

»— Sie hätten mich umgebracht.«Wolfe nickte. »Das ist klar. Undder Verdacht wäre dann infolgeIhrer heutigen Manipulation aufMiss Geer oder auf Mr. Jensen geafallen, vielleicht auch auf beide.Aber Sie hätten sich unbehelligtdavongemacht.«»Mr. Wolfe«, sagte Jensen, »wür"den Sie die erwähnten Manipu"lationen erläutern?«»Gleich, Mr. Jensen.« Wolfe lehntesich in seinen Sessel zurück. »Wirwollen uns eben nur noch mit denEreignissen des Dienstagabendbeschäftigen.« Sein Blick richtetesich wieder auf Hackett. »Das warein Meisterstück, Sir! Ich kann vonGlück sagen, daß Sie sich ent»schlössen haben, zuerst Mr. Jen"sen umzubringen! Dank des Man»gels an Arbeitskräften gelang esIhnen, die Portierstelle des Hauseszu bekommen, in dem Mr. Jensenwohnte. Dann konnten Sie aufeine Gelegenheit warten, Mr. Jen»sen abzupassen, ohne daß Zeugenin der Nähe wären. Diese Gele"genheit bot sich schon einen Tag,nachdem Sie den Drohbrief an Mr.Jensen geschickt hatten - eine injeder Hinsicht ideale Situation, aus»genommen nur, daß Mr. Doyie zu«gegen war, den Mr. Jensen sich zu

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seinem Schutz engagiert hatte. Deruniformierte Hausportier erregtebei Mr. Jensen und Mr. Doyie be=greiflicherweise keinen Verdacht.Wahrscheinlich hat Mr. Jensen Siesogar freundlich begrüßt und einpaar Worte mit Ihnen gewechselt.Weit und breit war kein unerawünschter Zeuge zu sehen, derLiftmann fuhr einen anderen Haus»bewohner nach oben-eine so gün=stige Gelegenheit durfte natürlichnicht ungenützt vorübergehen. Ih=ren Revolver hatten Sie, um denLärm zu dämpfen, mit einem StückStoff umwickelt. Sie schössen Mr.Doyie in den Rücken und Mr. Jen'sen, der sich erschrocken umge=wandt hatte, in die Brust. Danneilten Sie in den Keller und mach=ten sich an der Zentralheizung zuschaffen, wobei Sie auch gleich denStoffetzen verbrannten, der Ihnenals Schalldämpfer gedient hatte.«Wolfe wandte sich an InspektorCramer: »Klingt das einleuchtend,Mr. Cramer?«»Bis hierher, ja«, erwiderte Cra=mer.»Gut«, sagte Wolfe. »Denn nurwegen Doppelmordes können SieMr. Hackett - oder sollte ich lieberMr. Root sagen? - vor Gerichtbringen. Dafür, daß er sich selbst

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eine kleine Verletzung am Ohr bei»gebracht hat, kann man ihn nichtbelangen.« Wolfes Blick traf jetztmich. »Archie - haben Sie in sei»nen Taschen irgendwelche Instru»mente gefunden?«»Nur ein Campingmesser, eins die»ser Dinger mit zwei Klingen, Sehe»re, Schraubenzieher, Nagelfeile,und so weiter.«»Übergeben Sie es Mr. Cramer zurFeststellung, ob es Blutspuren auf»weist.«Cramer winkte ab. »Hat Zeit. DieAngelegenheit von Dienstagabendist nun geklärt. Kommen wir alsozu den heutigen Ereignissen.«»Damit«, seufzte Wolfe, »würdenwir einen der interessantestenPunkte des ganzen Falles überge=hen - Mr. Hacketts Bewerbung aufmein Zeitungsinserat ... War erclever genug, zu erkennen, daß diegegebene Beschreibung großenteilsauf mich paßte? Daß vermutlich ichder Mann war, der das Inserat auf=gegeben hatte? Und daß er hier»durch eine einzigartige Gelegenheitfinden könnte, in meine Nähe zugelangen? Oder kam er nur, weilsein Geld zu Ende ging und er hiereine Möglichkeit sah, schnell einpaar hundert Dollar zu verdienen?Ich bin sicher, daß er ganz klar die

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Gelegenheit erkannte, die ich ihmbieten wollte - eine Gelegenheit,Nero Wolfe zu ermorden. MeinInserat war alles andere als einSchuß ins Dunkle. Ich wußte, daßwir es mit einem gefährlichenMenschen zu tun hatten.Als Archie am Mittwochnachmitatag fortging, um Miss Geer zutreffen, blickte ich aus dem Fensterund bemerkte draußen diesen Bur=sehen. Während der nächsten halsben Stunde sah ich ihn noch einige»mal am Haus vorüberstreichen. Dakam mir der Gedanke, daß es si°cherer wäre, den Löwen im Käfigzu haben ~ auch, wenn man selbstbei ihm sein müßte. Das Inseratschien mir der geeignete Köder füreinen Mann, der durch die Mordean Mr. Jensen und Mr. Doyie be°wiesen hatte, daß er vor keinerGefahr zurückschreckt.Und er schluckte den Köder. Erwar entzückt, als er bestätigt fand,daß das Inserat mit mir zusammen»hing, und doppelt entzückt, als ichihn tatsächlich einstellte.Vom Augenblick an, da er diesesHaus betrat, sondierte er die Lageund entwickelte Pläne. Daß er beimAbfeuern des Revolvers ein Ta=schentuch benutzte, war zweifellosein Teil dieser Pläne.

Heute früh' nun erfuhr er, 'daß MissGeer für sechs Uhr nachmittags-herbestellt war und daß er ihr ge=genüber meine Rolle zu spielenhätte. Als er nach dem Lunch alleinin diesem Zimmer war, holte erein Sofakissen aus dem Wartezim"mer, stülpte es über seinen Revol»ver und feuerte durch die Sessel»lehne in die Wand. Dann stopfteer das Kissen ganz hinten in dierechte untere Schublade meinesSchreibtisches, steckte den Revol»ver wieder ein, und -«»Wäre das Loch in der Sessellehneentdeckt worden«, unterbrach Cra»mer, »dann würden auch das Lochin der Wand und schließlich dasGeschoß gefunden worden sem.Ziemliches Risiko, das er damiteinging - finde ich.«»Ich sagte bereits«, entgegneteWolfe indigniert, »daß er eine Mi=schung von Genie und Narr ist. Imübrigen wußte er, daß er den Nach»mittag zusammen mit Archie in derStadt verbringen und ich indessendieses Zimmer nicht betreten wür=de. Ich hatte ihm erklärt, daß ichmeinen Platz in diesem Sessel erstwieder einnehmen werde, wenn erihn endgültig verlassen hätte ...Zurück zur Sache. Um sechs Uhrtraf Miss Geer ein, aber unerwar»

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teterweise von Mr. Jensen beglei»tet. Miss Geer und Mr. Jensenwurden in das Wartezimmer ge=führt. Die Verbindungstür zwi=sehen Wartezimmer und Büro standoffen. Archie verließ das Warte"zimmer und kam in die Halle, ummich zu informieren, daß MissGeer sich in Mr. Jensens Beglei-tung befände - ein Fall, den wirnicht vorausgesehen hatten. Mr.Hackett'Root handelte nun blitz»schnell. Er grabschte sich einemeiner Schußwaffen aus ArchiesSchreibtisch, kehrte zum Sessel zu=rück, öffnete die Schublade meinesSchreibtisches, in der er das Kissenverborgen hatte, feuerte einenSchuß in das Kissen, schmiß dieWaffe zu dem Kissen und machtedie Schublade zu.Archie kam ins Büro gejagt, warfeinen schnellen Blick auf den imSessel sitzenden Pseudo=Wolfeund hetzte ins Wartezimmer. Mr.Hackett=Root nutzte die Gelegen-heit, um zwei Dinge zu tun - erlegte meine Waffe in ArchiesSchreibtisch zurück und brachte sichmit seinem Campingmesser einekleine Verwundung am oberenRand der linken Ohrmuschel bei.Das machte seine Situation sehrgünstig. Sie wurde noch günstiger

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durch die Chance, die er gleich da=nach bekam, als Archie ihn ins Ba«dezimmer führte und dort alleinließ. Das Badezimmer hat eine di-rekte Tür zum Wartezimmer. Hak=ket=Root schlich sich durch dieseTür ins Wartezimmer, steckte sei=nen Revolver mitsamt dem Ta"schentuch in die Blumenvase, kehrteins Badezimmer zurück und er-schien dann wieder hier im Büro.Hätte ich nicht das Fehlen deseinen Sofakissens im Wartezim»mer bemerkt, dann wäre ihm die=ser Teil seines Planes geglückt.Denn so bald war nicht damit zurechnen, daß eine Spur des Schus=ses entdeckt werden würde, den erin die Schreibtischschublade oder,genauer, in das dort verborgeneKissen gejagt hatte. Unwahrschein'lieh war auch, daß Archie bemer»ken würde, daß aus einer meinerWaffen, die er in seinem Schreib"tisch verwahrt, ein Schuß abgege»ben worden war. Und selbst wenner es bemerkte-was hätte es schonzu bedeuten gehabt? Für Mr. Haksket'Root so gut wie nichts. Erweiß nämlich, wie man mit Schuß-waffen umgehen muß, ohne Fin°gerabdrücke zu hinterlassen ...Nun, Mr. Cramer - wie gefällt esIhnen?«

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Cramer nickte bedächtig. »Ich neh=me es Ihnen ab. Dennoch werdenSie zugeben, daß Sie verschiedeneEinzelheiten beschrieben haben, dieSie nicht beweisen können.«»Brauche ich auch nicht. Und Sieebensowenig. Mr. Hackett'Rootwird ja wegen der Morde an Mr.Jensen und Mr. Doyie vor Gerichtgestellt und nicht wegen seinerManipulationen in diesem Haus.«Cramer stand auf. »Gehen wir, Mr.Root. Stebbins - die Handschel»len.«

Kurz danach saß Wolfe wieder inseinem thronartigen Sessel, dessendurchlöcherte Lehne leicht zu repa=rieren war, und bot mit den dreiFlaschen Bier, die vor ihm auf demSchreibtisch standen, das Bild einesMannes, der mit sich und der Weltzufrieden ist.

»Archie«, murmelte er, »erinnernSie mich bitte morgen früh daran,daß ich Mr. Viscardi wegen derZuchtpflanzung anrufe.«»Sehr wohl, Sir.« Idi setzte michebenfalls.»Erlauben Sie mir eine Anregung.Lassen Sie uns inserieren, daß wireinen fast ausgewachsenen Tigersuchen, etwa drei Zentner schwer,sehr gesund und gefräßig. Wirwürden ihn an einer festen Ketteneben dem großen Aktenschrankstationieren, so daß er jedesmal,wenn Sie zur Tür hereinkommen,so tun könnte, als wolle er Sie vonhinten anspringen.«Es machte keinerlei Eindruck aufihn. Er lehnte zufrieden in seinemSessel, und ich bezweifle heutenoch, daß er meine etwas aufssässigen Worte überhaupt gehörthat ...

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Die yförmige Narbe

Felicity öffnete die Tür. Sie lächelteflüchtig und hielt ihre rechte Handhin. Dr. Colin Starr fand sie nervösund irgendwie erregt, aber trotz»dem reizend anzusehen - so/ wieihre Mutter, die Starr nicht gekannthatte, nach den Erzählungen derLeute ausgesehen haben mußte.»Danke, Doktor«, sagte sie. »Ichdanke Ihnen so sehr, daß Sie ge=kommen sind.«»Ich bin gerne gekommen, Felicity.Wie geht es ihr?«»Das ist es ja. Ich denke, körperlichfehlt ihr nichts. Vor dem Lunchkam sie aus ihrem Zimmer her=unter. Das hat sie seit Monatennicht gemacht. Sie - nun, dann tatsie seltsame Dinge in der Küche.Ich denke, sie ist verängstigt, Dok»tor - halb zu Tode verängstigt.«»Keine Sorge, wir werden sehen.«

»Jetzt ist sie wieder oben. Ich weißnicht, weshalb ich Sie bemühte. Ichfühlte eulfach, daß ich Sie rufenmüßte.«»Sehr richtig von Ihnen,«Starr legte Hut und Handschuheund seinen warmen Mantel auf einTischchen in der großen Halle. DerTag war außergewöhnlich kühl fürden März, und Starr hatte fast ver»meint, Schnee in der Luft zu wit=tem.Eine dicke Frau mit bleichem Ge=sieht und üppigem goldblondemHaar trat ins Zimmer. Drüsen,dachte Starr, als er sie mit einembeiläufigen Blick streifte und ihreAufgeschwemmtheit bemerkte.Die Frau lächelte und blickte ihnaus feuchten, fragenden Augen an,und Felicity sagte: »Miss Vemon,Doktor Starr.«

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Die yförmige Narbe

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Miss Vemon musterte seine hoch»gewachsene, kräftige Gestalt undsein liebenswürdiges kluges Ge»sieht. Sie bot ihm die Hand.»Ein Doktor?« Miss Vernons La»Aeln verschwand, und sie blickteFelicity besorgt an. »Mrs. Dieter»ling? Ist sie krank?«»Nicht wirklich krank. Ich dachtemir, es wäre besser, wenn ich Dok»tor Starr anriefe.«»Wie klug von Ihnen, Kleines. Im»merhin, bei Mrs. Dieterlings AI»ter —«»Bloß eben siebzig.«»Immerhin, Kleines, immerhin.«Miss Vernon lächelte wieder, die"sesmal zu Dr. Starr. Dann ging sieweiter und die Treppe hinauf, eineträge dahinwandelnde Tonne.»Sie gehört zu den zahlendenGästen?« fragte Starr, nachdem sieaußer Hörweite war.»Ja. Die Amerikanische Frauenver»eirügung hat sie in unsere Stadtgeschickt. Sie soll hier die Interes»sen der Aktion >Emeuere DeinHeim< vertreten - wie man alteMöbel auffrischt und solche Sa»dien. Es ist beinah eine Plage mitihr, Doktor.«Sie begannen die Treppe hinaufzu»steigen.»Eine Plage? Wieso?«

»Oh, das würden Sie schnell her»ausfinden, wenn Sie sie im Haushätten. Sie examiniert jeden durch»sackenden Stuhlsitz und möchtealle alten Schubladen und Schrank»türen richten. Ihre Rede beginntund endet mit Möbelauf frischung.«»Wie viele zahlende Gäste habenSie sonst noch?«»Zwei. Eine Miss Warbright kamletzte Woche. Sie ist Schriftstellerinund sammelte Material für einenhistorischen Roman aus dem Ohiovom Anfang des vorigen Jahrhun»derts. Sie nimmt es furchtbar ernstdamit und möchte am liebsten, daßhier jeder in Sackleinwand geklei»det herumliefe wie zu MotherHubbards Zeiten. Sie hält es fastfür eine persönliche Kränkung,wenn Großmutter die Kleider undPutzwaren beschreibt, die Anfangunseres Jahrhunderts mit dem Post»schiff frisch aus Paris hier eintra-fen. Aber Miss Ashiand ist diewahre Heimsuchung.«»Ihre dritte?«»Ja. Sie ist geheimtuerisch.«»Sie sollten mal bei einer meinerKonsultationen Mäuschen spielen-da könnten Sie etwas an Geheim»tuerei erleben! Worüber ist siedenn so geheimtuerisch, diese MissAshiand?«

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Sie hatten das obere Ende derTreppe erreicht und gingen einenbreiten Etagenflur entlang, an des-sen dunklen Wänden riesige öl»gemälde hingen/ amerikanischeLandschaftsmalereien aus der Zeitder Jahrhundertwende, düster unddramatisch mit drohend aufge"türmten Gewitterwolken und zuk»kenden Blitzen/ aber als Kunst»werke ohne Belang und materiellwertlos.»Ich weiß nicht. Es ist die ganzeArt, wie sie sich benimmt, wie siedurch ihre dicken Brillengläserguckt. Immer verstohlen. Und siesagt kaum ein Wort.«»Was tut sie denn?«»Sie erwähnte irgend etwas, wo»nach sie mit einem Arbeitsbüro inVerbindung steht. Sie war nichtsehr mitteilsam.«Felicity öffnete eine Tür, und siekamen in das private Wohnzimmerihrer Großmutter. Mrs. Dieterlingsaß in einem bequemen Stuhl beimErkerfenster, eine sehr schlanke,vornehme Gestalt in schwarzerSeide. Ihr weißes Haar stand sil°brig gegen die kalte graue Luftjenseits des Fensters. Sie hob eineelfenbeinern zarte Hand, um Stillebis zum Ende einer klaren feinenMelodie zu gebieten, die aus der

Spieldose auf dem Tischchen nebenihr erklang.Es war eine sehr schöne und kost»bare Spieldose, ein Geschenk, dasAlphons, ihr längst verstorbenerGatte, ihr in Genua gemacht hatte,als sie sich auf der Hochzeitsreisedurch Europa befanden. Das kleineInstrument vermochte sechsund»dreißig verschiedene Melodien zuspielen, und jede einzelne machteErinnerungen an vergangene Tagelebendig; deshalb pflegte Mrs. Die-terling von jedermann respektvolleAufmerksamkeit zu erwarten, so"lange das sanfte Geklingel derSpieldose ertönte.Sie lächelte dem Doktor freundlichzu.»Sie nehmen es doch nicht übel?«»Keineswegs. Die Melodie war ent"zückend.«Sie reichten sich die Hände, undStarr wunderte sich, wie kalt Mrs.Dieterlings Finger waren. Als wä=ren sie beinah blutleer, dachte er.»Ich bin schuld daran, daß DoktorStarr gekommen ist«, sagte Feli«city.»Macht gar nichts. Liebes. Im Ge»genteil... Ich bin nicht krank,Doktor, aber es ist ein Glück, Siehier zu haben. Ich möchte Sie etwasfragen.«

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»Ich muß nun wieder gehen«, er»klärte Felicity. Sie wandte sich anStarr. »Ich fange an, furchtbarhausmütterlich zu werden. Nun,da der Lunch kaum vorbei ist, wol=len die Vorbereitungen für dasDinner getroffen sein. Nehmen Siebloß niemals zahlende Gäste insHaus, Doktor.«Dr. Starr lächelte. »Wie sollte ich?Ich kann Rühreier mit Speck bereisten. Wildfleisch braten und ziem=lieh zähe Omeletts herstellen. Aberdamit enden meine Kochkünste.«Felicity ging; Dr. Starr zog einenStuhl herbei und setzte sich.»Also, Mrs. Dieterling?«»Ich möchte etwas über Narbenwissen, Doktor.«Er blickte sie fasziniert an. Er fühl»te die nervöse Spannung, die sie zuunterdrücken versuchte. Er glaubtezu erkennen, daß Felicity recht ge»habt hatte - es war Angst.»Warum Narben?«»Weil Marcella Dorfrey zurückge»kommen ist. Sie ist hier im Haus.«Dieser Name wirkte auf Starr wieein kleiner Schock, denn er be"schwor Erinnerungen an eine Tra»gödie herauf, die sich vor etwazwanzig Jahren hier abgespielthatte. An einen Mord und dennachfolgenden Selbstmord von Mrs.

Dieterlings Tochter Anna - AnnaMansard, Felicitys Mutter. Die we»sentlichen Einzelheiten der Affärehatte Starr noch deutlich im Ge-dächtnis.Anna Mansard, damals seit zehnoder elf Monaten verwitwet, lebtemit ihrem zweijährigen Töchter"chen Felicity in Mrs. DieterlingsHaus in Laurel Falls. Marcella Dorf»rey war ein junges Mädchen ausder Stadt, von Mrs. Dieterling alsNurse für Felicity engagiert. Anna,die eben das vierundzwanzigsteLebensjahr vollendet hatte, war -auf eine blumenhafte Art - außer"ordentlich hübsch, aber sie besaßleider eine Gemütsart, die nur nochals fortgeschritten neurotisch be»zeichnet werden konnte.Zu dieser Zeit hatte in Laurel Fallseine Schauspieltruppe Station ge»macht, nicht besser und nichtschlechter als die meisten her"umziehenden Schauspieltruppen.Barton Fonslow, der Held dieserTruppe, war ein typisches Bühnen-idol mit breiten Schultern, kräfti-gen Schenkeln und einer Taille, dienach Meinung skeptischer Geisternur durch ein raffiniert gearbeite»tes Korsett zustande gekommensein konnte. Er näherte sich denVierzigern und mochte wissen, daß

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der Höhepunkt seiner Theaterlauf'bahn bereits hinter ihm lag - einUmstand, der ihn veranlaßte, sehn=süchtige Augen auf Anna Mansardund das Geld der Dieterlings zurichten, das sie einstmals erbenwürde.Die Reaktionen von Annas neuro-tischem Gemüt auf Barton Fons=lows theatralisch übersteigerteWerbung schwankten hin und herzwischen hitzigem Beglücktseinund noch hitzigerer Ablehnung;letztere basierte auf einer Art vonergebenem Pflichtgefühl gegenüberdem toten Gatten. Wie dies nunmal in der Natur solcher Dingeliegt, wurde über die Ablehnungnach außen hin weit mehr bekannt,als über das andere Extrem, wasschließlich dazu beitrug, daß Annavor einem Gericht des Staates Ohiobeschuldigt wurde. Barton Fonslowermordet zu haben.Der Fall stellte sich folgenderma»ßen dar: Barton Fonslow wohnteaus irgendwelchen persönlichenGründen nicht wie seine Kollegenim Hotel, sondern in einem gemie»teten kleinen Blockhaus, das aufMrs. Dieterlings weiträumigemGrundstück stand, zu Fuß etwafünf Minuten vom Dieterlinghausentfernt. Eine gewisse Mabel Wal=

lace, die täglich zum Aufräumenund wegen sonstiger Hausarbeitenin das Blockhaus kam, fand BartonFonslow am Morgen des 12. April1952 erschossen im Schlafzimmerdes Blockhauses.Miss Wallace, dreiundsechzig Jahrealt und der Tat absolut unverdäch=tig, telefonierte erschrocken diePolizei an. Die Polizei kam, fanddie Mordwaffe nahe der Schlaf-zimmertür auf dem Fußboden undidentifizierte sie unschwer als einenRevolver aus Annas Besitz, derüberdies Annas Fingerabdrücketrug.Auf einem kleinen Tischchen imSchlafzimmer lag außerdem einsvon Annas Taschentüchern mitMonogramm. Es war zusammen»geknüllt und sogar noch etwasfeucht von - wie die Polizei ent=schied — Annas Tränen.Nach dem Befund des Folizeiarzteshatte sich die Tat am frühen Abenddes vorangegangenen Tages abge»spielt — übrigens dem einzigenAbend seit Wochen, an dem Fons=low nicht aufzutreten brauchte.Anna, die ihre Unschuld beteuerte,sooft sie sich aus einer hysterischenNeurose erholte, hatte kein an=nehmbares Alibi für die fragliche f|Zeit. Sie behauptete lediglich, sie

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habe das Grab ihres Gatten aufdem Friedhof von Laurel Falls be»sucht und dort ein Weilchen geses=sen, sei dann nach Hause zurück'gekehrt und zu Bett gegangen. Bc=gegnet war ihr niemand, weder aufden Wegen zum und vom Fried=hof noch auf dem Friedhof selbst.Vor Gericht befaßte sich der Di=striktsanwalt ausgiebig mit Annasneurotischer Verfassung. Als Mo»tiv unterstellte er ihr einen hefti=gen Reueanfall (Beweisstück B: dastränenfeuchte Taschentuch), beidem sie schließlich, in einem Zu=stand manisch depressiver Zerrüt»tung, auf Barton Fonslow schoßund ihn tötete. Die Geschworenenschlössen sich dieser Darlegung an,und der Richter gab ihr zwanzigJahre Gefängnis. Am dritten Tagihres Gefängnisaufenthaltes er=hängte sich Anna an einem Strick,den sie aus Streifen ihrer Anstalts»kleidung geflochten hatte.Mrs. Dieteriing war durch dieganze schreckliche Angelegenheitso betäubt und erschüttert, daß sienach Annas tragischem Selbstmordwochenlang wie in Trance dahin=lebte. Es war Felicity, ihre kleineEnkelin, durch die sie schließlichwieder zu sich selbst fand. Ihrwurde bewußt, wie sehr, um wie°

viel mehr denn je zuvor Felicity siebrauchen würde. Und während der-Übergangsperiode zwischen Tranceund wiederkehrender Gesundheitgeschah es, daß Marcella Dorfrey,die Nurse, ihre Stellung verließ.Dieses Aufgeben der Stellung hatteseltsame Begleitumstände, dennMarcella war nicht einfach davon»gegangen, sondern regelrecht ent=flohen. Eines Nachmittags ver=schwand sie, völlig unerwartet,nicht nur aus dem Dieterlinghaus,sondern überhaupt aus Laurel Fallsund aus Ohio. Und wenn sie auchihre Kleider und ihre sonstigen Sa»chen mitnahm, verzichtete sie dochauf das fällige Monatsgehalt. Siehinterließ nichts als einen Notiz"zettel, auf dem in melodramati=sehen Floskeln zu lesen stand, siekönne weder im Hause einer ver=drehten alten Frau noch als Nursebei einem Kind bleiben, dessenMutter eine Mörderin sei.Niemand hatte - dessen erinnertesich Dr. Starr - seit damals je wie=der von Marcella Dorfrey gehört,auch ihre einzige Verwandte nicht,eine Stiefschwester, die in LaurelFalls ein kleines Lebensmittelge=schäft betrieb und vor einem hal=ben Jahr gestorben war. Und jetzt,zwanzig Jahre später, machte Mrs.

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Dieterling auf einmal die verblüf»fende Eröffnung, daß MarcellaDorfrey hier im Hause sei! Er wuß«te aus Erfahrung, daß die JahreMrs. Dieterling abweisend und ver»schlössen gemacht hatten und sehrbehutsam in der Wahl ihrer Worte.Undenkbar, daß sie etwas derartBedeutungsvolles behauptete, ohneeinen gewichtigen Grund dafür zuhaben - mochte sich dieser an»scheinend gewichtige Grund nach"her auch als Irrtum erweisen.Dr. Starr fragte: »Was möchtenSie über Narben wissen?«»Verschwinden sie? Können sieausgelöscht werden?«»Nicht, wenn ein Teil des ur=sprünglichen Hautgewebes ver"nichtet war.«»Um genau zu sein, Doktor - ichmeine eine Schnittwunde am Hand=gelenk, verursacht durch zerbro»ebenes Glas.«»Wie wurde die Verletzung behan»delt?«»Ich kümmerte mich selbst darum- ein Verband natürlich, aber unterdiesem Verband eine gewisse Men»ge des bevorzugten Blutstillersmeiner eigenen Kinderzeit, Spinn"weben.«»Hat sich beim Abheilen so etwaswie eine Körnung gebildet?«

»Ja. Denn Marcella war schon baldmit meiner Behandlung nicht mehrzufrieden. Sie trieb im Laden ihrerStiefschwester irgendeine billigeIchthyolsalbe auf. Ich erinneremich, daß sie diese Salbe zum er»stenmal am Mordtag benutzte.«»Wenn sich eine Körnung gezeigthat, wird die Narbe niemals völligverschwinden.«»Auch in zwanzig Jahren nicht?«»Die Zahl der Jahre spielt keineRolle.«»Ah!«Mrs. Dieterling, die nach eigenerBehauptung halb invalide war-dieKniegelenke! -, legte ihre schmaleRechte um den goldenen Griff ihresStockes. Es war kein gewöhnlicherStock — sein Schaft barg ein Stilett;Alphons, ihr Gatte, hatte diesesPrachtstück seinerzeit in Paris er=werben und immer wieder unbän»dige Freude an der Verblüffungahnungsloser Begleiter gehabt,wenn er auf einem Spaziergangplötzlich das verborgene Stilett her»vorzauberte. Dies war ein Brauch,den Mrs. Dieterling, als sie denStock erbte, zwar nicht übernahm;aber sie führte den Stock stets beisich, teils zur Entlastung ihrerschmerzenden Kniegelenke, teils,weil Alphons diesen Stock von al=

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len seinen einundzwanzig SpaziereStöcken am liebsten gemocht hatte.»Mein Plan muß gelingen«, sagte

, Mrs. Dieterling. »Ich kann nichtverstehen, weshalb sie erst jetztwieder aufgetaucht ist. Aber Sie,Doktor, sollen es ihr statt meinerabnehmen.«»Darf ich fragen, was ich ihr ab'nehmen soll?«»Das lächerliche Chiffontüchlein,das sie immer um ihr rechtes Hand=gelenk trägt. Ich kann mich nichtdazu bringen, ihr das Tuch abzu»reißen, oder ihr zu sagen, sie mögees doch einmal abnehmen - haupt=sächlich wegen des Dilemmas, dassich aus ihren fünfzig Dollar in derWoche ergibt.«So wunderlich dies klingen mochte,es ergab einen Sinn; die fünfzigDollar wöchentlich erhoben dieFrau mit dem Chiffontuch amHandgelenk in den Rang eines derdrei zahlenden Gäste, Dr. Starrwußte, daß diese an und für sichnicht große Summe für Mrs. Die»teriing von lebenswichtiger Bedeu»tung war. Er wußte, daß Mrs. Die»teriing sich genötigt gesehen hatte,drei zahlende Gäste in ihr Haus zunehmen, nachdem die einst erheb»liehen Einkünfte aus den Zinsengewisser Wertpapiere seit Jahren

aufgehört hatten zu fließen; da sei»nerzeit auch jene Wertpapiere vonAlphons besonders geschätzt wor"den waren, hing Mrs. Dieterlingvoll sentimentaler Liebe an ihnenund hatte es bisher nur unter demZwang grimmigster Notwendig»keit vermocht, hin und wieder einsvon ihnen zu verkaufen. So stell»ten sie zwar noch immer ein klei»nes Vermögen dar, aber ein Ver»mögen, das keine Zinsen mehr trugund auch nicht mehr angerührtwerden sollte, wenn es sich irgendvermeiden ließ.»Ich muß gestehen«, sagte Dr.Starr, »daß ich ein wenig verwirrtbin.«»Durchaus begreiflich, Doktor. Undich finde es schwierig, nach so lan»gen Jahren über alle diese Dingezu sprechen. Manche Tragödienvergehen niemals. So auch AnnasTragödie. Die Folgen leben weiter.Ich würde mir aber nicht allzuvieldaraus machen, wenn ihre Sorgenund Gefahren ausschließlich aufmich überkommen wären.«»Gefahren?«»Gefahren, gewiß! Mord schweltweiter - das ist eine erwiesene Tat»sache. Er schläft in ständiger Angstvor Enthüllung, stets bereit, vonneuem zu zerstören. Sie sehen -

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auch Felicity ist davon betroffen.«»Ich sehe gar nichts, Mrs. Dieter«ling. Felicity ist ein reizendes Mäd=dien, ein völlig gesundes, gerad=sinniges und reines Mädchen. Ichhabe nie die geringste Spur einerkrankhaften Veranlagung bei ihrwahrgenommen.«»Das ist richtig. Aber der Schattenvon Annas Tragödie mußte sieschließlich doch erreichen. Er hatsie bereits erreicht. Forrest Willethhat Felicity gebeten, ihn zu heira=ten.«Dr. Starr kannte Forrest Willethrecht gut, da er ihn einst durch Ma=sern und Ziegenpeter und ähnli=ehe Kinderkrankheiten gebrachtund dann später, vor anderthalboder zwei Jahren erst, bei denTauglichkeitsuntersuchungen fürden Wehrdienst vor sich gehabthatte, die ihn als voll verwendbareinstuften. Forrest war ein netterjunger Mann, und seine Familiegalt als eine der solidesten undwohlhabendsten in Laurel Falls.»Und«, fragte der Doktor, »wes=halb sollte sie nicht?«»Ist das nicht offensichtlich? Sieliebt Forrest so innig, wie er sieliebt. Sie liebt ihn so sehr, Doktor,daß sie ihm nie erlauben wird, dieTochter einer Mörderin zu heiraten.

Sie ist in diesem Punkt absolut lo=gisch. Die Eltern Willeth habenihren einzigen Sohn für die diplo=matische Karriere vorgesehen - ersoll in die Fußstapfen des altenHorace Willeth treten, der langeJahre Botschafter in London gewe=sen ist. Sehen Sie jetzt, was ichmeine?«»Ja, jetzt sehe ich es.«»Forrest ist bereit, für Felicity allesaufzugeben. Aber sie wird es nie»mals zulassen. Nicht, solange dieDinge nach außen hin unverändertsind. Dadurch ist mir eine schwereVerantwortung zugefallen.«»Das Problem zu lösen, gewiß. Aberwie wollen Sie das tun?«»Indem ich beweise, daß Anna un=schuldig war. Indem ich beweise,daß es Marcella Dorfrey war, dieBarton Fenslow ermordete. Ich willfeststellen, daß diese Frau mit Mär«cella identisch ist, und sie verhaf»ten lassen. Ich will durchsetzen,daß das Verfahren wieder eröffnetund daß sie vor Gericht gestelltwird.«»Aber Sie vermuten lediglich, daßdiese Frau mit Marcella identischist?«»Ich bin dessen sicher.«»Wegen des Chiffontuchs amHandgelenk? Wäre das nicht eine

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ziemlich unsichere Basis für einensolchen Verdacht? Sicher haben Sienoch andere Gründe?«»Ich habe andere Gründe. Um da=mit zu beginnen, diese Frau - sienennt sich jetzt Miss Warbrightund gibt vor, Schriftstellerin zusein - ist im entsprechenden Alterund hat genau jenes Äußere, daszwanzig Jahre später bei Marcellazu erwarten war.«»Sie haben also eine Ähnlichkeitentdeckt?«»Eine ausreichende Ähnlichkeit,Doktor. Die Frau ist mager. Sie hatdieselbe Art fahlbraunen Haareswie Marcella. Ihr Gesicht zeigt ge=nau dieselben unbestimmten, ver=waschenen Züge, die Marcellasfad=hübsches Jungmädchengesichtnach zwanzig Jahren zu zeigenversprach.«»Wie alt war Marcella, als sie ver°schwand?«»Achtzehn. Und vor allem, Doktor,verlasse ich mich auf die Narbe. Ichbin sicher, daß sie unter dem Chif=fontuch jene Narbe verbirgt.«»War die Narbe von besondererForm?«»Sie war wie ein kleines Ypsilongeformt, mit verlängertem Schaft.Scherben eines Glases lagen ineinem Papierkorb, und Marcella

verletzte sich an ihnen, als sie nacheinem Federhalter greifen wollte,der vom Schreibtisch in den Papier»korb gefallen war. Die Narbe istauf der Oberseite ihres rechtenHandgelenkes und höchstens zwei»einhalb Zentimeter lang. Sicherverhüllt das lächerliche Chiffontuchnichts anderes als diese Narbe!«»Erlauben Sie mir eine Frage?Selbst wenn Sie feststellen, daßMiss Warbright mit Marcella Dorfsrey identisch ist - wie, um allesauf der Welt, können Sie dann be=weisen, daß Ihre Tochter unschul=dig und Marcella Dorfrey schuldigwar?«»Meine Überzeugung, daß Annaunschuldig war, ist niemals insSchwanken geraten.«»Gewiß. Aber wie erklären Sie denRevolver? Wie das Taschentuch?«»Beides gehörte unzweifelhaft An=na. Der Revolver stammte vonHenry, Annas Mann. Sie verwahr»te ihn mit anderen seiner persön=liehen Dinge in einer Zedernholz=Schatulle in ihrem Schlafzimmer.Natürlich hatte sie den Revolverberührt, mindestens, um ihn in dieSchatulle zu legen - deshalb warenihre Fingerabdrücke darauf. Undwas das Taschentuch betrifft - fürjedermann im Haus waren Annas

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Taschentücher genauso leicht er"reichbar wie der Revolver. DieSchatulle war nicht verschließbar,und die Schlüssel ihrer Schränkepflegte Anna stets steckenzulas-sen.«»Die Tränen im Taschentuch?Marcella Dorfreys?«»Entweder ihre Tränen oder sie hatdas Taschentuch auf andere Art be«feuchtet.«»Warum wurden diese Punkte beider Gerichtsverhandlung nicht er-wähnt?«»Sie wurden erwähnt. Aber es gabzu dieser Zeit nichts, was auf einanderes Tatmotiv verwiesen hätte,als das, welches man Anna unter»stellte. Man charakterisierte denMord als eine Affekthandlung, be-gangen in einem von AnnasSchwermutsanfällen. Man unter»stellte, Anna hätte beabsichtigt,nachher Selbstmord zu begehen,aber dann doch nicht die Kraft da=zu gehabt. Ihr späterer Selbstmordverstärkte diese Auffassung natür=lieh. Man weigerte sich, das Ver-fahren wieder aufzunehmen.«»Und Ihre Theorie, Mrs. Dietersling?«»Der Mord war eine Affekthand-lung. Aber es war Marcella Dorf»rey, die eine Liebschaft mit Barton

Fonslow hatte, nicht Anna. Es warMarcella, die ihn in wütenderEifersucht erschoß, als sie erfuhr,daß er nicht sie, sondern Annaheiraten wollte. Es war Marcella/die den Revolver und das Taschen»tuch absichtlich am Tatort zurück»ließ, um Anna zu belasten.«»Haben Sie irgendwelche beweisedafür?«»Ja. Marcellas Flucht gab mir denersten Argwohn gegen sie ein. Sieverließ nicht nur mein Haus, sieverschwand auch aus der Stadt.Sie verschwand spurlos. Selbstihre Stiefschwester, mit der ichmich wegen des fälligen Monats»gehalts in Verbindung setzte,wußte nichts von ihrem Verbleib.Dabei war sie ein recht materiellgesonnenes Mädchen - es lag völ-lig außerhalb ihrer Art, ein Mo»natsgehalt im Stich zu lassen.«»Fanden Sie irgend etwas Greif»bares, was als Beweis verwendetwerden könnte?«»Es war merkwürdig, Doktor. Eswar beinah, als sei Annas Handdabei im Spiel gewesen, die Handder toten Anna —«»Ja?«»Ich will jetzt nicht von übematür-liehen Kräften sprechen, und doch- wie können wir es wissen? Wie

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können wir mit absoluter Sicher-heit sagen, daß es nicht AnnasGeist, nicht ihre tiefe Liebe zuihrem Kind gewesen ist, die Feli"city zu jenem Brief führten?«»Ein Brief ist Ihr Beweis?«»Ja. Ich muß erwähnen, daß Feli»city damals etwas über zwei Jahrealt war. Sie konnte laufen und be»saß einen bescheidenen Wort»schätz, den sie eifrig gebrauchte.Dies geschah, als ich eben anfing,wieder zu mir selbst zu finden. Inder Zeit meiner Verstörtheit warMarcella nachlässig geworden. Siehatte Felicity immer mehr sichselbst überlassen. Eins der Haus»mädchen erzählte mir später, siehätte es häufig unterlassen, dasGitter an Felicitys Kinderbettchenhochzuklappen. Marcellas Zimmerlag unmittelbar neben dem Kin-derzimmer, und die Verbindungs-tür zwischen den beiden Räumenstand immer weit offen. Felicityhatte also völlige Bewegungsfrei-heit in beiden Räumen, auch wennMarcella unten im Haus beschäf-tigt oder ausgegangen war. Undsie besaß die Neugier eines Äff»Aens.«»Wie die meisten kleinen Kin=der.«»Wir wußten nie, was ihr Spaß

machen, nach welchen ausgefalle-nen Dingen sie verlangen würde.Ich erinnere mich deutlich der Er»'eignisse des Tages, an dem Mär»cella verschwand. Sie hatte im Laufdes Vormittags irgend etwas außerHaus zu erledigen und ließ Feli-city allein. Felicity benutzte dieGelegenheit, um in Marcellas Zim»mer zu gehen, auf einen Stuhl zuklettern und Marcellas Tischschub-lade auszuräumen. Dann kehrte siein ihr Bettchen zurück und schliefein. Marcella fand sie schlafend,als sie wieder kam.«»Und die Tischschublade?«»Eben, die Tischschublade - Mär»cella glaubte, ich sei es gewesenund nicht Felicity, die in der Schubslade herumgestöbert hätte. Sie ent-deckte, daß der Brief fort war. Zwei"fellos glaubte sie, ich hätte diesenBrief an mich genommen, um ihnsofort der Polizei zu übergeben.Das muß sie geglaubt haben. Je=denfalls ist es die einzige vernünf-tige Erklärung für ihre überstürzteFlucht.«»Dieser Brief - er stammte natür-lich von Barton Fonslow?«»Ja. Ich fand ihn in Felicitys Bett-chen, einige Tage nachdem Mar-cella verschwunden war. Ich fandihn, als ich die Bettwäsche wech-

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selte - Felicity hatte ihn unter dasLaken geschoben. Ich komme im=mer wieder auf den Gedanken zu=rück, daß es Anna war, die Felicityan diesen Brief gelangen ließ.«»War das Äußere des Briefes ir=gendwie ungewöhnlich? War esauffallend genug, um das Interesseeines Kindes zu erregen?«»Ja. Und das ist wohl auch die ver=nünftigste Erklärung. Barton Fons=low verwendete ein ganz speziellesBriefpapier. Es war mit den beidenbekannten Masken der Tragödieund der Komödie und mit seinenInitialen geschmückt, alles in tie=fern Scharlachrot auf zart rosafar=benes Papier gedruckt. Daran fandFelicity anscheinend Gefallen.«»Was besagte der Brief?«»Barton Fonslow teilte Marcelladarin mit, daß es zwischen ihm undihr aus sei. Er bediente sich sehrbeleidigender, überheblicherworte.Ich glaube, ich selbst hätte ihnebenfalls umgebracht, wäre derBrief an mich gerichtet gewesen.«»Erwähnte er Anna?«»Ja. Er schrieb, er werde nichts undniemandem erlauben, seinen Hei=ratsplänen mit Anna im Wege zustehen. Er ließ Marcella wissen, daßer ihr hundert Dollar geben werde,um sie los zu sein.«

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»Was unternahmen Sie?«»Ich ging zum Distriktsanwalt.«»Zeigten Sie ihm den Brief?«»In meiner Aufregung hatte ichden Brief zu Hause gelassen. Aberich erzählte seinen Inhalt. Der Di»striktsanwalt hörte sehr höflich zu,beinah aufregend höflich - so, wieman jemandem zuhört, den mannicht ernst nimmt. Er sagte, ineinem von Fonslows Koffern seienviele Briefe gefunden worden.«»Liebesbriefe?«»Zumeist Liebesbriefe, sagte er.Jedenfalls Briefe, die zeigten, wievielfältig die zarten Beziehungendieses Mannes gewesen seien.Wenn das Verfahren wieder auf»genommen würde, sei ein Skandalzu erwarten, der die ganze Stadtdurcheinanderwirbeln könne.«»Aber Ihr Brief war doch einer,den Fonslow selbst geschrieben,und nicht einer, den er empfangenhatte!«»Das erkannte der Distriktsanwaltan. Er sagte, trotzdem sei dieserBrief keine Ausnahme. Denn man=ehe der gefundenen Briefe seienAntwortbriefe auf ähnliche grau»same Mitteilungen, wie die, dieBarton Fonslow an Marcella ge=richtet hatte.«»Sollte er nicht erkannt haben, daß

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unter den betroffenen Frauen aus=schließlich Marcella eine Gelegen"heit hatte, an Annas Taschentuchund den Revolver zu gelangen?«»Ich mußte ihn darauf hinweisen.Er reagierte ausweichend. Immer"hin war er es ja, der die Strafe ge=gen Anna gefordert hatte.«»Ja, das mag es gewesen sein.«»Das war es, Doktor! Indessenmußte ich bekennen, daß Anna vonschweren neurotischen Krisen er=schüttert worden war und daß esMomente gegeben hatte, in denensie Barton Fonslows Werbungdurchaus wohlwollend betrachtete.Ich betonte allerdings, daß es nichtsUnschickliches gegeben hätte, wor=auf der Distriktsanwalt ganz be=sonders höflich wurde und lä=chelte.«»Und damit endete es?«»Nein, er schlug vor, ich möge ihmden Brief überlassen, damit er ihnzusammen mit den zahlreichen an»deren Briefen in die Akten diesesFalles aufnehmen könne. Irgendetwas veranlaßte mich, diesen Vor=schlag abzulehnen. Ich glaube, ichempfand, daß der Brief mir dochirgendeine Macht geben würde, dasgeschehene Unrecht wieder gutzu=machen.«»Ich glaube, ich verstehe, was Sie

empfanden. Was sagte Her Diastriktsanwalt dazu, daß Sie seinen"Vorschlag ablehnten?«»Er nahm es gleichmütig hin. So"weit es ihn betraf, hatten ein Ge»schworenengremium, der Richterund die Tatsache, daß Anna ihrLeben durch Selbstmord endete,den Fall abgeschlossen.«Kalter Märzwind pfiff gegen dieFenster, und Mrs. Dieterling sagteetwas kläglich: »Würden Sie bitteden Thermostat ein wenig weiteraufdrehen, Doktor?«Starr tat es. Nachdem er wiederPlatz genommen hatte, erklärte er:»Ich stehe völlig auf Ihrer Seite,Mrs. Dieterling - das wissen Sie.Aber ich sehe nicht, wieso dieserBrief heute eine höhere Beweis»kraft haben sollte als vor zwanzigJahren.«»Tatsache ist, daß Marcella nichtnur durch ihre Flucht bestätigt hat,welch tödliche Gefahr dieser Brieffür sie darstellt. Sie hat es erneutbestätigt, indem sie jetzt, als ichannoncierte, daß ich zahlende Gästeaufnehmen wolle, sogleich die Ge=legenheit ergriff, unter der Maskeeiner Miss Warbright in diesesHaus zurückzukehren. Das gibt ihrdie sehnsüchtig erwartete Chance,den verhängnisvollen Brief zu su»

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Aen. Sie vermutet ihn hier in die=sem Zimmer.«»Wie kommen Sie darauf?«»Weil sie die Gewohnheit ange=nommen hat, hier hereinzukom=men und mit mir zu sprechen. AlsVorwand benutzt sie ihr Interessean meinen Anekdoten über diegute alte Zeit in Ohio, die sie füreinen angeblich geplanten histori=sehen Roman verwenden möchte.«Mrs. Dieterling, beide Hände aufdie goldene Krücke ihres Stockesgestützt, beugte sich nach vom.»Aber ihre Augen sind überall,Doktor. Sie suchen nach dem mög=liehen Versteck, während sie sprichtoder zuhört. Ich bekenne, daß diesallein nicht genügte, sie mit Mär»cella in Verbindung zu bringen.Doch letzte Nacht wurde einer derSchlüssel zum Blockhaus gestoh»len. Da plötzlich kam mir die Er=leuchtung-ihre suchenden Augen,der gestohlene Schlüssel zum Block'haus, das lächerliche Chiffontüch=lein an ihrem rechten Handgelenk!«Hoffnung, dachte Dr. Starr, istetwas Wunderbares und Unver=gängliches. Allein die Hoffnungließ diese tragische Frau trotz ihrerBürde an Jahren in den Kampf zie=hen, nicht mehr für sich selbst oderfür das Gedenken der toten Anna,

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sondern für die geliebte Enkelin,auf Strohhalme gestützt, blind ge"gen die mögliche Niederlage ...Er fragte: »Was kann ich tun?«Er fühlte, wie eine seltsame Kraftvon ihr auf ihn übersprang.»Der gestohlene Schlüssel ist derSchlüssel zur Vordertür des Block»hauses. Den Schlüssel zur Hinteratür werden Sie in der linken obe»ren Schublade meines Schreibtischesfinden.«Starr stand auf und ging an denSchreibtisch.»Ja, hier ist er - mit einem Schild"Aen Blockhaus, Hintertür.«Ob es nun an dem Schneeregen"sAauer lag, der draußen nieder"ging und dem ohnehin mattgrauenTagesliAt etwas vollends Unwirk»liches verlieh, oder nicht - als Starrsich umdrehte und Mrs. Dieterlingwieder ansah, wirkte sie in ihrerzerbreAlichen Magerkeit beinahdurchsiAtig wie ein Gespenst.Sie sagte; »Das Blockhaus ist seitder polizeiliAen DurAsuchung vorzwanzig Jahren niAt mehr betre"ten worden. Irgend etwas ist dortbestimmt noA zu finden. Ändern»falls wäre niAt Marcella letzteNaAt hier hereingekommen, umden Schlüssel zu stehlen. Sie müs=sen mein Auge sein, Doktor.« Ihre

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Stimme erstarb und lebte plötzliAwieder auf. »Sie müssen AnnasAuge sein.«

Die Hintertür des BlockhausesquietsAte klagend. Seit zwanzigJahren abgelagerter Staub wallteauf, als der Wind durA die offeneTür pfiff. Die Fensterläden warengesAlossen.Dr. Starr knipste das Licht nebender Tür an und war glückliA, dieStromversorgung intakt zu finden- offenbar hatte man sie niemalsunterbrochen. Große, verstaubteGlühlampen leuAteten auf, um»geben von altmodisA geformtenseidenen LampensAirmen, undzauberten die dämmerige Atmo=Sphäre herbei, die Barton Fonslowfür seine privaten Untemehmun»gen bevorzugt hatte.Starr maAte die Tür hinter sich zuund begann langsam herumzuge»hen, voller Unbehagen, die zwan=zigjährige Abgeschlossenheit desBlockhauses zu stören, die unbe=droht geblieben war - bis gesternnaAt irgendwer einen SAlüsselaus Mrs. Dieterlings Schreibtischgestohlen hatte!War dieser Schlüssel inzwisAenbenutzt worden? Starr glaubte esniAt. Die StaubschiAt auf den

Bodendielen zeigte nur die Spurenseiner eigenen Schritte. Er inspiazierte das SAlafzimmer, in demFonslow erschossen worden war.Er fand niAts, was sein Interesseerregt hätte. NiAt anders war esim Wohnzimmer, von dem eineTür in die kleine Küche führte.Auch hier fand er niAts, was ihmbedeutungsvoll ersAienen wäre,bis er die Herdringe abhob unddie Asche bemerkte.Spätestens am frühen NaAmittagdes ii. April 1952, so daAte er,moAte Mabel Wallace mit ihrerArbeit fertig gewesen sein und dasBlockhaus verlassen haben. AlsFonslow, der stets in der Stadt zuessen pflegte, gegen Abend nachHause kam, dürfte das Herdfeuer,das die alte Mabel zur Warmwas=serbereitung für den AbwasA oderaus sonst einem Grund benötigthatte, bereits erloschen oder amErlösAen gewesen sein. Am näA=sten Morgen, als sie Fonslows Lei»Ae fand, hatte Mabel noch keineZeit gehabt, ein neues Herdfeuerzu entfachen.Diese AsAe dort unten, daAteStarr, war also dieselbe Asche, diesich an jenem Abend im Herd be=funden hatte, als Fonslow getötetworden war.

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Und dies galt auch für das Stück-chen zusammengeknüllten Stoff.Er nahm es aus dem Feuerloch undglättete es vorsichtig. Ein Stück=dien Verbandstoff, das mit einerSchere von einem schmalen Hand=gelenk geschnitten worden war.Vom Handgelenk einer Frau. VonMarcellas Handgelenk?Ein dunkler, erhärteter Fleck, fastgenau gegenüber der Schnittstelle,behielt seine leicht nach innen ge°wölbte Form. Ausgetrocknete Ich=thyolsalbe, was leicht festzustellenwäre, dachte Starr.Ein merkwürdiges Schauderndurchrann ihn, als er inmitten deserhärteten Flecks den schwachen,aber deutlich erkennbaren Abdruckeiner yförmigen Narbe bemerkte.Ja, Ichthyol hatte die Eigentümlich=keit, im Eintrocknen seine dunkel=braune Farbe zu bewahren, aus=genommen dort, wo die Wunde esabsorbierte und ihren Abdruckhinterließ.Er dachte: Nach Mrs. DieterlingsWorten benutzte Marcella einenVerband mit Ichthyolsalbe zumerstenmal an jenem Tag, an dessenAbend Barton Fonslow erschossenwurde. Der gefundene Verbandbewies also ihre Anwesenheit imBlockhaus am Abend der Tat. Das

mußte stimmen, weil die Asche be"reits kalt war, als der Verband indas Feuerloch geworfen wurde -andernfalls wäre er verkohlt. Vomnächsten Morgen an stand dasBlockhaus zunächst unter der Kon=trolle der Polizei; dann wurde undblieb es verschlossen.Starr überlegte: Barton Fonslowmochte ein äußerst wählerischerMann gewesen sein - es hätte zuseinen sonstigen Eigenheiten ge»paßt. Marcella kam an jenemAbend, um ihn zu töten, aberwahrscheinlich wollte sie ihm vor»her eine letzte Chance geben. Lages so fern, zu vermuten, daß sieihn umarmt hatte, um seine er=loschenen Gefühle wieder zu ent»fachen? Ichthyol besitzt einen gar»stigen Fischgeruch. Fonslow könntedaraufhin irgendeine angewiderteBemerkung über den schmutzigen,stinkenden Verband gemacht ha»ben, die Marcella veranlaßte, denVerband abzuschneiden und in denKüchenherd zu werfen.Dr. Starr steckte seinen Fund indie Manteltasche. Er drehte, einsnach dem anderen, die Lichter ausund schloß die Tür hinter sich zu.Draußen umfingen ihn die grauenSchatten der Abenddämmerung.Er dachte daran, wie die arme neu»

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rotische Anna nun endlich gerecht»fertigt und die alte Mrs. Dieter»ling wieder Frieden finden würde.Und daß Felicity ihren netten jun=gen Mann heiraten konnte ,,,

Mrs. Dieterling erwartete ihn amoberen Ende der Treppe.Starr sagte: »Es besteht Hoffnung,Mrs. Dieterling. Große Hoffnung.«»Gott sei Dank.«»Wir haben genug, um uns mitDistriktsanwalt Hefferfield in Ver=bindung zu setzen. Ich kenne ihnsehr gut. Sie werden ihn um vieleszugänglicher finden als seinerzeitden Distriktsanwalt Johnson. Nunbleiben noch Miss Warbright undihr Chiffontüchlein.«Mrs. Dieterling unterdrückte denAnsturm ihrer Gefühle. Schwer aufden Spazierstock ihres geliebtenAlphons gestützt, stand sie da.»Gehen wir zu Marcellas Zimmer,Doktor? Bestimmt schläft sie jetztfest. Ich nahm mir die Freiheit, inihr Zimmer zu gehen, als sie imSpeisesaal beim Lunch saß, undzwei von den wirksamen Schlaf'tabletten, die Sie mir verordneten,in das Glas Fruchtsaft zu werfen,das sie stets vor ihrem Nadimit=tagsschläfchen zu trinken pflegt.«»Ja«, sagte er in einer Art hilfloser

Bewunderung, »dann wird sie jetztbestimmt sehr fest schlafen.«Er begleitete Mrs. Dieterling in eingroßes, hübsches Schlafzimmer mitschweren, reichverzierten Mahago»nimöbeln. Die Frau auf dem Betttat die tiefen, regelmäßigen Atem»züge festen Schlafes. Sie war, wieMrs. Dieterling sie beschriebenhatte - eine magere Frau mit fahl»braunem Haar.Starr knipste das Nachttischlämp»dien an und löste behutsam daskleine Chiffontuch von ihrem rech»ten Handgelenk. Er betrachtete dieentblößte Stelle genau und ausziemlicher Nähe, dann massierte ersie eine halbe Minute lang mit sei»nem Handballen.Er sagte: »Da ist keine Narbe.«Mrs. Dieterling wandte sich ab undging hinaus. Er folgte ihr, nachdemer das Chiffontuch wieder befestigtund das Nachttischlämpchen ge°löscht hatte, und machte die Türhinter sich zu.Schweigend gingen sie den Flurentlang und in Mrs. DieterlingsWohnzimmer. Miss Vernon, diefette Blondine mit den Drüsen»funktionsstörungen, saß neben derSpieldose am Erkerfenster - aus»gerechnet auf Mrs. DieterlingsLieblingssessel.

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Miss Vernon stand auf, als sie ein"traten. »Liebe Mrs. Dieterling! Ichwunderte mich schon, wo Sie wä»ren. Wie geht es Ihnen?«Sie watschelte ihnen entgegen undlegte als Ausdruck überschwengslicher Zuneigung ihre plumpenHände auf Mrs. Dieterlings Schuletern. Starr empfand einen leisenSchock; Mrs. Dieterling, die es ver»abscheute, berührt zu werden, trateinen halben Schritt zurück undsagte kühl: »Ich befinde mich wohl«auf, danke Ihnen, Miss Vernon.Sind Sie Doktor Starr schon be=gegnet?«»O ja, als er kam. Deshalb wollteich mich nach Ihrem Befinden er»kundigen. Ich habe angeklopft.«»Wir waren anderweitig beschäf»tigt.«»Ja - nun, ich denke, dann werdeich wieder gehen.«»Miss Vernon -«, Dr. Starr fühlteeine eigentümliche Spannung, alser ihr demonstrativ in den Wegtrat. »Mrs. Dieterling und ich wer»den von einem kleinen Problem ge°plagt. Möchten Sie uns helfen?«»Oh - äh, natürlich.-«Mrs. Dieterling bedachte Starr miteinem scharfen Blick; eine Spurvon Farbe erschien in ihrem ver=härmten weißen Gesicht.

Sie sagte: »Setzen wir uns.«Sie setzte sich in ihren Lieblings»sessel; Starr gestikulierte MissVemon auf den Stuhl, auf dem ervorhin gesessen hatte, und holtefür sich selbst einen anderen Stuhlherbei.»Sie waren gerade nach Hause ge°kommen, Miss Vemon?« fragteStarr.»Ja, vor kaum einer Minute.«»Sie fanden es draußen ziemlichkühl, nicht wahr?«»Eigentlich sogar bitter kalt, Dok=tor ... Vielleicht sagen Sie mir, wasIhr Problem ist?«»Sie sind das Problem, Miss Ver»non.«»Ich?«»Wann begannen Sie, Gewicht an=zusetzen? Vor zehn Jahren unge°fähr, nicht wahr?«»Wieso, wirklich - ich weiß nicht,was ich - ich meine, ich verstehenicht.«Starr sagte ruhig: »Das ist ein we»rüg mehr als bloße berufliche Neu»gier. Ich vermute, daß Sie an Drü=senfunktionsstörungen leiden. Ichkenne Fälle, in denen schlankeMädchen, die mit achtzehn oderzwanzig Jahren kaum mehr alsfünfundneunzig Pfund wogen, zehn

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Jahre später immer mehr Gewichtanzusetzen begannen, bis sieschließlich so schwer wurden wieSie, Miss Vernon. Ihr Haar istkünstlich blondiert, nicht wahr?«»Ich - nein, wirklich!«»Nein, nein - bleiben Sie bitte sit«zen. Ich wundere mich noch überanderes bei Ihnen. Da ist, zum Bei»spiel, die bemerkenswerte Tatsache,daß Sie als kleine Mitarbeiterinder Frauenvereinigung wöchentlichfünfzig Dollar für Wohnung undVerpflegung ausgeben können.«»Das ist doch geradezu unver"schämt! Ich habe eigenes Geld!«»Ah. Und weshalb tun Sie danndie schlechtbezahlte Arbeit für dieFrauenvereinigung? Nur wegen desgeheuchelten Interesses für die Auf»frischung alter Möbel, das es Ihnenermöglicht, alle Möbelstücke diesesHauses nach jenem Brief zu durch»suchen - nicht wahr?«»Geheucheltes Interesse? Brief?«Mrs. Dieterling hatte sich auf ihremSessel nach vom gebeugt. Sie stu=dierte aus kaum einem halben Me=ter Abstand Miss Vemons rechtesHandgelenk, bis Miss Vernon esärgerlich ihrem Blick entzog.Mrs. Dieterling schloß die Augenund seufzte, an Starr gewandt:»Sie irren sich. Da ist keine Narbe.«

Miss Vemon, nun vollends ver-ärgert, hob das rechte Handgelenkvor die Augen und studierte esihrerseits.»Narbe? Natürlich habe ich keineNarbe!«»Im Gegenteil«, sagte Starr.»Da, sehen Sie selbst!« fauchteMiss Vernon und hielt dem Dokstor das rechte Handgelenk hin.»Ich verlange eine befriedigendeErklärung für diesen unglaublichenVorfall!«Starr nahm Miss Vemons ausge»streckte Hand und hielt sie mit sei»ner Linken. Mit den Fingern seinerRechten massierte er die Haut überMiss Vernons rechtem Handge»lenk.»Narben, selbst wenn sie an undfür sich untilgbar sind«, erklärteer, »können trotzdem im Lauf derZeit und durch gewisse Umständefast unsichtbar werden, zum Bei»spiel durch starken Fettansatz.Aber das Hautgewebe über einerNarbe bleibt stets verdickt undweiß und faserig, Miss Vernon.«Sie verfolgte in fast hypnotischerErstarrung, wie seine Finger immerkräftiger massierten.»Über einer Narbe entwickelt sichkeine echte Epidermis mehr, MissVernon. Deshalb bringt ein äußerer

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Einfluß/ wie etwa Kälte, sie wie»der zum Erscheinen. Die Haut rings»um rötet sich, die Narbe hingegenbleibt weiß. Sie waren gerade vondraußen gekommen, aus der Kälte,und als Sie Ihre Hände zur Begrü=ßung auf Mrs. Dieterlings Schul=tem legten, hatte die Temperaturim Haus die Narbe noch nicht un=sichtbar machen können.«»Aber als ich hinsah -«, begannMrs. Dieterling.»Ja, ganz recht - da war sie schonunsichtbar geworden. Doch nun istes so, daß Reiben denselben Effekterzielt wie Kälte - es rötet die Hautringsum, während die Narbe weißbleibt. Wie diese hier, Miss Dorf»rey - sehen Sie?«Die dicke Frau war blaß geworden.Sie starrte hinab auf ihr rechtesHandgelenk mit der yförmigenNarbe, die jetzt ganz deutlich zuerkennen war. In ihren weit auf=gerissenen Augen standen Schrek=ken und Angst, eine seit zwanzigJahren aufgestaute Angst.Mrs. Dieterling löste den Handgriff

von Alphons' Lieblingsspazier»stock.»Das Stilett habe ich schon vorJahren entfernt«, sagte sie. »Seit»dem ist hier drinnen der Brief ver=borgen gewesen. Der Brief, Mar=cella, den Barton Fonslow Ihnenschrieb...«

Eine Stunde später, nachdem Di»striktsanwalt Hefferfield mit seinenLeuten gekommen war und Mar=cella Dorfrey abgeholt hatte, kehr=te Dr. Starr zusammen mit Feli=city in Mrs. Dieterlings Wohnzim'mer zurück.Mrs. Dieterling, die elfenbeinernzarten Finger ihrer Rechten überdie Lippen gelegt, gebot Schweigen,bis die letzten Töne der Spieldoseverklungen waren.»Der Liebe altes, süßes Lied«, mur=melte sie. »Ich habe es für Annagespielt. Sie mochte es so sehr. Siefand es so - so wohltuend, so be=ruhigend, so tröstlich. Jetzt wird siesagen, es habe ihr Frieden ge=schenkt...«

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Cop Calhouns dienstfreie Nacht

Sie konnten kaum eine Stunde imBett gewesen sein, als Calhoun be=nommen gewahr wurde, daß Ellenihn am Arm schüttelte. Obwohl erihre Worte hörte und ihre aufge=regten Atemzüge/ wurde er — wieimmer - nur langsam wach, mitdem seltsamen Gefühl, daß seinVerstand in Stücke zerbröckelt sei,die er nun erst zusammenpassenmüsse, damit der Verstand wiederfür ihn arbeiten könne.Nachdem er die Telefonnummerder Taxigesellschaft gewählt undschlaftrunken gestammelt hatte,wohin sie das Taxi schicken sollten,gähnte er und wiegte, auf demBettrand sitzend, seinen großen ro=ten Kopf zwischen den ausgestütz=ten Händen hin und her. Dannstöhnte Ellen hinter ihm, und ersprang auf, hitzige Verwünschun»

gen über seine Schlaftrunkenheitmurmelnd.Er machte das Fenster zu, knipsteeine Tischlampe an und tappte aufbloßen Füßen in die Küche hinaus,um das Gas in der Bratröhre desHerdes anzuzünden, damit Elleneinen warmen Platz hätte, wo siesich anziehen konnte. Dann kamer ins Schlafzimmer zurück, hobEllen aus dem Bett, als habe sie sogut wie überhaupt kein Gewicht,und schaukelte sie behutsam aufseinen Armen.»Wie ist es?« fragte er heiser. »Sollich Doktor Cotter anrufen? Soll ichihn herkommen lassen?«Ellen drückte ihren Kopf an seineSchulter. Er glaubte zu spüren, wiesich ihr Körper verkrampfte.»Bring mich in die Küche zu mei=nen Kleidern«, sagte sie schließlich

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ziemlich leise. »Ruf ihn noch nichtan, John. Das tun sie vom Hospi=tal aus. Es ist schon gut. Es - ichbin froh, daß es angefangen hat.Ich denke, es wird bald vorübersein.«»Sicher«, murmelte Calhoun, »si°eher.« Das Küchenlicht stach inseine Augen. Er sah auf der Uhrüber dem Kühlschrank, daß es erstvier Minuten nach Elf war. Erstammelte unzusammenhängendeSätze, um ihr zu helfen. Er ver»suchte sie zu überzeugen, daß esnicht schlimm würde, daß sie heut»zutage allerlei hätten, um es ihr zuerleichtem, und daß sie wahrschein-lich gar nichts merken würde, bisalles vorüber war.»Ja«, flüsterte Ellen. »Reg dich nichtso auf, John. Mein Koffer steht imKorridorschrank, fertig gepackt.Stell ihn neben die Wohnungstür,damit wir ihn nicht vergessen,wenn wir gehen. Und nun geh undzieh dich an, ich komme alleine zu"recht. Wir müssen uns beeilen, umunten zu sein, wenn das Taxikommt.«Calhounbeeilte sich, er schien imNumit dem Anziehen fertig zu sein,schneller denn je. Doch Ellen warvollständig bekleidet, als er wiederin die Küche kam; ihm blieb nichts

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weiter zu tun, als ihr in den Man=tel zu helfen. »Na gut«, sagte eratemlos, »dann können wir gehen.«Der formlose alte Ulster, den erlieber mochte als seinen anderenMantel, weil er groß und dick warund weil er seinen Dienstrevolverdarunter oder gar in einer der Sei»tentaschen tragen konnte, ohnedaß es auffiel, hing an einem Ha»ken im Korridor. Calhoun nahmihn im Vorübergehen mit. SeinSchießeisen und das Polizeiabzei»dien lagen auf dem Schreibtisch imWohnzimmer, aber er holte sienicht. Calhoun war heute nachtdienstfrei.Ellen schickte ihn noch einmal zu°rück, um das Küchenlicht auszu-knipsen, und erlaubte ihm nicht,sie die Treppe hinunterzutragen.Im Hausflur sah er ihr ins Gesichtund bemerkte die zitternde Starreihres Lächelns und die kleinenSchweißtropfen neben ihren Mund»winkeln. Als er tröstend einen Armum sie legte und sie an sich zog,fühlte er ihr Herz schlagen - ganznormal, wie es ihm schien. Seineigenes Herz klopfte viel stärker,es schlug wie ein kleiner Dampf»hammer gegen seine Rippen.Im nächsten Moment fuhr das Taxivor. Er war mit Ellen schon dräu«

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ßen auf der Vortreppe, ehe derFahrer dazu kam, ein Hupsignal zugeben.Dann saßen sie im Taxi und fuh=ren los, und für Calhoun war esschlimmer als vorher, denn nunblieb ihm gar nichts mehr zu tun,bis sie dort waren, und Ellens Ge=sieht, weiß und wie erstarrt unterden dunklen Schatten um ihreAugen, erstickte ihm fast die Wor=te im Mund.»Ist es schlimm?« fragte er.Sie schüttelte den Kopf, als wünschesie nicht, daß er spräche, und dannplötzlich schien sie sich wieder ganzwohl zu fühlen.»Wer von uns kriegt eigentlich dasBaby?« fragte sie und lächelte ihmzu. »Ich möchte nicht, daß du dieganze Nacht im Hospital herum"hockst. Geh nach Hause und siehzu, daß du noch ein paar StundenSchlaf findest. Sie werden dich an»rufen, wenn irgend etwas ist. Wenndu dableibst, würdest du mir bloßKummer machen.«»Ich werde ein Weilchen warten«,murmelte Calhoun. Es war schwerzu ertragen/ wie deutlich sie ihmzu verstehen gab, daß er ihr jetztgar nichts helfen konnte. Undplötzlich befiel ihn ein erschrecken»der Gedanke: Daß er jetzt vielleicht

zum letzten Male mit ihr in einemTaxi fuhr. Frauen sterben biswei«len bei der Entbindung.Nicht Ellen, dachte er einen Mo»ment später. Warum nicht, schoßes ihm durch den Sinn, warum aus»gerechnet sie nicht? Weil sie ein»fach nicht sterben darf, dachte er,weil ich sie einfach nicht sterbenlasse.Aber er wußte, daß er hilflos war,und verworrene Erinnerungen anihre erste Begegnung, an das ersteMal, da sie zusammen ausgegan»gen waren, erfüllten ihn mit jäherWehmut.Er dachte daran, wie glücklich sieimmer miteinander gewesen waren.Und dann - es ging natürlich schonseit Monaten, aber irgendwie so,als beträfe es nicht sie beide, son=dem irgendwelche anderen Leute.Und jetzt, in dieser Nacht - Cal=houn schluckte. Er dachte, sie wä=ren eigentlich verrückt gewesen,sich auf dieses Risiko einzulassen.Ja, verrückt!Alle diese Gedanken, so aufdring»lieh und unabweisbar, schienen ihnschon in die Zukunft zu führen, sodaß er eigentlich gar nicht mehrhier im Taxi saß und Ellens Handhielt; er war bereits eine Wocheweiter, oder einen Monat, und

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dachte daran zurück, daß er esschon gewußt hatte, damals imTaxi. Es war das letztemal, daßsie-Im Hospital ließ sich eine kleinedunkle Schwester seinen Namen sa=gen und bat sie dann, einen Mo=ment Platz zu nehmen, währendsie sich wegen des Zimmers erkun=digte.Calhoun legte seinen Hut auf denFußboden und versuchte, ganz hei»ter und zuversichtlich zu sein.»Wenn es ein Mädchen ist«, sagteer, »lassen wir sie später Polizistinwerden. Ich wette, du hättest deineFreude daran.«Aber da war mit einemmal wiederder merkwürdige Ausdruck in El=lens Gesicht, und sie antworteteihm nicht. Wo blieb bloß die Schwe=ster? Stunden schienen zu verge=hen, ehe sie zurückkam.»Die Entbindungsstation ist imsechsten Stock«, sagte sie, »und ichdenke, wir werden Mrs. Calhounlieber gleich hinaufbringen. Nein,danke, ich trage den Koffer. Siemüssen hierbleiben. Der Warte'räum ist dort drüben.«Ellen küßte ihn auf die Wange, under berührte ihre Schulter. Dannsah er ihr nach, wie sie der Schwe=ster zum Aufzug folgte. Als sie den

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Auf zug betrat, erhielt er noch einenganz kurzen Blick von ihr, und erwar sich nicht sicher, ob sie weinteoder ob es nur ein Lichtreflex ge°wesen war. Selbst wenn sie sichelend fühlte, würde sie es ihn nichtmerken lassen. Ellen war nun malso.Eine Weile stand er im Vestibülherum und versuchte sich etwasauszudenken, irgend etwas, womiter ihr helfen könnte. Aber es fielihm nichts ein, so daß er schließlichseinen Hut vom Boden aufhob undin den Warteraum ging. Dort hielter es nicht aus, weil er einfachnicht stillsitzen konnte, und kehrteins Vestibül zurück.Ein kleiner, aber sehr aufrechterjunger Mann in weißem Arztkittelhatte sich auf einer Ecke von MissBiddles Anmeldeschreibtisch nie»dergelassen. Calhoun war ihmwährend der vergangenen paarMonate einigemal dienstlich be=gegnet - das letztemal in einemwinzigen Hotelzimmer, wo ein to=tes junges Mädchen friedlich aufdem Bett lag und nichts von derTragödie erkennen ließ, durch diees zum Selbstmord getrieben wor=den war. Der junge Dr. Minacom- Windy Minac für das Hospital»personal - hatte ein scharf ge=

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schnittenes, intellektuelles Gesichtund blondes, spitz aus der Stirn=mitte emporstrebendes Lockenhaar.Er begrüßte Calhoun mit einemLächeln.»Fein, fein«, sagte er, »ein Baby!Und ich wußte nicht mal, daß Sieverheiratet sind.«»Keine Witze jetzt«, entgegneteCalhoun mit finsterem Blick. »Da»bei gibt es nichts zu scherzen.«»Oh, fassen Sie es nicht verkehrtauf«, beruhigte Dr. Minacorn. »Essollte kein Scherz sein.«Calhoun wandte sich ab, ohne ihmzu antworten, und ging wieder inden Warteraum. Wenn es bloßirgend etwas gäbe, das er tunkönnte...Ein fetter Mann schlief seelenruhigauf einem der unbequemen Warte'zimmerstühle und wachte nicht auf,bis eine knochendürre Schwester inweißer Tracht zur Tür kam undseinen Namen rief.»Ihre Frau hat ein Mädchen«, sagtesie. »Beiden geht es gut. In einerhalben Stunde können Sie nachoben und sie sehen.«Gähnend setzte sich der Mann aufund dankte ihr. »Aber, du lieberHimmel«, äußerte er gleichmütigzu Calhoun/ nachdem die Schwe»ster gegangen war, »eigentlich

würde es doch genügen, wenn ichsie morgen sehe. Nach den erstendrei macht es nicht mehr viel Un=terschied. Ich muß ja noch etwasSchlaf kriegen. Werde der Anmel-dung Bescheid sagen.« Er erhobsich und ging hinaus.Da fehlen einem die Worte, dachteCalhoun. Er wand seine Finger um»einander, daß die Knöchel knack=ten, trat ans Fenster, ging zu sei=nem Stuhl zurück und dann wiederans Fenster. Er dachte unaufhörlichan Ellen. Jetzt, wenn er sie verliesren sollte, würde er erst wirklichwissen/wie sehr er sie geliebt hatte,und er würde nie eine andere lie°ben können.Dreimal innerhalb einer halbenStunde ging er zu Miss Biddle.»Tut mir leid«, sagte sie jedesmal,»aber sie haben noch nicht herun=tertelefoniert. Sie geben erst dannBescheid, wenn sie sie ins Entbin=dungszimmer bringen.«»Ja, ja«, murmelte Calhoun beimdrittenmal ergeben und fuhr sichmit einer Hand bekümmert überden Kopf. »Ich weiß schon, daß icheine Plage für Sie bin. Und ich habefrüher im Kino oft über solche Sa=chen gelacht. Nur ist es gar nichtso komisch, wenn es einem selbstpassiert.«

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Dr. Minacom, der aus dem Hofzurückkam, wo er schnell eine Zi=garette geraucht hatte, bemerkteihn, als er eben wieder im Warte=räum verschwand. »Na, wie hältunser Polizist durch?« fragte erMiss Biddle. »Wird er ein Beruhi»gungsmittel brauchen?«»Ich wünschte. Sie gäben ihm et»was«, seufzte Miss Biddle. »Viel»leicht eine starke Spritze, die ihnfür den Rest der Nacht außer Be»trieb setzt. Alle fünf oder zehnMinuten kommt er an und fragt.«»Durchaus verständlich.« Dr. Mi°nacorn setzte sich wieder auf dieEcke des Schreibtisches. »Etwas wiedies verwirrt unseren Freund. Waskann er dabei tun? Für einen Mannwie Calhoun ist das Wartenmüsssen ein unerträglicher Zustand.«Jetzt, dachte Miss Biddle, jetztkommt Windy Minac wieder malin Fahrt. Sie murmelte bloß »uhhuh«, um ihn nicht zu ermutigen,und beugte sich über ihre Papiere.Aber Dr.Minacorn rückte die Brilleauf seiner schmalen Nase zurechtund dozierte weiter. Eines Tageswürde er wirklich als Dozent imHörsaal stehen; bis dahin konnteständige Übung nicht schaden,selbst bei einem Auditorium vonnur einer Person.

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»Calhoun, sehen Sie, ist ein Mannder Tat, nicht des Gedankens. Hal=ten Sie ihn physisch beschäftigt,dann wird die empfindungsmäßigeSeite der Dinge ihn nicht allzusehrberühren. Gerade jetzt, natürlich,ist er in äußerster Bedrängnis. Ichglaube sicher, daß er seine Frauliebt. Er scheint über alle Maßenbesorgt um sie. Aber es gibt nichts,was er in dieser Situation für sietun kann, und das nagt an seinemGemüt. Ein Mann wie Calhoun/insbesondere ein Polizist, ist anAktivität in ihren primitivsten Er=scheinungsformen gewöhnt. Undwenn man darüber nachdenkt, ent«deckt man, daß der Platz des Poli»zisten in der modernen Weltäußerst interessant, wenn auchnicht ohne innere Widersprücheist.«Diesesmal versuchte Miss Biddleüberhaupt keine Bemerkung. DasVestibül war leer, von nirgendwonahte Hilfe. Sie schrieb weiter.»Äußerst interessant, wenn auch,wie gesagt, nicht ohne innere Wi=dersprüche«, wiederholte Dr. Mi»nacorn, offenbar selbst fasziniertvon einer Idee, die ihm ganz un=Versehens durch den Sinn gefahrenwar. »Nehmen Sie den durch»schnittlichen sozialen Hintergrund

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unserer Polizisten, und Sie stoßengleich zu Anfang auf eine verblüf»fende Tatsache - nämlich, daß un=sere Verbrecher und Strolche undunsere, äh, Beschützer überwiegenddem gleichen sozialen Milieu entastammen. Ziehen Sie überdies dieimmer mehr um sich greifendenPolizeimethoden in Betracht, sofinden Sie in zweifacher Hinsichtbestätigt, daß viele, sehr viele un°serer Polizisten heutzutage lega=lisierte Gangster sind ... Jawohl,legalisierte Gangster! Weshalbglauben Sie, ist Calhoun Polizistgeworden? Erstens, natürlich, weiler phantasielos ist und eine Obrig»keit braucht, für die er schuftenkann. Und zweitens, weil ihm die«ser Job ein verhältnismäßig leichtesDasein beschert, mit einer kleinen,billigen Autorität in seinem Wir»kungskreis, mit gesicherter Alters»Versorgung und anderen leicht be-greiflichen Vorteilen, aber ohne dielästige Verpflichtung, nennenswer»te Gedankenarbeit leisten zu müs=sen. Wie die überwiegende Mehr»zahl seiner Kollegen wird er nureben soviel von seinen Pflichtentun, wie er unbedingt muß, um da'mit durchzukommen. Die sozialenProbleme als Ganzes bedeuten ihmgar nichts.«

Als er innehielt, um Atem zuschöpfen, erkannte Miss Biddle,daß es jetzt oder nie sein mußte.Wenn Windy Minac erst richtigloslegte -»Wen«, fragte sie, »wen werdenSie zum Alumnatstanz mitneh-men?«

Im Wartezimmer hatte Calhoundas Gefühl, sein Mund sei trockenund heiß wie ein Ofen. Kein Lautauf der nächtlichen Straße dräu»ßen; Stille im Hospital. Calhoundachte an die vielen Menschen aufder Welt; jede Sekunde wurdenneue geboren, jede Sekunde ster=ben welche. Er dachte daran, wieglücklich Ellen und er gewesen wa=ren, und plötzlich erschreckte ihndie Erinnerung an ihr Glück, weiles doch hieß, daß gerade die Glück»liehen von plötzlichen Schicksals»schlagen getroffen würden. Viel=leicht, wenn er sie nicht so sehrliebte - und er liebte sie eigentlichgar nicht so sehr, wahrhaftig,nein —/ vielleicht geschähe ihr dannnichts. Nichts, lieber Gott, flüsterteCalhoun. Weil sie seine Frau warund er sie liebte, und wenn sie.starb, würde er auch tot sein. Wie»der kam Panik über ihn.Miss Biddle an ihrem Schreibtisch

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murmelte etwas, als sie ihn ausdem Warteraum auftauchen sah.Und Dr. Minacom, der in diesemMoment mit Hut und Mantel ausdem Nachtdienstzimmer trat, bliebbei Miss Biddles Schreibtisch ste»hen, um auf Calhoun zu warten.»Großartig«, sagte er, überwältigtvon einer plötzlichen Eingebung -dem Mann der Tat konnte etwaszu tun gegeben werden. »Was hal°ten Sie von einer kleinen Spazier»fahrt mit mir, Calhoun? Bekameben einen Anruf durchgesagt.Muß einen Besuch machen.«Calhoun sah ihn an, als sei er nichtganz sicher, wer da zu ihm spräche;dann starrte er fragend zu MissBiddle hinab.»Wegen Ihrer Frau brauchen Siesich keine Sorgen zu machen«, er=klärte Dr. Minacorn zuversichtlich.»Bei ihr ist alles völlig in Ordnung.Aber das erste Baby läßt sich im=mer Zeit mit dem Kommen. Hatdie Entbindungsstation von sichhören lassen, Miss Biddle?«Miss Biddle schüttelte den Kopf.»Noch nicht wieder. Der letzte An=ruf besagte, die Wehen verliefennormal.«»Dann haben Sie noch Zeit«, sagteDr. Minacom und legte eine Handauf Calhouns Arm, »Und wir wer»

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den kaum zehn Minuten fortblei»ben. Kommen Sie, Mann. Es wirdIhnen gut tun.«Calhoun wußte, daß er nicht in denWarteraum gehen und einfach wev>ter da sitzen konnte. Er würde ir=gend etwas Verrücktes tun, wenner wieder warten mußte. Nach kur=zem Zögern nahm er seinen Hutund folgte dem Doktor in den Hofhinaus, wo ein Ambulanzwagenwartete.»Mr. Calhoun kommt mit«, sagteDr. Minacom beim Einsteigen zudem Fahrer. »Fahren wir, Eddie.«Auf dem Vordersitz gegen denDoktor gedrängt, wurde es Cal=houn sofort klar, daß er liebernicht hätte mitfahren sollen. An=genommen, sie telefonierten indiesem Moment, und er wäre nichtda. Angenommen, Ellen verlangteihn zu sehen, und sie müßten ihrsagen, er sei fortgegangen, erhabe —Die Fünfminutenfahrt schien keinEnde zu nehmen. Sobald Eddie denWagen an der Bordschwelle stopp»te, war Calhoun als erster draußen- um diese Sache so schnell wiemöglich hinter sich zu bringen.»Dreiunddreißig«, sagte Minacommit einem forschenden Blick aufdie Reihe der billigen Wohnhäuser

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vor ihnen, »das ist dieses zweitedort, mit den Mülltonnen davor.Sagten sie, was los ist?«»Nein«, erwiderte der Fahrer, »ichbekam nur die Adresse.«Es war eine düstere Straße, erfülltvon schweren Schatten. Calhounfolgte ihnen um die Mülltonnenherum in einen verwahrlostenHausflur und eine hölzerne Treppehinauf. Auf dem ersten Treppen»absatz schaute Minacorn umher.»Kein Name angegeben, Eddie?Diese Leute denken nie -«Kopf und Oberkörper eines Jun=gen erschienen an dem Geländerüber ihnen.»Hier oben ist es«, sagte der Junge.»Noch eine Treppe, Mister.«Minacorn eilte mit flinken Beinenhinauf. »Und was ist los?« fragteer. »Wer ist krank?«»Pietro«, antwortete der Junge undblickte aus dunklen Augen zwi=sehen ihnen hin und her. »Er wohntbei meiner Mutter. Er ist da drin=nen, hinter dieser Tür.«Eine grauhaarige Frau mit einen!Schal um die Schultern, die auseiner anderen Tür aufgetaucht war,sprach in ratterndem Italienisch aufden Jungen ein. Der Junge blicktezu ihnen empor und leckte sich dieLippen,

»Sie sagt, sie will ihn nicht mehrhier haben. Sie hat Angst vor ihm.Sie sagt. Sie müssen ihn fortbrin»gen.«»Zuerst sehen wir ihn uns mal an.«Minacorn näherte sich der Tür, dieder Junge bezeichnet hatte. »Dadrinnen ist er, sagtest du?«»Vorsicht, Mister!« warnte derJunge.Die Frau begann wieder auf italie»nisch zu rattern; ihre Stimme warschrill.»Schweigen Sie!« sagte Minacornscharf und mit einer entsprechensden Handbewegung. »Wir tun ihmnicht weh.« Er riß die Tür auf.Über Minacorns Schulter hinwegsah Calhoun in der hellerleuchtetenKüche einen Mann stehen, derihnen entgegenstarrte - einen ma=geren, großen Mann mit wirremschwarzem Haar und glitzerndenschwarzen Augen, aus denen derWahnsinn leuchtete. Er hielt einGewehr in den Händen.»Was, zum Teufel -«, keuchteEddie, sprang zur Seite und warfdie Tür zu, unmittelbar bevor derMann feuerte.Dr. Minacorn, der bereits einenSchritt weit in der Küche war, hattekeine Chance, wieder herauszu=kommen. Er konnte sich nur noch

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vor der Kugel ducken, die dichtüber seinem Kopf durch die Rauh»glasscheibe der oberen Türhälftepfiff. Calhoun hatte MinacomsSchatten über die Rauhglasscheibehuschen sehen; im nächsten Mo»ment erlosch das Licht in derKüdhe.Flach gegen die Wand gedrückt,starrte Eddie aus schreckgeweitetenAugen auf Calhoun. Der Junge undseine Mutter standen zusammen»geduckt zwischen ihnen und hiel»ten sich umarmt. Die Stimme desschwarzhaarigen Mannes kreischteirr aus der dunklen Küche.»Er ist verrückt«, wisperte derJunge. »Er war die ganze Wocheseltsam und zeigte mir Löcher inder hölzernen Balkonbrüstung -von den Kugeln, die seine Feindeauf ihn geschossen hätten. Heuteabend, als er plötzlich mit einemGewehr herumhantierte, bekamMama Angst. Ich mußte Sie anru»fen.«Jenseits der Tür sagte Dr. Mina=corn etwas, aber seine Stimme warso leise und unsicher, daß Calhoundie Worte nicht verstand. Sofortantwortete der andere Mann mitgrellem Italienisch.»Jetzt sagt er, er wird ihn umbrin=gen«, flüsterte der Junge, eng an

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die Mutter gepreßt; sein kleinesGesicht war weiß wie Papier,Calhoun sah einen Moment zu ihmhinab, dann blickte er den Fahreran. »Irgendwer muß da hineinge=hen«, knurrte er.»Ich nicht«, keuchte Eddie und gingrückwärts zwei oder drei Stufen dieTreppe hinab. »Ich nicht. Für soetwas muß ein Überfallkommandoher. Ich habe sein Gewehr gese=hen.«Calhoun rieb sich das Kinn undschaute umher. Aus den meistenTüren des Etagenflurs spähten ver°ängstigte Gesichter, oben und un=ten auf den Treppenpodestendrängten sich fluchtbereite Gestal=ten in Nachtgewändem. Aus derKüche ertönte noch immer dieStimme des Verrückten.»Was sagt er jetzt?« fragte Cal"houn.Der Junge lauschte zitternd. »Ersagt, er weiß, wer er ist und erwird ihn umbringen. Er sagt, ersoll sich hinknien.«Calhoun sah zu der Tür, aus derdie Frau gekommen war - sie führ«te in ein neben der Küche gelegenesschmales Zimmer mit einem Tisch,auf dem eine Lampe brannte; amEnde des Zimmers war eine halbgeöffnete Tür, die in einen unbe°

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leuchteten Korridor zu mündenschien; gewiß gab es im Zimmernoch eine weitere Tür zur Küche,aber das konnte Calhoun von dort,wo er stand, nicht erkennen. Ohneeinen klaren Plan zu haben, nä"herte er sich der Zimmertür.»Machen Sie hier draußen Lärm,soviel Sie können, damit er michnicht hört«, raunte er über dieSchulter zu Eddie. »Ich will versu"chen, von einer anderen Seite indie Küche zu kommen.«»Die Küche hat drei Türen«, jappteder Junge atemlos, »die zweite istdort im Zimmer, die dritte hintenim Korridor.«Eddie begann auf den Treppenstu»fen herumzustampfen, laut zu re-den und in die Hände zu klatschen.Calhoun erreichte das Zimmer undfand bestätigt, was er nach denWorten des Jungen vermutet hatte- der Tisch mit der brennendenLampe befand sich genau gegen»über der zweiten Küchentür, unddie Rauhglasscheibe dieser Türreichte bis ins unterste Türdrittelhinab.Er hatte sich für die Benutzung derdritten Küchentür entschieden, derTür zwischen Küche und Korridor;aber um dorthin zu kommen, muß»te er zunächst die zweite Küchen»

tür passieren, und dabei würde dieverwünschte Tischlampe seinenSchatten auf der Rauhglasscheibeerscheinen lassen. Hinter der Lampekonnte er nicht vorbeigehen, dennder vermeintliche Tisch, auf demsie stand, war in Wirklichkeit einean die Wand gerückte Kommode.Er hätte die Lampe ausschaltenkönnen, gewiß. Doch das wäre demWahnsinnigen in der Küche be»stimmt nicht entgangen - ebenso»gut hätte er anklopfen und fragenkönnen, ob er eintreten dürfe.Nein, die Lampe konnte er nichtberühren; er mußte sie brennenlassen, wenn er in die Küche ge=langen wollte, ehe der irrsinnigePietro merkte, daß er kam.Auf Händen und Knien kroch eran der Lampe vorbei und erreichteden Korridor jenseits des Zimmers.Die Tür zwischen Korridor undKüche, ebenfalls mit einer Rauh=glasscheibe versehen, die hinab bisins unterste Türdrittel reichte, warnur angelehnt.Dicht hinter dieser Tür stehend,konnte Calhoun in der Küche nichtviel mehr wahrnehmen als bläu=liehe Dunkelheit, geradeaus undauf der rechten Seite ein wenig auf=geheilt durch das matte Licht, dasdurch die Türen zum Treppenflur

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und zum nebenanliegenden Zim»mer fiel. Von Doc Minacorn undPietro war nichts zu sehen. Aberdie Stimme des Wahnsinnigenverriet seinen ungefähren Stand»ort.Hätte man Calhoun in diesem Mo=ment gefragt, weshalb er eigentlichin die Küche wollte, wäre er wahr»scheinlich nicht imstande gewesen,eine logisch begründete Antwortzu geben. Irgend jemand, würde ervielleicht gesagt haben, mußte jadort hineingehen. Und wer könntees versuchen, wenn nicht er? Die»ser Eddie? Calhoun wußte, daß esan ihm war und an keinem ande»ren. Er versuchte in die Küche zukommen, genauso wie Dr. Mina=corn nach dem Handgelenk einesPatienten gefaßt haben würde, umden Puls zu fühlen. Nicht nur des»wegen, weil er ein Cop war, undganz bestimmt nicht deswegen,weil es sich um Dr. Minacorn han=delte, der da drinnen in Nöten war- Calhoun hätte es auch für einenvöllig fremden Mann versucht.Das einzige, worüber er sich imMoment Gedanken machte, wardie Frage, ob der wahnsinnigePietro nicht etwa doch ahnte odergemerkt hatte, daß er kam, undnun versuchte, ihn in eine Falle zu

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locken. Aber die Antwort auf dieseFrage konnte er nur finden, indemer weiterging.Behutsam machte er sich daran, dieangelehnte Tür zu öffnen. SeineAugen, inzwischen an die Dunkel=heit gewöhnt, begannen Gegen=stände in der Küche zu unterschei=den - einen Stuhl, einen Tisch,dann eine Gestalt mit einem Köf=ferchen in der Hand. Und die wei=ßen Hosenbeine unter dem dünkelen Mantel verrieten, daß es Dr.Minacorn war.Aus der Art, wie Minacorn denKopf hielt, konnte Calhoun schlie=ßen, wo der Wahnsinnige stand -irgendwo rechts neben der Türzum Durchgangszimmer, wahr=scheinlich bis in die äußerste Eckeder Küche zurückgezogen. Da wür»den also drei bis dreieinhalb Me=ter zu überwinden sein, und esmüßte verdammt schnell geschehen;aber Calhoun glaubte, er könnte esscharfen. Selbst Minacorn hatte ihnnoch nicht bemerkt; Minacornstand neben dem Tisch, steif undreglos, als wäre er zu Stein er=starrt.»Nun hören Sie doch«, sagte ermit einer Stimme, die sich trotz al°ler Anstrengung nicht ruhig haltenließ, »ich bin gekommen, um Ihnen

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zu helfen. Ich bin Arzt. VersuchenSie, das zu verstehen - ja? Ich binnicht Ihr Feind. Ich will Ihnennichts zuleide tun. Wenn Sie nureinfach versuchen wollten zu ver=stehen -«Seine Worte erreichten den Wahn=sinnigen nicht. Dr. Minacorn sahdas und empfand furchtbare Angst;seine bleichen Wangen hoben sichdeutlich aus der Dunkelheit ab,deutlicher beinah, als die schwa=chenLichtreflexe auf seinen Brillen=gläsern. Oft zuvor hatte er denTod gesehen, ohne ihn jemals füretwas allzu Wichtiges oder beson=ders Schreckliches zu halten. WennMänner oder Frauen, deren Namener kaum kannte, in dieser oder je=ner Station des Hospitals starben,taten sie ihm natürlich leid. Aberwas hatte das mit ihm zu tun, demjungen kerngesunden Dr. med.Kevin S. Minacorn, der eben amAnfang einer erfolgverheißendenLaufbahn stand und den bestenTeil des Lebens noch vor sich hatte?Was ging es ihn an? Irgendwann,in weit entfernter Zukunft, würdeallerdings auch seine Stunde schla=gen - das war unvermeidlich, selbstfür ihn. Na und, hatte er gedacht,der junge Dr. Minacorn mit seinerverheißungsvollen Zukunft, bis da»

hin bleibt noch eine halbe Ewig=keit, und was macht es mir dann?Doch jetzt, da die halbe Ewigkeitso erschreckend zusammenge»schrumpft schien, machte es einengroßen Unterschied. Hinten, in derdunkelsten Ecke der Küche, konnteer das Gesicht des Wahnsinnigensehen, der ihn belauerte wie einmörderisches Tier - er konnte dieUmrisse dieses Gesichtes sehen,lang und fahl, und die Augen, dieselbst in dieser Finsternis nochglitzerten. Aber am klarsten vonallem, am schärfsten von allem,konnte er das Gewehr sehen.Und er, der junge Dr. Minacorn,wünschte nicht auf solche Art zusterben - blöd und närrisch, ohneden geringsten Sinn; es gab soviele Dinge, die er noch zu erledi»gen hatte. Irgendwann, natürlich,irgendwann einmal mußte der Todkommen. Aber nicht jetzt, nichtjetzt! Weshalb überhaupt geradejetzt? Er war doch dieses MannesFreund, er wollte ihm doch helfen.»Nun hören Sie doch, versuchenSie doch zu verstehen -«Er wagte nicht, sich zu bewegen,nicht einmal seine Arme; er wußte,daß der Wahnsinnige sofort aufihn schießen würde, wenn er nurdie geringste Bewegung machte.

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Vielleicht bloß noch ein paar Se=künden/ und er wäre tot. Niemandwürde ihm helfen - weder Eddienoch Calhoun, noch sonst irgend"wer. Weshalb sollten sie? Wenn erdraußen wäre/ würde er auch nichthereinkommen. Aber Schmach undSchande über sie, weil sie ihn imStich ließen, dachte er unlogisch;oh, Schmach und Schande über sie!Er war der gutgläubige Narr gewe"sen; er war als erster hineingeganegen und in die Falle geraten.Calhoun sah ihn dastehen undlautlos die Lippen bewegen. Wasversuchte er zu sagen? Calhounkonnte es nicht ausmachen.Calhoun bereitete sich auf den An«griff vor, einen sehr vehementenAnsturm über zwei oder dreiein»halb Meter Distanz, den er übri=gens nicht als eine Sache empfand,für die er bezahlt wurde. Nicht weiler ein Cop war, würde er sich aufden Wahnsinnigen stürzen, son=dem weil es von Jugend auf irgendetwas in ihm gab, das ihn dazuzwang, anderen zu helfen - das=selbe Gefühl vielleicht, das ihn ver=anlaßt hatte, ein Cop zu werden.Doch etwas hielt ihn zurück. Erfragte sich, warum er nicht stehen»bleiben könne, wo er stand, bis dasÜberfallkommando käme oder der

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zuständige Streifenpolizist odersonst jemand, der ihm wenigstensein bißchen helfen würde? Ja, ver»dämmt -• warum sollte er nicht ein"fach abwarten, wie sich Minacomaus der Affäre zöge? Was ging esihn überhaupt an? Nicht mal leidenkonnte er diesen Burschen.Aber diese Gedanken schlugenkeine Wurzeln in seinem Sinn.Hier durfte keine Zeit mehr ver»schwendet werden; er mußte sichbeeilen, daß er ins Hospital zurück-käme. Vielleicht war das Kind jetztschon da - sein Kind.Sein Kind. Eine merkwürdige Vor°Stellung. Irgendwie unbegreiflich.Calhoun fuhr mit der Zungenspitzeüber seine trockenen Lippen undschob sich wieder einen Zentimeterweiter durch die offene Tür. SeinKind!Vielleicht war es dieser Gedanke,der ihn zurückgehalten hatte, abernur für einen Moment. In Wirk"lichkeit wußte er die ganze Zeit,was er zu tun hatte. Da hinten inder Küchenecke war ein verrückterMann, der vielleicht schon in dernächsten Sekunde einen anderenMann töten konnte. Calhoun mußteihn aufhalten.So sprang er vollends durch dieTür und vergewisserte sich im

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Sprung, wo Pietro tatsächlich stand.Minacorn sah ihn, und Pietro sahihn auch. Das Gewehr schwang zuCalhoun herum, als er herange=stürzt kam, geduckt und mit halbausgebreiteten Armen wie ein Rug=byspieler, der sich ins Gedrängestürzen will.Aber der Wahnsinnige schwenktedas Gewehr nur ein kleines Stückherum, und dann drückte er zwei=mal auf den Abzug.Fast im selben Sekundenbruchteilwar Minacorn neben ihm, schlugihn mit seinem wild geschwunge=nen Köfferchen nieder, riß das Ge=wehr an sich und schmetterte ihmden Gewehrkolben mehrmals ge=gen den Kopf. »Eddie«, schrie ermit einer Stimme, so schrill wie dieStimme einer hysterischen Frau,»Eddie.«Der Wahnsinnige war zusammen'gebrochen und rührte sich nicht.Nach einem Weilchen kam Eddiesehr vorsichtig herein und knipstedas Licht an. Dr. Minacorn saß aufeinem Stuhl, und die Muskeln sei=ner Beine zuckten und hüpften, alswären sie auf eigene Art lebendiggeworden.Calhoun lag reglos da, ausgelöschtwie von einem letzten stillen Zau=ber, mit friedlichem Gesicht.

»Ist er -«, fragte Eddie heiser.»Tot«, sagte Dr. Minacorn. SeineStimme klang jetzt wieder forsch,und er wußte, daß er sich in einerMinute vollständig erholt habenwürde. Denn es war nicht jetzt,sondern irgendwann in femer Zu»kunft, in so ferner Zukunft, daß esein ganz anderer Minacorn seinwürde, dem die Einsicht käme - einalter Minacorn, philosophisch undmüde geworden.Er saß da und starrte auf den reg=losen Calhoun. Er war so glücklich,noch zu leben, daß er sich nicht be»wegen konnte. Der Tod war wie=der fern, unpersönlich. Morgenwürde er nie Angst gehabt haben.Sogar jetzt schon fing er an zu den»ken, daß es gar nicht mal so schlimmgewesen wäre. Calhoun konntenicht das geringste gespürt haben.Nur-

Als die knochendürre Schwestersah, daß der Warteraum leer war,ging sie hinüber zu Miss BiddlesSchreibtisch.»Wo ist dieser große Bursche?«fragte sie. »Calhoun?«Miss Biddle stand auf und strecktesich; es versprach eine lange Nachtzu werden.»Sie meinen den Cop, den legali=

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gierten Gangster? Er ist mit WindyMinac weggefahren.«»Ah, ein Cop ist er«, sagte die kno=chendürre Schwester. »Wissen Sie- eigentlich sieht er auch so aus.«»Ja, groß und dumm«, gähnte MissBiddle, »und doch irgendwie ganznett. Sie hätten den Vortrag hörensollen, den Windy mir über Copsgehalten hat. Kann mich kaum

noch zur Hälfte daran erinnern.«»Wer kann das schon bei WindysVorträgen?« äußerte die knochen=dürre Schwester. »Ach so, ja - ]'e=derzeit nach drei Uhr können Siediesen Calhoun hinaufschicken.Seine Frau hat einen Jungen. Ichglaube, er wird ihn sehen wollen.«»Das glaube ich auch«, sagte MissBiddle...

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Anthony Boudier

Ein Fall für kluge Leute

»Kein Gelehrter kann Anspruch aufabsolute Vollkommenheit erheben;aber jede wissenschaftliche Arbeitmuß so vollkommen wie möglichsein; jegliche Auslassung verfüg'barer Tatsachen, sei es durch man'gelnde Sorgfalt, durch unzuläng'liehe Forschung oder (am verdam'menswerlesten von allem!) aus per'sonlichen Gründen — zum Beispiel,weil diese oder jene Talsache imWiderspruch zur eigenen Theoriestehen würde - ist schmählichsteSünde gegen das Prinzip der Wis"senschaft...«Solcher Art waren meine Gedan=ken, als ich an der vorvorletztenFassung meines Werkes Mörde=rische Neigungen bei außergewöhn'lieh Begabten - eine Studie überMordtaten, begangen von Künst=lern und Gelehrten feilte.

Man schrieb den 21. Oktober 1951;der Schauplatz war mein Studierszimmer im Universitätsgelände vonWortley Hall.Meine Gedankengänge schienen un=widerleglich: Morde waren verübtworden von überragenden Gelehr=ten (man braucht nur an den Har=vard=Professor Webster zu den»ken) und von bewunderungswür»digen Künstlern (Francois Villonkommt einem als erster in denSinn). In keinem der zahllosenFälle jedoch war bislang der Anlaßzur Tat mit der außergewöhnlichenBegabung des Täters in Beziehunggesetzt worden; meine Studie überdie Beziehungen mörderischer Nei=gungen zu außerordentlichen Fä=higkeiten wissenschaftlicher oderkünstlerischer Art legte, hierbei be=sten wissenschaftlichen Traditionen

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Anthony Boudier

folgend, auf annähernd zweihun=dertfünfzig Schreibmaschinenseiteneindeutig dar, daß de facto keinederartigen Beziehungen bestanden.Punktum.,.Nun geschah es, daß ein gewisserStuart Danvers mein Studierzim»mer betrat.»Professor Jordan?« fragteer. SeineAussprache war verwaschen; ichbemerkte befremdet, daß er leichthin und her schwankte. »Las da imAtlantik Monthly Ihren Beitragüber Villon -«, es klang wie Vil=lain, »und sagte zu mir selbst: >Dasist der Bursche, der dir helfen wird,Stuart Danvers !<«Ehe ich etwas erwidern konnte,warf er mir ein dickes, masdune=geschriebenes Manuskript auf denSchreibtisch.»Müssen wissen«, fuhr er fort, »binauf diesem Gebiet kein Anfänger.Bin ein Profi. Habe Tatsachenbe«richte über prominente Mordfälleund andere Kapitalverbrechen dut»zendweise an alle großen Heraus-geber verkauft. Magazine und sonatürlich.« Er stieß auf, keineswegsdiskret, »'tschuldigung ... Scheintmir nun aber, daß es Zeit wäre fürein bißchen Ganzleinenprestige.«Ich starrte auf den Titel des Ma"nuskripts - Genies im Blutrausch.

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Ich begann das Manuskript durch=zublättern. Das Thema war meineigenes. Der Stil war journalistischseicht, die Dokumentation unzu=länglich. Der Autor hatte - werweiß, auf Grund welcher Seelenver»wandtschaft - sich eingehend übersolche Hochstapler wie Aran undRuiloff ausgelassen; eine derart be=deutende Gestalt wie den Kompo=nisten Gesualdo da Venöse jedochhatte er einfach übergangen.Wenige Stichproben ließen mich,der ich ein profundes Urteil aufdiesem Gebiet zu besitzen glaube,eindeutig erkennen, daß dieses ab°scheuliche Machwerk auf reineSensation und billige Verkäuflich"keit in Massenauflage zugeschnit»ten war. Der Autor, zweifellos mitGeschmack und Gepflogenheitengewisser Verlegerkreise vertraut,würde keine Schwierigkeiten ha=ben, im Handumdrehen einen Her»ausgeber zu finden; und mein eige=nes Werk war in den Fachzeit»schritten, soweit vorhersehbar, fürdie zweite Jahreshälfte 1955 ange»kündigt worden.»Schlückchen gefällig?« fragte erund hielt mir seine voluminöse Ta=schenflasche hin. »Guter Brandy.«Da ich den Kopf schüttelte, nahmer selber einen Schluck, steckte die

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Ein Fall für kluge Leute

Flasche weg und kam wieder zurSache. »Gefällt's Ihnen? Dachte,Sie könnten vielleicht helfen - naja, der übliche Schmus mit einigenwissenschaftlichen Fußnoten undso. Sie kennen das ja.«Ich starrte ihn an, diesen betrun»kenen, ungebildeten Lümmel. Ichsah mich selbst in seinen Schattengerückt, als bloßen Epigonen sei=nes rüpelhaften Einbruchs in meinerwähltes Fachgebiet, auf dem ichseit Jahrzehnten zu Hause bin.Und dann sagte er; »Natürlich istdas hier - hick - nur die ungefeilteerste Fassung, wissen Sie.«»Haben Sie«, fragte ich, »einenDurchschlag von dieser ersten Fas=sung?«Und als ich sah, daß er seinen be=nebelten Schädel schüttelte, schlugich ihm mit aller Kraft meinen bron=zenen Briefbeschwerer gegen dieStim. Er taumelte zwei, drei Schrit=te zurück, prallte gegen die Wand,taumelte wieder vorwärts undbrach zusammen. Im Fallen schluger mit der Stirn gegen meinenSchreibtisch.Ich versteckte sein unflätiges Ma=nuskript zwischen eigenen altenManuskripten, wickelte den Brief»

beschwerer in ein Taschentuch,ging damit in meinen Waschraum,wusch ihn gründlich ab, spülte dasTaschentuch im WC fort, kehrtein mein Studierzimmer zurück und- rief die Polizei..,. ein Fremder war betrunken inmein Studierzimmer gekommen,war gestolpert und bedauerlicher»weise mit dem Kopf gegen denSchreibtisch gefallen...Das Verbrechen - soweit diese be=scheidene Begebenheit es verdient,wirklich als ein solches bewertet zuwerden - war perfekt wie jedesperfekte Verbrechen, von dem ichbislang Kenntnis besitze. Darüberhinaus jedoch hätte es als Unikumzu gelten, denn es ist das einzigebekannte Beispiel eines von einemGelehrten begangenen und in derGelehrsamkeit des Täters motivier»ten Verbrechens ...

Textstelle aus: MÖRDERISCHENEIGUNGEN BEI AUSSERGE»WOHNLICH BEGABTEN (Uni=versity Press 1955);Beweisstück A der Distriktsanwalt'schaft im Mordprozeß gegen denProfessor Rodney Jordan, vormalsDozent in Wortley Hall

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Hugh Pentecost

Mord beim Golfturnier

Sie kamen über den unebenen Feld»weg herangerumpelt - zehn, zwölfWagen, deren Scheinwerferkegeldie Dunkelheit des Sommerabendsdurchschnitten. Als sie das achteGrün am äußersten Rand des Golf=platzes erreichten, scherten sie ausder Reihe und formierten sich ineiner Art von unregelmäßigemHalbkreis um das Grün. Männer inweißen Dinnerjacketts und Frauenin Abendkleidern stiegen aus undnäherten sich unter aufgeregtemStimmengewirr einer Stelle derSandfläche neben dem Grün. Plötz=lieh verstummte jeder Laut, als hätteein unsichtbarer Dirigent ein Zei°chen gegeben.Das Ganze wirkte wie von einemHollywood=Regisseur inszeniert.Zwei Dutzend Scheinwerferkegelbestrahlten die Sandfläche, auf der

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eine menschliche Gestalt mit bizarrverdrehten Gliedern lag. Die Ge=stalt war mit blauen Slacks, fraise»farbenem Hemd und schwarz=wei=ßen Golfschuhen bekleidet. Nebenihr lag ein Golfschläger, dessenSchlagende mit Blut besudelt war.Am Rand der Sandfläche kauertenzwei Männer. Der eine, alt undgrauhaarig, in einem ausgebeultenTweedanzug, starrte fassungslosauf die Gestalt am Boden; aus sei=nen hellblauen Augen sickertenTränen über die runzligen, wetter=gegerbten Wangen hinab. Der an=dere Mann, jung, in Flanellslacksund kurzem Sportsakko, hatte einleichenblasses Gesicht; die Mus=kein seiner Wangen= und Kinnpar»tie wirkten verkrampft. Er mur=melte Verwünschungen; anschei»nend hatte er weder das Eintreffen

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Mord beim Golfturnier

der Wagen bemerkt noch dachte erdaran, daß jemand ihn hörenkönnte.Einer der Männer im weißen Jacketttrat an den Alten heran und legteihm eine Hand auf die Schulter.»Hier können Sie nichts mehr hei"fen, Bob«, sagte er.Der Alte rührte sich nicht. »Er warmir wie ein Sohn«, murmelte ertraurig.Der jüngere Mann stand auf undwandte sich der Gruppe zu. Erschrie: »Seid ihr gekommen, umihn anzustarren wie die Aasgeier?«Der Mann im Dinnerjackett sagte:»Beruhigen Sie sich, Johnny.«»Sehen Sie nicht, daß er ermordetworden ist? Warum haben Sie diePolizei noch nicht gerufen?«»Die Cops sind verständigt, John=ny. Sie und Bob haben doch nichtsberührt — oder?«»Muß man ein Arzt sein, um zusehen, daß es zwecklos ist?«Ein Mädchen, klein und zierlich,Sommersprossen im Gesicht, löstesich aus der Gruppe. Sie trug einträgerloses Abendkleid und einehastig über die Schultern gewor=fene kurze Samtjacke. Sie langtemit der Hand nach dem jungenMann, der Johnny genannt wurde.Sie sagte; »Kommen Sie, Johnny.«

Er schrie sie an: »Lassen Sie michin Ruhe!« Dann stolperte er ausdem Lichtkreis der Scheinwerfer indie Dunkelheit. Gleich darauf warein gequältes Schluchzen zu hören.Das Mädchen zögerte einen Mo=ment und lief hinter ihm her. Ir=gendwer aus der Gruppe rief ihrnach: »Midge!« Sie lief weiter.

»Ihr Name ist Johnny Yale?«Aus rotumrandeten Augen starrteder junge Mann auf den Verneh=mungsbeamten der Distriktsan=waltschaft. »Warum sind Sie nichtdraußen auf dem Golfplatz undunternehmen etwas, statt uns hierauszufragen? Wir haben ihn nichtumgebracht!«Neben ihm saß der alte Mann. SeinGesicht war unbewegt, aber ab undzu" zwinkerten ihm Tränen über dieWangen.»Sie beide haben ihn gefunden. Esist mein Job, Ihre Geschichte anzu=hören.«»Wir waren hinausgegangen, umihn zu suchen«, sagte Johnny Yale.»Er wurde fürdieCalcutta=Auktiongebraucht. Aber er trainierte dräu»ßen -«»In der Dunkelheit?«»Er hatte seinen Wagen mit. DieScheinwerfer -«

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Hugh Pentecost

»Warum trainierte er in der Dun-kelheit?«Der alte Mann antwortete: »Heutenachmittag verpatzte er an dieserStelle einen Schlag. So war er - ertrainierte einen Schlag hundertmal,bis er saß.«»Er war ein berühmter Golfspieler,nicht wahr?«Johnny Yale starrte den Fragendenan, als traue er seinen Ohren nicht.»Das wissen Sie nicht?«»Nun, das war er doch — oder?«Johnny holte tief Luft. »Duke Mer-ritt war der größte - der größtealler Golfspieler... Und der feinsteKerl, den es gab ... Wollen Siemehr über Duke Merritt erfah»ren?«»Das gehört zu meinem Job.«Johnny schüttelte den Kopf. »Wohaben Sie Ihr Leben lang gesteckt,Mister?«

Johnny Yales Angaben gegenüberdem Vemehmungsbeamten warenknapp und präzise. Er war Golf»Professional und hatte Duke Mer»ritt vor etwa sechs Monaten inTucson, Arizona, getroffen. Er ge-hörte zu einer Gruppe von Berufs-golfem, die in Kalifornien, Texas,Arizona, Florida und anderen Staa»ten regelmäßig Turniere um die

hohen Geldpreise austrugen, dievon großen Firmen, wohlhabendenGeschäftsleuten und den örtlichenHandelskammern ausgesetzt wur"den. Duke Merritt, der große Duke,hatte sich mit ihm, dem unbekann»ten jungen und wenig erfahrenenGolfspieler angefreundet. Schließ"lieh waren sie nachMountainGrovegekommen, einem weiteren Tür"nierort, wo sie anläßlich der Er»Öffnung des neuen Golfplatzesspielten. Und an diesem Abend ge=gen halb zehn Uhr -Knapp und präzise. Eigentlich wares keine Geschichte. Allenfalls dieGeschichte eines einsamen, vomLeben hart angepackten Jungen,der sein einziges Talent nutzenwollte, um sich seinen Lebensun-terhalt als Golfprofi zu verdienen,aber die Feststellung machen muß"te, daß er der rücksichtslosen Kon-kurrenz nicht gewachsen war.Johnny war sich jetzt bewußt, daßer mit der Wahl seiner Laufbahnbegonnen hatte, einem Phantomnachzujagen, indem er damals miteinem klapprigen Wagen, knappzweihundert Dollar in der Tascheund einem Satz Golfschläger losge»zogen war, um auf Turnieren ge=gen Leute wie Duke Merritt undHai Hamner zu bestehen.

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Mord beim Golfturnier

Diese Männer hatten Rückhaltdurch ihre Verträge mit Hersteller»firmen von Sportgeräten und Sport"bekleidung und durch die festenGehälter von den Golfklubs, fürdie sie auf den einzelnen Turnie=ren spielten. Auch wenn sie aufdiesem oder jenem Turnier keinenPreis gewannen, hatten sie zu es»sen und fuhren einfach zum näch=sten Turnierort weiter - ihre Na»men standen nach wie vor in denSportzeitungen, und an ihren fe°sten Bezügen änderte sich nichts.Aber niemand hatte je von JohnnyYale gehört, dem ehemaligen Cad°die und gegenwärtig ganz auf sichallein gestellten jungen Golfprofi,und niemand kümmerte sich dar»um, was aus ihm werden sollte.Die Serie der Saisonturniere hattekaum begonnen -- die Spielergrupspe war gerade in Tucson eingetrof-fen -, als Johnny einsah, daß seinWunschtraum, zu den ersten Golf»Spielern der Nation zu gehören,sich niemals erfüllen würde. Abersein Wagen - er pflegte übrigensdes Nachts in diesem Wagen zuschlafen, um die Hotelrechnung zusparen - mußte unbedingt repa=riert werden und brauchte neueReifen, während Johnny kaumnoch Geld genug hatte, um sich

einen Satz neuer Golfbälle zu lei=sten. Falls es ihm nicht gelang, inTucson irgendeinen Preis zu ge=winnen, würde er restlos erledigtsein. Und zu allem Überfluß wurde,ausgerechnet in diesem kritischenZeitpunkt, sein Spiel schwächer.An jenem Morgen in Tucson, alser auf dem Golfplatz trainierte unddas Rätsel zu lösen versuchte, wes»halb seine Bälle immer wieder nachrechts abtrieben, lernte Johnny dasbittere Gefühl hoffnungsloser Ver°zweiflung kennen.Er hatte über ein Dutzend Bällevom Mal abgeschlagen, alle mitdem gleichen Fehlkurs. Jetzt stander da, den Blick zu Boden gerichtetund versuchte sich zu konzentrie=ren. Oberkörper langsam nachrechts zurückdrehen, linken Armstrecken, beide Handgelenke festan den Schlägerschaft gelegt, denSchläger mit der linken Hand inHüfthöhe bringen, beide Handge=lenke noch immer fest neben demSchlägerschaft, mit der rechtenHand Schwung geben und zuschla-gen -Johnny fühlte sich beobachtet,hielt inne und wandte den Kopf.Die Gestalt, die dort stand undihm zulächelte, war ihm vertraut -Duke Merritt, der brillante Golf»

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Spieler, der Mann mit der schlecht'hin vollendeten Technik! Dukewar übrigens nicht nur als Golf=Spieler, sondern auch wegen seineretwas extravaganten modischenEleganz berühmt; er stand unterVertrag bei einer der größten Sport'bekleidungsfirmen des Landes undbekam viel Geld dafür, daß er sichbei jeder Gelegenheit in derenneuesten Modellen zeigte. Momen=tan war er mit orangefarbenenSlacks, jadegrünem Golfhemd,grünkarierter Mütze und grau»grünen Golfschuhen bekleidet.Sein Lächeln war von gewinnen»der Freundlichkeit, als er zuJohnnysagte: »Sie arbeiten zu stark mitden Handgelenken. Daher trifft IhrSchläger leicht verkantet auf denBall. Sie müssen lernen, ihn unver=kantet gegen den Ball zu bringen.Versuchen Sie es noch einmal.«Johnny setzte einen neuen Ball auf,beherzigte das Gehörte, schlug zu,und der Ball zog in schnurgeraderLinie über den Platz. Johnny, einenAusdruck ungeheurer Erleichterungauf dem Gesicht, wandte sich zuDuke Merritt um.»Drei Tage lang habe ich mich ver°gebens um diesen Schlag bemüht«,murmelte er. »Ich weiß nicht, wieich Ihnen danken soll.«

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»Danken Sie nicht mir«,entgegneteDuke, »danken Sie Bob Christie,hier. Er hat Ihren Fehler bemerkt.«Johnnys Blick ging von Duke Mer=ritts sportlicher Gestalt zu dem al=ten, grauhaarigen Mann, der denschweren Beutel mit Dukes Golf=schlägem trug.»Bob hat von diesem Spiel schonwieder mehr vergessen, als diemeisten von uns je lernen werden«,fuhr Duke Merritt fort. »Übrigenshandhaben Sie den Schläger wieein früherer Caddie. Waren SieCaddie?«Johnny nickte.Duke Merritts Lächeln wurde nochherzlicher. »Auch ich habe als Cad=die angefangen. Bob Christie wardamals der beste Profigolfer desbetreffenden Klubs und hat miralles beigebracht, was ich von die=sem Sport verstehe. Nun ist erschon seit Jahren bei mir und be=gleitet mich durch das ganze Land.Ich könnte mir nicht vorstellen,was ich ohne ihn täte ... Sie sindJohnny Yale, nicht wahr?«»Ja, der bin ich.« Johnny war ge=schmeichelt, daß der große Dukeseinen Namen wußte.»Dann also alles Gute für Sie,Johnny«, sagte Duke. »Ich willjetzt noch ein wenig trainieren.

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Aber ich werde dort hinübergehen,damit ich Sie nicht störe.« Er nickteJohnny zu und ging, von dem altenMann gefolgt, zu einer anderenStelle des Geländes.In der Tat war Johnnys Spiel andiesem Tag zunächst besser. Dochder auf ihm lastende Druck, ge=winnen zu müssen, um wiederGeld zum Leben zu bekommen,raubte ihm die Nerven. Auf demletzten Drittel des Kurses machteer Fehler über Fehler und fiel rück=sichtslos zurück. Als er am Abenddes ersten Turniertages den Restseiner Barschaft zählte, wurde ihmklar, daß mit dem Ende des Tuc=son=Turniers auch seine Betätigungals Turniergolfer zu Ende seinwürde. Er hatte versagt, und nunwar es unmöglich für ihn, nochlänger dabeizubleiben.Er murkste auf dem Parkplatz ne=ben dem Klubgebäude an seinemalten Wagen herum, als Bob Chri=stie zu ihm trat.»Wie ist's denn gegangen, Johnny»boy?«»Schlecht.« Johnny versuchte einLächeln. »Nun ist es aus. DasSchiff sinkt, und ich muß an Landschwimmen. Verrückt von mir, zuglauben, ich könnte gegen dieseSpieler bestehen.«

»Ihr Spiel ist an und für sich rechtgut, mein Junge«, sagte Bob. »Sie"sind zum Golfer geboren. DieSchwierigkeit liegt anderswo -Tumierfieber.«»Und an dem, was in meiner Geld=börse fehlt.« Johnny lachte bitterauf.»Niemand gewinnt gleich zu An»fang«, tröstete Bob.»Das hätte ich bedenken sollen. Ichhätte warten müssen, bis ich mehrGeld hatte.«Old Bob blickte Johnny in die Au=gen und fragte: »Trinken wir drü=ben im Erfrischungszelt eine TasseKaffee? Ich lade Sie ein.«»Nett von Ihnen, aber -«, Johnnyzuckte die Schultern.»Es bringt nichts ein, wenn man zustolz ist, Johnnyboy.« Old Bobsschwielige Rechte legte sich aufJohnnys Arm.Sie gingen zu dem großen Zelt, indem Kaffee, Sandwiches und an=dere Erfrischungen verkauft wur=den. Bob Christie erzählte von denTagen der Walter Haagen, BobJones, Gene Sarazen, MacDonaldSmith, Long Jim Barnes und ande=rer berühmter Golfer. »Jeder vonihnen hatte einen schwierigenStart. Ich erinnere mich sogar derZeit, da es uns Profigolfern verbo=

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ten war, die Klubhäuser durch denVordereingang zu betreten. HaltenSie noch ein bißchen durch, Johnnyboy. Golf ist ein wunderbaresSpiel. Sie dürfen sich nicht so leichtgeschlagen geben.«»Pleite ist Pleite«, seufzte Johnny.Sie erreichten das Zelt und gingenauf die Theke zu. Dabei kamen siein die Nähe eines Tisches, an demDuke Merritt mit einem Mann saß,den Johnny als einen bekanntenSportjournalisten erkannte.Duke Merritt winkte Johnny zu.»Nun, wie ist es gegangen?«Johnny deutete durch einen ab«wärts gewandten Daumen an, daßer sich geschlagen gab, und OldBob erläuterte: »Er denkt leiderdaran, uns zu verlassen.«»Kein Geld mehr?« fragte Duke.Johnny nickte.»Dagegen ließe sich etwas tun«,meinte Duke mit leicht zusammen"gekniffenen Augen.»Ach, ich sollte meinen Verstanduntersuchen lassen«, sagte Johnny&chulterzuckend. »Wie konnte ichnur auf die Idee kommen, unterProfigolfem etwas zu erreichen?Eine klare Vermessenheit!«»Das ist der Junge, von dem ichIhnen erzählte, daß er auf denFondsitzen seines Wagens über»

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nachtet«, erklärte Duke dem Sport«Journalisten. Dann wandte er sichan Johnny; »Bleiben Sie noch einWeilchen bei uns, Mr. Yale. Wirwerden Ihnen ein wenig unter dieArme greifen. Der Glückliche solldem weniger Glücklichen helfen.«Er lächelte. »Man kann nie wis«sen, ob man nicht eines Tagesselbst in eine solche Lage gerät.«»Eine hübsche Idee«, murmelteJohnny, »und ich danke Ihnensehr, Mr. Merritt. Aber es hat dochkeinen Sinn. Ich -«.»Keine Widerrede, Johnnyboy«,unterbrach Duke Merritt. »Bob -du kümmerst dich um ihn.«

Ja, und so war es. Old Bob bestanddarauf, daß Johnny von ihm einpaar Dollar annahm - leihweisenatürlich. Und am nächsten Tagstand im Tucson Herald eine sehrhübsch aufgemachte Story über denjungen Profigolfer, der auf denFondsitzen seines Wagens zu über"nachten pflegte, um die Hoteiko»sten zu sparen - den Schützlingvon Duke Merritt. In Wirklichkeitwar es ja eine Geschichte überDuke Merritt, und was für ein fa»belhafter Kerl er wäre. Aber im=merhin wurde Johnny dadurch be"kannt. Bald gehörte er zur ständi"

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gen Umgebung des großen Duke.Zwar gewann er noch immer keinePreise, doch der materielle Druckhatte nachgelassen. Duke wolltevon Geldangelegenheiten nichtswissen, das überließ er Bob. UndOld Bob hatte immer ein paar Dol-lar oder etwas mehr für Johnnyübrig; er schrieb es in sein Notiz-buch und sagte immer wieder, mitdem Zurückzahlen habe es Zeit, bisJohnny genug verdiene.

Es gab nichts, was Johnny fürDuke und Old Bob nicht getanhätte.Eines Tages kam Old Bob, der im»mer ein wenig abgerissen gekleidetwar, mit unmutigem Stimrunzelnzu Johnny. »Mag nicht gern inmeinem Aufzug zur Klubhauster=rasse gehen. Würdest du nicht ebenhinüberspringen, Johnnyboy, undDuke bestellen, daß ich ihn in einerwichtigen Angelegenheit sprechenmuß? Er unterhält sich dort mitMrs. Hamner.«Sue Hamner war eine der reizvoll»sten Erscheinungen der Golftur"niere. Vor einigen Jahren Siegermin einem Schönheitswettbewerb,hatte sie einen Hollywoodvertragerhalten, den sie nach einigen klei"nen Filmrollen zurückgab, um den

Profigolfer Hai Hamner zu heira-ten, einen großen dunklen, mann«lieh hübschen Burschen mit riesigenHänden und sehr kräftigen Hand"gelenken. Er konnte einen Golfballweiter schlagen als sonst jemandund war ein ruhiger, verbissenerSpieler. Das Überraschende an die-ser Heirat lag in der Tatsache, daßHai ein ungebildeter, wortkargerHinterwäldler aus Tennessee war,ohne gesellschaftliche Talente undohne jeden Sinn für Humor. Sueschien sich regelrecht in sein hüb»sches Aussehen verknallt zu ha»ben. Charme besaß er jedenfallsnicht, dieser Hai Hamner. Stattdessen war er berüchtigt wegenseines Jähzorns.Johnny lief also zur Terrasse undtrat an den bunten Gartenschirm,unter dem, in ein angeregtes Ge=sprach vertieft, Sue Hamner undDuke Merritt saßen.»Tut mir leid, daß ich stören muß«,murmelte er mit einer kleinen Ver"beugung zu Sue und wandte sichan Duke: »Bob Christie sagte, erhätte Sie in einer wichtigen Ange^legenheit zu sprechen, Duke.«»Hat Bob dich wirklich geschickt?«Duke blickte Johnny aus zusam=mengekniffenen Augen an undstand auf. »Wenn das etwa ein

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dummer Scherz sein soll...« Da»mit entfernte er sich.Johnny wußte nicht recht, wie er esanstellen sollte, nun auch wiederzu gehen. Er machte abermals einekleine Verbeugung zu Sue undwiederholte: »Tut mir leid, daß ichstören mußte.«»Oh, das ist nicht der Rede wert.«Mit ihren manikürten Fingernstrich sich Sue das goldblonde Haaraus der Stirn. »Sie sind JohnnyYale, nicht wahr?«»Ja, Madam.«»Hai sagt. Sie spielen recht gut undsauber.«»Oh, wenn Hai Hamner das sagt,bedeutet es allerhand.«»Machen Sie nur so weiter, John=ny.« Sue Hamner nickte ermun=ternd und lächelte. »Übrigens seheich, daß Sie Lederaufsätze für dieEllbogen Ihrer Sportjacke brau=chen. Bringen Sie mir die Jacke ge=legentlich. Ich habe ein paar Leder=stücke da, die ich Ihnen aufnähenkann.«Johnny wollte ein paar Worte desDankes murmeln, doch da fiel einSchatten über Sues Gesicht. Erschaute auf und sah Hai Hamnerneben sich.»Wünschen Sie etwas, Yale?«fragte Hamner; seine Stimme war

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merkwürdig weich und ausdrucks"los.»Ich habe ihm nur erzählt, daß dirsein Spiel gefällt, Hai«, sagte SueHamner schnell.Hai Hamner sah sich langsam um,als suche er jemanden. »Gut, Yale- gehen Sie jetzt. Ich habe mitmeiner Frau zu sprechen.«Johnny machte wieder eine kleineVerbeugung in Sues Richtung undging wortlos fort. Bald danach trafer Bob Christie und erzählte ihmvon dem Vorfall. »Sie haben michbloß hinübergeschickt/ um Dukezu holen, weil Sie wußten, daßHamner gleich kommen würde -nicht wahr, Bob?«Der Alte lächelte verschmitzt.»Bist mir also auf die Schliche ge°kommen, Johnnyboy - wie?«»Nach der Art, wie Duke sich ver=hielt -«»Das Leben ist manchmal rechtsonderbar, Johnnyboy.« Der Altehatte seine Pfeife aus der Taschegeholt und begonnen, den Pfeifen=köpf mit seinem Taschenmesserauszuschaben. »Sieh mal - wirbleiben überall nur kurze Zeit.Duke Merritt ist ein sehr anzie=hender Mann. Und ein feinerMann. Die Frauen mögen ihn. Under hat Frauen sehr gerne. Hat sie

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gerne und - läßt sie sitzen. Wieein Matrose - in jedem Hafeneine.«»Aber mit Mrs. Hamner muß esdoch etwas anderes sein.«Bob nickte bedächtig. »Es geht ihrnicht allzugut bei ihrem Mann.Hai ist furchtbar eifersüchtig undkann sehr brutal sein.«Johnny erinnerte sich, eines Tageseinen blauen Fleck auf ihrer lin=ken Wange gesehen zu haben, denselbst ihr sorgfältig aufgetragenesMake=up nicht verdecken konnte.»Duke empfindet eine Art Mitleidfür Sue«, fuhr Bob Christie fort.»Deshalb kümmert er sich um sie.Doch das kann die Sache nur ver=schlimmem. Ich habe versucht, esihm auszureden. Wenn Hamnersich einfallen läßt, irgend etwasgegen ihn zu unternehmen, wür=den wir allerhand Durcheinandererleben.«

Johnny verdiente nun mit seinemSpiel hin und wieder ein paar Dol=lar; er spielte jetzt merklich siehe»rer und verbesserte sich von Tur=nier zu Turnier. Was er verdiente,langte aber noch nicht hin undnicht her, und er hatte Sorgen we°gen der Beträge, die sich in BobsNotizbuch summierten; Bob wollte

allerdings nichts davon Kören, undDuke Merritt erst recht nicht.»Ein einziger guter Preis, Johnny»boy«, sagte Bob ermutigend, »unddu kannst auf einen Schlag alleszurückzahlen.«Als sie auf ihrer Tumierreise nachPinehurst kamen, erschien MidgeRoper auf der Bildfläche. Noch niewar Johnny einem Mädel wieMidge begegnet - sie lachte vielund war immer lustig. Aber ir=gendwie schien ihre Fröhlichkeitforciert.Old Bob wußte eine Erklärung:»Kummer verwandelt sich beimanchen Menschen ins Extrem,Johnnyboy. Die kleine Midge ver=sucht ihren Bruder zu vergessen.«Midges Bruder Ed Roper war vorJahresfrist für zwei, drei Tage inden Schlagzeilen aller Zeitungengenannt worden - ein bekannterBaseballspieler, den man verdäch»tigte, er hätte sich bestechen las"sen, um ein Meisterschaftsspiel zuverschieben. Kurz vor der drohensden Verhaftung sprang er aus demFenster seines Hotelzimmers inden Tod — ein offenbares Einge=ständnis seiner Schuld.Midge aber hatte den Nackensteifgehalten und ihr gewohntesLeben fortgesetzt ...

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Bald nachdem sie in Pinehurst zuden Golfspielern gestoßen war,merkten alle, daß sie bis überbeide Ohren in Duke Merritt ver«liebt schien. Duke seinerseits sahsie auch sehr gem. Sie waren vielzusammen, lachten über die glei«dien Scherze und sahen das ganzeLeben humorvoll an. Johnnywurde von ihr wie ein lieber Spiel"gefährte aus der Jugendzeit be»handelt, aber nach Duke war sieoffenbar ganz verrückt. Johnnygab sich alle Mühe, Augen, Herzund Sinne zu verschließen. DennMidge Roper war das Mädel, vondem er, nachdem er es einmalgetroffen hatte, unaufhörlichträumte.Es quälte ihn, daß Midge über dasPinehurst"Turnier hinaus bei derGesellschaft blieb. Sie hatte Geldund ihren eigenen Wagen undtauchte bei allen neuen Turnierenauf. Schließlich auch in MountainGrove.Hier stand ein großes Turnier be-vor, und Johnny witterte seineChance. Ein Unternehmer namensVictor Sayies hatte eine neue An«läge erbauen lassen, mit Golfplatz,Swimmingpools, Pferderennbahn,Go=cart=Gelände und allen mög°liehen anderen Attraktionen. Zum

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Eröffnungsrurnier der Golfer hatteSayie» Preise von insgesamt fünf«zehntausend Dollar ausgesetzt,allerdings zu etwas verändertenBedingungen. Auf seinem Turniersollte jeder gegen jeden spielen,bis die sechzehn Teilnehmer desFinales ermittelt waren, von de"nen jeder einzelne fünfhundertDollar bekäme. Die restlichen sie»bentausend Dollar aber sollten zufünfzig Prozent an den Finalsie»ger, zu dreißig Prozent an denZweiten und zu je zehn Prozentan die unterliegenden Spieler derbeiden Semifinales fallen. Johnnyrechnete sich eine reelle Chanceaus, unter den sechzehn Finalteil"nehmern zu sein; mit fünfhundertDollar könnte er dann seineSchuld bei Duke begleichen undwürde noch einiges übrigbehalten.

Johnny bekam den VeranstalterVictor Sayies, einen elegantenVierziger mit grauen Schläfen,gleich nach der Ankunft zu sehen.Er half Bob Christie, Dukes Ge=pack in die Halle des Gästehauseszu tragen, und stellte gerade einigeGepäckstücke hinter der Eingangs"tür ab, als er Sue Hamner im Hin"tergrund der Halle entdeckte.Sayies, der an der Rezeption ge=

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standen hatte, erblickte sie gleich"falls. »Sue!« rief er und wollte zuihr gehen.Zu Johnnys Verwunderung ver«suchte Sue, Sayies durch eineHandbewegung zurückzuhalten.Im nächsten Moment betrat HaiHamner die Halle, ging zu Sayies,stellte sich vor und wies dann aufSue: »Das ist meine Frau, Mr.Sayies.«Sayies' Gesicht blieb ausdruckslos;er verbeugte sich.»Hallo, Mr. Sayies«, sagte Sue, alshätte sie Sayies noch nie im Le=ben gesehen.Johnny wunderte sich über dieSzene, aber er hatte so viele Dingeim Kopf, daß er nicht weiter darandachte.Das Mountain"Grove=Turnier soll"te die endgültige Entscheidungüber seine Zukunft bringen, unddas erste Training ließ sich hoff»nungsvoll an. Johnny verfügtezwar nicht über die weiten Schlägeeines Hai Hamner oder Ted MC"Grath oder Duke Merritt, aber erhatte ein ausgezeichnetes Schät"zungsvermögen, und das machteihn um so zuversichtlicher, alsseine Spielsicherheit von Turnierzu Turnier größer geworden war.Am Nachmittag des Ankunftsta»

ges erinnerte sicH Sue Hamnerihres Versprechens und bat Johnny,ihr sein Jackett zu geben, damitsie die Lederflecken auf die Ellbo»gen nähen könne. Johnny gab ihrdas Jackett, ehe er zum Trainierenauf den Platz ging. Dort setzte ersich auf eine Bank und wartete,bis die Reihe an ihn käme. Nacheinem Weilchen setzte sich TedMcGrath zu ihm.»Wollen Sie unbedingt Kopf undKragen riskieren, Yale?« fragteMcGrath.»Wieso? Ich verstehe nicht, wasSie meinen.«»Jungens wie Sie verschlingt erohne Salz«, sagte McGrath. »IAmeine Hai Hamner.«»Warum sollte er das?«»Schauen Sie nur mal dorthin«,antwortete McGrath und wies mitdem Kopf zum Vorplatz des Klub»hauses. Dort saß Hai Hamner undsprach auf Sue ein; trotz der Entefemung war zu erkennen, daß ersich über irgend etwas aufregte.»Da Sie nun«, fügte McGrath hin«zu, »schon ein gutes Weilchen ""tdiesem Zirkus herumziehen/ soll»ten Sie allmählich gemerkt haben,was hier gespielt wird. Ich aO IhrerStelle würde mir meine Näharbei»ten lieber alleine machen.«

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Der Gedanke an das Gehörte be=unruhigte Johnny, minderte aberseine Trainingsleistung nicht.Zweieinhalb Stunden später, alsJohnny sein Training beendet undsich geduscht hatte, ging er zumVorplatz des Klubhauses/ um seinJackett abzuholen. Er sah SueHamner dort sitzen und merkte,daß sie einen ermüdeten Eindruckmachte. Auf dem Stuhl neben ihrsaß Hai Hamner, den Blick zu denfernen Bergen gerichtet. JohnnysJackett lag auf einem Tischchenvor den beiden.Hai Hamner schien zunächst nichtsvon Johnnys Kommen zu merken.Doch in dem Augenblick, daJohnny bei dem Tischchen stehen»blieb und überlegte, was nun zusagen wäre, wandte er den Kopfund knurrte: »Meine Frau hatIhre Jacke repariert, Yale.«»Ich bin Mrs. Hamner sehr dank»bar dafür«, antwortete Johnny.»Wissen Sie, was in meiner Hei=mat mit einem Burschen geschieht,der sich mit einer verheiratetenFrau abgibt?« fragte Hamner.Johnny spürte, daß sein Gesichtrot wurde, und sah, wie die ande=ren Leute auf dem Vorplatz sichumwandten und herüberstarrten»Ich habe mich nicht mit Mrs.

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Hamner abgegeben«, entgegneteer. »Mrs. Hamner hat mir freund=licherweise angeboten -«»Mrs. Hamner scheint den Leutenaus Merritts Umgebung freundli-cherweise alles mögliche anzubie'ten«, sagte Hamner etwas lauter.»Hai, bitte!« flüsterte Sue.»Mrs. Hamner scheint ganz ver=rückt nach allem, was irgendwiemit Merritt zu tun hat«, sagteHamner noch lauter.Johnnys Mund war wie ausge-'trocknet, und in seinen Schläfenhämmerte jähe Wut. Aber erwußte nicht, was er hätte tun kön=nen, ohne die Lage für Sue zu ver»schlimmem. Schließlich sagte er:»Ich möchte Mrs. Hamner nodh=mals danken und dann meineJacke nehmen und gehen.«»Sie bleiben hier und hören mirzu«, knurrte Hamner. »Leider ver=steht meine Frau es nicht, MerrittsLeuten gegenüber nein zu sagen.Daher muß ich es tun. Merken Siesich, Yale - wenn ich von Ihnennoch ein einziges Mal höre, wennich Sie noch ein einziges Mal inder Nähe meiner Frau sehe -«»Stimmt hier etwas nicht?« er=tönte eine ruhige Stimme hinterJohnnys Rücken; es war DukeMerritts Stimme.

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Mord beim Golfturnier

Hamner sprang auf und rief: »Ichhabe Sie gewarnt, Merritt -«»Und ich warne Sie«, unterbrachDuke Merritt gelassen. »Niemandhat das Recht, sich in Ihre Pri=vatangelegenheiten einzumischen,Hamner. Doch kein anständigerMensch wird es dulden, daß SieIhre Privatangelegenheiten an dieÖffentlichkeit zerren!«Hamner wollte sich auf DukeMerritt stürzen, kam aber nichtan ihn heran, denn sechs, acht an=dere Männer sprangen dazwi°sehen. Johnny stand kaum einenSchritt von Hamner entfernt undkonnte seinen Blick nicht von ihmabwenden - noch nie hatte ereinen derart mörderischen Haß imGesicht eines Menschen gesehen.

Am nächsten Tag begann das Tur=nier. Fast hundert Meldungenwaren abgegeben worden. UndJohnny wußte, daß er unter denletzten Sechzehn sein müßte, wenner seine Geldnöte überwindenwollte. Das Wetter war sonnigund warm, kaum ein Lüftchenregte sich - ideal für ein Golftur=nier.Bei der Auslosung ergab es sich,daß Johnny zunächst gegen einenlokalen Profigolfer zu spielen

hatte, den er nicht kannte. Daswar nicht ungünstig; er brauchtesich über die Stärke des Gegnerskeine Sorgen zu machen undkonnte sich ganz auf sein Spielkonzentrieren. Und seine beidennächsten Gegner würden Ama=teurspieler sein, die erst recht keineProbleme darstellten. Am Endedes Tages würde sich jedenfallserweisen, ob und um wievielJohnny der Verwirklichung seinerTräume nähergekommen war.Er spielte den ganzen Vormittaghindurch und hatte dabei dassichere Gefühl, gut zu spielen. Alser mittags an die Registriertafeltrat, sah er, daß er eine reelleChance hatte, unter die letztenSechzehn zu kommen.Sein Nachmittagsstart war so spätangesetzt, daß er den Wettkampfals einer der letzten beendenwürde. Das war ein Nachteil. Dennwenn er bei den letzten drei odervier Löchern angelangt wäre,würde sich bereits herumgespro=chen haben, wie viele Schläge ersich noch leisten durfte, um dasSemifinale zu erreichen.So geschah es auch. Als er beimdrittletzten Grün war, wurde seinCaddie von einem Zuschauer an=gesprochen und kam gleich danach

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zu ihm heran. »Sie dürfen Hun«dertvierzig nicht überschreiten,wenn Sie es schaffen wollen, Mr.Yale«, berichtete er. »Der vorigehatte Hunderteinund vierzig.«Hundertvierunddreißig Schlägehatte Johnny bisher gebraucht;sechs Schläge blieben ihm alsonoch. Das war knapp, hätte sichaber schaffen lassen müssen. In=dessen war der nächste Kurs einerder schwierigsten, die Johnny jegesehen hatte. Die Anspielstreckewar schmal und dehnte sich überdie ganze Weite eines kräftigenSchlages, und selbst wenn manhier den Ball gerade hielt, bliebnoch immer das verdammt kom»plizierte Loch. Das betreffendeGrün lag erhöht und war nur ausnächster Nähe einzusehen; ausmehr als fünf oder sechs SchrittEntfernung konnte man lediglichdas rote Fähnchen anvisieren.Johnny konzentrierte sich auf dennächsten Schlag, führte den Schlä»ger ein paarmal versuchsweisedurch die Luft und trat schließlichhinter den Ball. Langsam schwanger den Schläger zurück; die Händefest am Griff und die Handgelenkegegen den Schaft gepreßt, nahm erMaß und schlug wuchtig zu. Erließ seinen Blick zu Boden gerich«

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tet und sah dem Ball nicht nach,aber sein Caddie rief: »Wunder»barer Schlag, Mr. Yale! Vollkom-men!«Weit voraus im grünen Grasschimmerte der weiße Ball. AlsJohnny langsam darauf zuging,wünschte er, Old Bob wäre da, umihm einen Rat zu geben. Die ent»scheidende Frage war, ob er dennächsten Schlag kräftig oder be»hutsam ansetzen sollte. Überall imGrün verstreut lagen weiße Kie»seisteine, an denen manche Hoff«nung scheitern konnte. Hinterdem durch das rote Fähnchen ge=kennzeichneten Loch fiel das Ge«lande wieder ab - kam hier derSchlag ein wenig zu stark, dannwürde der Ball unweigerlich überden Abhang davonlaufen. Kamaber der Schlag zu schwach, sowäre bei dem letzten verbleiben«den Ansatz infolge der kiesel-durchsetzten Grasfläche nicht mehrviel zu gewinnen.Johnny wählte sorgsam den rich=tigen Schläger, nahm Maß, kon»zentrierte sich, schlug fest undkurz zu, und der Ball sauste los,während Johnny den Caddie fiaxierte.Der Caddie fuhr sich mit der Zun=genspitze über die Lippen. »Viel«

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leicht eine Kleinigkeit zu kurz, Mr.Yale.«Johnny schaute hin und fand, daßdie Kleinigkeit etwa fünfzehnSchritt betrug. Schlug er jetztnochmals zu kurz, dann würde derBall in dem hohen Gras hängenbleiben. Schlug er kräftig, dannbestand die Gefahr, daß der Balldas Loch übersprang und auf denAbhang geriet.Als er mit dem Schläger versuchs-weise über die hohen Grasspitzenfuhr, merkte er, daß seine Händenicht ganz sicher waren. Aber jetztkam es darauf an! Er nahm denrichtigen Abstand zum Ball undschlug zu. Die kleine weiße Kugelzischte davon. Johnny sah ihrnach und dachte einen Momentlang, sie würde noch eben an derrichtigen Stelle neben dem Lochliegenbleiben. Dann aber begannsie doch den Abhang hinunterzu»rollen und hielt erst etwa zwanzigSchritt jenseits des Loches wiederan.Nun stellte dieser Schuß überzwanzig Schritt Distanz Johnnysvorletzte Chance dar. Wenn er zuGeld kommen wollte, mußte ihmder nächste Schlag gelingen. EinigeZuschauer hatten sich in der Näheversammelt. Jeder wußte, daß

Johnny mit diesem Schuß insSemifinale vordringen konnte;denn das letzte Grün bot keineSchwierigkeiten mehr und war bis»her von den schwächsten Spielernmit zwei Schlägen erreicht worden.Auch Midge Roper war da. Sie saßauf einem Klappstühlchen; ihrefest zusammengeballten Händeruhten auf den Knien.Johnny duckte sich hinter den Ballund visierte die Strecke an. Erglaubte zu erkennen, daß die Fla»ehe ein wenig nach rechts hinge -ein Umstand, der die Aufgabenoch schwieriger machte. Der Ballbrauchte eine Art Linkseffet undgenau das richtige Maß anSchwung, denn wenn er auf demansteigenden Gelände den Schwungverlor, würde er sehr bald liegen»bleiben, während er bei zu großemSchwung abermals am Loch vor»beigehen konnte.Johnny richtete sich auf. Bei denZuschauem entdeckte er jetzt auchBob Christie, der mit ausdrucks»losem Gesicht zu ihm herübersah.Er warf abermals einen Blick überdas Gelände, trat neben den Ball,holte tief Luft und schlug zu.Eine Sekunde lautlose Stille, dannBeifallsrufe der Zuschauer! Johnnyhatte es geschafft.

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Thm war nach diesem entscheiden»den Schlag, als versagten ihm dieFüße - so taumelig bewegte er sichdahin. Zwei Mädchenarme legtensich um seinen Hals, und MidgeRoper küßte ihn auf den Mund.»Johnny«, rief sie, »das war derfeinste Schlag, den ich je gesehenhabe! Ich bin sehr stolz auf Sie!«Die Zuschauer wanderten demnachfolgenden Spieler entgegen.Nur Bob Christie kam zu Johnnyund Midge herüber. »War ein bril=lanter Schlag, Johnnyboy«, mur°melte er. »Wirst allmählich zumMann, wie's mir scheint.«»Wie ist es mit Duke Merritt ge°gangen?« fragte Johnny.»Geschafft hat er's«, brummte Bobmürrisch, »aber gerade noch miteiner Differenz von zwei Schlägengegen einen Sonntagsspieler.«Midge berichtete: Beim achtenGrün war Duke in Schwierigkeitten geraten, weil ihm eine ganzeReihe von Schlägen mißglückte.Danach mußte er sich gewaltigstrecken, um die Qualifikation zuerreichen. Aber er hatte es ge=schafft.

In den Garderoben herrschte teilsFröhlichkeit, teils bedrückte Stirn'mung. Die meisten Spieler saßen

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müde und niedergeschlagen vorihren Schränken, einige wenige wa=ren um den runden Tisch gruppiertund unterhielten sich lachend.Auch Duke Merritt war da. Als erJohnny bemerkte, winkte er ihmzu. Johnny trat an den Tisch undsagte: »Ich hab's geschafft.«»Fein.« Duke klopfte ihm auf dieSchulter. »Ich auch, aber nur umHaaresbreite. Hättest mich beimachten Grün sehen sollen, und derRespekt wäre dir vergangen. Wieein lausiger Anfänger habe ichdort gespielt. Nachher mußte ichmich höllisch zusammenreißen, ummit ganzen zwei Schlägen Vor»Sprung gegen einen Tierarzt zu sie=gen.«Johnny war zu müde, um am Tischzu bleiben. Er nickte Duke zu undging in den Duschraum. Als ereinen Blick in den Wandspiegelwarf, sah er die tiefen Schattenunter seinen Augen und um seinenMund ein paar Linien, die von ab=soluter Erschöpfung sprachen. Dieroten Flecken an seinem Mundstammten von Midges Lippenstift.Was Midge betraf, so kam dem In=termezzo mit dem Kuß von ihrerSeite her wohl keine besondere Be=deutung zu. Aber - es hatte statt'gefunden...

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Wäre es nach Johnnys Wünschengegangen - er hätte den Abend amliebsten allein verbracht, auf denFondsitzen seines Wagens schla=fend. Die zehn Dollar Umlage, dieVictor Sayies für die Teilnahme andem Bankett für Spieler und Zu=schauer erhob, konnte er sowiesonicht erschwingen. Aber alle Spie'ler, die die Qualifikation erreichthatten, waren gebeten worden, zuder nach dem Essen stattfindendenCalcutta=Auktion zu erscheinen.Eine Calcutta=Auktion ist eine Sa=ehe für Leute mit Geld. Hierbeiwird nämlich jeder der sechzehnSpieler, die sich für die Endrundequalifiziert haben, meistbietendversteigert, und die erzielten Sum=men kommen in die Auktions=kasse. Derjenige, der sich den end=gültigen Sieger ersteigert hat, er=hält nachher die Hälfte der Kasse,der Ersteigerer des Zweiten erhältdreißig Prozent, und die Ersteige»rer der verlierenden Finalespielermüssen sich mit je zehn Prozentzufriedengeben. Spieler wie HaiHamner, Duke Merritt oder TedMcGrath erzielten bei solchen Auk=tionen zumeist Beträge von sechs=bis achttausend Dollar, und der In=halt der Auktionskasse belief sichbei großen Turnieren selten auf

weniger als fünfzigtausend Dol-lar.Johnny fuhr in die Stadt, um sidiein paar Sandwiches zu kaufen,und kehrte dann zum Klubhauszurück. Das festliche Supper warinzwischen vorüber, und die imgroßen Saal versammelten zweishundert bis zweihundertfünfzigPersonen tanzten zu den Klängeneiner flotten Kapelle. Alle Anwe=senden waren elegant gekleidet.In den Saal wagte Johnny sichnicht. Er fand einen einsamenPlatz auf der Terrasse und fühltesich unsagbar traurig, trotz desheute errungenen Erfolges. Einsmal erhaschte er einen kurzenBlick auf Midge, die mit einemhübschen, gut angezogenen jun=gen Mann hinter den offenen Fen«stern vorübertanzte. Danach wuchsseine Traurigkeit noch mehr.Eine halbe Stunde verging, dannkam der Augenblick, vor demJohnny sich gefürchtet hatte. EinTusch erklang, von Trommelwir»beln untermalt, und die jovialeStimme eines dicken Mannes ver"kündete: »Ladies und Gentlemen,jetzt ist es soweit - die Caicutta"Auktion beginnt! Versammeln Siesich hier vor dem Podium und hal=ten Sie Ihre Geldbörsen bereit!

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Wir fangen, wie immer, von un=ten an, um uns die fetten Brockenfür den Schluß aufzuheben. Wirbeginnen also mit dem Spieler, derden sechzehnten Platz errang, mitJohnny Yale ... Hallo, Johnny,wo stecken Sie?«Johnny wäre am liebsten davon»gelaufen. Widerstrebend betrat erden Saal. Er schämte sich seineralten Hose und des abgetragenenSportjacketts.»Kommen Sie zu mir aufs Podium,Johnny, damit vor allem die La»dies einen Blick auf Sie werfenkönnen«, rief der Versteigerer.Johnny schob sich durch die Mengeund erstieg das Podium.»Nicht schlecht, dieser junge Mannwie?« Der Versteigerer strahlte.Allgemeines Lachen ertönte, da=zwischen war etwas Applaus zuvernehmen. Johnny, der sichschrecklich genierte, trat von einemBein auf das andere und wartete.»Ladies und Gentlemen - hier ha=ben wir also Johnny Yale, einengefährlichen Außenseiter diesesTurniers, einen waghalsigen undvielversprechenden Spieler ...Was wird auf diesen zukunftsrei'chen jungen Mann geboten?«Kein Angebot kam. Johnny stiegdas Blut in die Wangen.

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»Ladies und Gentlemen, wir dür=fen keine Zeit verschwenden. Ichfrage - was wird für Johnny Yalegeboten? Ich bitte um Angebotefür Johnny Yale! Entschließen Siesich, Ladies und Gentlemen!« ,Johnny wollte es scheinen, alswähre die Stille endlos. Dannplötzlich erklang eine kleine Stirn"me, die er unter Tausenden er»kannt hätte.»Hundert Dollar!« rief Midge Ro=per.Tapfere Midge! Sie hatte JohnnysVerlegenheit bemerkt und war indie Bresche gesprungen.»Hundertfünf zig!« rief eine Man"nerstimme.»... fünfundsiebzig!« rief Midge.»Zweihundert!«»... und fünfzig!« Midge bliebhartnäckig.»Drei ...«Die Angebote von Midge und demMann kamen kurz und knapp.»Dreihundertfünfzig« rief Midge.»Vierhundert!«Die Spielfolge des nächsten Tageswar bereits ausgelost; Johnnyhatte gegen Hai Hamner anzutre=ten. Der Mann, der gegen Midgebot, mußte ein Hamner°Fan sein.Bestimmt wollte er nachher vielauf Hamner bieten, aber außer«

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dem eine Rückversicherung für diewinzige Chance haben, daßJohnny durch eine Art Wunderüber Hai Hamner erfolgreich wäre.»Vierhundertfünfzig!« rief Midge.»Fünfhundert!«»... undfünfzig!«Der Mann bedachte Midge miteinem forschenden Blick »WollenSie ihn unbedingt haben, jungeMiss?«»Ich kenne sein Spiel«, entgegneteMidge.»Sechshundert!« rief der Mann.» Sechshundertf ünfzig!«Der Versteigerer grinste. »Ichstehe einfach da und höre es miran, und es ist Musik in meinenOhren. Machen Sie nur weiter!«Aber der Mann schien die Lustverloren zu haben.»Höre ich sieben?« rief der Ver=steigerer. »Sieben? Höre ich sie-ben? Was denn - nicht mehr alssechshundertfünfzig Dollar füreinen Endrundenteilnehmer andiesem großartigen Turnier? Höreich sieben? Nein? Das tut mir fastweh, aber nun muß ich ihn MissRoper zusprechen, für sechshun=dertfünfzig Dollar ... Zum ersten,zum zweiten und zum dritten!Johnny Yale - ersteigert von MissRoper für sechshundertfünfzig

Dollar ... Dank für Ihre Geduld;Johnny ... Und nun zum nächstenTeilnehmer ...«Johnny sprang vom Podium unddrängte sich zur Terrassentür. Erwagte einen Seitenblick auf Midgeund sah, wie sie ihm zuwinkte. Erwinkte nicht zurück. Er wünschte,sie hätte nicht auf ihn geboten.Nun würde morgen der auf ihmlastende Druck noch höher sein.Die Versteigerung des nächstenSpielers begann. Johnny wolltestillschweigend verschwinden, erhatte aber kaum ein paar Schritteüber die Terrasse gemacht, als erplötzlich Victor Sayies gegenüber"stand.»Hatte noch keine Gelegenheit,Ihnen zu gratulieren, Johnny«,sagte der Veranstalter. »Sie müs=sen sehr gut gespielt haben. Freuemich. Sie bei meinem Turnier da«bei zu haben.«»Danke sehr, Mr. Sayies.«»Ja, freue mich wirklich ... Aberda wir uns gerade treffen - habenSie Duke Merritt irgendwo gese=hen? Ich wollte ihn zur Versteigesrung holen und finde ihn nin»gends.«»Oh, tut mir leid, Mr. Sayies. Ichhabe ihn nicht gesehen. Vielleichtweiß Bob Christie, wo er steckt.«

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»Richtig - Bob Christie. Sagen Sie,Johnny - würde es Ihnen etwasausmadien, Bob Christie zu fra=gen?«»Nicht das geringste, Mr. Sayies.Ich werde zu ihm gehen.«Johnny lief zu dem Nebenge'bäude, in dem die Hilfskräfte un=tergebracht waren. Falls Old Bobsich noch nicht schlafen gelegthatte, würde er gewiß den Caddiesvom glanzvollen Golfspiel vergan=gener Tage erzählen. Und so wares. Der Alte saß, von einem hal=ben Dutzend junger Leute um=ringt, auf dem Rasen vor dem Ge°bäude und erzählte.»Wissen Sie, wo Duke steckt?«fragte Johnny. »Er wird für dieAuktion benotigt.«»Jetzt schon? Er ist draußen aufdem Platz und trainiert beim ach=ten Grün.«»Im Dunklen?«Bob nickte. »Er ist mit seinem Wa=gen dort und nimmt das Licht derScheinwerfer zu Hilfe.«»Wir sollten ihn holen«, sagteJohnny. »Mr. Sayie schien bereitsunruhig zu sein.«»Ja, dann müssen wir ihn holen«,entgegnete Bob und stand auf.Einer der Jungens zupfte Johnnyam Ärmel. Es war sein Caddie.

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»Kann ich mitkommen, Mr. Yale?«»Warum nicht?« gab Johnny lä»chelnd zurück. »Wir fahren mitmeinem Auto. Es steht auf demParkplatz.«

Ein unebener Weg, ausgefahrenvon den Lastwagen und Trakte»ren, die beim Bau der Anlage be=nötigt worden waren, zog sich ne=ben dem Golfgelände hin. AlsJohnny sein altes Auto eine kleineAnhöhe hinaufgesteuert hatte, sa=hen sie in einiger Entfernung dieScheinwerfer von Dukes Wagen,die die Umgebung des achtenGrüns beleuchteten.Bob Christie lachte. »Ein großar"tiger Kerl, dieser Duke! Golf istsein Lebensinhalt, und er nimmtdas Spiel verdammt ernst. Erweiß, was geschehen könnte, wenner morgen wieder an diesem Lochversagt. Deshalb trainiert er esdurch, bis es ihm in Fleisch undBlut übergegangen ist.«»Sogar in der Dunkelheit!« sagteder junge Caddie begeistert.»Die Dunkelheit macht ihm nichtviel, wenn er seinen Wagen dabeihat«, erwiderte Bob. »Vielleichthat er sich inzwischen einen be=sonders feinen Schlag ausgedachtund ist gleich hingefahren, um ihn

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zu erproben. Kein Wunder, wenner dann die Auktion vergißt.«Das alte Auto stoppte neben demchromglänzenden Straßenkreuzer.Johnny sah nichts von Duke. Erstieg aus. Bob Christie und derJunge folgten ihm.»He, Duke!« rief Johnny.Keine Antwort kam.Nachdem sie ein paar DutzendSchritte gegangen waren, konntensie auch die abgekehrte Seite desGrüns übersehen. Und dort lagDuke, das fraisefarbene Hemdund die blauen Slacks mit Blut be=sudelt.Bob wollte zu der reglosen Gestaltstürzen, aber Johnny hielt ihn zu=rück. Die schreckliche Wunde anDukes Hinterkopf, offenbar miteinem Golfschläger verursacht, derdicht neben Duke lag, ließ erken=nen, daß hier nicht mehr zu helfenwar. Bob versuchte Johnny abzu»schütteln. »Vielleicht lebt er noch,so schlimm es auch aussieht!«Johnny schüttelte stumm den Kopf.Er trat an Duke heran und griffnach seinem abgestreckten rechtenArm. Der Arm war kalt, vom Puls°schlag ließ sich nichts mehr spüren.Johnny hatte Mühe, eine jäh auf=kommende Übelkeit zu unterdrük=ken.

Er wankte zurück. Old Bob ver=stand, setzte sich an den Rand desGrüns und begann den Oberkör»per hin und her zu wiegen. Ersagte kein Wort, und dann kamendie Tränen, die über die verwitter»ten Wangen sickerten.»Kannst du mein altes Auto fah=ren?« fragte Johnny den Caddie,der wie erstarrt dastand.Der Junge nickte.»Dann fahr hinüber zum Klubhausund sag Mr. Sayies, was hier pas=siert ist. Er wird schon wissen, waser tun muß.«»Ist er - ist er tot?« flüsterte derJunge.»Ermordet«, knurrte Johnny.Der Junge stolperte zu JohnnysAuto und fuhr los.Ein Weilchen später kam Sayies,und mit ihm kamen die anderen —zehn, zwölf Wagen voller Men=sehen. Und Johnny schlich sich vondannen. Er war am Ende seinerKräfte und wollte allein sein. Des=halb schrie er Midge an, sie solleihn in Ruhe lassen. Sie folgte ihmtrotzdem.Die arme Midge.Auch für sie war es schwer. Manwußte ja, daß sie Duke geliebthatte...

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Johnny ließ sich auf eine Bankbeim zwölften Grün fallen. Midgesetzte sich zu ihm und griff nachseinen Händen. Minutenlang saßensie schweigend da. Schließlich rißJohnny sich zusammen.»Mein Vater starb, als ich Siebzehnwar«, murmelte er. »Er hatte im=mer so schwer zu arbeiten, daß ersich kaum um mich kümmernkonnte. Bis ich Duke traf, hat sichkeiner um mich gekümmert.«Midge schwieg und drückte John=nys Hände. Er streifte sie miteinem Seitenblick und sah, daß sievor sich hin in die Dunkelheitstarrte. Aber sie weinte nicht.»Wer immer es getan hat«, knurrste Johnny, »er wird es zu büßenhaben.«Der Druck von Midges Fingernverstärkte sich.»Ich weiß, wie Sie fühlen«, mur»melte Johnny nach einem Weil'dien. »Ich wünschte nur, ich könn=te es Ihnen ein wenig erleichtern.«»Johnny -«, flüsterte Midge.»Es gibt nur einen Menschen, vondem ich je ein böses Wort überDuke gehört habe«, fügte Johnnyhinzu, »und das ist Hai Hamner. Erist der einzige, bei dem ich je einfeindseliges Verhalten gegen Dukebemerkte.«

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Aus der Feme vernahmen sie Sire°nengeheul. Bald danach kam dasPolizeiauto mit dem roten Dreh»licht auf dem Dach über den Trak-torenweg heran. Ein Ambulanz»wagen folgte.»Johnny, Sie müssen jetzt hinüber«gehen«, sagte Midge.Er nickte. »Es wird allerlei zu tungeben. Duke hatte ja niemandenaußer Bob und mir - und Ihnen.«Er stand auf. »Ich hätte Bob nichtallein lassen sollen. Für ihn ist eineganze Welt zusammengebrochen.«Als Johnny und Midge sich demachten Grün näherten, fuhren diemeisten Wagen schon wieder inRichtung Klubhaus davon. Ver«mutlich war den Herumstehendenbeigebracht worden, daß die Poli=zei keine unnützen Zuschauerbrauchen könne.»Auch Sie sollten lieber zum Klub»haus gehen«, sagte Johnny zuMidge.'Sie nickte. »Ich werde dort auf Siewarten. Viel Glück, Johnny.«Johrmy blickte ihr nach, bis sie inder Dunkelheit verschwunden war.Dann trat er an die von Scheinwer"fern beleuchtete Stelle heran, woeinige Männer neben dem Totenstanden. Old Bob hockte noch im»mer am Rand des Grüns.

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In diesem Moment bemerkte Johnnyeinen Mann und eine Frau, die dichtnebeneinander hinter einem derWagen standen und sich leise, aberlebhaft unterhielten. Die Frau warSue Hamner. Doch der Mann - alsdas Licht eines wendenden Wagensdas Paar streifte, erkannte Johnny,daß der Mann nicht Hai Hamnerwar, wie er zuerst geglaubt hatte.Der Mann, der seinen rechten Armum Sue Hamner gelegt hatte, alsmüsse er sie stützen, war VictorSayies, der Veranstalter.

Distriktsanwalt George Franks gabsich kühl und geschäftsmäßig. Ne=ben dem Toten stehend, erteilte erden uniformierten Polizisten undden beiden Beamten in Zivil knappeAnweisungen. Einer der Beamtenmachte Blitzlichtaufnahmen. Derandere hielt den verhängnisvollenGolfschläger in der Hand, als wärees eine mit Dynamit geladene Ge-heimwaffe. Er blickte zu Franks.»Kaum Aussicht, irgendwelche ver-wertbaren Fingerabdrücke auf demDing zu finden«, erklärte er.»Das hätte ich auch nicht erwartet«,gab Franks trocken zurück. »Wosteckt eigentlich der Bursche, derihn gefunden hat?«Johnny trat vor. »Hier, Sir.«

Franks musterte ihn aus s^.Augen. »Sie sind mit den\ arren

Mann hierhergekommen, i i 8 "zu suchen?« ^ ihn

»In meinem Auto«, er^>Johnny. »Bei uns war au^ rte

Bill Everett, mein Caddie. Ih^61»ich dann zum Klubhaus ges, ha e

um Hilfe zu holen.« "ickt/

»Sie sind Johnny Yale?«»Jawohl, Sir.«»Sie haben ihn in der gleicher ^gefunden, in der er sich jet^. a^'efindet?« be'»Ja.«»Sie haben ihn nicht bewegte»Ich bin an ihn herangetr^sagte Johnny. »Ich - ich iv, n<</ .

• i. • •<ßtemich vergewissern.«»Haben Sie ihn berührt?«»Nur sein rechtes Handgelen^ .Haut war kalt, und vom Puls^ le

war nichts mehr zu spüren. By ^schrecklichen Wunde am H„. eri r '^er-köpf -«»Verstehe.« Franks warf ykurzen Blick zu Bob Chi^»Scheint den alten Mann sA, e'_-.—rr- . ' - ^ergetroffen zu haben?»Für ihn muß es sein, als hät^den eigenen Sohn verloren«, g r

gegnete Johnny. Ȇbrigens kai^Ihnen nichts von Belang bericL r

soweit es die Tat betrifft. Ich L"'

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ihn bei der Unterkunft der Caddieab und kam mit ihm und Bill Eve=rett in meinem alten Auto hierher,um Duke Merritt zu suchen, der imKlubhaus benötigt wurde. Wirfanden Duke, und ich schickte Billzum Klubhaus zurück. Dann habeich mit Bob hier gewartet.«Franks nickte. »Sie werden nachhereinem meiner Beamten ausführlicheAussagen machen. Inzwischen kön=nen Sie mit dem alten Mann zumKlubhaus fahren und dort warten,bis Sie benötigt werden.«»Jawohl, Sir«, sagte Johnny. Erwandte sich ab und wollte gehen,machte aber plötzlich wieder halt,weil er ganz in der Nähe DukeMerritts ledernen Schlägerbeutelliegen sah.»Mr. Franks!« rief er scharf.»Ja?«»Dort sind Dukes Schläger. HabenSie sie angesehen?«»Nein. Wir interessieren uns nurfür den einen Schläger, der nebendem Toten lag.«»Eben, das ist es ja!« sagte Johnny.»Dukes sämtliche vierzehn Schlägerstecken in diesem Beutel!«»Vielleicht besaß er einen fünf=zehnten?«»Ausgeschlossen, Mr. Franks.«Johnny schüttelte den Kopf. »Jeder

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Turnierteilnehmer darf nur vier»zehn Schläger mit sich führen. Wirdman mit mehr als vierzehn Schlä»gern erwischt, hat es die Disqualifi=kation zur Folge.«»Und?«»Natürlich besaß Duke Merrittmehrere Sätze von Golfschlägern.Aber jeder Satz steckt in einembesonderen Beutel. Und niemalshätte Duke außer dem komplettenSatz einen weiteren Schläger mit=genommen. Vor Jahren wurde erdeswegen mal disqualifiziert undverlor dadurch mehrere tausendDollar.«»Nun ja. Aber vielleicht hat er zumTraining einen weiteren Schlägermitgenommen, um ihn nachherwieder zum Originalsatz zu stek=ken?«Johnny schüttelte nachdrücklich denKopf. »Das wäre bei Duke völligausgeschlossen gewesen. Nie hätteer einen zusätzlichen Schläger inden Satz gesteckt, und wäre es auchnur gewesen, um damit die Straßezu überqueren!«Franks ließ sich den verhängnisvol=len Schläger geben und ging damitzu Old Bob.»Mr. Christie - ist das hier DukeMerritts Schläger?«Old Bob schien wie aus weiter

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Feme zurückzukehren. Seine hellenAugen richteten sich langsam aufden Schläger. Dann schüttelte erden Kopf. »Nein, Sir - das ?st kei=ner von Dukes Schlägern.«»Woher wissen Sie das so genau?«»Dukes Schläger wurden von einerbestimmten Firma hergestellt. Un=ter der Marke Duke=MerrittsSchlä=ger. Natürlich hat Duke nur dieseSchläger benutzt. Und das hier istein einfacher Nichols=Schläger.«»Vielleicht hatte er einen Nichols=Schläger in irgendeinem seiner Re=servesätze?«»Das würde ich wissen, Sir. Undweshalb sollte er wohl nebenhereinen anderen als seine Duke=Mer=ritt'Schläger benutzt haben?«Franks blickte zu Johnny. »Gibt eseine Möglichkeit, festzustellen,wem dieser Schläger gehört?«»Gewiß. Lassen Sie im Gästehausund in den Garderoberäumen derSpieler nach einem Beutel mit Ni=chols=Schlägern suchen. Sehen Siedie Nummer auf diesem Schläger?Er gehört zu einem registriertenSatz.«Franks nickte. »Danke, Mr. Yale.Das dürfte für den Augenblick ge=nügen. Bringen Sie nun den altenMann zum Klubhaus und wartenSie dort auf mich.«

»Sir, ich glaube, Bob möchte bleieben, bis die Leiche weggefahrenwird.«Franks dachte einen Moment langnach. »Gut, ich habe nichts dage=gen. Lange wird es sowieso nicht-mehr dauern. Aber dann fahren Siemit ihm zum Klubhaus, nichtwahr?«Johnny versprach es und ging einStück beiseite. Er wollte allein seinund nachdenken. Nichols=SAläger!Er versuchte sich zu erinnern, werNichols=Schläger benutzte.Da tippte ihm jemand auf denArm. Als er den Kopf wandte, saher in Sue Hamners bleiches Ge=sieht. »Kann ich Sie einen Augen»blick sprechen, Johnny?« fragte siefast unhörbar.Johnny blickte über die Schulter —Distriktsanwalt Franks war mit sei»nen Leuten beschäftigt. Johnnyging mit Sue einige Schritte weiterins Dunkel.»Ich kann mir vorstellen, was Siedenken«, sagte sie.Johnny murmelte: »Duke wurdehinterrücks erschlagen.«»Und Sie denken an Hai.« SueHamner wirkte erschöpft. »Es ist jakein Geheimnis, wie Hai zu DukeMerritt stand.«»Warum stand er so zu Duke?«

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»Er war eifersüchtig auf ihn,Johnny. Völlig grundlos, aber erwar eifersüchtig.«»Grundlos?« Johnny fragte es bit«ter. »Früher dachte ich das auch.Jetzt denke ich anders.«»Aber, Johnny -«»Sie und Sayies«, sagte Johnny.»Am Tag unserer Ankunft hier —ich habe gesehen, daß Sie Sayieskannten. Sogar gut kannten. VorIhrem Mann haben Sie es verheim»licht. Vielleicht hat Hai allen Grund,eifersüchtig zu sein. Vielleicht ha»ben Sie ihn dazu getrieben, Dukezu erschlagen.«Sue Hamner hielt sich die Händevors Gesicht, als hätte Johnny siegeschlagen. »Überlassen Sie allesder Polizei, Johnny«, flüsterte sie.»Geben Sie ihr keine Andeutungenüber Hai. Bitte, Johnny!«Ehe er etwas erwidern konnte, saher Sayies herankommen. »Stimmtetwas nicht, Mrs. Hamner?« fragteSayies ruhig.»Nein ... Nein, ich sagte Johnnygerade, wie furchtbar leid mir dasalles tut. Ich -«»Wahrhaftig ein schwerer Schlagfür Sie, Johnny«, bestätigte Sayies.An Sue gewandt fügte er hinzu:»Darf ich Sie zum Klubhaus zu=rückbringen, Mrs. Hamner?«

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Sue warf Johnny einen beschwö"renden Blick zu. »Ja, danke«, sagtesie dann zu Sayies.Johnny sah ihnen nach, wie sie zuSayies' Wagen gingen.

Old Bob rührte sich nicht von derStelle, bis der Ambulanzwagen mitder Leiche davonfuhr. Als dieRücklichter der Ambulanz außerSicht gekommen waren, stand erauf und ging mit langsamen Schrit-ten zu Johnnys Auto. Während derFahrt zum Klubhaus sagte er keinWort. Auch Johnny schwieg.Als sie den Parkplatz neben demKlubhaus erreichten, blieben siezunächst im Auto sitzen. Johnnywar an Gedanken über Sue Harn»ner verloren; er konnte nicht be°greifen, daß sie zu ihrem Mannhielt und ihn zu schützen versuch»te, obwohl er sie so schlecht behan"delte.Old Bob stieß einen schwerenSeufzer aus. Tröstend legte ihmJohnny eine Hand auf die Schulterund murmelte: »Ich weiß nicht/wasich Ihnen sagen soll, Bob.«»Schon gut, Johnnyboy. Wir beidewissen, wie wir fühlen.«Johnny dachte noch immer an SueHamner. »Aber es gibt Leute, dieihn nicht leiden mochten.«

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Mord beim Gotftumier

»Duke war eben Duke«, sagte BobChristie. »Er war ein beständigerSieger, und deshalb konnten ihnLeute, die hin und wieder verloren,nicht leiden. So ist die menschlicheNatur nun mal. Man neidete ihmseine Siege. Und seine Persönlich'keit.«»Aber daß man ihn deshalb um«bringen konnte!«»Er besaß auch eine Schwäche,Johnnyboy. Wir beide kennendiese Schwäche. Der Grund für dieTat dürfte etwas mit einer Frauzu tun haben.«»Nie werde ich Hamners Ausdruckvergessen, als er sich gestern aufDuke stürzen wollte«, bemerkteJohnny.Old Bob gab keine Antwort.»Es war kein Zufall«, fügte Johnnyhinzu. »Jemand hat genau gewußt,daß Duke draußen trainierte. Unddieser Jemand ging mit dem Golf'schläger hinaus - zu allem enti»schlössen!«Old Bob gab noch immer keineAntwort. Eine Minute verstrich,ehe er murmelte: »Laß uns hinein'gehen, Johnnyboy. Es gibt eineMenge zu tun, ehe die Nacht vor»über ist.«Sie ließen das Auto und gingendurch einen Seiteneingang des

Klubgebäudes zu Sayies' Büro.Sayies war dort und machte diePlatte seines Schreibtisches frei.»Distriktsanwalt Franks wird die-sen Raum übernehmen«, sagte er.»Wollen Sie hier auf ihn warten?«»Wenn Sie erlauben, ja«, antworstete Johnny. »Im Saal sind zu vieleMenschen.«»Gut, daß Sie vor Franks gekom"men sind«, äußerte Sayies, nochimmer mit dem Aufräumen derSchreibtischplatte und dem Ver«stauen der Sachen beschäftigt. »Erhat nämlich entschieden, daß dasTurnier fortgesetzt wird. Er mußdie Teilnehmer ohnehin bis zurAufklärung des Mordes hierbehal"ten und meint, es wäre leichter,wenn sie etwas zu tun hätten.Duke muß ja nun gestrichen wer=den. Aber mich interessiert dieFrage, ob Sie weiterspielen werden,Johnny.«Johnny war ratlos; an diese Mög=lichkeit hatte er noch nicht gedacht.Nach allem Vorgefallenen Golfspielen? Und in der nächsten Run»de ausgerechnet Hai Hamner ge»genübertreten? »Ich kann es nicht«,sagte er nach kurzem Überlegen.»Er wird weiterspielen«, erklärteBob Christie unbeirrt. An Johnnygewandt, fügte er hinzu: »Du bist

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Hugh Pentecost

Profigolfer/ mein Junge. Das Golfsspielen ist dein Beruf. Heute hastdu dich als Spieler von Klasse ge=zeigt. Wenn du erst in mein Alterkommst, dann wirst du verstehen,daß jeder - so oder so - sterbenmuß. Du wirst auf jeden Fall wei=terspielen. Duke Merritt hätte ge=nau dasselbe von dir verlangt.«Sayies räumte die letzten Papierevon der Schreibtischplatte. »Nungut, Johnny, Sie werden sich nochentscheiden«, sagte er. »Ich würdees begrüßen, wenn Sie weiterspiel=ten. Falls Sie sich dazu entschlie=ßen, hätten Sie Ihr Spiel gegenHamner morgen früh um neun Uhrfünfzehn zu beginnen.«»Johnny wird spielen«, versicherteBob Christie.Johnny ging ans Fenster und starr'te in die Dunkelheit hinaus. OldBob trat hinter ihn und legte ihmeine Hand auf die Schulter.»Johnnyboy - ohne Duke sind wirbeide verloren. Ich noch mehr alsdu. Ich habe Duke Merritt sozu=sagen großgezogen. War ein guterTag für mich, als wir dich fanden,Johnnyboy. Ohne dich hätte ichjetzt gar nichts mehr.«»Sie werden sich noch entscheiden,Johnny«, wiederholte Sayies. Ertrat an die Tür, zögerte und drehte

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sich zu Bob Christie um. »Siekannten Duke Merritt doch beinahsein ganzes Leben lang, Mr. Chri=stie - nicht wahr?«»Seit seinem zwölften Jahr«, be=stätigte Bob.Sayies zündete sich eine Zigarettean. »Hat Duke mich jemals er=wähnt?«Old Bob legte die Stirn in nach»denkliche Falten. »Kann mich nichterinnern, Mr. Sayies. Haben Sieihn denn von früher her gekannt?«»Persönlich nicht. Natürlich habeich ihn oft spielen sehen - als Zu=schauer. Und ich habe auch an die=sem oder jenem Bankett teilgenom=men, bei dem er anwesend war.Aber immer nur als Zuschauer.«»Dann dürfte er sich kaum an Sieerinnert haben, Mr. Sayies. Beisolchen Banketts mußte er ja mitso vielen Menschen sprechen.«»Nun, ich dachte nur, es wäre ihmanläßlich dieses Turniers vielleichtdoch vorgekommen, als hätte ermich schon einmal gesehen.«Bob schüttelte den Kopf. »Tut mirleid, Mr. Sayies. Zu mir hat ernichts davon gesagt. Und was michbetrifft, so denke ich, daß ich Siezum erstenmal gesehen habe, alswir uns gestern hier eintrugen.«»Es wäre immerhin möglich gewe»

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sen«, sagte Sayies schulterzuckend.»Wenn ich irgend etwas für Siebeide tun kann — Sie finden michin meiner kleinen Privatwohnungim zweiten Stock dieses Hauses,solange Mr. Franks mein Büro be°nötigt.« Er nickte Johnny und Bobzu und ging hinaus.Johnny mußte daran denken, daßer vorhin Sayies und Sue Hamnerim Licht eines wendenden Wagensnahe beieinander gesehen hatte.Warum hätte Duke diesen Sayieserwähnen sollen, wenn er ihn garnicht kannte?Noch ehe er sich über diesen Punktzu Bob äußern konnte, kam einervon Franks Assistenten herein undbat sie, in den beiden Sesseln vordem Schreibtisch Platz zu nehmen.Er selbst setzte sich hinter denSchreibtisch, legte Schreibblock undBleistift zurecht und fragte: »IhrName ist Johnny Yale?«»Warum sind Sie nicht draußenauf dem Golfplatz und unterneh=men etwas, statt uns hier auszu=fragen? Wir haben ihn nicht um=gebracht!« gab Johnny gereizt zu=rück.»Sie beide haben ihn gefunden«,sagt der Vernehmungsbeamte. »Esist mein Job, Ihre Geschichte anzu»hören.«

So erzählten sie, was sie zu erzäh=len hatten. Es dauerte ungefährfünfzehn Minuten. Johnny wareben dabei, seine Unterschrift ne=ben die von Old Bob zu setzen, alsDistriktsanwalt Franks eintrat. Erwirkte recht zufrieden.»Wir haben festgestellt, wem die»ser Schläger gehört«, sagte er undhielt die Mordwaffe hoch.»Wem gehört er?« fragte Johnnyschnell.»Töricht von mir, nicht gleich zuerkennen, daß es sich um einenleichten Schläger handelt«, sagteFranks, »um einen Frauenschlä»ger.«»Eine Frau? Sie glauben, eineFrau -?«»Der Schläger gehört einem Mäd=chen namens Midge Roper«, er»klärte Franks.Johnny fuhr auf. »Das ist dochsinnlos!« rief er. »Midge hat ihnja geliebt!«Franks bedachte ihn mit einemleicht amüsierten Blick. »Ich habeauch nicht behauptet, daß sie es ge=tan hätte. Ich habe lediglich festge»stellt, daß ihr der Schläger gehört.Kennen Sie sie?«»Selbstverständlich. Sie ist unswährend der letzten vier oder fünfTurniere gefolgt. War völlig ver=

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narrt in Duke! Hätte ihm nie etwaszuleide tun können!«»Gut«, sagte Franks. »Regen Siesich bloß nicht auf. Ich sagte nur,daß ihr der Schläger gehört.«»Mister«, meldete sich Old Bob,»hier im Haus und in den Gardero'ben und in den Caddieunterkünfsten gibt es mindestens zweihundertSchlägersätze. Ich habe heute nach»mittag Midges Schlägersatz ver=staut. Sie hatte ein bißchen trai»niert. Dann wollte sie sichJohnnysSpiel ansehen und bat mich, ihreSchläger zur Garderobe zu bringen.Ein reiner Zufall, daß der Mörderihren Schläger nahm.«»In Ordnung«, sagte Franks, »keinGrund zur Aurregung. Wir versuechen doch bloß, ein paar Tatsachenherauszufinden.«»Ich kann Ihnen ein paar Tatsa=chen geben, Sir«, erklärte Johnny.»Ich kann -«Er wurde unterbrochen. Die Türging auf, und ein umformierter Po°lizist schob Midge ins Zimmer. Siewarf Johnny einen ängstlichenBlick zu und wandte sich anFranks. Ihr Gesicht war blaß.Franks lächelte ihr liebenswürdigentgegen. »Ah, Miss Roper.« Erwies auF den Golfschläger. »Er=kennen Sie das?«

»Ist das - ist das der Schläger, mitdem -?«»Ja.«»Sieht aus, als sei es einer von mei°nen«, murmelte Midge.»Können Sie ihn nicht nach derNummer identifizieren, Miss Ro»per?«»Nach der Nummer?«»Er gehört zu einem registriertenSatz und trägt demzufolge eineNummer.«»Das - das ist mir nie aufgefallen«,stammelte Midge.»Und wenn ich Ihnen sage, daßder Schläger tatsächlich aus IhremSatz stammt, Miss Roper?«»Dann wird es wohl stimmen. Ersieht auch genauso aus, als sei ereiner von meinen Schlägern.«Franks lehnte sich leicht über denSchreibtisch und blickte Midge an.»Was wollen Sie von mir?« fragteMidge nervös.»Johnny Yale deutete an. Sie seienmit Duke Merritt verlobt gewesen- wenn man so sagen darf.«»Das ist nicht wahr!« rief Midgeund sah Franks voll in die Augen.»Aber Sie liebten ihn, nicht wahr?«»Nein!«»Nein?« wiederholte Franks etwasweniger liebenswürdig. »Wie stan-den Sie denn zu ihm?«

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»Und wenn ich mich weigere, dieseFrage zu beantworten?«Franks lächelte schon wieder. »War=um sollten Sie das, Miss Roper?«Nicht eine Sekunde lang wandteMidge die Augen von Franks Ge=sieht. »Weil - wie heißt doch diesehübsche Formulierung? - ich michselbst nicht belasten möchte. Soheißt es doch, nicht wahr?«»Midge!« rief Johnny.»Ruhig, Johnny«, sagte sie, ohnesich umzusehen.Franks holte eine Zigarette herausund klopfte sie auf seinem Hand=rücken fest. »Sie sind nicht verhaf=tet, Miss Roper. Sie können tunoder lassen, was Ihnen beliebt —vorläufig noch.«»Wissen Sie«, sagte Midge leise,»es hätte wohl anders sein sollen.«»Inwiefern anders?«»An seiner Stelle hätte ich dortdraußen liegen sollen«, erklärteMidge.Franks machte eine beschwörendeHandbewegung. »Fahren Sie fort,Miss Roper — bitte!«»Ich — ich war darauf aus, es ihmzu besorgen«, sagte Midge. »Wenner das gewußt hätte -«»Es wem zu besorgen?«»Duke Merritt!« rief Midge. »Erwar ein gemeiner Schuft, Mr.

Franks! Ein schmutziger Erpres-ser!«»Midge!« keuchte Johnny, der sei»nen Ohren nicht trauen wollte - eswar unfaßbar. Und als dann dieganze Geschichte von ihren Lippensprudelte, erschien ihm Midge vöL»lig fremd. Unglaublich, wie sieüber den lachenden, immer liebens"würdigen, zu jedermann hilfsberei»ten Duke Merritt sprach!Sie erwähnte ihren Bruder, und alsder Name Ed Roper fiel, wurde esplötzlich still im Raum.»Eine knappe Stunde vor seinemTod war ich bei Ed«, berichteteMidge; ihre Stimme klang aus=druckslos vor lauter mühsamerSelbstbeherrschung. »Er hatte mirtelegrafiert, daß er in Schwierig»keiten sei, und ich flog mit dernächsten Maschine zu ihm hinüber.Da er noch so jung war und sichschämte, hatte er zu lange gezö»gert, sich mit mir in Verbindungzu setzen. Ich kam zu spät, um ihnzu retten. Er hatte in einem Spiel»klub von Las Vegas viel Geld ver=loren. Wieder und wieder war eraufgefordert worden, seine Schuldzu begleichen. Er stand am Randeder Verzweiflung, als ihm jemandein Angebot machte - er sollte sichverpflichten, nach seinem bevor"

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stehenden Abgang von der High=school, in deren Baseballmamisschaft er dreimal hintereinandermitgeholfen hatte, die NationaleSchulmeisterschaft zu erringen, alsBerufsspieler in einen bestimmtenBaseballklub einzutreten. Täte erdies, so würde er auf der StelleGeld genug bekommen, um seineSchulden zu bezahlen. Eddie gingin seiner Not auf dieses Angebotein, obwohl es einen Haken ent=hielt - er sollte nämlich dafür sor=gen, daß der Klub, dem er beitre»ten würde, die nächste Meister»schaft nicht gewänne. Er unter=schrieb ein entsprechendes Schrift=stück, obwohl er wußte, daß es ihnbei Bekanntwerden unweigerlichins Gefängnis bringen würde. Undder Mann, der ihn zu dieserschmutzigen Sache überredete -«,Midge holte tief Atem, »dieserMann war kein anderer als DukeMerritt!«»Unmöglich!« raunte Old Bob hei»ser.»Sie wollen einen Beweis, Mr.Christie? Zugegeben - ich besitzekeinen. Besäße ich einen, dannwäre ich längst zum Gericht gegan=gen. Ed war mit Merritt in einemöffentlichen Lokal zusammenge=troffen - ohne Zeugen. Ich hatte

nur Eds Wort, und ich glaubte ihm.Mein Bruder hat sich lieber selbstgerichtet, als einen derart schmut=zigen Verrat zu begehen. Aber dieVerantwortung für seinen Selbst»mord trug Duke Merritt! Es war,als hätte er meinen Bruder eigen=händig aus dem Fenster gestoßen!«Midge schwieg ein paar Sekundenlang. Im Zimmer herrschte tiefeStille.»Nach dem Tod meines Bruderswurde mir klar, daß ich meines Le=bens nie mehr froh sein könnte,wenn es mir nicht gelänge, DukeMerritt als den Lumpen zu entlar»ven, der er in Wirklichkeit war. Ichdachte mir einen Plan aus, und esdauerte einige Zeit, bis ich mich zumeinem Entschluß durchringenkonnte. Aber dann machte ich michauf den Weg zu Duke Merritt. InPinehurst begegnete ich ihm. Undseitdem spielte ich die Rolle der bisüber beide Ohren in ihn verliebtenNärrin.« Ein verächtliches Lächelnlag aufMidges Lippen. »Da er sehrvon sich eingenommen war, fander es durchaus in Ordnung, daß ichmich in ihn verliebt hatte. Er sonntesich in dem Bewußtsein, ein um=schwärmter Mann zu sein, undahnte nicht, daß ich ihn entlarvenwollte. Doch ich wußte, daß er

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eines Tages irgendeinen Fehler ma=chen und mir die erforderlichen Be°weise in die Hand geben würde ...Es ist gut, daß Sie hier sind,Johnny. Zu Ihnen und zu Bob Chri=stie hatte ich von Anfang an Ver=trauen. Nicht eine Sekunde langdachte ich daran, daß einer vonIhnen Duke Merritts Komplize seinkönnte. Meine Freundschaft zuIhnen beiden war immer ehrlichgemeint. Das sollen Sie wissen.«Sie wandte sich wieder an Franks.»Sie dürfen nicht glauben, Mr.Franks, das Mordmotiv sei viel=leicht in einer Golfrivalität zu su°chen. Duke Merritt war ein Verbre=eher, ein grausamer, rücksichtsloserErpresser! Er wurde von jemandemumgebracht, der den Druck nichtlänger ertrug!«»Davon bin ich überzeugt, MissRoper«, entgegnete Franks. »Se=hen Sie - nachdem ich herausfand,daß dieser Schläger Ihnen gehörte,habe ich weitere Ermittlungen an=gestellt.«»Oh?« Midges Stimme klang ver=zagt.»Und diesen Ermittlungen zufolgesaß Merritt mit Ihnen auf der Ter=rasse des Klubhauses, als er sichentschloß, zum achten Grün hin=auszufahren und dort zu trainie»

ren. Er sagte Ihnen, daß er hinaus?fahren würde - nicht wahr?«»Ja, er sagte es mir.«»Gut. Es wäre auch zwecklos ge°wesen, wenn Sie es bestritten hätsten, Miss Roper, denn die Unter"haltung wurde von mehreren Leu»ten gehört. Weiterhin wäre eszwecklos, wenn Sie bestreiten wür"den, daß Sie sich etwas später eben«falls auf den Golfplatz begeben ha=ben. GUS Talbot/ der junge Mann,mit dem Sie am Tisch saßen, sahSie, als Sie vom Platz zurückkamen- wo Sie mit Merritt zusammenge»wesen waren.«»Ich war auf dem Platz, dasstimmt«, antwortete Midge. »Abernicht mit Merritt.«»Sondern?«»Ich ging hinaus, weil Merritt michgebeten hatte hinauszukommen.Meine Rolle schrieb mir ja vor, ihmstets gefällig zu sein. Als ich zumachten Grün kam, war Merritt be=reits tot.«Der Distriktsanwalt war einen Mo»ment lang verblüfft. »Und Sie hiel=ten es nicht für nötig, das sofort zumelden?«Midge warf den Kopf in den Nak=ken und erwiderte ruhig; »Ich habees bewußt unterlassen. Wenn DukeMerritts Mörder Zeit brauchte, um

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seine Spuren zu verwischen, sowollte ich ihn nicht daran hindern.«»Midge!« schrie Johnny; er waraußer sich. »Midge — Sie müssensich irren! Ihr Bruder hat Ihnennicht die Wahrheit gesagt! Ichkannte doch Duke! Und Bob kann"te ihn noch viel besser! Es ist aus=geschlossen/ daß Duke jemals sogesprochen und gehandelt hat, wieSie es behaupten!«»Sie kannten ihn eben nicht, John"ny«, gab Midge zurück. »SchauenSie sich die Zeitungsausschnittenoch einmal an — die Zeitungsaus"schnitte über Johnny Yale. Allediese hübschen Stories sprechenhauptsächlich davon, welch einprächtiger Bursche der große DukeMerritt sei. Denken Sie denn,Johnny, er hätte Ihnen auch nureinen Cent geliehen oder eine ein»zige Minute seiner Zeit für Sie ge=opfert, wenn es nicht zu seinemeigenen Vorteil gewesen wäre?«»Er - er hätte mir doch überhauptnicht zu helfen brauchen«, stam=melte Johnny.»Oh, er besaß eine gute Nase fürDinge, die ihm nützlich waren! OldBob war auch nützlich für ihn! Wieviele ergreifende Stories warendoch in den Sportzeitungen überDuke Merritt und sein gutes Herz

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zu lesen! Dieses edle Herz, das esnicht zulassen wollte, daß ein alt"gewordener Golfer, den das Glückverlassen hatte, Not und Hungerlitt!«»Hören Sie auf, Midge«, ächzteJohnny. »Schweigen Sie doch end"lieh!«»Zu viele Leute haben allzu langegeschwiegen, Johnny.«»Yale«, sagte der Distriktsanwaltin scharfem Ton, »Sie und der alteMann gehen jetzt hinaus. DieseUnterhaltung ist nicht mehr infor»mell. Miss Roper scheint eine wich-tige Zeugin zu werden.«»Aber Sie wollen doch nicht sagen,daß Miss Roper -« i»Bitte, gehen Sie!« wiederholteFranks.Johnny spürte Bobs Hand auf derSchulter; er schüttelte sie ab. »Dasalles ist doch verrückt, Mr. Franks!Midge Roper täuscht sich! Daraufwill ich schwören! Wie hätte ichmonatelang Tag für Tag mit DukeMerritt Zusammensein können,ohne ihn genau kennenzulernen?Aber das ist auch nicht das Schlimm»ste. Das Schlimmste ist, daß Siedem Mörder Zeit lassen, sich einegute Geschichte auszudenken!«»Und wer ist. Ihrer Meinung nach,der Mörder?«

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»Hamner! Hai Hamner! Er hätteDuke schon gestern nachmittag um=zubringen versucht, wären nicht zuviele Leute in der Nähe gewesen!Dafür gibt es Zeugen genug!«»Duke hat wohlweislich eine Zeitgewählt, den Helden zu spielen, alsgenug andere Leute in der Nähewaren«, warf Midge ein. »Stimmtdas nicht, Johnny?«»Midge«, stöhnte Johnny, »Sie ha=ben sich von irgendeiner dummenLüge völlig durcheinanderbringenlassen!«»Meinen Sie, mein Bruder hätteden Namen Duke Merritt aus derLuft gegriffen?«»Er hat Sie beschwindelt. Er -«»Genug davon!« unterbrach Franksund gab dem an der Tür lehnendenUniformierten einen Wink.Der Polizist trat auf Johnny zu.»Sie müssen jetzt hinausgehen.«»Warum lassen Sie ihn nicht hier,Mr. Franks?« fragte Midge. »Frü=her oder später muß er die Wahr»heit über sein Idol ja doch erfah=ren.«»Lassen Sie Hamner holen, Mr.Franks!« rief Johnny. »Fragen Sieihn, wo er zur Tatzeit war und waser trieb. Mehr ist nicht nötig. MitMidge können Sie sich später be°fassen. Dukes Leben wäre nicht

mehr zu retten gewesen, auch wennSie den Mord sofort gemeldet hat»te. Falls dadurch jemand eine Flucht»chance erhielt, werden Sie es schnellherausfinden. Und das wäre dannso gut wie ein Geständnis - nichtwahr?«Franks zögerte.»Wenn Midges Geschichte an dieÖffentlichkeit dringt, ist sie niemehr aus der Welt zu schaffen«,fügte Johnny erregt hinzu. »DukeMerritt kann sich nicht mehr ver=leidigen. Aber Bob Christie undich — wir können das für ihn besor»gen, wenn Sie uns eine Chancegeben. Finden Sie den Mörder, Mr.Franks! Midges Angelegenheitkann warten.«Franks wandte sich an den Poli»zisten. »Holen Sie Hamner.«

Johnny kam sich vor wie ein Mann,der an einem Klippenrand hängtund sich haltsuchend an ein paarkleine Sträucher klammert, obwohler weiß, daß sie nachgeben werden.Bei jedem anderen Menschen hätteer die Geschichte mit einem Schul"terzucken abgetan, aber Midge ge=genüber war das unmöglich. Midgelog nicht, sie irrte sich nur. DaFranks bis zu Hamners Eintreffenoffenbar nichts weiter unterneh»

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men wollte, ging Johnny zu Midgehinüber.»Hören Sie, Midge«, sagte er,»kommt es Ihnen nicht selber sinn»los vor? Sinnlos und voller Wider»Sprüche? Wenn Duke irgend etwasmit Ihrem Bruder zu schaffen ge"habt hätte - müßte ihm dann nichtIhr Name aufgefallen sein? Hätteer sich schuldig gefühlt, dann wäreer Ihnen doch ausgewichen!«Midge schüttelte müde den Kopf.»Er wußte, wer ich war. Wir un=terhielten uns sogar über Ed. Ersetzte einfach voraus, daß ich kei=nen Verdacht gegen ihn hätte. Undgenauso setzte er voraus, daß erunwiderstehlich wäre. Überdieshielt er sich für unfehlbar. Jeman=den, der ihm einen Fehler nachzu=weisen versuchte, hätte er ausge=lacht.«Bob Christie kam herbei. »Du soll=test mit Midge nicht streiten,Johnny. Sie glaubt an das, was siedir erzählt. Und du glaubst an das,was du ihr erzählst. Die Wahrheitwird noch ans Licht kommen.«»Bob«, bat Johnny bedrückt, »er=zählen Sie ihr von Duke.«Der alte Mann zuckte die Schultern.»Hätte momentan nicht viel Sinn,Johnny. Sie kann nur noch durchTatsachen überzeugt werden.«

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»Aber -«»Keine Sorge. Wenn der Mördergefunden ist, werden wir uns umdie Tatsachen kümmern.«Ehe Johnny etwas erwidern konn»te, flog die Tür auf, und Sue Harnsner kam herein, bleich und atem»los. »Mr. Franks?«»Der bin ich«, sagte der Distrikts»anwalt.»Ich bin Sue Hamner - Mrs. HaiHamner. Ich hörte, daß Sie meinenMann suchen lassen.«»Das stimmt. Wissen Sie, wo erist?«»In der Spielergarderobe, bei denanderen. Ich muß Ihnen etwas sä»gen, ehe Sie mit ihm sprechen.«»Bitte, Mrs. Hamner?«»Hai haßte Duke Merritt. Aber daswar mein Fehler. Merritt schenktemir auf allen Turnieren dieser Sai»son seine besondere Aufmerksam»keit. Und Hai war eifersüchtig. Erglaubte, wirklichen Grund zurEifersucht zu haben. Ich - ich hätteeinen Weg finden müssen, Merrittabzuweisen. Da ich es nicht tat,hatte Hai ein Recht, zornig zusein.«»Sie lieben Ihren Mann, Mrs.Hamner?«Sue atmete schwer. »Von ganzemHerzen«, flüsterte sie.

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Johnny/ der sich des blauen Flecksauf ihrer Wange erinnerte, war er=staunt. Wie konnte diese Frau einenMann lieben, der sie mißhandelte?»Warum ließen Sie Merritts Aufsmerksamkeiten dann nicht einfachunbeachtet, Mrs. Hamner?«»Das - das konnte ich nicht.«»Soll das heißen, Mrs. Hamner,daß er Sie irgendwie überredete?«»N '̂a, er überredete mich.«»Ach. Und nun kommen Sie, umuns zu erzählen, daß alles Ihr Fehsler gewesen ist.«»Ich konnte Merritt nicht entrnu»tigen«, flüsterte Sue.»Mochten Sie ihn denn so gern?«»Ich haßte ihn!« erklärte Sue hef-tig. »Ich haßte ihn, wie ich nie zu»vor einen Menschen gehaßt habe!«»Das verstehe ich nicht«, sagteFranks und schüttelte den Kopf.»Sie haßten Merritt, aber Sie lie=ßen sich von ihm hofieren?«»Die Gründe dafür kann ich hiernicht nennen, Mr. Franks, AberSie müssen verstehen, daß Haikeine Schuld trifft. Ich habe ihndazu getrieben!«»Zu was getrieben, Mrs. Hamner?«»Daß er Merritt haßte.« Währendsie es sagte, erkannte Sue deneigentlichen Sinn von Franks' Frageund zuckte zusammen. »Hai haßte

Merritt«, fügte sie schnell hinzu,»aber er hat ihn nicht umgebracht.«»Woher wissen Sie das, Mrs.Hamner? Können Sie ihm für diefragliche Zeit ein Alibi geben?«»Nein«, antwortete sie tonlos,»aber ich kenne Hai. Er hätte Mer=rit mit den bloßen Fäusten zusam»mengeschlagen. Nie hätte er ihnmit einem Golf Schläger angegriffenund noch dazu von hinten. Für Haibestand gar keine Notwendigkeit,Merritt zu töten. Er wollte ihn mixvon mir fernhalten.«»Und obwohl Sie behaupten. IhrenMann von ganzem Herzen zu lie»ben, konnten Sie ihm dabei nichthelfen?«»Nein, ich konnte ihm dabei nichthelfen«, bestätigte Sue so leise, daßes kaum zu hören war.Franks wollte etwas erwidern, dochda ging die Tür auf, und der Poli»zist führte Hai Hamner herein. Derlangaufgeschossene Südstaatlerwarf einen kurzen Blick auf seineFrau und senkte die Augen.Sue trat schnell auf ihn zu. »Hai!«Er schaute nicht auf und schwieg.»Mr. Hamner, ich denke. Sie wis»sen, weshalb ich Sie holen ließ«,begann Franks.Hamner antwortete nicht und starr-te weiterhin zu Boden.

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Franks fuhr fort: »Sie haßten DukeMerritt. Sie waren eifersüchtig aufihn. Gestern nachmittag verhinder»ten andere Leute/ daß Sie ihn tat»lieh angriffen. Aber wenn Sie unsein Alibi für Ihr Tun und Lassenam heutigen Abend zwischen sie»ben und halb neun Uhr bringenkönnen, brauchen wir uns nichtdamit zu befassen.«Hamner schaute auf; sein Blick warverschleiert. »Merritt wollte Suenicht in Frieden lassen«, murmelteer. »Und Sue schien ihm nichts ab=schlagen zu können.«»Die Zeit zwischen sieben und halbneun, Mr. Hamner«, mahnteFranks, doch seine Worte warenverschwendet.»Ich ging zu ihm«, fuhr Hamnerfort, »ich bat ihn, sie in Ruhe zulassen.« Sein Murmeln klang hei"ser, aber seine Augen waren wiedie Augen eines traurigen Kindes.»Sue bedeutet mir alles. Nie zu=vor hatte ich mich verliebt. Niehatte ich gedacht, daß mich jemandlieben würde, daß es einen Men»sehen geben könnte, von dem ichsagen dürfte, er wäre mein.«»Hai!« flüsterte Sue.»Ich sagte ihm, es gäbe doch Frauengenug, die nicht so benötigt wür»den wie Sue von mir. Aber ich

glaube jetzt, da war ich ein bißchenverdreht. Wie darf man eine Fraubenötigen, die einen gar nicht mag?Wenigstens schien es mir so. Ja,so schien es mir.«Johnny beobachtete Sue. Ihre Fin"ger zerknüllten ein Taschentuch.Als Hamner einen Moment langschwieg, war Sues unterdrücktesSchluchzen zu hören.Hamner räusperte sich. »Ich gingauch zu ihr. Aber da war irgendetwas. Ich weiß nicht, was es war.Ich glaube, sie konnte ihn einfachnicht aufgeben.«»Hai!«»Und dann begann es in mir zukochen. Ich - ich ging nochmals zuihm. Wiederum bat ich ihn, ganzruhig und höflich, so schwer es mirfiel. Ich bat ihn, sie doch endlich inRuhe zu lassen. Und er erwidertelachend: >Sagen Sie ihr doch mal,sie möge mich bitten, sie in Ruhezu lassen. Wenn sie mich darumbittet, will ich es gerne tun.< Ge»nau das sagte er. Und ich ging hinund erzählte es ihr. Sie fing an zuweinen. Und da wußte ich - wußteich, daß sie es nicht konnte ... Daswar heute abend gegen halb sie=ben... Und ich - ich ging noch»mals zu ihm und bat ihn wieder.Und er gab mir dieselbe Antwort

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wie vorher. Er war gerade in derGarderobe und zog sich die Golf-schuhe an. Er wollte noch trainie»ren.«Das Ende schien sich abzuzeichnen.Franks fragte nüchtern: »Und wastaten Sie dann?«»Ich ging zurück zu Sue und sag»te es ihr. Und sie - sie weinte wie=der. Das war in unserem Zimmer.Sie zog sich eben um, für das Ban-kett.«»Und dann?«Hai Hamner schüttelte den Kopf.»Ich weiß es nicht. Ich verließ dasZimmer und wanderte ruhelos um»her. Bekannte trafen mich und gra»tulierten mir zu meinem heutigenSpiel. Aber ich wollte allein seinund ging weiter. Ich weiß nicht,wohin ich ging.«»Vielleicht auf den Golfplatz?«»Verstehen Sie mich nicht falsch,Mister. Ich sage nicht, daß ich michnicht daran erinnere - daß ichvielleicht auf dem Platz mit ihmgesprochen hätte und mich nichterinnern könnte. Nein, ganz undgar nicht. Denn auf dem Golfplatzwar ich nicht. Ich lief einfach um»her. Und schließlich ging ich zurAuktion. Ich hatte einen verdreh»ten Plan. Ich wollte mich selbst er»steigern und dann das Turnier ge»

winnen. Ich dachte, das könnte mirGeld genug bringen, um den Zir-kus für eine Zeit zu verlassen. Ichdachte, vielleicht könnte ich Sueauf diese Art zurückgewinnen.«»Und haben Sie sich dann selbstersteigert, Mr. Hamner?«Hamner schüttelte den Kopf. »DerPreis ging zu hoch - sechstausendDollar. Spielt ja auch keine Rollemehr. Duke Merritts junger Mannhier —«, er streifte Johnny miteinem Seitenblick, »Duke Merrittsjunger Mann hätte sich in seinemKampf gegen mich wahrscheinlichbesonders angestrengt. Merritthatte ja immer ein Mittel, mich zuschlagen oder schlagen zu lassen.Und dieses Mal hätte er es auchwieder geschafft. Ich hoffte immer,ich fände mal Gelegenheit, an ihnheranzukommen. Ich dachte, dieZeit würde für mich arbeiten. Ichdachte, vielleicht würde er meinerFrau mal überdrüssig werden odersie seiner. Doch jetzt, nach seinemTod, wird er für Sue immer dasbedeuten, was er ihr gewesen ist.Nichts dagegen zu machen. Fürimmer wird dieser Mann zwischenuns stehen. Immer wird er gut aus»sehen und ich schlecht.«Hai Hamner schwieg und senktewieder den Blick. Tiefe Stille folg»

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te. Schließlich brach Midge dasSchweigen. Sie ging zu Hamnerund sagte: »Ihre Frau hat DukeMerritt nicht geliebt! Sie haßteihn! Fragen Sie sie doch. Vielleichtverrät sie Ihnen jetzt, weshalb sieMerritt nicht abweisen konnte.«Aller Augen waren auf Sue ge=richtet, nur Hamner blickte zu Bo=den. Sue musterte die Anwesendenmit ängstlichen Blicken, wandtesich plötzlich um und floh aus demZimmer.Hamner murmelte, ohne Midge an»zusehen: »Danke, Miss Roper.«Johnny wünschte nichts, als hinaus»gehen zu können. Er hatte Hai Ham=ner verachtet. Und jetzt kannte ersich nicht mehr aus. Hamners un=beholfene Geschichte hatte so über»zeugend geklungen, daß Franks,wenn er Hamners Angaben nach=prüfte, gewiß feststellen würde, daßHamner tatsächlich nicht auf denGolfplatz gegangen war. Irgend et=was an Hamners Geschichte und anSues Verhalten ließ Johnny inner»lieh frösteln. Wie hatte es nunwirklich um Duke Merritt gestan»den?Franks gab Anweisung, HamnersAngaben sofort nachzuprüfen.Midge bat den Distriktsanwalt, ermöge ihr erlauben, Sue Hamner zu

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suchen. Franks, offenbar der Mei=nung, es werde ihm gelingen, vonSue doch noch einiges zu erfahren,war einverstanden. Er fügte hinzu:»Die anderen brauchen hier nichtlänger zu warten. Aber bleiben Siebitte in der Nähe, damit ich Siejederzeit erreichen kann.«Johnny spürte Bobs Hand an sei=nem Ellbogen und ließ sich vonBob hinausführen. Sie durchquer»ten die Halle und traten auf diemenschenleere Terrasse. Hier bliebBob stehen und blickte Johnny an,einen grimmig entschlossenen Aus=druck auf dem Gesicht.»Da ist manches, was du dir genaueinprägen mußt, mein Junge«,sagte er.»Gewiß. Sie kannten ihn. Sie wis=sen, daß alle diese Dinge nichtwahr sein können. Es hörte sichzwar so an, als spräche Hai Ham=ner die Wahrheit, aber -«»Erst muß der Mörder gefundensein«, unterbrach Bob, »alles an=dere hat Zeit bis später.«»Den Mörder zu finden, ist Franks'Aufgabe. Wir müssen -«»Halt, mein Junge. Wie die Dingeliegen, können wir im Augenblicknichts unternehmen. Wir habenweder Bargeld noch irgendwelcheGegenstände, die wir zu Bargeld

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machen könnten. Duke hatte eineAnzahl Freunde, die telefonisch zuerreichen sind. Überdies müßtenwir uns mit seinem Rechtsanwaltin Verbindung setzen. Doch zualledem brauchen wir Geld. Dukehatte allerlei Geld bei sich, aber dasist von der Polizei beschlagnahmtworden. Ich dachte -«»Ich muß warten, bis mir der Preisausgezahlt wird«, erklärte Johnnyverlegen. »Was ich bei mir habe,langt nicht hin und nicht her.«»Auch das habe ich bedacht«, sagteBob. »Dir steht Geld zu, genau wieDuke. Und deshalb würde uns Mr.Sayies vielleicht eine Art Vorschußgeben.«»Ja, wir sollten ihn fragen«, stimm=te Johnny zu. »Sie haben ganzrecht, Bob. Die Leute, zu denenDuke in Beziehung stand — dieBekleidungsfirma, die Sportartikel=fabrik, sein Klub in Kalifornien —,sie alle würden uns bestimmt hel=fen, seinen Namen von jedem Ver=dacht zu reinigen. Schließlich stecktihr Geld in seinem Namen.«»Gewiß, Johnnyboy, sie würdenuns helfen. Und wir könnten dieSache mit ein paar Telefongesprä"chen ins Rollen bringen.«Johnny legte dem Alten einen Armum die Schultern. »Sie sind ein

Prachtkerl, Bob«, sagte er begei.stert. »Ich dachte. Sie würden denKopf hängenlassen. Aber in Wirk»lichkeit sind Sie viel tatkräftiger alsich. Gehen wir also zu Sayies.«Als sie seine Privatwohnung betra=ten, hatte Sayies das Dinnerjackettabgelegt und trug eine bequemeCordjacke.»Mr. Sayies«, begann Bob, »Siesagten vorhin, wir sollten'uns anSie wenden, wenn wir Hilfe brauch»ten.«»Selbstverständlich.« Sayies nickteund machte eine einladende Hand»bewegung. »Treten Sie näher.«Sayies' Appartement bestand auseinem Wohnzimmer und einemSchlafzimmer. Die breite Schiebe"tür zwischen den Räumen standweit offen. Alles war sehr hübscheingerichtet, an den Wänden hin°gen die Fotos vieler Sportler —Golfspieler, Boxer, Baseballspieler,Skiläufer, Hockeyspieler und soweiter -, jedes mit Widmung undUnterschrift.»Würde mich nicht überraschen,wenn es euch jetzt erst mal nacheinem Drink verlangte«, sagteSayies und trat an die in einerEcke des Wohnzimmers stehendeHausbar.»Ich nehme gerne einen«, entgeg=

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nete Old Bob. »Aber Johnny darfnicht. Er muß morgen in Formsein.«»Auch kein Ingwerbier, Johnny?«»Nein, danke, lieber nicht.«Sayies schenkte ein, brachte zweialtmodische Likörgläser herüber,drückte Bob eins davon in die Handund hob sein eigenes Glas. »Gibtnicht viel, worauf wir heute trin»ken könnten, Bob. Höchstens aufdie Hoffnung, daß wir nie wiedereinen solchen Tag erleben.«»Trinken wir auf diese Hoffnung«,murmelte der alte Mann.Sie tranken. Dann fragte Sayies:»Nun, und wo drückt der Schuh?«»Es handelt sich um Geld«, erwi»derte Bob. »Wir hätten einige Te»lefongespräche zu führen - DukesGeschäftspartner müssen benach-richtigt werden, ebenso sein Rechts«anwalt. Johnny hat kein Geld, undich habe auch nichts. Da dachtenwir, daß Sie uns Vorschüsse aufdie Preise von Johnny und Dukegeben würden.«»Aber sicher.« Sayies nickte nach"drücklich. »Franks hat einstweilendas Geld beschlagnahmt, das Dukebei sich hatte, nicht wahr? Dochdeshalb brauche ich Dukes Preisnicht zurückzuhalten, Bob. UndJohnny s Preis ist sowieso fällig.«

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»Nett von Ihnen, Mr. Sayies«,murmelte Old Bob.»Ich habe genug hier im Privat»safe«, meinte Sayies. Er trat aneine bestimmte Stelle der Wandund verrückte ein dort hängendesBild. Hinter dem Bild war ein Safein die Wand eingelassen. Sayiesöffnete es, holte eine grüne Metall»kassette heraus und brachte siezum Tisch. Bob sah interessiert zu,wie Sayies die Kassette etwas um-ständlich öffnete. Sie enthielt eini»ge Packen Geldscheine. Sayiesnahm einen davon in die Hand undbegann abzuzählen.»... sechshundert, siebenhundert,achthundert, neunhundert, tausendDollar.« Er blickte lächelnd auf.»In Ordnung?«»Fünfhundert erhält Johnny«, sag-te Old Bob. »Und Dukes Preis?«»Ebenfalls fünfhundert«, erklärteSayies. »Genau wie Johnny — fürdie Qualifikation.«Old Bob stellte sein Glas auf denTisch. »Aber das ist bestimmt nichtder Betrag, den Sie an Duke zäh»len wollten.«Johnny blickte überrascht zu Bob.Der Alte stand da und musterteSayies mit einem kleinen seltsa»men Lächeln, das Johnny noch niean ihm bemerkt hatte.

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Sayies, das angerissene Geldschein»bündel in der Hand, rührte sichnicht. Sein Gesichtsausdruck hattesich verändert.»Ich glaube, ich verstehe Sie nichtrecht, Bob«, sagte er ruhig.»Oh, Mr. Sayies, wir brauchen unsdoch nichts vorzumachen!«Johnny begriff nicht, wovon dieRede sein mochte. Sayies' Blickstreifte ihn, kehrte aber sofort zuBob zurück.»Wäre es nicht besser, wenn Siemir ganz klar sagen, was Sie aufdem Herzen haben, Bob?«»Nun, Mr. Sayies«, Old Bob zuck»te die Schultern, »es handelt sichum nicht mehr und nicht wenigerals einen kleinen Mord.«Sayies lachte auf, kurz und durch»aus nicht belustigt. »Sie phantasie»ren wohl, Bob. Der Distriktsan»walt hat mein Alibi überprüft. Ichhabe dieses Gebäude erst verlas"sen, als Yales Caddie die Nachrichtvon dem Ereignis brachte.«Old Bob nickte; es sah beängsti»gend aus — wie das Nicken einesMenschen, der das innere und dasäußere Gleichgewicht verloren hat.Erschrocken streckte Johnny eineHand aus und murmelte: »Bob!«Der Alte beachtete es nicht. »Ge»wiß, Mr. Sayies«, sagte er, »in sol"

chen Dingen sind Sie vorsichtig.Aber ich meine jetzt nicht denMord an Duke. Noch nicht.«Sayies klappte den Deckel derGeldkassette zu. »Johnny«, äußer»te er obenhin, »Sie sollten Old Bobhinausbringen. Die Sache ist ihmwohl auf den Verstand geschlagen.Das Geld auf dem Tisch gehörtIhnen.« Damit wandte er sich ab,um die Kassette zum Safe zurück"»zubringen.»Stellen Sie das Geld nicht weg!«verlangte Old Bob in entschiede»nem Ton.»Kommen Sie, Bob«, raunte John"ny, »gehen wir.«»Noch nicht, mein Junge. Halte dudich hier heraus. Mr. Sayies weißrecht gut, wovon ich spreche.« Einheiseres Lachen kam über seineverzerrten Lippen. »Glauben Sieetwa, Mr. Sayies, Duke wäre sonärrisch gewesen, das Geheimnisfür sich zu behalten? Er mußte sichdoch sichern, und deshalb hat ermich eingeweiht. Sie sollten esalso verstehen, wenn ich sage, daßfünfhundert Dollar auch nicht an=nähernd reichen!«Sayies, der inzwischen zum Safegelangt war und die Kassette hin»eingestellt hatte, fuhr herum. Seinerechte Hand hielt eine Pistole. Er

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zischte: »So, hat Duke Ihnen vonder Roper=Sadie erzählt - eh?«»Roper!« rief Johnny. »Midge Ro=per?«Die beiden nahmen keine Notizvon ihm; es schien, als wäre er garnicht anwesend. Sayies, kühl undbeherrscht, und der alte Bob, nurnoch ein Zerrbild seiner selbst,waren völlig von ihrer Angelegen"heit beansprucht. Old Bob ginglangsam auf Sayies zu, ohne dieWaffe zu beachten.»Sie sollten jetzt lieber eine ver-nünftige Summe nennen, Mr. Say=les«, knurrte er dabei, »dann brau=dien Sie und die Lady nicht insGefängnis. Was halten Sie davon,wenn ich selbst ans Safe trete undmir einen angemessenen Betragherausnehme?«Inzwischen war er dicht vor Say=les angelangt und griff plötzlichnach der Pistole. Aber Sayies warschneller und schlug den Pistolen'lauf quer über Bobs Gesicht. DerAlte taumelte zurück und hielt sicheine Hand über die Augen. Sayiesfolgte ihm und schlug die nun um=gedrehte Waffe zweimal mit vollerKraft gegen Bobs Schädel. Johnnystand wie erstarrt dabei. Bob kipp=te um. Nun stürzte sich Johnnyauf Sayies.

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Es wurde ein recht einseitigerKampf. Johnny war viel zu leichtfür den massigen Sayies, der über=dies manche Erfahrungen in der»artigen Dingen hatte. Er handhabste die ziemlich große Pistole, wieein Fechter seinen Degen hand=habt. Johnny konnte keinen richti»gen Schlag anbringen, aber der Pi=stolenkolben knallte zweimal vollgegen seinen Kopf. Im Fallen ver=suchte Johnny, mit seinem Körperden alten Bob zu decken. Dannhörte er eine heisere, zornige Stim=me. Und als er aufblickte, sah er,wie Hai Hainner den massivenSayies zu Boden brachte und mitungeheurer Kraft Sayies' rechtenArm, dessen Hand die Pistole um°klammert hielt, über einem seinerKnie brach, als wäre dieser Armein dürrer Ast.Johnny richtete sich etwas auf.»Ein Glück, daß Sie gekommensind, Hamner«, ächzte er. »Sayieshätte uns beide umgebracht.«Hamner hatte sich rittlings aufSayies gesetzt, der sich am Bodenvor Schmerzen krümmte und sei"nen gebrochenen Arm zu haltenversuchte. »Dreckiger Erpresser«,knurrte Hamner und stieß miteinem Fuß nach Johnny.Johnny konnte ausweidhen. »Harn»

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ner«, rief er, »was ist los mitIhnen? Was -«»Hai!« tönte eine Stimme dazwi=sehen - Midge Roper war unbe=merkt ins Zimmer gekommen.»Hai, hören Sie auf!«Hamner hielt mitten in einemzweiten Fußtritt inne, ließ aberJohnny nicht aus den Augen.»Sie schulden mir einen Gefallen,Hai!« rief Midge. »Tun Sie diesenbeiden nichts!« Sie kniete sich zuOld Bob. »Telefonieren Sie nacheinem Arzt, Hai. Schnell! Bob istschwer verletzt.«Hamner stand auf, setzte einenFuß auf den ächzenden Sayies undgriff nach dem Telefon.»Und rufen Sie auch Mr. Franksher«, fuhr Midge fort. An Johnnygewandt, fügte sie hinzu: »HolenSie geschwind eine Decke. Er mußwarm gehalten werden.«Johnny eilte in Sayies' Schlafzim»mer, riß eine Decke vom Bett undbrachte sie Midge/ die den altenBob damit umhüllte und sich dannerhob.Hamner stand breitbeinig da,einen Fuß auf Sayies gesetzt, undwarf zornige Blicke auf Old Bobund Johnny. »Sie wollten es fort=setzen«, sagte er zu Midge. »Ha=ben versucht, Sayies zu erpressen.

Fortsetzen wollten sie es!«»Das glaube ich nicht«, erwiderteMidge bestimmt.»Ich habe es doch gehört!« riefHamner. »Ich habe gehört, wieder alte Mann Geld verlangte!«Midge blickte fragend zu Johnny.Johnny zuckte müde die Schultern.»Es stimmt«, sagte er. »Bob hatvon Sayies Geld verlangt. Ichkonnte es nicht begreifen. Er - ernannte dabei den Namen Roper.«Midge legte eine Hand aufJohnnysArm. »Ich habe Sue Hamner gebe»ten, Hai die Wahrheit zu sagen.Mein Bruder hat nicht Selbstmordbegangen. Er ist ermordet wor=den! Und zwar von Victor Sayies!«Da Hamner den Fuß zurückzog,rappelte Sayies sich mühsam auf.Sein rechter Arm hing in einemseltsamen Winkel zur Seite. SeinGesicht war schweißüberströmt.Er lehnte sich kraftlos gegen denSchreibtisch.Hai Hamner stieg über den altenBob hinweg und baute sich vorSayies auf. »Sue wird als Bela=stungszeugin auftreten«, knurrteer. »Ganz gleich, was es sie ko=stet.«Midge trat neben Hamner. »Er«zählen Sie Johnny die Wahrheit!«rief sie Sayies zu.

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»Geben Sie mir einen Drink«,flehte Sayies. »Der Schmerz imArm macht mich wahnsinnig.«»Erst sprechen!« befahl Hamner.Sayies knirschte mit den Zähnen.»Ich - ich hatte einen Spielsalonin Las Vegas. Ed Roper kam dort'hin und verlor fortwährend. Erkonnte nicht zahlen - ein High=schoolboy, der den Lebemannspielte/ ohne die Mittel zu haben.Ich wollte ihm eine Lehre erteilen.Ließ ihm durch zwei meiner Leuteeine Drohung zukommen. Gabihm eine Woche Zeit, seine Schul»den zu bezahlen. Wenn nicht,dann — aber ich wollte ihm nurAngst einjagen.«»Sparen Sie sich das!« knurrteHamner.»Dann hörte ich von zuverlässigerSeite, er hätte sich bestechen las-sen, seinen Baseballklub bei denkommenden Meisterschaften aus°zuschmieren. Ich hatte in dieseMeisterschaften Geld investiert.Eine Menge Geld. Deshalb ging ichzu dem Jungen. Sue kam mit.«»Sie mußten sie in die Sache hin»einziehen!« knurrte Hamner.»Erzählen Sie Johnny, wie das zu»sammenhing«, verlangte Midgevon dem leichenblassen Sayies.Sayies blickte zu Johnny. »Vor

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einiger Zeit, noch ehe Sue beieinem Schönheitswettbewerb Sie=gerin wurde und einen Holly«woodvertrag bekam, bin ich mitihr verheiratet gewesen.«Hamner stöhnte leise, rührte sichaber nicht.»Wir kamen nicht gut miteinan»der aus und wurden bald wiedergeschieden«, fuhr Sayies fort.»Das alles verlief ruhig und fried»lieh. Dann verliebte sich Sue inHamner, kam zu mir in den Spiel»salon und bat mich, niemals zuverraten, daß wir miteinander ver=heiratet gewesen wären. Sie furch»tete, Hamner würde sie nicht hei=raten, wenn er erführe, daß sieeine geschiedene Frau war. Ichversprach ihr, die Sache zu ver*schweigen und bot ihr an, sie inmeinem Wagen nach Los Angeleszurückzubringen. Unterwegs woll°te ich Ed Roper einen Besuch ab=statten. Bei diesem Besuch rech"nete ich mit keinerlei Schwierig-keiten, sonst hätte ich Sue nichtmitgenommen. Wir gingen zusam»men in Ropers Hotelzimmer. Derjunge Mann war furchtbar erregt.Er stand ja zwischen zwei Feuern- einerseits ich, andererseits derBursche mit der Bestechung. Erwollte sich auf mich stürzen. Ich

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schlug ihn nieder, und beim Fal-len sauste er mit dem Kopf gegendie Tischkante.«»Nur ein Unfall!« murmelte Harn-ner verächtlich.»Wahrhaftig, nur ein Unfall«,versicherte Sayies matt. »Aber derjunge Mann war auf der Stelletot. Das brachte mich in eineschreckliche Lage. Ich war einschlä-gig vorbestraft. Niemand hättemir meine Darstellung geglaubt.Und Sue konnte ich als Zeuginnicht benennen, wahrscheinlichhätte auch ihr niemand geglaubt.So hob ich die Leiche auf und warfsie aus dem Fenster.«Midge wandte das Gesicht ab;Johnny spürte, wie ihre Fingersich in seinen Arm krallten.Sayies sprach weiter. »Wir, Sueund ich, verließen Hals über Kopfdas Zimmer. Vor der Tür begeg»neten wir einem Mann. Auf demEtagenflur war es ziemlich dunkel.Wir konnten den Mann nicht er=kennen, und ich dachte, er hätteuns auch nicht erkannt. So schnellwie möglich verließen wir das Ho«tel.« Er machte eine Pause. »Bitte,den Drink.«»Erst, wenn Sie mit dem Berichtzu Ende sind«, knurrte Hamner.»Sue hatte entsetzliche Angst. Wir

warteten den weiteren Verlauf derDinge ab. Dann wurde bekannt"gegeben, daß Ed Roper Selbst"mord begangen hätte. Der Mann,dem wir vor der Tür begegnetwaren, hatte sich also nicht gepmeldet.«»Aber Sie hielten es für nötig,Sue unter Druck zu setzen!«fauchte Hamner.»Es sah zwar aus, als könne unsnichts passieren«, murmelte Say"les, »und Sue war damit einver-standen, über den Vorfall zuschweigen, weil sie fürchtete, einSkandal würde ihre Verbindung zuIhnen zerstören. Aber ich glaube,ich habe sie bei alledem wirklichein bißchen unter Druck gesetzt.«»Sie glauben!«»Dann hat Sue Sie geheiratet,Hamner. Das geschah kurz nach-dem sie Merritt getroffen hatte,der ihr sofort die Daumenschrau»ben ansetzte. Der Mann, den wirvor der Hotelzimmertür getroffenhatten, war nämlich kein andererals Duke Merritt! Er erkannte sieund wollte von ihr erfahren, werder Mann wäre, in dessen Beglei"tung sie damals gewesen war. Sie,Hamner, waren ihm als Beute zuklein. Sue aber nannte meinenNamen nicht. Sie fürchtete sich

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vor mir. Genauso, wie sie sichfürchtete. Ihnen zu sagen, daß sieschon einmal verheiratet war, weilIhr Jähzorn zum Ausbruch kommt,wenn ein anderer Mann im Spielist.« Sayies rang sich ein gering'schätziges Lächeln ab. »Aber ausirgendeinem unerfindlichen Grundschien Sue Sie zu lieben.«»Weiter!« befahl Hamner.»Merritt ließ Sue nicht aus denFingern. Und als er hierherkam,erkannte er auch mich! Er schickteSue zu mir und verlangte durch sif^eine hohe Geldsumme.«»Und deshalb haben Sie ihn er=mordet?«»Ich habe ihn nicht ermordet!«Sayies brachte es mit verblüffen'der Bestimmtheit über die Lippen.»Sie haben ihn ermordet!« fauchteHamner. »Und dann kamen diesebeiden Stinktiere und versuchtenSie zu erpressen.«»Hören Sie auf, Hai!« rief Midge.»Nein, fahren Sie fort, Mr. Ham=ner«, sagte eine Stimme an derTür.Die Anwesenden fuhren herumund sahen den Distriktsanwaltmit seinen Beamten eintreten.»Fahren Sie fort, Mr. Hamner«,wiederholte Franks. »Was Sayiesauch immer auf dem Gewissen ha=

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ben mag - an Duke Merritts Todist er unschuldig. Er hat ein ein=wandfreies Alibi.«Hamner wies auf Old Bob undJohnny. »Diese zwei haben ver=sucht, Geld von Sayies zu erpres»sen.«Johnny konnte nicht sprechen.Denn genau das hatte Bob tatsäch=lieh versucht.»Johnnyboy!« hörte er den Altenraunen.Schnell kniete er sich zu ihm.»Nicht aufregen, Bob. Der Arzt istunterwegs.«»Spielt keine Rolle mehr«, ächzteder alte Mann; seine Stimme warso schwach, daß Johnny sie kaumvernahm. »Aber - Mr. Franks hatrecht. Sayies ist unschuldig anDukes Tod.« Er schloß die Au=gen. »Ich habe Duke erschlagen,Johnnyboy.«Nach der Untersuchung durch denArzt legte man den alten Bob aufdas Bett in Sayies' Schlafzimmer.Der Arzt hatte ihm das Sprechenverboten, aber Old Bob kümmertesich nicht darum. Johnny saß aufder Bettkante, kaum fähig zu fas=sen, was Bob ihm gesagt hatte.Midge stand neben Johnny, eineHand auf seine Schulter gelegt.Franks und der Assistent mit dem

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Notizbuch saßen auf Stühlen ander anderen Seite des Bettes.»Ich habe es nicht gewußt, habe niean so etwas gedacht«, flüsterte deralte Mann. »Als wir herkamen,hörte ich ihn mit Mrs. Hamnersprechen: >Geh zu ihm, er ist hier.Er ist reich... Hol das Geld vonihm, oder ihr beide müßt wegendar Roper=Sache ins Gefängnis.<Das sagte Duke, mein Duke!«Er schwieg und schloß die Augen,und die Anwesenden dachten, erkönne nicht weitersprechen.Aber nach einem Weilchen machteer die Augen wieder auf und fuhrfort: »Aus der Art, wie Duke mitMrs. Hamner sprach, erkannte ich,daß er das Golfspiel zur Tarnungseiner wahren Tätigkeit miß°brauchte. In Wirklichkeit war erprofessioneller Erpresser! Nunwurde mir plötzlich manches klar,was ich bisher nicht begriffen hat=te ... Ich habe ihn groß gemacht.Ich dachte, er wäre ein Mensch,wie ich immer gewünscht hatte,selbst einer zu sein. Und jetzt -jetzt kam heraus, daß er ein ge»meiner Lump war, ein Erpresser!Das mußte ich ihm ins Gesicht sa°gen. Und wenn er es nicht eitt=kräften konnte, wollte ich ihn er»schlagen.«

Er fuhr sich mit der Zungenspitzeüber die trockenen Lippen.»Ich ging zu den Garderobenräu»men. Es war schon dunkel. Ichnahm aus irgendeinem Beuteleinen Schläger. Reiner Zufall, daßes einer von Midges Schlägernwar. Reiner Zufall... Dann gingich hinaus zu ihm und hielt es ihmvor. Er lachte mich aus. Fragtemich, was ich wohl dächte, woherdas viele Geld immer gekommensei. Er nannte mich einen altenI larren. Dann beugte er sich niederund packte seine Schläger ein. Undals er sich wieder aufrichten wollte,erschlug ich ihn.«»Bob«, raunte Johnny. »Old Bob-«»Wollte midi selbst stellen«, fuhrder alte Mann fort, »Doch dannfiel mir ein, daß es hier noch einenanderen Mörder gab. Ich wußteseinen Namen nicht. Duke hattezu Mrs. Hamner immer nur >er<gesagt. >Er< ist hier, >er< ist reich.Das konnte keiner von denen sein,die mit uns umherzogen. Ich mußteherausfinden, wer es war. Mußtees herausfinden und beweisen...Dann sah ich draußen Mrs. Harn»ner mit Sayies, als die Polizei schonda war. Irgend etwas kam mirseltsam vor, sehr seltsam. Ich dach»te nach. Erkannte es. Suchte einen

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Hugh Pentecost

Weg.« Er blickte zu Johnny. »Tutmir leid. Junge, daß ich dich mithineinziehen mußte. Ich brauchteeinen Zeugen. Ich gab vor, alles zuwissen, und verlangte Geld vonSayies. Durch seine Reaktion istseine Schuld bewiesen.«Niemand sprach ein Wort. OldBobs Blick blieb auf Johnny gerich=tet.»Golf ist ein feines Spiel, Johnnyboy. Man darf stolz sein, wennman es beherrscht. Du hast dasZeug, alles das zu werden, was ichin Duke zu sehen vermeinte — eingroßartiger Golfer, ein ritterlicherGegner und ein wahrer Gentle=man ... Ich wünschte, ich könntemein Teil dazu beitragen, dichganz nach oben zubringen, Johnny»boy.« Ein schwaches Lächeln spiel=te um den Mund des alten Mannes.»Du wirst weiterspielen, morgenschon, trotz allem, was heutewar ... Versprich mir das, Johnny»boy. Außer dir ist mir nichts mehrgeblieben.«Der Arzt, der sich inzwischen umSayies gekümmert hatte, kam wie»der herein und sagte: »Er mußjetzt endlich Ruhe haben. GehenSie alle hinaus. Wenn er über»haupt eine Chance haben soll, mußer jetzt ausruhen.«

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Als sie wieder im Wohnzimmerwaren, hörte Johnny, wie Hamnerden Distriktsanwalt fragte: »Waswird mit Sue geschehen?«Franks blickte Hamner in die Au»gen. »Sie wird als Zeugin gegenSayies auftreten. Sie wurde in dieSache hineingezogen und mußtegegen ihren Willen schweigen. Siewird aussagen müssen, Mr. Harn"ner, aber mehr nicht.«»Dank, Mr. Franks«, murmelteHamner mit eigentümlich erstickterStimme und rannte hinaus.Eine Hand legte sich auf JohnnysSchulter.»Sie sind nicht allein, Johnny«,sagte Midge, und die Hand glittvon seiner Schulter an seine Wan=ge. »Der Duke, den Sie liebten undverehrten, hat in Wirklichkeit nieexistiert. Sie haben also nichts ver°loren. Aber Sie sind im Begriff,einiges zu gewinnen ... ErinnernSie sich, daß Sie momentan eigent=lieh mir gehören?« Johnny nickte.»Ich habe Sie bei der Auktionnicht nur ersteigert, weil ich Sie füreinen guten Golfer halte«, erklärteMidge, »sondern weil ich glaube,daß Sie das Herz am rechten Flecktragen. Und deshalb will ich nunganz und gar zu Ihnen halten,Johnnyboy ...«

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Jack London

Der weise Schamane

Unsicherheit herrschte im Dorf.Die Frauen schnatterten mit schril»len, hohen Stimmen. Die Männerwaren mürrisch und argwöhnisch,und selbst die Hunde schlichenmißtrauisch umher, alarmiert durchdie allgemeine Unruhe und bereit,beim ersten Ausbruch offenenStreites in die Wälder zu ent=wischen.Die Luft war mit Argwohn gela»den. Keiner traute dem Nachbarn,und jeder war sich bewußt, daß derNachbar ihm nicht traute. Auch dieKinder waren scheu und bedrückt,und der kleine Di Ya, die Ursacheder ganzen Misere, hatte gehörigePrügel bezogen, zuerst von Hoo=niah, seiner Mutter, dann vonBawn, seinem Vater, und lugte nunschluchzend und trübselig untereinem großen Kajak hervor, das

kieloben am Strand lag und ihmals Zuflucht diente.Und was die Sache noch schlimmermachte - Scundoo, der Schamane,war in Ungnade gefallen, so daßman seine magischen Kräfte nichtin Anspruch nehmen konnte, umden Übeltäter ausfindig zu machen.Denn wahrlich - vor einem Monatetwa hatte er einen netten Süd=wind verheißen und gesagt, andem und dem Tag könne derStamm gut und sicher zu dem gro»ßen Treffen nach Tonkin fahren,wo Taku Jim, der chinesischeHändler, der in seine Heimat zu"rückkehren wollte, alles zu ver°schleudern gedachte, was sich inzwanzig Jahren an unverkäuflichenDingen bei ihm aufgestaut hatte.Doch als der Tag kam - siehe da! -,blies ein grimmiger Nordwind, und

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Jack London

von den ersten drei Kajaks, die sichhinauswagten, wurde eins auf dieoffene See getrieben, zwei zer=schellten an den Klippen, und einKind ertrank. Oh, er habe wohl ander Schnur des falschen Beutels ge=zogen, erklärte Scundoo - ein Irr=turn! Doch die Dorfbewohner woll=ten nichts mehr von ihm wissen;die Gaben an Fleisch und Fisch undPelz hörten auf, sich vor seiner Türzu häufen, und nun hockte er, wiedie Leute dachten, traurig in seinerHütte, fastend und büßend; inWirklichkeit aß er üppig von sei=nen wohlversteckten Vorräten undsinnierte über den Wankelmut desVolkes...

Und jetzt waren Hooniahs Deckenverschwunden! Gute Decken vonbewundernswerter Dicke undWärme! Und Hooniahs Stolz aufdiesen Besitz war um so größergewesen, weil sie die Decken sobillig bekommen hatte. Ty Kwanaus dem übernächsten Dorf mußteein Narr sein, da er sich so leichtvon ihnen getrennt hatte!Aber Hooniah wußte noch nicht,daß es die Decken des ermordetenEngländers waren, um dessentwil=len bald danach ein Kriegsschiffder Vereinigten Staaten vor der

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Küste kreuzen sollte, währendseine puffenden kleinen Barkassenin den versteckten Buchten herum=stöberten.Da also Hooniah noch nicht wußte,daß Ty Kwan sich der Decken inaller Hast entledigt hatte, damitseine Sippe der Regierung nichtRechenschaft geben müsse, war ihrStolz unerschüttert. Und weil dieFrauen sie beneideten, wuchs ihrStolz gar ins Uferlose, bis er dasganze Dorf erfüllte und selbst aufdie Küste von Alaska übergriff,von Dutch Harbor bis St. Mary.Hooniahs Totem wurde darob be=greiflicherweise hoch geehrt, undihr Name war auf aller Lippen, woimmer Männer fischten und Festefeierten, und die Decken wurdengerühmt ob ihrer bewundernswer=ten Dicke und Wärme.Doch die Art, wie sie dann ver=schwanden, grenzte an böse Zau=berei.»Ich hängte sie nur eben an derSeitenwand des Hauses in dieSonne«, klagte Hooniah zum tau=sendsten Male den anderen Frauendes Dorfes. »Ich habe sie nur hin=gehängt und dann den Kopf ge=wendet, weil mein Sohn Di Ya,ein Teigdieb und Mehlfresser, mitdem ganzen Oberkörper in den

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Der weise Schamane

großen Eisentopf gekrochen unddarin steckengeblieben war, dieBeine in der Luft wie die Ästeeines Baumes, wenn der Wind sieschüttelt! Und ich habe weiternichts getan, als ihn herausgezo=gen und mit dem dummen Kopfein wenig gegen die Tür gestoßen,damit er leichter versteht, was erdarf und was nicht, und - siehe -die Decken waren nicht mehr da!«»Die Decken waren nicht mehrda!« wiederholten die Frauen inehrfürchtigem Flüstern.»Ein großer Verlust«, fügte einehinzu. Eine zweite: »Nie hat essolche Decken gegeben.« Und einedritte: »Wir trauern mit dir, Hoo=niah, um deine verlorene Habe.«Doch alle Frauen waren von Her=zen froh, daß die neiderregenden,zwietrachtstiftenden Decken ver=schwunden waren.»Ich hängte sie nur eben in dieSonne«, begann Hooniah vonneuem.»Jaa, jaa«, ließ Bawn, ihr Mann,sich mit müder Stimme verneh=men. »Aber kein Fremder war imDorf. Weswegen anzunehmen ist,daß einer aus unserem eigenenStamm seine unbefugte Hand andiese Decken gelegt hat.«»Wie könnte das sein, o Bawn?«

schnatterte der Chor der Frauenentrüstet. »Wer sollte so etwasgetan haben?«»Oder es war Zauberei im Spiel«/fuhr Bawn in scheinbarer Einfaltfort, während er die Gesichter derFrauen durch halb geschlossene Li»der beobachtete.»Zauberei?« Sie wiederholten dasgefürchtete Wort mit leisen Stirn»men und sahen einander furcht»sam an.»Ja, Zauberei!« bekräftigte Hoo=niah, und die in ihr wohnendeBosheit entflammte sich an der Er»regung des Augenblicks. »Unddeshalb wurde durch schnelle Ka=jaks Botschaft zu Klok=No=Tongesandt! Gewiß wird die NaA=mittagsflut ihn an den Strand tra=gen!«Die kleine Gruppe zerstob, undFurcht breitete sich über das Dorf.Von allen schlimmen Möglichkei-ten war Zauberei die schlimmste.Nur der Schamane konnte mit denungreifbaren und unsichtbarenDingen umgehen. Und wederMann noch Weib noch Kindwußte bis zum Augenblick desGottesurteils, ob Dämonen vonseiner Seele Besitz ergriffen hat«ten oder nicht. Und von allenSchamanen war Klok=No=Ton, der

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Jack London

in einem anderen Dorf wohnte,der furchtbarste. Keiner entdecktemehr böse Geister als er, keinerpeinigte seine Opfer mit gräßliche»ren Torturen. Einmal fand er, daßim Körper eines drei Monate altenKindes ein Dämon wohne, einäußerst hartnäckiger Dämon, dernur ausgetrieben werden könne,wenn das Kind eine Woche langauf Dornen und stachligen Sträu"chem läge; die kleine Leiche wurdedanach ins Meer geworfen, aberdie Wellen stießen sie wieder undwieder ans Ufer - gemäß Klok=No=Ton ein Zeichen, daß ein Fluchauf dem Dorf ruhe; und dieserFluch löste sich dann auch erst, alszwei kräftige Männer bei Ebbe anMarterpfähle gebunden wurdenund im wieder steigenden Wasserertranken.Und nun hatte Hooniah nach die=sem Klok=No=Ton geschickt!Weit besser wäre es gewesen,hätte man Scundoo, den Schama=nen des eigenen Dorfes, aus derUngnade befreit. Denn ScundoosMethoden waren sanfter, und manwußte, daß er einmal gar zwei Dä=monen bei einem Manne ausge'trieben hatte, der später noch sie=ben gesunde Kinder zeugte.Aber Klok'NoaTon! Alle erschau'

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derten in furchtbaren Vorahnuncgen, wenn sie nur an ihn dachten.Jeder einzelne fühlte sich bereitsals Ziel beschuldigender Blickeund betrachtete seinerseits die an=deren mit beschuldigenden Blik»ken. Jeder einzelne - ausgenom»men Sime.Doch Sime war ein Spötter, demgewiß ein schlimmes Ende bevor"stand, ungeachtet seiner Groß»tuerei!»Höh! Höh!« lachte Sime. »Da«monen und Klok=No«Ton! In ganzThinkletland ist kein größerer Dä=mon daheim als Klok=No»Ton!«»Sime, du Narr - Klok=No°Tonist unterwegs zu uns mit Zaube»rei und Dämonenkraft! Drumwahre deine Zunge, damit dichkein Übel befalle und deine Tagegezählt seien!«So sprach La=Lah, den man denSchwindler nannte, und Simelachte zornig. »Ich bin Sime, nichtgewohnt, mich zu fürchten, undohne Angst vor der Finsternis! Ichbin ein starker Mann, wie meinVater ein starker Mann gewesenist, und mein Kopf ist klar! We=der du noch ich haben je mit eige=nen Augen das unsichtbare Bösegesehen -«»Aber Scundoo hat es gesehen!«

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Der weise Schamane

rief La=Lah. »Und Klok»No»Tonebenfalls! Das wissen wir!«»Wie kannst du es wissen, Sohneines Tölpels?« donnerte Sime,und das cholerische Blut röteteihm den starken Nacken.»Durch das Wort ihres Mundes.Sie sagen es - Scundoo und Klok=No=Ton.«Sime schnaufte verächtlich. »EinSchamane ist auch nur ein Mensch.Können daher seine Worte nichtkrumm sein, wie deine und manch=mal auch meine? Bah! Bah! Undnoch einmal bah! Und das für dei=ne Schamanen und die Dämonendeiner Schamanen! Und das! Unddas!«Und Sime schnippte seine Fingernach rechts und nach links.Als Klok=No=Ton mit der Nach-mittagsnut eintraf, verzichteteSime weder auf sein herausfor=demdes Gelächter noch konnte ersich einiger höhnender Worte ent=halten, als er den Schamanen aufdem unebenen Strand des Lande=platzes stolpern sah.Klok=No=Ton schaute böse zu ihmhin und stelzte ohne Gruß mittendurch die Menge der Wartendendirekt zu Scundoos Haus.Zeugen seiner Begegnung mitScundoo wurden die Dorfbewoh=

ner nicht; sie hielten sich ehr-furchtsvoll in angemessener Ent».fernung und wagten nur im Flü=sterton miteinander zu sprechen,während die Meister der Magiezusammen waren.»Ich grüße dich, o Scundoo!«dröhnte Klok=No=Ton ein wenigunsicher, da er nicht wußte, wieder Empfang ausfallen würde. Erwar ein Riese von Gestalt undüberragte massig den kleinenScundoo, dessen dünne Stimmewie das feine Zirpen einer Grillezu ihm aufstieg.»Ich grüße dich, Klok=No=Ton«,erwiderte Scundoo. »Der Tagwird mir verschönt durch deinKommen.«»Dennoch sieht es so aus ...«Klok=No°Ton zögerte.»Ja, ja, ja«, bestätigte der kleineSchamane leicht gereizt, »es siehtso aus, als seien schlechte Zeitenüber mich hereingebrochen. Stün=de es anders, so würde ich dir kei=nen Dank dafür wissen, daß dugekommen bist, um eine Arbeit zutun, die rechtens meine Arbeitwäre.«»Es schmerzt mich, Freund Scun=doo -«»Nicht doch! Ich preise mich glück"lieh, Klok=No»Ton.«

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»Scundoo, ich werde dir die Hälftedessen geben/ was mir gegebenwird.«»Nein, guter Klok=No=Ton«, mur=melte Scundoo und machte eine ab=wehrende Handbewegung. »Es istan mir, dein Diener zu sein, undmeine Tage sind erfüllt von demBestreben, dir meine Freundschaftzu erweisen.«»So, wie jetzt ich -«»So, wie jetzt du mir deine Freund»schaft erweisest.«»Da dem so ist — was meinst du,wird die Sache mit den Decken je»nes Weibes Hooniah ein schwieri»ges Geschäft sein?«Mit dieser Frage beging der riesigeSchamane einen bösen Fehler, undScundoo lächelte ein mattes grauesLächeln. Er war es gewöhnt, in denGedanken der Menschen zu lesen,und die meisten Menschen kamenihm sehr klein vor.»Dein Zauber«, sagte er, »war im=mer stark. Zweifellos wirst du denÜbeltäter rasch erkennen.«»Oh, ich werde ihn erkennen, so=bald mein Blick ihn trifft.« Wiederzögerte Klok=No=Ton. Dann frag=te er: »Sprechen Gerüchte von an°deren Orten?«Scundoo schüttelte den Kopf.»Schau her - sind das nicht Pracht'

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stücke?« Er hielt seine Schuhe ausSeehundsfell und Walroßhaut indie Höhe, und der Besucher be=trachtete sie interessiert. »Ich be»kam sie von dem Manne La=Lah«,fügte Scundoo hinzu. »Ein ver=schwiegener Handel. La=Lah ist einbemerkenswerter Mann, und ichhabe oft gedacht -«»So?« fragte Klok=No=Ton unge°duldig dazwischen.»Ja, ich habe oft gedacht«, schloßScundoo/ ohne den Satz zu be=enden, und es entstand eine kleinePause. Dann sagte er: »Wir habeneinen schönen Tag, und dein Zau=ber ist stark, Klok=No=Ton.«Klok=No=Tons Gesicht erhellte sich.»Du bist ein großer Mann, Scun=doo, der Schamane aller Schama=nen! Jetzt gehe ich. Stets werde ichdeiner gedenken... Und der MannLa=Lah ist, wie du sagst, bemerskenswert.«Scundoo lächelte noch ein wenigmatter und grauer, schloß die Türhinter seinem entschreitenden Be=sucher und machte sich daran, siedoppelt und dreifach zu verriegelnund zu verbarrikadieren.

Sime war an seinem Kajak beschäf»tigt, als Klok=No=Ton zum Strandhinunterkam, und unterbrach seine

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Arbeit nur eben lange genug, umdemonstrativ sein Gewehr zu ladenund neben sich zu legen.Der Schamane bemerkte es, über=legte sekundenlang und rief dannmit Donnerstimme aus: »Laßt allesVolk hier an dieser Stelle zusam=menkommen! Klok=No=Ton be=fiehlt es, der Dämonenbeschwörerund Teufelsaustreiber!«Eigentlich hatte er beabsichtigt, siealle bei Hooniahs Haus zu versam=mein. Aber es war nötig, daß allekamen, und Klok=No=Ton zwei"feite daran, daß Sime kommenwürde. Er wollte Schwierigkeitenvermeiden; nach seinem Eindruckwar Sime ein guter Mann, solangeman ihn in Ruhe ließ, und einschlechter, wo es um das Anseheneines Schamanen ging.»Bring mir das Weib Hooniah her=bei!« befahl Klok=No=Ton wildumherblickend und jagte denen,die er ansah, Schauer über denRücken.Hooniah schlich heran, den Kopfgesenkt und den Blick abgewendet.»Wo sind deine Decken, Weib?«»Ich habe sie nur eben in die Sonnegehängt, und siehe, sie warennicht mehr da«, wimmerte Hoo=niah.»So?«

»Di Ya war schuld.«»So?«»Ich habe ihn verprügelt undwerde ihn wieder und noch oftverprügeln, weil er Jammer überuns gebracht hat, die wir so armsind.«»Die Decken!« schrie Klok=No=Ton heiser; er durchschaute Hoo°niahs Absicht, den Preis zu drük=ken, der ihm zu zahlen war. »DieDecken, Weib! Dein Wohlstand istbekannt!«»Ich habe sie nur eben in die Son=ne gehängt«, schluchzte Hooniah,»und wir sind arme Leute, wir ha»ben nichts.«Klok=No=Ton richtete sich plötz-lich zu voller Größe auf, mit furch»terlich verzerrtem Gesicht, undHooniah wich zurück. Aber ersprang ihr so vehement nach undwar dabei dermaßen schrecklichanzusehen, daß sie stolperte undplatt zu Boden fiel. Mit wildenGebärden schwang er die Armedurch die Luft. Sein riesiger Kör=per wand und verrenkte sich wieim Krampf. Schaum trat auf seineLippen, seine Glieder zuckten.Die Freuen brachen in wehklagen»des Heulen aus, ihre Oberkörperpendelten hin und her. Wenigspäter erlagen auch die Männer,

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einer nach dem anderen, der Ek=stase. Nur Sime nicht. Sime saßrittlings auf seinem Kajak und sahmit spöttischer Miene zu; aber dasErbe seiner Ahnen, das er in sichtrug, quälte ihn, und er mußteseine stärksten Eide schwören, daßsein Mut noch gefeiert werdensolle.Klok=No=Ton war furchtbar anzu=sehen. Er hatte seinen Schulterum"hang weggeworfen und seine Klei«der heruntergerissen, so daß ernackt war bis auf einen Gürtel ausAdlerfedern, den er um die Len=den trug. Er heulte und schrie, undsein langes schwarzes Haar flogwie der Fetzen einer nächtlichenSturmwolke um seinen Kopf, wäh»rend er besessen im Kreis herum»sprang. Seine Bewegungen hatteneinen bestimmten Rhythmus, undals alle diesem Rhythmus erlegenwaren, gleichmäßig hin und herpendelten und ihre Schreie gemein»sam ausstießen, da setzte er sichkerzengerade hin, einen Arm aus-gestreckt, vier der gespreizten Fin=ger wie Krallen gekrümmt, nurden Zeigefinger gereckt. Ein leisesStöhnen der Menge, schaurig wieein Todesseufzer, antwortete dar»auf, und die Anwesenden kauertensich mit zitternden Knien nieder,

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während der schicksalhafte Zeige»finger langsam über sie hinwan»derte. Mit diesem Finger wanderteder Tod; denen, die ihn weiter'wandern sahen, war das Leben neugeschenkt.Mit einem furchtbaren Schrei desSchamanen blieb der Verhängnis-volle Finger schließlich auf La=Lahgerichtet.La'Lah, wie Espenlaub zitternd,sah sich schon tot, seinen Besitzaufgeteilt, seine Witwe mit seinemBruder verheiratet. Er wollte re=den, sich rechtfertigen, aber dieZunge klebte ihm am Gaumen,und seine Kehle war ausgedörrtwie von übermächtigem Durst.Jetzt, nachdem sein Werk getanwar, wirkte Klok=No=Ton halbbewußtlos. Doch in Wirklichkeitsaß er nur mit geschlossenen Au»gen da und erwartete das Aufgel=len des großen Racheschreies, derihm aus vielen Beschwörungenvertraut war, wenn der Stamm sichwie ein Rudel blutdürstiger Wölfeauf das Opfer stürzte.Er wartete. Aber hier herrschte nurSchweigen. Dann ertönte sogarunterdrücktes Kichern, ein Kichern,das immer unverhohlener wurdeund schließlich zu schallendem Ge=lächter anwuchs.

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Klok=No=Ton schlug die Augenauf und brüllte erbittert: »Washabt ihr?«»Ha! Ha!« lachte das Volk. »DeinZauber ist schlecht, Klok=No=Ton!«»Alle wissen«, ließ La°Lah sichvernehmen, »daß ich acht Monatelang mit den Robbenfängem derSiwash draußen war und erstheute zurückgekommen bin. Seiteinigen Stunden erst weiß ich, washier geschah, als ich fort war.«»Er sagt die Wahrheit«, schriendie anderen im Chor. »Die Dek"ken waren fort, ehe er heimkam!«»Und du, Klok=No=Ton, be«kommst nichts für deinen Zauberbezahlt, weil er unnütz ist!« riefHooniah, die nun wieder aufge=standen war und von der Schamgepeinigt wurde, sich lächerlichgemacht zu haben.Klok=No=Ton saß da wie verstei«nert. Er sah nur Scundoos Gesichtmit dem matten grauen Lächelnund hörte das feine Grillenzirpenseiner Stimme: >La=Lah ist ein be»merkenswerter Mann, und ichhabe oft gedacht.. .<Plötzlich sprang er auf und stürmete an Hooniah vorbei, und derKreis der Umstehenden öffnetesich, um ihn durchzulassen. Simehöhnte, die Frauen lachten, Spott"

rufe flogen ihm nach, aber er ach-tete nicht darauf, sondern ranntezu Scundoos Haus.Dort rüttelte er an der Tür, häm.merte mit den Fäusten dagegenund schrie gräßliche Verwünsdiun»gen. Doch die Tür blieb geschlos-sen, und aus dem Innern des Hau«ses war Scundoos Stimme zu ver"nehmen, die sich zu unheimlichenBeschwörungsformeln erhob.Klok»No«Ton wütete wie ein Ver"rückter, und als er gar Anstaltenmachte, die Tür mit einem großenStein einzuschlagen, erhob sich eingefährliches Murmeln unter denherbeigekommenen Männern undFrauen. Da besann sich KlokeNo-Ton, daß er bei einem fremdenStamm weilte. Schon sah er einenMann, der einen Stein aufnahm,dann sah er einen zweiten undeinen dritten Mann, die dasselbetaten, und eine höchst menschlicheFurcht kam über ihn.»Du darfst Scundoo, unseremSchamanen, kein Leid antun!«schrie eine Frau.»Kehre schleunigst in dein eige»nes Dorf zurück!« erscholl es dro»hend aus einer Gruppe Männer.Klok=No=Ton kehrte auf der Stelleum und ging durch die Menge hin=durch zurück zum Strand, im Her»

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zen bitteren Zorn und die pein=liebsten Befürchtungen für seinenungeschützten Rücken.Aber es flogen keine Steine. Wohlhüpften die Kinder spottend hin»ter ihm drein, und die Luft warvon Gelächter und Schmährufenerfüllt, doch weiter geschah nichts.Dennoch konnte er erst wiederleichter atmen, als sein Kajak weitdraußen auf dem Wasser war.Dann aber erhob er sich und be=legte das Dorf nebst seinen Be=wohnern mit einem scheußlichenFluch, wobei er nicht vergaß,Scundoo besonders zu verfluchen.Denn Scundoo/ dieses Schlitzohr,hatte ihn zum Gespött gemacht!An der Küste wurden unterdesRufe nach Scundoo laut, und derganze Stamm drängte sich in wil=dem Durcheinander vor seinerTür, flehend und schmeichelnd, bisder kleine Schamane zum Vor=schein kam und durch ein Hebender Hand Stillschweigen gebot.»Da ich euch alle als meine Kinderansehe, will ich euch noch einmalverzeihen«, sagte er. »Doch nurnoch dieses eine Mal! Es ist dasletzte Mal, daß eure Torheit un=gestraft bleiben kann ... Was ihrverlangt, soll euch gewährt wer=den. Mir ward es bereits offenbar.

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Diese Nacht, wenn der Mond hin»ter dem Rand der Welt verschwun»den ist, um nach unseren Toten zusehen, möge sich der ganze Stammvor Hooniahs Haus versammeln.Dann soll der Übeltäter entlarvtwerden und seine Strafe erhalten.Ich habe gesprochen. Und nun hin»weg mit euch von meiner Tür!«»Der Übeltäter soll sterben«,schrie Bawn, »denn er hat Kum=mer und Schande über uns allegebracht!«»So sei es«, erwiderte Scundoound schloß seine Tür. Die Mengefing an, sich zu verlaufen.»Nun wird alles offenbar wer=den«, orakelte La=Lah. »Ruhe undZufriedenheit werden in unserDorf zurückkehren.«»Dank Scundoos, des kleinenMannes«, sagte Sime hämischgrinsend.»Dank des Zaubers, über denScundoo, der kleine Mann, ver=fügt«, berichtigte La=Lah.»Kinder der Dummheit, diesesThinkletvolk!« Sime schlug sichklatschend auf die Hüfte. »Unfaß=bar, daß erwachsene Frauen undstarke Männer sich vor Traumge=bilden und angeblichen Wundernin den Staub werfen!«»Ich bin ein weitgereister Mann«,

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antwortete La=Lah. »Ich bin überdie tiefen Meere gefahren und infernen Ländern gewesen. Ich habeZeichen und Wunder gesehen/undich weiß, daß es solche Dinge gibt.Ich bin La=Lah —«»Der Schwindler!«»So sagen manche, die es nichtbesser wissen. Aber mein wahrerName ist La=Lah, der Weitge=reiste.«»Ich bin zwar kein Weitgereister«,begann Sime.»Dann halt deinen Mund!« misch=te Bawn sich ein, und sie schiedenim Zorn.

Als der letzte Schimmer des Mon=des hinter dem Rand der Weltverschwunden war, trat Scundoozu dem Volk, das sich vor Hoo=niahs Haus drängte. Er kam mitschnellen, leichten Schritten, unddie, die ihn kommen sahen, be=merkten, daß er mit leeren Hän=den kam - ohne Masken und Ras=sein und die übliche Ausstattungeines Schamanen. Nur unter demArm trug er etwas - einen großen,schläfrigen Raben.»Ist Holz genug vorhanden, umein Feuer zu entfachen, damitnachher, wenn das Werk getanist, alle sehen können?« fragte er.

»Ja«, antwortete Bawn, »Holz istgenug da.«»So lauschet meinen Worten, derenich nur wenige sprechen werde ...Ich habe Jelchs, meinen Raben,mitgebracht, den unfehlbarenWahrsager. Ihn, den schwarzenVogel, werde ich in der schwärze=sten Ecke des Hauses unter Hoo=niahs großen schwarzen Eisentopfsetzen. Die Öllampe wird gelöschtwerden, und alles wird in tiefeDunkelheit gehüllt sein. Was dannfolgt, ist ganz einfach. Einer nachdem anderen sollt ihr in das Hausgehen, die Hand für die Dauereines tiefen Atemzuges fest aufden Topf legen und wieder her=auskommen. Zweifellos wird Jelchseinen Schrei ausstoßen oder seinWissen auf irgendeine andere Artkundtun, wenn er die Hand desÜbeltäters in seiner Nähe spürt...Seid ihr bereit?«»Wir sind bereit«, tönte die viel=stimmige Antwort.»Nun werde ich die Namen ver=künden, einen nach dem anderen,bis auch der letzte aufgerufenist.«La=Lah war der erste, und er gingohne Zögern hinein.Aller Ohren lauschten gespannt.In der lautlosen Stille konnten ^fes

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Jade London

die Bodenbretter unter seinenSchritten knarren hören, aber daswar alles. Jelchs krächzte nicht undgab auch sonst kein Zeichen.Bawn war der nächste, denn eskonnte möglich sein, daß ein Mannseine eigenen Decken stahl, umSehaden über die Nachbarn zubringen.Wieder kein Zeichen von Jelchs.Hooniah folgte, ebenso andereFrauen und Kinder und Männer,und Jelchs blieb stumm.»Sime!« rief Scundoo.Keine Antwort.»Sime!« wiederholte er.Sime, obwohl anwesend, rührtesich nicht.La=Lah, dessen Schuldlosigkeit be°reits feststand, fragte ungestüm:»Fürchtest du dich vielleicht vorder Dunkelheit, tapferer Sime? Dubetonst doch gerne, wie stark dubist! Und wie mutig!«Sime lachte und erwiderte: »Ichlache, weil es nichts als eine großeNarrheit ist. Trotzdem werde ichhineingehen. Nicht, weil ich anWunder glaube, sondern um zuzeigen/ daß ich keine Furchtkenne.«Er ging hinein und kam nach einemangemessenen Weilchen, immernoch spottend, wieder heraus.

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Jelchs hatte sich nicht gemeldet.La=Lah, über Simes Spott empört,flüsterte; »Mögest du einst einesjähen Todes sterben!«»Das werde ich wohl«, flüsterteder Spötter zurück. »Nur wenigevon uns Männern sterben daheimauf ihrem Lager - dank der tiefenSee und dank der Schamanen, diebisweilen an der Schnur des fal»sehen Beutels ziehen ...«

Als die Hälfte der Dorfbewohnerdas Orakel unbeschadet passierthatte, wuchs die Spannung insbeinah Unerträgliche. Nachdemzwei Drittel durch die Prüfung ge»gangen waren, brach eine jungeFrau zusammen, die eben ihr er=stes Kindbett hinter sich hatte. Dieüberreizte Stimmung äußerte sichin nervösem Geschrei und Geläch"ter.Schließlich kam die Reihe an denletzten, und bis jetzt war nicht dasgeringste geschehen.Der Knabe Di Ya, Hooniahs undBawns Sohn, war dieser Letzte.Kein Zweifel möglich, daß er derSchuldige war! Hooniah sandte einJammergeheul zu den Sternen em=por, die anderen zogen sich scheuvon dem unglücklichen Jungen zu"rück.

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Di Ya war halb tot vor Angst, unddie Beine versagten ihm, so daßer über die Schwelle stolperte undbeinah hingefallen wäre. Scundooschob ihn vollends hinein undmachte die Tür von außen zu. Einganzes Weilchen lang hörte manvon drinnen nur das Weinen desJungen.. Dann folgte, ganz lang»sam, das Geräusch seiner Schritte,die über den knarrenden Fußbodenzur entfernten Ecke schlichen. EinePause, und die Schritte kamen zu"rück zur Tür. Die Tür öffnete sich,und Di Ya trat ins Freie.Nichts war geschehen, und Di Yawar der letzte gewesen!»Jetzt zündet das Feuer an!« be=fahl Scundoo.»Auch sein Zauber hat versagt«,raunte Hooniah heiser.»Nun ja«, erwiderte Bawn ge=mächlich, »der gute Scundoo wirdeben alt. Wir werden uns nacheinem neuen Schamanen umsehenmüssen.«Sime straffte die Schultern undbaute sich vor dem kleinen MannScundoo auf. »Höh! Höh!« lachteer. »Wie ich mir dachte - nichtsist dabei herausgekommen!«»So scheint es, ja, ja, so scheintes«, murmelte Scundoo beschei=den. »Jedenfalls scheint es denen

so, die mit dieser Materie nichtvertraut sind.«»Aber du vermagst es anders zusehen?« fragte Sime ironisch.»Ja, ich vermag es anders zu se«=hen.« Scundoo sprach sehr milde,und während er sprach, sankenseine Augenlider langsam herab,tiefer und immer tiefer, bis seineAugen völlig verborgen waren.»Ich werde nun eine weitere Probevornehmen müssen. Schüre dasFeuer zu lodernder Glut, Bawn ...Ja, so ist es recht \.. Und nunhebt jede?, Mann und Weib undKind, hier und sofort, seine bei«den Hände über den Kopf, dieHandflächen hübsch nach vorne!«Der Befehl kam ganz unerwartetund wurde mit solcher Autoritätgegeben, daß jeder ohne Wider"rede gehorchte.»Ein jeder sehe sich die Hände deranderen an«, fügte Scundoo hinzu.»Jeder zeige allen anderen seineHände, damit -«Aber seine Stimme ging unter imLärm des Gelächters, eines zorni»gen Gelächters. Aller Augen warenauf Sime gerichtet. Hatte sonst je»der eine rußschwarze Handfläche -Simes beide Handflächen warenrein und zeigten keine Spüren vonHooniahs schmierigem Topf!

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Jack London

Ein Stein schwirrte herbei und trafSime an der Wange.»Eine Lüge!« schrie Sime. »Es istnicht wahr! Ich weiß nichts vonHooniahs Decken!«Ein zweiter Stein streifte SimesStirn und riß sie auf, ein dritter/ziemlich großer/ pfiff dicht an sei=nem Kopf vorbei. Der große Ra°cheschrei des Stammes gellte zumnächtlichen Himmel empor/ undüberall bückten sich die Leute nachSteinen und schweren Kieseln.Wie ein Messer schnitt Scundoosschrille/ scharfe Stimme durch denTumult: »Wo hast du die Decken?«»In - in dem großen Fellballen amMittelpfeiler meines Hauses«/ tön=te die klägliche Antwort. »Aberglaubt mir - es war nur ein Scherz!Glaubt es mir doch!«Scundoo hob die rechte Hand/ undim Nu war die Luft ^on heran-sausenden Steinen erfüllt. SimesFrau weinte/ doch sein kiemerSohn warf lachend und johlendSteine wie alle übrigen.

Hooniah kam mit den wiederge-wonnenen Decken aus Simes Hauszurück. Scundoo winkte sie zu sichheran.»Wir sind arme Leute und habennur wenig«/ jammerte Hooniah.»Drum sei gnädig mit uns/ o Scun=doo.«Das Volk wandte sich ab von demSteinhaufen/ den es errichtet hatte/und schaute herüber.»Das war stets meine Art/ guteHooniah«/ erwiderte Scundoo mil=de und griff nach den Decken.»Zum Zeichen/ daß ich gnädig bin/werde ich von dir nichts nehmenals diese Decken... Bin ich nichtwahrhaft gnädig und weise/ meineKinder?«»In der Tat/ du bist wahrhaft gnä=dig und weise/ o Scundoo!« er°klang es im Chor.Und Scundoo, der große Schamane,entschwand in die Dunkelheit, dieDecken über die Schultern gehängtund Jelchs/ den schläfrigen Raben/unter dem Arm...

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MacKinlay Kantor

Der Anfänger

Drüben in der Acola Street stan=den zwei Männer vor der Tür einerbilligen Wohnung im zweitenStock und drückten auf den Klin=gelknopf. Beide hatten Schießeisen.

Drei Blocks entfernt/ in der Imbiß=stube Ecke Lead Street und Bell=man Street/ trat StreifenpolizistNick Glennan mit seinen blitzblan°ken schwarzen Stiefeln an den Ta=bakwarenstand und kaufte sich einPäckchen Kaugummi.»Schöner Tag heute«/ sagte NickGlennan zu der Kassiererin.»Wunderschöner Tag«, pflichtetesie bei.»Weil man nämlich«, erklärteGlennan mit seiner sanften Stim=me/ »an einem Tag wie heute denFrühling in der Luft spürt. Jetztkann es nicht mehr lange dauern.«

Er steckte das Kaugummipäckchenin eine Innentasche und zupfteseine Uniformjacke glatt.»Piep/ piep«/ ertönte eine Stimmehinter ihm.»Und was wäre so seltsam dabeian einem Märztag?« fragte einezweite Stimme.Glennans Gesicht wurde rot vorÄrger. Er kannte diese Stimmen.Beide.Er drehte sich um und warf einenhitzigen Blick auf die zwei athleti=sehen Männer/die an einem Wand»tischchen standen/ jeder an einembeachtlichen Kotelettknochen na=gend.»Wie geht's denn unserem kleinenZoopolizisten?« fragte der größerevon ihnen. Er war Nicks Bruder/Sergeant Dave Glennan von derDetektivabteilung. Er war fünf=

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MacKinlay Kantor

zehn Jahre älter als Nick und min=destens vierzig Pfund schwererund sah aus wie ein verhaltnismä«ßig gutmütiger Pavian.»Der Zoopolizist«, sagte Nick ziem=lieh betont, »fühlt sich mindestensso wohl wie ein Detektivsergeant,der überweite Zweireiher trägt, umseinen Bauch zu kaschieren, undseine dicke Kehrseite in einen nochdickeren Dienstwagen zu pflanzenpflegt. Ja, und mit seinen Hessenist er mindestens genauso ge»schickt.«Dave lachte still vor sich hin.Sein Begleiter, DetektivsergeantPete McMahon, grinste Nick an.»Nimmst Dave immer zu ernst,junge.«»Dann soll er das Gerede vomZoopolizisten lassen. Immerhin hater früher auch Uniform getragen.«»Aber nicht im Zoo«, brummteDave.»Und was ist so schlecht am Zoo?Glaubst du, da wäre kein polizei»lieber Schutz nötig?«»Und ob da Schutz nötig ist!« lach»te der Bruder. »Zum Beispiel kannman nie wissen, was die Bären sicheinfallen lassen. Vielleicht brechensie eines Tages aus und beißen wenoder fressen ihm das Schinken»sandwich weg. Und eine alte Lady

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fällt kopfüber in den Ententeich.Schon längst wird befürchtet, daßmal einer das BronzestandbildGeneral Shermans vor dem Aqua°rium maust - jeden Tag kann daspassieren. Und wenn dir ein klei=ner Junge mit schmutziger Nasebegegnet - vergiß nicht, sie ihm zuputzen. Das steht in den Dienst»Vorschriften - praktisch also einBefehl, Nick.«

Drüben in der Acola Street öffnetejemand die Tür jener billigenWohnung, und einer der beidenMänner hob sein umgedrehtesSchießeisen und ließ es niedersau»sen, schnell und sehr hart.

Nick straffte die Schultern unterseiner hübschen Uniformjacke.»Eines Tages, mein witziger gro»ßer Bruder, hoffe ich dir zu zeigen,daß ein junger Streifenpolizist, derseine Dienstgänge im Zoo absol»vieren muß, genauso hart ist wiemancher Detektivsergeant.«»Jederzeit willkommen«, lachteDave gemütlich. Er gähnte undklopfte sich den Bauch. Nick muß»te an die Menge Narben denken,die den mächtigen Körper seinesBruders schmückten, und fühltesich irgendwie beschämt. Dave war

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Der Anfänger

schon ein Kerl, daran gab es kei»nen Zweifel. Er war ein Bruder,auf. den man stolz sein durfte.Wenn er es bloß hätte lassen wol"len, ihn - Nick - fortwährend alsAnfällger zu hänseln.Nick war erst seit sechs Monatenbei der Polizei. Und bestimmt wür«de er nicht sein Leben lang Strei=fendienst im Zoologischen Gartenmachen. Dave hätte das wissenkönnen. Daß er seit zwölf JahrenCop und unzählige Male ange=schössen, dekoriert und befördertund in den Zeitungen als uner=schrockener Kämpfer für Rechtund Ordnung gefeiert worden war,hätte ihm keinen Grund geben sol=len, sich über einen Anfängerlustig zu machen.»Fertig zum Aufbruch, Dave?«McMahon sah auf seine große, un»moderne Taschenuhr.Sie bezahlten ihre Rechnung undstampften zur Tür. Nick setzte sichseine Schirmmütze auf, schnippteein mikroskopisch kleines Stäub=Aen von seiner Uniformjacke undfolgte ihnen.»Wann beginnt denn dein Strei»fendienst. Nick?« fragte McMahon.»In anderthalb Stunden.«Daves breiter Mund verzog sich zueinem belustigten Grinsen. »Was

für ein Diensteifer! Könntest dochnoch hübsch zu Hause bei Alicesitzen. Junge.«»Alice mag es, wenn ich meinenDienst ernst nehme«, entgegneteNick erhaben.»Wir alle nehmen unseren Diensternst. Deshalb braucht man dochnicht gleich anderthalb Stundenfrüher anzufangen.« Dave biß dasEnde einer Zigarre ab und klopfteNick wohlwollend auf die Schulter.»Bist ein schmucker Polizist, meinJunge. Guck dir bloß seine Stiefelan, Pete! Blank wie ein Spiegel.«Der jüngere Glennan versuchte sei=nen Ärger über das ironische Lobzu unterdrücken. »Und was habtihr beiden hier in der Gegend zutun?« fragte er sachlich.»Verdächtige Wohnung ansehen...Aber warte ab, bis du Achtund»dreißig bist. Junge. Dann wirst dunicht mehr so gerne laufen, son»dem lieber im Dienstwagen fah»ren. Alle Glennans setzen Fleischan, um ihre Knochen warm zu hal»ten, sobald sie trocken hinter denOhren geworden sind.«»Dieser hier nicht«, versicherteNick und deutete auf sich.Die beiden Detektive stiegen in ihrAuto. Nick wandte sich der ent»gegengesetzten Richtung zu, wo,

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©inen Block entfernt, die kahlenBäume und Büsche des Zoologi»sehen Gartens in der Mittagssonnelagen.»Grüß Alice von mir«, rief Dave.»Ich komme demnächst mal wieder,um ein paar Gläschen nüt euch zutrinken.«»Tu das nur«, antwortete Nick,»aber gib acht, daß sie dir dannkein Rizinusöl in den Brandyschüttet. Bis bald, McMahon. Bisbald, Fetty.«»Laß die Seelöwen nicht raus«,warnte McMahon.»Und verlauf dich nicht im Ge=wächshaus. Zoopolizist.«Nick Glennan würdigte diese Scher»ze keiner Beachtung. Er ging dieStraße hinab, innerlich siedend vorÄrger und verletztem Stolz. Zoo»polizist! Oh, diese zwei Fettsäcke!Er sagte sich, daß er jede Einzelheitihrer verunstalteten Anatomie ver=abscheue, angefangen von den un=geheuren Plattfüßen bis hinauf zuden lächerlichen Haarsträhnen aufihren kahl werdenden, dampfen»den Köpfen.Nur weil Dave Sergeant war undZivilkleidung trug und immer malwieder in der Zeitung stand,brauchte er längst nicht so über=legen zu tun. Wie sah er denn aus,

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wenn man ihn von hinten davon"watscheln sah? Wie ein Plumeaumit Armen und Beinen! Jawohl,genauso sah er aus!Nick schritt dem Zoologischen Gar»ten entgegen, die Mütze ein biß»chen schräg auf dem Kopf, mitleicht und locker schwingendenArmen und ruhigen, elastischenSchritten, wie es die Dienstvor»schritt befahl. Wenn er an gepark»ten Autos vorüberkam, warf erihnen einen aufmerksamen Blickzu. Man konnte nie wissen. Moch»te ja ein gestohlenes Auto daruntersein. Er wußte die jüngste Listegestohlener Autos auswendig.Obgleich er seinen Streifengangdurch den Zoo erst um zwei Uhranzutreten brauchte, woran tat»sächlich noch immer achtundachtzigMinuten fehlten, hatte ihn seinDiensteifer wieder vorzeitig ausder kleinen Wohnung getrieben, inder er und Alice nun das zweiteJahr ihrer Ehe verbrachten. JedenTag verließ er die Wohnung vor»zeitig. Er liebte es, in Uniform zusein. Er liebte es, seinen Job vorder Zeit zu beginnen. Die Glen»nans waren so, eine richtige Poli»zistenfamilie. Da hatte es einen rot»gesichtigen/ backenbärtigen Groß»vater gegeben, der vor langen,

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langen Jahren, nur mit seinemKnüppel bewaffnet, eine Hordegrölender Anarchisten in Schachgehalten hatte. Der Vater von Nickund Dave war nun auch schon seiteinigen Jahren pensioniert, aberirgend etwas, das mehr war alsbloße Gewohnheit, hatte ihn dieUniform eines privaten Bankwach»mannes anziehen lassen, und trotzseiner eisgrauen Haare machte erweiterhin seine fünfundvierzigStunden Dienst in der Woche.Nick streckte sein Kinn heraus.Seine Augen sahen alles - den har=ten blauen Spätwinterhimmel, denersten warmen Sonnenschein aufden sauberen Ziegelhäusern undder leider nicht ganz so sauberenStraße, die von den beiseite ge=schobenen Resten schmelzendenSchnees gesäumt wurde, die klei=nen Karawanen der Kinder, diesich allein oder in Begleitung vonKindermädchen dem ZoologischenGarten näherten. Mit einer knap»pen Handbewegung brachte ersein leicht verrutschtes ledernes Pi«stolenfutteral wieder in den rich-tigen Sitz ... Zoopolizist, was? Erwürde ihnen schon zeigen, wie -

Der Mann mit dem braunen Man»tel drehte die Arme der Frau grau"

sam nach hinten, als sie sich weh»^Ken wollte. »Binde sie auf diesen

Stuhl, Jack. Und stopf ihr einenKnebel in den Mund. Dann wer»den wir die ganze Bude durchhar"ken wie mit einem Staubkamm.«»Ihr könnt mich ebensogut töten«,schluchzte die Frau gegen die gro"ben Finger, die ihr den Mundzuhielten. »Ihr habt ihn getötet,ihr könnt auch mich töten!«

Pete McMahon und Dave Glen=nan erreichten die Kreuzung Bell"man Street und Acola Street undschwenkten nach rechts in dieAcola Street ein.»Welche Nummer, Dave?«»Einsneunzehn.«»Was ist dort los?«»Captain Apperson sagte, wirsollten es uns mal ansehen. Woh»nung Zwölf. Jemand telefonierteund erzählte, in dieser Wohnungscheine es neuerdings nicht mehrso ganz zu stimmen.«»Stool?«»Nein. Irgendein anonymer Nach"bar. Vermutlich nicht viel dran,sonst hätte der Captain die Sachedringlicher gemacht. Aber er sagtenur, wenn wir morgen oder über»morgen mal in die Gegend kämen,sollten wir nachsehen. Nun, heute

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MacKinlay Kantor

ist übermorgen, und wir sind inder Gegend.«McMahon spuckte einen naßge=kauten Zigarrenstummel aus. »Diezuständigen Reviere sollten sichum solche Sachen kümmern.«»Ja. Aber seit die Uniformiertenvom Achtzehnten Revier vorigeWoche die Wohnung von HeftyLewis durchsuchten und Hefty inseinem Versteck im Wäschekorbnicht entdeckten, wünscht derChef, daß sich die Detektivabtei«lung der Zentrale um verdächtigeWohnungen kümmert. Eine Men=ge Arbeit um nichts.«»Du hast recht«, pflichtete Petebei. »Da sind wir. Das schäbigaussehende Haus auf der anderenStraßenseite.«Sie fuhren ein Stückchen weiter,kamen — zwei harmlose Passanten- auf der richtigen Straßenseite zuFuß zurück und näherten sich demEingang von Nr. 119, AcolaStreet. Es war ein vernachlässig-tes, schmutzig aussehendes Ge*bäude, noch keine zehn Jahre alt,aber überall stockfleckig und mitlangen Rissen im Putz; die buntenGlasscheiben der zweiflügligenEingangstür waren teilweise zer»brochen. Dave Glennan stelltebeim Eintreten fest, daß der Ge»

ruch im Hausflur eine Mischungaus Gin, Blumenkohl und feuch"ten Windeln war. Halb Apparte»menthotel, halb Familienwohn»haus, verdarb dieses Gebäude dieganze Reihe nüchterner kleinerund sauberer Häuser, in der esstand.»Sieht aus wie ein Pesthaus«,murmelte McMahon.»Riecht auch so«, knurrte Dave.»Atmet sich auch so. Ist aucheins.«Im Hausflur schoben sie einenschmutzigen Kinderwagen und einaltes Fahrrad beiseite und prüftendie Namensschilder an der Reiheschmieriger Hausbriefkästen.»Wohnung Zwölf«, las Glennan,»Frank R. Johnson.«»Sollte Jones oder Smith sein«,bemerkte McMahon. »Die John=sons werden neuerdings zu allge»mein.«»Dieser«, sagte Dave, »ist wahr»scheinlich ein arbeitsloser Schwede,der seine Frau verprügelt, oderirgend so etwas.« Sein dicker Dau»men näherte sich der Klingel un»ter dem Briefkasten. »Nachbarnnehmen immer Anstoß, wenn sieeinen Familienstreit hören«, medi=tierte er. »Wahrscheinlich war dasder Grund für den Tip. Aber mir

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Der Anfänger

gefällt die Atmosphäre dieses^Hauses nicht. Versuch mal die Türzum Treppenhaus.«Pete versuchte die bezeichnete Türzu öffnen. »Abgeschlossen.«»Ich werde nicht klingeln«,brummte Dave, verwundert überden eigenen Starrsinn. »Laß unszum Hintereingang -«»Da kommt jemand.« McMahontrat einen Schritt zurück, als eineältere Frau mit Einkaufskorb dieTür zum Treppenhaus von innenöffnete; sie zuckte zusammen undstieß ein erschrockenes Gemurmelaus.»Polizei«, sagte McMahon undzeigte sein Detektivabzeichen.Die Frau erwiderte irgend etwasItalienisches und schüttelte denKopf,»Gehen Sie nur, Lady«, grinsteDave. Er machte die vordere Hausetür auf, und die Frau huschte hin"aus.»Nichts mit ihr?«»Ach wo. Italienische Großmama.Will darauf wetten, daß ihr Namenicht Johnson ist.«»Schön«, sagte Pete, der einenFuß in die Tür zum Treppenhausgesetzt hatte. »Hier können wirnun durch.«Glennan brummte: »Ich werde die

Hintertür versuchen.« Ein böserArgwohn braute sich in ihm zu*sammen. Er glaubte nicht an Vor-ahnungen; er wußte nichts vonihnen. Aber er war seit mehr alszwölf Jahren ein Hüter der öffent"liehen Ordnung, und dieses Ge»bäude machte ihm keinen gutenEindruck. Ebensowenig der NameFrank R. Johnson am Briefkasten.Er wußte, daß ein belagerter Ver"brecher, von einem Klingeln ander Vordertür erschreckt, gewöhn»lieh durch die Hintertür zu entwi«sehen versucht. Und wie es seinerArt entsprach, wählte er den ge«fährlichen Posten für sich selbst.»Du hinten, ich vorne«, bestätigteMcMahon. »Wie lange?«»Ich muß die Hintertreppe Bndenund die richtige Tür erreichen«,sagte Dave. »Gib mir mindestensfünf Minuten Zeit. Sieben wärenbesser. Sagen wir also sieben Mi=nuten. Dann klingelst du oben ander Vordertür.«»Sieht mir so aus, als machtest duziemliche Umstände für einen ar"beitslosen Schweden.«Glennan zuckte die Schultern undsah auf seine Armbanduhr. »Daswäre dann zehn Minuten vor eins.Genau zehn Minuten vor einskimgeist du an der Vordertür.«

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MacKinlay Kante»

Die Frau mit dem wirren stroh=blonden Haar saß kerzengeradeauf einem Stuhl festgebunden; inihrem Mund steckte ein Knebel,ihre Augen waren weit aufgerissenund starr. Wenn sie sich über»haupt bewegten, wurden sie fürSekundenbruchteile auf die regloseGestalt gerichtet, die eigentümlichverrenkt dicht bei der Vordertüram Boden lag.Jack kippte die Schublade desSchreibtisches mitten auf demTep"pich aus und durchwühlte denHaufen mit schnellen Fingern.»Hölle und Teufel«, sagte er, »siehaben es irgendwo anders verasteckt, Spando.«Der Mann in dem braunen Mantelkam zur Küchentür; um seinen ver=kniffenen Mund standen harte,häßliche Linien. »Dann wird siesingen. Wir werden sie schon soweit bringen. Ich wünschte trotz=dem, ich wüßte, wo der Bengelsteckt.«»Ich hörte die Küchentür gehen,eben bevor sie hereinkam.«»Quatsch, das war sie. Sie warf dieKüchentür hinter sich zu/ geradeals wir AI umlegten.«»Als du ihn umlegtest, willst dusagen. Du hättest nicht so hart zu=schlagen sollen.«

»Wie konnte ich wissen, daß ereinen solchen Glaskopf hat?«»Kleine Spazierfahrt wäre bessergewesen. Jetzt haben wir eine Lei»ehe am Hals.«Spando sagte: »Hier werden zweiLeichen sein, wenn sie nicht singt,und zwar rasch -«

Streifenpolizist Nick Glennan gingdie breite Promenade entlang, dieins Zentrum des Zoologischen Gar"tens führte. Ging ist ein armseligesWort. Streifenpolizist Nick Glen»nan marschierte in verhaltenemSchritt; er stolzierte; er benahmsich wie auf einer Parade, aber de»zent und gemessen, nicht auffälligund geziert. Er war jung und nettanzusehen und wurde allmählichgesetzt und dachte oft daran, daßGott es gut gemeint hatte, da erihm erlaubt hatte zu leben und einPolizist zu sein. Ja, selbst ein Zoo"polizist. Dave, der große, fette -bah.Überall wimmelten Kinder herum.Scharen etwas größerer Kinder,Jungens, die sich jagten und dabeiüber die matschigen Pfützen aufden Nebenwegen sprangen, Mäd=chen in hellen Mänteln, ballspie»lend oder reifentrudelnd. Und viele,viele Babys, warm und behaglich

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in ihre mehr oder weniger komfor» \Das Dienstzimmer der Streifen»tablen Kinderwagen verstaut. Als polizisten, die durch den Zoo pa=Nick diese Kinder sah, war nochetwas anderes in seinem Gesicht.Etwas Nachdenkliches und leichtBekümmertes.Er und Alice hatten sich ein Kindgewünscht. Eigentlich mehr als nureins. Aber nun waren sie fast zweiJahre verheiratet, und noch keinBaby hatte sich eingestellt... Aliceweinte manchmal. Sie hatte einenkleinen Jungen gewollt, den sieNicky nennen würde — von allenDingen der Welt hatte sie sichnichts sehnlicher gewünscht alsden kleinen Nicky. Nun, zwei Jahrewaren noch keine Ewigkeit; viel»leicht würde sich ihr Wunsch dochnoch erfüllen.Nick tröstete sich mit dieser vagenHoffnung, aber es war ein schwa»eher Trost. Denn er konnte nichtvergessen, daß der alte Dr. Fogartyihm erzählt hatte, wahrscheinlichwürde Alice niemals Mutter wer=den ... Das Leben war schon selt=sam; kein Grund, weshalb ausge»rechnet Alice und ihm dieser Kum°mer beschert werden mußte ...Und Dave war Junggeselle. Viel'leicht würde es keine weiterenGlennans geben, die Polizistenwerden konnten.

trouillierten, lag bei den Verwal-tungsgebäuden im Norden desGartens, aber Nick Glennan beweg»te sich in südlicher Richtung. Erplante, in weitem Bogen durch denganzen Zoo zu gehen und sichpünktlich auf die Minute zur Ab-lösung im Dienstzimmer einzufin»den.Beim Freigehege der Bären herrsdrte natürlich wieder der gewohnteAndrang, unten vor dem Gehegeund oben auf den künstlichen Aus=sichtsfelsen. Nick bog in einen Sei»tenweg ein und kam zu dem Ge=hege mit den Käfigen der Wölfeund Füchse; hier hing stets eindurchdringender Geruch in derLuft, den das Publikum liebermied.Der kleine Junge hockte trübseligin einem der Randgebüsche, alsNick ihn entdeckte. Es war ein sehrkleiner Junge in blauem Overallund billigem grauem Sweater; erhatte keine Mütze, und allem An=schein nach war das Leben keines»wegs nett zu ihm gewesen. Erweinte leise vor sich hin.Nicks lange Arme griffen in dasGebüsch und holten den Jungenheraus. »He, Buddy«, sagte Nick.

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Die tränenfeuchten Augen blinzeisten in ehrfurchtsvoller Scheu. Nicknahm das Kind auf die Arme. »Wiekannst du meinen Namen wissen,Cop?« fragte die zitternde kleineStimme.»Ehrlich gesagt — ich wußte ihnnicht. Ist das dein Name? Buddy?Ein schöner Name - Buddy. Hastdu dich verlaufen?«»Ich - ich kam in den Zoo«, sagteBuddy. Er schluchzte auf.»Möchte wetten, deine Mama weißnichts davon«, grinste Nick.Buddy nickte ernst. »Ja. Sie ist fort,weit fort. Die Männer trugen siein einem großen schwarzen Kastenfort.«»Oh«, brummte Nick; er fühltesich verlegen. »Nun«, sagte er,jetzt wieder lächelnd, »ich wetteaber, auch dein Dad weiß nichtsdavon.«»Ich habe keinen Dad. Ich habeaber eine große Puppe. Sie heißtGlotzauge, die Puppe.«»Ja«, sagte Nick, »und mächtig kal-te Hände hast du auch. Wo wohnstdu denn, Buddy?«Der Junge zeigte in die Richtung,wo die Bellman Street an das Zoo"gelände grenzte. »Da drüben, hun-dert Meilen weit weg, schätze ich,oder vielleicht fünf. Ich sah einen

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Mann, der Onkel AI auf den Kopfschlug, deshalb bin ich in den Zoogelaufen.«Diese kleine Information brachteNick aus dem Gleichgewicht. Ervergaß, daß - laut Vorschrift - alleverlaufenen Kinder unverzüglichzum Polizeidienstzimmer zu brin»gen seien; er vergaß, daß er nochnicht im Dienst war - falls es dar»auf angekommen wäre. Er vergaßsogar Buddys kalte Hände. »Was?«fragte er heiser. »Du sahst einenMann, der Onkel AI auf den Kopfschlug? Und wer ist Onkel AI?«»Er ist gemein«, sagte das Kind.»Er haut mich immer. Hier.« Ne"ben dem kleinen dünnen Kinn wareine blaue Stelle zu sehen.»Oh, ja?« fragte Nick vorsichtig.»Er haut dich? Oft?«»Gestern und heute sicher sechs"mal. Oder zehn oder vier. TanteIda weinte. Ich mag Tante Ida.Aber den alten Onkel AI mag ichnicht. Ich wünschte, Mama kämeaus dem großen schwarzen Kastenzurück.«Nick murmelte, mehr zu sich selbst:»Darauf will ich wetten.« Er raus"perte sich und grinste und schau-kelte Buddy auf den Armen. »Gibacht«, sagte er. »Kaugummi!« Miteiniger Mühe holte er das Päckchen

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aus der Innentasche seiner Uni"formjacke und drückte es in Buddy sschmutzige kleine Hand.»Nun höre. Big Boy«, sagte erernst, »du weißt, daß Cops gernemehr über Männer herausfindenmöchten, die andere Männer aufden Kopf schlagen. Was ist mitdem Burschen, der deinen OnkelAI schlug? Wer ist er?«»Ein großer Mann. Er hat einenbraunen Mantel. Ich mag ihn nicht.Aber Kaugummi mag ich.«Den fröstelnden Jungen auf denArmen strebte Nick der nächstenStraße zu, die das Zoogelände be-grenzte, und versuchte dabei, mög"liehst viel über die Geschichte zuerfahren. Buddy, schien es, wohntein einem großen Haus, irgendwoda hinten. Er hatte mit der PuppeGlotzauge auf der Treppe gespielt,einen halben Stock höher, und wardabei ganz still gewesen und hattezwei Männer gesehen, die an On=kel Als Wohnungstür klingelten,und als Onkel AI die Tür aufmachste, schlug ihn der Mann mit dembraunen Mantel auf den Kopf undOnkel AI fiel gleich hin.Buddy war nicht geblieben, nach"dem sich die Tür geschlossen hatte.Ohne an die Puppe Glotzauge zudenken, war er voller Angst die

Treppe hinuntergeschlichen und inden Zoo gelaufen. Den Weg kann"te er, Tante Ida war mal mit ihmim Zoo gewesen. Hundert Meilenweit war es, meinte er, oder viel»leicht fünf. Und er mochte Kau-gummi.»Ja, sicher«, pflichtete Sfcreifenpoli»zist Nick Glennan abwesend bei,»Kaugummi ist eine feine Sache.«Sie standen jetzt an der Bordaschwelle des Fulton Boulevards,und als Streifenpolizist Glennaneine Hand hob, kam ein leeres Taxizu schlidderndem HaifaNick schob das Kind durch die Tür.»Hören Sie, Cop«, wehklagte derTaxifahrer, »ich habe eben eineOrder gekriegt -«»Sicher«, sagte Glennan, »und dasist sie. Drehen Sie um und fahrenSie die Bellman Street hinauf. Fah»ren Sie nicht zu schnell und nichtzu langsam.« Er stieg ein und setz»te sich neben seinen Schützling.»Das ist mal ein verdammt hüb"sches Taxi«, erklärte Buddy.»Keine Kraftausdrücke, du vorlau'ter Zwerg«, mahnte Nick. Er hobden Jungen aufs Knie. »Nun wol»len wir sehen, ob wir das großeHaus finden können, in dem duwohnst. Hast du eine Straße mitTrambahnschienen überquert?«

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»Ja«/ nickte Buddy, »aber ich warvorsichtig, ich habe nach beidenSeiten geguckt. Wirklich.«Nick Glennan wies den Fahrer an:»Weiter geradeaus. Überqueren Siedie Lead Street.«»Das ist der richtige Weg«, ver=kündete Buddy stolz. »Ich weißdoch den Weg zum Zoo, nichtwahr?« Die grauen Augen richte"ten sich nachdenklich auf Nick.»Aber wenn du mich jetzt nachHause bringst - werden wir dannspäter wieder mal in den Zoo ge=hen? Zusammen?«»Bestimmt werden wir das ... Bistdu auch an dieser Ecke vorbeige=kommen, Buddy? Ja? Und wowohnt nun dein Onkel AI?«»Da, um die nächste Ecke herum.«Der schmutzige Zeigefinger deutetezur Acola Street. »Aber ich magihn nicht. Ich mag dich besser.«Glennan nickte. »Ja. Und Kau=gummi.«»Ja«, bestätigte Buddy, heftig kau=end, »und Kaugummi.«

Spando stand da und starrte hinabauf Ida Carrier, alias Irene McCoy,alias Ida Johnson. Sein Mund ver=zog sich verächtlich, als er den Kopfwandte, um einen Bilck auf die reg=los und seltsam verrenkt am Bo=

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den liegende Gestalt zu werfen -Albert Carrier, alias Luther Mc°Coy, alias Frank R. Johnson. SeinBlick kehrte zu der gefesseltenFrau auf dem Stuhl zurück.»Ausgepustet wie eine Kerze«,sagte er. »Tot. Verstehst du? Wirhaben ihn umgelegt. Bei Gott -sein Schädel muß dünn gewesensein wie eine Eierschale. Und durettest dir keinen Cent, wenn duschweigst. Du sagst uns jetzt, woihr den Zaster versteckt habt, undzwar schnell. Dreckige Betrüger,ihr zwei -«Jack Novack zog den Knebel ausIdas verschwollenem Mund. IhreAntwort kam gequält und vollerHaß. »Eher könnt ihr beiden Rat»ten auch mich erschlagen!« stieß sieheraus.»Vielleicht«, grinste Spando. ZuNovack sagte er: »Zieh ihr dieSchuhe aus, Jack. Wollen mal se=hen, wie ihr eine glühende Ziga»rette zwischen den Zehen gefällt.«Er zündete eine Zigarette an undbeugte sich nieder. Er hatte nichtgeblufft, er würde es tun; sein Ge=sieht war brutal wie das Gesichteines Folterknechtes in einem mit=telalterlichen Kerker.Die Frau schluchzte. »O Gott, eshat keinen Zweck...« Mit einem

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ihrer gefesselten Ellbogen versuch»te sie eine Bewegung. »Da drüben,der Heizkörper-nur eine Attrappe.AI hat ihn am Boden festge=schraubt. Nehmt die Diele dahinterhoch, und ihr habt es, noch imTransportbeutel.«»Alles? Sechsundzwanzigtausendmüssen in dem Beutel gewesensein.«»AI hat Zweitausend rausgenom»men. Und ich nahm mir einen Fünf=ziger oder zwei, als ich knapp war.Der Rest ist noch da.« Sie begannhemmungslos zu schluchzen, heiserund mißtönend.Spando lachte leise, ging in dieKüche, kam mit einem großenSchraubenzieher zurück und be=gann die Schrauben zu lockern,während Jack den Heizkörper an=hob. Der Heizkörper löste sich miteinem kreischenden Geräusch vomBoden, und Spando begann mitdem Schraubenzieher die Boden»diele dahinter loszuhebeln.

Im Treppenhaus, seine große alteTaschenuhr in der einen Hand,hörte Pete McMahon das Murmelnvon Stimmen. Da war nur diesesGemurmel, Worte konnte er nichtverstehen. Der Minutenzeiger sei=ner Uhr berührte eben die Zehn,

als jenseits der Tür das kreischendeGeräusch ertönte, mit dem Novack'die Schrauben des Heizkörpers vomBoden losriß.Pete steckte seine Taschenuhr wegund drückte auf den Klingelknopfneben der Tür.Rrrrrr.Mit drei oder vier langen, lautlosenSchritten war Spando neben Ida.Durch die Tasche seines braunenMantels hindurch drückte er diePistolenmündung gegen Idas Kopf.»Frag, wer da ist«, zischte er.»Wer ist da?« rief eine Stimme,die kaum noch Ähnlichkeit mitIdas normaler Stimme hatte.»Polizei«, sagte Pete McMahon.Spandos kleine Augen schienenzu lachen. »Sag ihm, daß du ihneinlassen wirst«, flüsterte er.»Ich - ich werde Sie einlassen ...«Jack Novack zog seinen Revolverund richtete ihn aus einiger Ent«femung auf Ida. Eine Hand an derPistole in seiner Manteltasche, nä°herte sich Spando lautlos der Tür,löste die Sicherheitskette und rißdie Tür auf.McMahon gaffte ihn an. Er kanntediese Visage. Er hätte sagen kön»neu, wem sie gehörte, wäre ihmnur die Zeit geblieben/ sich zu er°innern.

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Spando ließ ihm nicht genug Zeit.Er feuerte zwei, drei schnelle SAüs=se durch die Manteltasche. Petetaumelte zurück gegen die Tür aufder anderen Seite des Etagenflurs,und Spando feuerte wieder, erfeuerte das ganze Magazin leer.Pete war ein zäher Kerl, mochte erauch fett geworden sein, und ernahm sich Zeit mit dem Sterben.Seine Knie begannen einzuknicken,und das Blut kam ihm aus Mundund Nase, aber irgendwie kriegteer seine Polizeipistole hoch unddrückte einmal auf den Abzug, eheer vornüber aufs Gesicht fiel. SeineKugel durchbohrte Spandos linkeHand, und Ida Carrier auf ihremStuhl war genau dahinter. Siewußte nicht, was geschah. Allesgeschah sehr plötzlich und über=raschend - ihr Kopf kippte nachvorn, und sie gab einen einzigenkleinen Seufzer von sich, schwachund klagend.Die Tür knallte zu.Spando schwenkte seine schmer"zende Hand und fluchte wild. SeineAugen verdrehten sich aufwärts,bis fast nur noch das Weiße zusehen war.»Er hat sie erwischt«, keuchte No»vack. »Er hat sie erwischt, als erdich anschoß -«

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»Gut«, zischte Spando. »Ich sagedir, das ist gut. Jetzt kann sie unsnicht mehr verpfeifen. Nimm denBeutel mit dem Geld, du -«, erlehnte sich schwer gegen den Tisch,zog das leergeschossene Magazinaus seiner Pistole und schob einneues hinein. Seine verletzte Handblutete stark und besudelte seinenMantel.Wumm. Wumm. Wumm.Dave Glennan schlug wütend gei-gen die Haustür. Das tat er nichterst seit diesem Augenblick, abersie hatten es bisher nicht bemerkt,weil die Schüsse in ihren Ohrennachdröhnten. Dave hatte irgend»wo eine schwere kleine Mülltonneaufgesammelt und schwang sie mitdem rechten Arm gegen die Haus=für, während seine linke Hand diePolizeipistole in Anschlag hielt.Dave war Linkshänder.Das Schloß der Hintertür riß ausdem Holz, die Tür flog auf, undDave wurde sichtbar.Von der anderen Küchentür herfeuerte Novack auf ihn, kühl undüberlegt. Er hatte jetzt den Leder»beutel mit dem Geld und wünschtedieses peinliche Hindernis ausFleisch und Blut zu beseitigen, da=mit er und Spando über die Hinter"treppe entwischen könnten. Denn

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Der Anfänger

vorne stand vielleicht noch ein Copoder sogar eine ganze Streifen«wagenbesatzung - ^Klong. Die Kugel durchschlug dieMülltonne und streifte Daves Rip"penpartie.»Schmeißt eure Schießeisen hin«,brüllte Dave, »oder wir werdeneuch -«Klang. Klong.Dave Glennans erster Schuß rißein dickes Bündel Splitter aus derTürfüllung neben Novacks Kopf.Novack zog sich zurück. Dave, mitder Mülltonne als nicht sehr zweck»mäßigem Schutzschild, folgte undjagte einen weiteren Schuß in No»vacks Richtung. Der Schuß gingdaneben.Die ruinierte Tür hielt Dave einenMoment lang auf, und dadurchbekam Spando eine Chance. N0=vack hatte, noch einmal schießend,beinah die Vordertür erreicht, aberSpando war in einen Alkovenzwischen Zimmer und Küche ge=schlüpft. Da gab es ein winzig klei»nes Fenster genau in Daves Schulsterhöhe, und Spando hatte es leicht,einen Schuß schräg zwischen Davesbreite Schultern zu schicken. Dave,mit der Mülltonne und allem, kipp»te über der Türschwelle um.»Vorne«, keuchte Novack seinem

verwundeten Komplicen zu. »Un*ser Auto steht da. Wären vomenoch mehr Cops gewesen, hättenwir sie schon am Hals -«»Hab ich's nicht gewußt?« schnarr«te Spando, als er im Etagenflurüber Petes Leiche stolperte.Irgendwo im Haus kreischte eineFrau. Angstvolle Schritte irrten hinund her.»Mrs. Franchetti«, schrie ein Mäd=chen, »rufen Sie die Polizei! Mrs.Franchetti -«Novack brüllte: »Aus dem Wegmit euch!« Sein wütender Faust*schlag ließ ein Kind beiseite tau»mein. Spandos Weg war durchBlutflecke markiert; der brutaleMann winselte vor Schmerz, als erdie Treppe hinunterrannte.Sie erreichten den Hausflur, alsdraußen Streifenpolizist Nick Glen=nan aus einem gelben Taxi sprang.Er hatte Schreie gehört, als dasTaxi in die Acola Street eingebo=gen war: Mrs. Franchetti hing mitdem Oberkörper aus einem Fen"ster im dritten Stock und verkün»dete der Welt, vorwiegend in gel«lenden Schreien, was geschehenwar.Nick war nur ein Zoopolizist undein Anfänger obendrein. Die Sachewar sehr plötzlich über ihn ge=

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MacKinlay Karttor

kommen, aber sein Gesicht warinzwischen hart und grau gewor=den. Auch seine Augen waren hartund grau geworden. »Hinunter mitdir auf den Wagenboden«, rief erBuddy zu, als er aus dem Taxisprang und die Tür hinter sich zu=schmetterte. Der Taxifahrer hobbeide Arme über den Kopf undmachte sich ganz klein hinter demLenkrad.Spando und Novack platzten ausder Haustür beinah in Nicks Reich=weite. Sie sahen die verhaßte Uni=form mit dem schimmernden Sternund bemerkten, daß der Cop ebensein Schießeisen zog.»Leg ihn um«/ heulte Spando.Novack begann zu schießen, aberNick stürmte sehr schnell heran.Novack zielte auf die Körpermitte- eine sehr gefährliche Gewohnheitvon ihm. Ein Fetzen Stoff wurdeaus dem Rand der Uniformjackegerissen, doch dann sauste Nickslinke Faust schwer auf NovacksKinn. Novack fiel mit vehemen=tem Schwung, Spando stolperteüber ihn, und die für Nick Glen=nans Herz bestimmte Kugel trafeinen Pfeiler des Vorgartenzaunes.Der Mann in dem blutbesudeltenbraunen Mantel quakte irgend et»was zwischen Schluchzen und Fluch.

Er und Nick Glennan standenkaum sechs Fuß voneinander ent=fernt, und ihre Schießeisen belltenim Takt. Nick dachte, jemand hättesich unbemerkt herangeschlichenund ihm einen Knüppelschlag aufdie linke Hüfte versetzt, und je«mand anders hätte ihm einen Zie=gelstein gegen die linke Schultergeworfen. Aber er war so eifrigdamit beschäftigt, acht wohlgezielteKlümpchen Blei in Spandos Körperzu pumpen, daß er nicht umkippte,ehe das Werk vollendet war.Und als er schließlich umfiel, zwanger sich gleich wieder in eine sitzen=de Haltung, schob ein neues Ma=gazin in seine Pistole und hieltdann die Mündung auf Jack N0=vacks bewußtlosen Kopf gerichtet,bis ein Cop vom Überfallkom»mando ihm ins Ohr schrie: »Okay,Kamerad! Alles okay jetzt -«Da fühlte er sich ganz leicht imKopf und wollte lachen undwünschte sich nur, daß sie Alicenicht erschrecken möchten, wennsie sie antelefonierten. Und dannlag er plötzlich auf einer Decke imHausflur, während ein ferner Am=bulanzwagen heulte.Sie schleppten etwas Großes undDickes herbei, das tröpfelte undknurrte und fluchte. Er drehte den

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Der Anfänger

Kopf zur Seite und erblickte seinenBruder Dave. »Ich werd' verrückt«,schrie er heiser. Dann: »Wo istFete?«»Sie haben ihn erwischt«, flüsterteSergeant Dave Glennan. »Ja. Er ist- tot... Die Leute sagen, du hät=test sie umgelegt -«»Nur den einen«, erwiderte Nickschmerzlich. »Aber den anderenhabe ich k. o. gehauen, und er wirdebenfalls schmoren. Wer warensie?«»Jack Novack war der eine«, keuch»te sein Bruder. »Schätze, der an»dere muß Micky Spando gewesensein. Wir dachten schon immer, siehätten damals den Lohngeldraubbei der Konservenfabrik gefin=gert... Ein Mann und eine Frauliegen oben tot. Ich glaube, das wardie ganze Bande.«»Einer von ihnen trug einen gro=ßen Lederbeutel.«»Vielleicht hatten der Mann unddie Frau die beiden anderen übersOhr gehauen. Vielleicht hatten sieKrach um die Beute.«Eine Frau beugte sich zu NickGlennan hinab und flüsterte: »Mi°ster, der kleine Junge im Taxi - essind seine Tante und sein Onkel.Sie sind tot, oben in Nummerzwölf.«

»Was war das?« fragte Dave.Die Ärzte und ihre Helfer kamenund machten sich an ihnen zuschaffen. Draußen auf der Straßeheulten die Sirenen der Ambulanz»wagen.Nick drehte den Kopf, so daß erzu Dave hinübersehen konnte.»Ein Junge, der sich verlaufen hat»te. Erzählte mir eine Geschichte,drüben im Zoo, und ich kam hier»her, um mir die Sache anzusehen,und rannte in diese Bescherung -«»Zoopolizist«, gurgelte Dave undmachte die Augen zu. »Zoopoli»zist . . . Verlaufener Junge imZoo ... Mein Gott...« Dann:»Wie steht's, Doc? Muß ich dranglauben?«»Hölle, nein«, polterte der Arzt.»Steckschuß zwischen den Schul"tern, das ist alles. Das Herz hättendie Ihnen rausschneiden müssen,um Sie zu töten, Dave.«Eine Frau hielt Buddy in die Höhe,als Dave und Nick auf ihren Tra=gen hinausgebracht wurden.»He, Dave.« Nick wies auf denJungen. »Das ist der Kleine ...Hallo, Buddy.«»Ich hörte die Schießeisen«, schrieBuddy. »Sie machten einen lautenRadau.«Die Nachbarn umdrängten ihn

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MacKinlay Kantor

jammernd. »Ach, das arme Kind.Der arme kleine Kerl - jetzt hat erkeinen mehr, der sich um ihn küm"mert.«»Ihr werdet überrascht sein«, ließStreifenpolizist Nick Glennan sichvernehmen. »Wartet nur, bis ichwieder auf den Füßen bin. Wirwerden - in den Zoo gehen. Oft.Nicht wahr, Buddy?«

Dave hörte es und schüttelte mattden Kopf. »Zoo«, murmelte er.»Donnerwetter. Ein Zoopolizist -«»Und genauso hart wie du, du mo»torisierter Detektiv«, grinste Nick.Ihre Hände suchten und fandensich, eine kleine Brücke von Tragezu Trage.Dann fuhren die Ambulanzen unster Sirenengeheul mit ihnen davon.

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Ellery Queen

Die drei Witwen

Mord ist für den normalen Gau"men von höchst unerfreulichemGeschmack. Aber Ellery, in diesenDingen ein Epikuräer, ist der Mei«nung, daß gewisse seiner Fälleeinen goüt piquant besitzen, dernoch lange auf der Zunge nach»wirkt. Und der Fall der drei Wit*wen wird unter diesen gefährlichenDelikatessen von ihm recht hocheingeschätzt...Zwei der Witwen waren Schwe»stern - Penelope, der das Geldnichts, und Lyra, der es alles be»deutete; infolgedessen benötigtennatürlich beide beträchtliche Men»gen davon. Noch jung an Jahren,hatte jede von ihnen ihren ver»schwenderischen Ehemann beerdigtund war sodann nach Murray HillMansion zurückgekehrt, dem Hau«se ihres verwitweten Vaters - recht

erleichtert, wie die Eingeweihtenannahmen, denn der alte TheodoreHood war reichlich mit Geldmittelnversehen und hatte sich seinenTöchtern gegenüber stets außer"ordentlich großzügig gezeigt.Indessen - kurz nachdem Penelopeund Lyra wieder in ihren Jungmäd»chenbetten heimisch geworden wa"ren, ehelichte Old Theodore einezweite Frau, ein wahrhaft kathe"dralisches Weib von hoher Tugendund großer Charakterstärke.Beunruhigt entfachten die beidenSchwestern eine Art Familien»fehde, die von der Stiefmamagrimmig entschlossen beantwortetwurde. Der arme Theodore, inihrem Kreuzfeuer gefangen, lechz-te nach nichts als Frieden und ent»wich daher alsbald in ein stilleresJenseits, wodurch in Murray Hill

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EIlery Queen

Mansion ein aussAließlidi vonWitwen bewohnter Haushalt zu°rückblieb.Eines Abends, nicht allzulangenach ihres Vaters Tod, wurdenPenelope, die mollige, und Lyra,die magere, durch ein Dienstmädschen in den Salon des Hauses ge=beten. Dort wartete Mr. Strake aufsie, der Familienanwalt.Mr. Strakes einfachste Äußerun=gen pflegten sich ohnehin anzuhö=ren wie der Urteilsspruch von denLippen eines gestrengen Richters.Doch als er nun sagte »Bitte Platzz<a nehmen«, war sein Ton derartunheilvoll, daß es schien, als könnenur noch ein Todesurteil folgen.Die Schwestern gehorchten.Wenige Augenblicke später rassei'ten die Flügel der repräsentativenSchiebetür des Salons zur Seite,und Sarah Hood trat ein, eigen=tumlich matt auf den Arm des Fa=»ilienarztes Dr. Benedict gestützt.Mrs. Hood nahm Platz, beäugte dieStieftöchter mit merklicher Miß=billigung, wobei ihr Kopf ein we°nig zu wackeln schien, und ver»kündete: »Doktor Benedict undMr. Strake werden ihre Sprüchleinsagen, und dann werde ich dasmeine hinzufügen ... Doktor Be=nedict, bitte.«

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Dr. Benedict räusperte sich undbegann: »Letzte Woche kam IhreStiefmutter zur gewohnten Halb»jahresuntersuchung in meine Prä»xis. Ich untersuchte sie gründlichund konstatierte einen in Anbe-tracht ihres Alters außergewöhn»lieh guten Gesundheitszustand.Dodh am nächsten Tag war sieplötzlich krank, nebenbei bemerktzum erstenmal seit acht Jahren. Ichglaubte zunächst, sie habe sicheinen Darmvirus eingefangen. AberMrs. Hood gab eine durchaus an»dersartige Diagnose, die mir an»fangs recht phantastisch vorkam.Indes bestand sie auf gewissenTests. Ich führte die gewünschtenTests durch, und es erwies sich,daß Mrs. Hood recht hatte. Sie warvergiftet worden!«Penelopes rundliche Wangen färb°ten sich langsam rot, und Lyrasmagere Wangen wurden langsamblaß.»Ich bin sicher«, fügte Dr. Bene=dict hinzu und richtete hierbeiBlick und Stimme auf einen genauzwischen den Schwestern gelege=nen Punkt, »daß Sie verstehen,weshalb ich Ihre Stiefmutter vonjetzt ab jeden Tag untersuche.«»Mr. Strake, bitte«, lächelte diealte Mrs. Hood.

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Die drei Witwen

»Gemäß Ihres Vaters Testament«,bellte Mr. Strake, ebenfalls anden imaginären Punkt gewandt,»erhält jede von Ihnen kleine re°gelmäßige Bezüge aus den Ertrag'nissen des Kapitals. Der Haupt=anteil aus diesen Erträgnissengeht, solange sie lebt, an IhreStiefmutter. Nach Mrs. HoodsHinscheiden jedoch wird das Ka=pital von mehr als zwei Millio=nen Dollar zu gleichen Teilen anSie beide fallen. Mit anderen Wor=ten - Sie beide sind die einzigenPersonen auf der Welt, die vomTod Ihrer Stiefmutter Nutzen hät=ten. Ich habe sowohl Mrs. Hoodwie auch Doktor Benedict wissenlassen, daß ich bei der geringstenWiederholung jenes abscheulichenVorfalles auf Hinzuziehung derPolizei bestehen werde.«»Ziehen Sie sie sofort hinzu«, riefPenelope.Lyra saß reglos da und äußertenichts.»Ich könnte die Polizei sofort hin=zuziehen, Penny«, bemerkte Mrs.Hood mit mattem Lächeln, »aberihr zwei seid ja so schlau, daßwohl nichts dabei herauskommenwürde. Am besten wäre meine Si=cherheit gewährleistet, wenn icheuch beide aus diesem Hause jagte.

Unglücklicherweise verbietet euresVaters Testament mir das ... Oh,ich verstehe eure Ungeduld, michloszuwerden. Ihr habt verschwen=dorische Bedürfnisse, die durchmeinen einfachen Lebensstil nichtbefriedigt werden. Ihr beide mödi»tet wieder heiraten, und mit demGeld könntet ihr euch neue Ehe°männer kaufen.« Mrs. Hood er=hob sich. »Aber ich habe schlechteKunde für euch. Meine Mutterstarb mit neunundneunzig, meinVater mit hundertunddrei Jahren.Doktor Benedict sagte mir, daß ichgut und gerne noch dreißig Jahrezu leben hätte, und ich habe dieernstliche Absicht, dies zu tun.«Ihr Lächeln vertiefte sich. »Ichwerde nun bestimmte Vorsichts=maßnahmen treffen, um midi vorneuen tückischen Anschlägen aufmein Leben zu sichern«, sagte sienoch. Dann ging sie hinaus, vonDr. Benedict und Mr. Strake be=gleitet ...

Genau zwei Wochen später saßEIlery, gespannt und besorgt be=obachtet von Dr. Benedict und Mr.Strake, neben Mrs. Hoods impo=santem zweischläfrigem Maha=gonibett.Die alte Lady war abermals ver=

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EUery Queen

giftet worden, aber zum Glückhatte Dr. Benedict die Symptomefrühzeitig erkannt und dasSchlimmste verhindert.Ellery beugte sich hinab zu ihr,deren Gesicht so weiß war, daß eseher aus Gips, als aus Fleisch zubestehen schien. »Jene Vorsichts"maßnahmen, die Sie ergriffen hat"ten, Mrs. Hood -«»Ich versichere Ihnen«, flüstertesie, »es war eigentlich unmöglich.«»Dennoch ist es geschehen«, erwi»derte Ellery. »Rekapitulieren wir- Sie haben die Fenster IhrerRäume vergittern, alle in den Kor»ridor mündenden Türen durch Pa=tentriegel sichern und die einzigezum Eine und Ausgehen benutzteTür, nämlich die dieses Zimmers,mit einem neuen Schloß versehenlassen, dessen einzigen SchlüsselSie stets bei sich tragen. Sie ha«ben Ihr Essen selbst eingekauft,haben es auf dem kleinen Elektro'herd im Alkoven eigenhändig zu"bereitet und haben allein in die=sem Zimmer gespeist. Da sie diebenötigten Eßwaren überdies stetsin anderen Geschäften einkauften,ist es also ausgeschlossen, daß dasGift dem Essen vor, während odernach der Zubereitung beigegebenworden sein kann. Des weiteren

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haben Sie sich Teller, Kochtöpfe,Gläser, Tassen und alles sonstigeZubehör neu gekauft und in einemanderen Alkoven verwahrt, wo=durch feststeht, daß nur Sie selbstmit diesen Dingen in Berührungkamen. Demnach kann sich dasGift auch nicht an einem der Tel=ler, Töpfe, Bestecks, Gläser odersonstigen Utensilien befunden ha"ben... Wie aber ist es Ihnen dannbeigebracht worden, Mrs. Hood?«»Eben dies ist unser Problem!«rief Dr. Benedict.»Ein Problem, Mr. Queen«, bellteMr. Strake, »von dem ich meine,und Doktor Benedict schloß sichdieser meiner Auffassung an, daßes mehr auf Ihrer Linie liegt alsauf jener der Polizei.«»Nun«, erwiderte Ellery, »dieDinge, die auf meiner Linie liegen,sind meistens höchst einfach —vorausgesetzt allerdings, daß mannicht vor lauter Bäumen den Waldübersieht ... Mrs. Hood, ich hätteIhnen da noch eine ganze MengeFragen zu stellen, falls Doktor Be=nedict es erlaubt.«Dr. Benedict befühlte den Puls deralten Lady und nickte.Ellery begann zu fragen.Mrs. Hood antwortete flüsternd,aber mit großer Entschiedenheit.

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Ja, sie habe sich eine neue Zahn-bürste und eine neue Tube Zahn«pasta gekauft.Ja, die Zähne seien noch ihre eige«nen.Nein, sie habe eine Abneigung ge«gen Medikamente und gebraucheweder Pillen noch Pülverchennoch Tinkturen irgendwelcher Art.Nein, sie trinke nichts als Wasser.Und, in Maßen, Maxwell=Kaffeemit Dosensahne.Nein, sie rauche nicht, esse keineSüßigkeiten, kaue keinen Gummiund verwende keinerlei kosmeti«sehe Mittel.Die Befragung dauerte fort undfort. Ellery fragte, was ihm nureinfallen wollte, und strengte sei=nen Verstand an, um sich immermehr einfallen zu lassen.Schließlich dankte er Mrs. Hood,tätschelte ihr ermutigend die Handund ging mit Dr. Benedict undMr. Strake hinaus.»Welche Diagnose stellen Sie, Mr.Queen?« fragte der Doktor.»Ihren Urteilsspruch, bitte?« bell=te Mr. Strake.»Gentlemen«, sagte Ellery, »nach»dem ich nun, da Mrs. Hood nurWasser beziehungsweise ein we=nig Maxwell'Kaffee trinkt, dieWasserleitungen in ihrem Bade«

zimmer untersucht habe und da-bei zu dem Ergebnis gekommenbin, daß an ihnen nicht herumge»fingert wurde, ist auch die letzteMöglichkeit einer Einwirkung vonaußen abgetan.«»Und doch wurde ihr das Giftdurch den Mund beigebracht!«schnappte Dr. Benedict. »Das istmein Befund! Ein absolut eindeu«tiger und wissenschaftlich erhärte«ter Befund!«»Wenn dem so ist, Doktor«,seufzte Ellery, »bleibt nur eineeinzige Erklärung.«»Und die wäre?«»Daß Mrs. Hood sich selbst ver=giftet. Ich an Ihrer Stelle würdeeinen Psychiater hinzuziehen. Gu«ten Tag, meine Herren!«

Anderthalb Wochen später hieltsich Ellery wieder in Sarah HoodsSchlafzimmer auf.Die alte Lady lebte nicht mehr, siewar einer abermaligen Vergiftungerlegen. Als er hiervon erfuhr,hatte Ellery zu Inspektor Queen,seinem Vater, sofort gesagt: »Na»türlich Selbstmord!«Aber es war kein Selbstmord. Diedenkbar gründlichsten Untersu»chungen durch erfahrene Spezia»listen der New Yorker Polizei, die

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Ellery Queen

sich auf die modernsten Hilfsmit»tel der kriminologischen Wissen»schaft stützen konnten, vermoch=ten nicht die leiseste Spur des Gif=tes oder eines irgendwie geartetenGiftbehälters in Mrs. Hoods Räu=men ausfindig zu machen.Überlegen lächelnd erschien Ellerypersönlich am Ort des Geschehens.Sein Lächeln verging. Er fandnichts, was im Widerspruch zuden seinerzeitigen Angaben deralten Lady oder zu den Festste!'lungen der Polizeiexperten gestan=den hätte. Er ließ die Dienstbotenschmoren. Mit erbarmungsloserHärte verhörte er Penelope, wel=ehe fortfuhr zu schluchzen, undLyra, welche fortfuhr zu fauchen.Alles vergebens.Er ging, und das Geheimnis blieb.Es war ein Problem jener Art, dieEllerys Denkapparat einfach nichtauf sich beruhen lassen kann, un=geachtet aller Proteste seines Kör=pers. Sechsundvierzig Stunden ver»brachte er so, rastend und schlaf»los, ununterbrochen bald in die»sem, bald in jenem Zimmer derQueenschen Wohnung hin undher marschierend. In der sieben'undvierzigsten Stunde packte In=spektor Queen ihn am Arm,steckte ihn ins Bett und holte das

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Fieberthermometer, um seine Tem=peratur zu messen.»Dachte ich's mir doch!« knurrteder Inspektor, als er zehn Minu=ten später finster auf das Thermo=meter schielte. »Beinah neunund=dreißig! Was quält dich. Junge?«»Mein gesamtes Dasein, solangees derart nutzlos scheint«, mur=melte Ellery und fügte sich der vä=terlichen Therapie, die auf Aspi=rintabletten, einem Eisbeutel undeinem großen, mageren, in Buttergebratenen Kalbssteak beruhte.Mitten beim Verzehren des Steaksbrüllte er auf, als sei er plötzlichverrückt geworden, und langtezum Telefon.»Mr. Strake? Ellery Queen! Tref=fen Sie mich in zwanzig Minutenim Hoodhaus! Benachrichtigen Sieauch Doktor Benedict ... Ja, ichweiß jetzt, wie Mrs. Hood vergif»tet wurde!«

(Lieber Leser, geneigte Leserin- Sie haben alle Tatsachen.Bitte, unterbrechen Sie die Lek=türe für ein paar Minuten unddenken Sie nach: Wie wurdeMrs. Hood vergiftet?)

Und als sie im Salon des Hood=hauses versammelt waren, mu=

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Die drei Witwen

sterte Ellery zuerst Penelope, dannLyra und fragte rauh: »Welchevon Ihnen beabsichtigt DoktorBenedict zu heiraten?«In normalem Ton fügte er hinzu:»Ja, das muß es sein! Nur Pene=lope und Lyra haben Nutzen ander Ermordung ihrer Stiefmutter.Doch der einzige Mensch, derphysisch in der Lage war, denMord zu begehen, ist Doktor Be=nedict ... Doktor, fragten Sie,wie?« erkundigte sich Ellery.»Nun, ganz einfach ... Mrs. Hooderkrankte zum erstenmal an Ver=

giftungserscheinungen, nachdemdie übliche Halbjahresuntersu»chung erfolgt war - durch Sie,Doktor. Und hiernach verkünde=ten Sie, nunmehr würden Sie Mrs.Hood jeden Tag untersuchen ...Es gibt eine klassische Einleitungzu jeder routinemäßigen ärztlichenUntersuchung. Und ich vermute,Doktor -«, Ellery lächelte, »daßSie das Gift mit eben jenem Fie=berthermometer in Mrs. HoodsMund einführten, mit dem Sie ihrdie Temperatur zu messen pflegsten ...«

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Charlotte Armstrong

Die Hecke

Der Mann namens Russell, vonBeruf Rechtsanwalt, saß im vollenLicht einer Stehlampe, derenSchein auf das braun gebundeneTagebuch in seinen Händen fiel.Ein Mann namens John Selby,Kaufmann in der kleinen Stadt,kauerte in einem niedrigen Sessel;sein Kopf war nach vorn geneigtund sein Gesicht also verborgen,aber das Lampenlicht traf seinenervös ineinander verschlungenenHände. Tom Barker, der Polizei=chef der Stadt, saß halb im Schat'ten. Dr. Coles, der Arzt, stand ander Wand neben einer angelehn=ten Tür. Es war ein Uhr nachts.Arzt, Anwalt, Kaufmann, Polizei'chef ...»Also?« knurrte der Polizeichef.»Wir wissen ja, Russell, daß Sie,wie John Selby sagte, ein kluger

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Mann sind. Kommen mitten inder Nacht, da man Sie ruft, hörensich fünf Minuten lang an, waswir Ihnen über die Göre erzählen,und sind sicher, daß da irgendwoein Tagebuch sein muß. Sie stö=bern ein bißchen herum und fin=den es. Weshalb wollen Sie jetztnicht nachsehen, was darin steht?«»Ich warte auf eine Autorisation«,entgegnete der Anwalt milde. »Esist nicht an mir, aus eigener Macht'Vollkommenheit darin zu blättern.Sehen Sie hier die Aufschrift: Me=redith Lee, persönlich und privat!Wie dürfte ich unerlaubt in ihreGeheimnisse eindringen? AberJohn Selby ist ihr Onkel, und Co»les ist ihr Arzt. Und Sie, Barker,verkörpern Gesetz und Ordnungin dieser Stadt.«Dr. Coles wandte plötzlich den

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DieHeAe

Kopf zur Seit«? und spähte durchden Türspalt.»Irgendeine Änderung?« fragteder Polizeichef gespannt.»Nein«, sagte der Doktor. »Sie istnach wie vor bewußtlos ... Nunmachen Sie schon, Russell. SeienSie nicht allzu pedantisch. Immer=hin ist sie nur ein Kind.«»Ja - los, Russell«/ bekräftigte derPolizeichef. »Sehen Sie nach, obirgend etwas darin steht, was unsnützen kann. Sehen Sie nach, obdas Tagebuch erklärt -«»Erklärt«, brummte der Anwalt,»wie ein fünzehnjähriges Mäd=dien binnen vier Tagen ein siebenJahre zurückliegendes Mordge=heimnis löst.«»Gelöst hat sie es keineswegs«,schnappte der Polizeichef.Der Anwalt ignorierte ihn. »Wassagen Sie, Selby7 Sie ist IhreNichte. Sollen wir ihr privates undpersönliches Tagebuch lesen?«Selby machte eine UngewisseHandbewegung und blieb stumm.»Lesen Sie es, Russell«, verlangteder Polizeidie- »Wenn Sie nichtmögen, mache ich es. Die festge.nommene Person redet ja nicht.«»Wie die Dinge liegen«, sagte derArzt, »kann das Mädchen nichtsdagegen haber»-"

»Ich bin genauso neugierig wie Siealle«, erklärte Russell, schlug dasTagebuch auf und begann laut zulesen.

Meredith Lee - Notizen undAnmerkungen.25. JuliBin nach langer Zeit wieder hierbei Onkel John. Meine Elternwollen mich für zwei Wochenlos sein, weil sie nach New Yorkfahren. Habe keinen Grund,mich zu beklagen. Ist mir unsmöglich, gelangweilt oder ge°kränkt zu sein. Die menschlicheNatur kann ich überall Studie»ren.Onkel John sieht noch fast ge"nauso aus. Fängt an, graueHaare zu kriegen. Ist jetzt Sie»benunddreißig. Warum hat ernicht geheiratet? Mama sagt(nicht zu mir, aber ich habe eserlauscht), er hegt seinen Hage=stolz (lies: Junggesellendünkel).Er spielte ganz guter Onkel undtat sehr erfreut, als ich gesternabend ankam. Aber in Wirk=lichkeit hat er keine Ahnung,was er mit mir soll, ausgenom»men nur, daß er der Haushalte»rin sagte, sie müßte mich sattund sauber halten. Ganz gut,daß ich eigene Interessen habe!

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Russell blickte auf. Der Polizei'chef kaute an einem seinerSchnurrbartenden. Der Doktorgrinste unverhohlen. John Selbymurmelte geniert: »Sie hat völligrecht. Narr, der ich war ... Ichwußte wahrhaftig nicht/ was ichmit ihr soll.« Er stützte den Kopfin die Hände.»Weiter«, verlangte der Polizei»chef.Russell setzte das Vorlesen fort.

Ging heute früh als erstes zuCrowfields Drugstore; kaumverändert seit damals, sehr maß=voll modernisiert. Guckte miralle Läden auf der Hauptstraßean. Hatte es vergessen, aber -meine Güte! - es ist typisch.Alles sehr gesetzt. Kein Prunk,andererseits auch keine Dürf=tigkeit. Sehr mittelprächtig. (NB:Keine Logik in dieser Phrase;nichts kann sehr mittelprächtigsein, aber das Wort sagt genau,was ich fühle.)Auf dem Heimweg: eine Ent=deckung!Zwischen Onkel Johns Hausund dem Nachbarhaus wucherteine hohe dichte Hecke. DieNachbarin war an ihren Blu=menbeeten beschäftigt. (Be=Schreibung: klein und ganz

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hübsdi rundlich, vorne und hin»ten. Dunkles Haar mit einigenSilberfäden. Kunstvoll zurecht=gemacht. Effekt: einigermaßenjugendlich.)Erfüllt von Neugier/ blieb ich anihrem Straßenzaun stehen undstellte mich vor. Sie ist eine Ent=deckung! Sie gilt als femme fa=tale (lies hier; Verderbte Witwe)und wurde mir prompt verbo=ten! Das hatte ich nicht geahnt.(NB: Übe das präzise Erinnernan Dialoge!)V. W.: Mr. Seibys Nichte, na=türlich. Ich entsinne mich deiner,meine Liebe. Du bist als kleinesMädchen öfter hier gewesen,nicht wahr? Das letztemal-wares nicht vor ungefähr siebenJahren?Ich: Ja, so lange ist es her. Aberich entsinne mich Ihrer nicht,Madame.V. W.: Nein? Ich bin JosephineCorcoran. Wie alt warst du da»mals, Meredith?Ich: Erst acht Jahre.V. W.: Erst acht Jahre?Damit war ein toter Punkt er»reicht. Ich gedachte nicht, esnochmals zu wiederholen (eingräßlicher Sprachgebrauch, dieseArt von überflüssiger Bestätig

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gung; man verschwendet nurZeit damit). Ich blickte also um"her und erinnerte mich an etwas.Ich: Oh, ich sehe, mein Baum»haus ist mittlerweile verschwur»»den.V. W.: Dein Baumhaus? (NB:Sie wiederholte alles, was ichsagte, und zwar als Frage. Dum»me Angewohnheit? Oder Tak=tik, um nachzudenken?) Ach ja,ich erinnere mich. In dem großenAhombaum, nicht wahr?Ich: Mr. Jewell - Sie kennen On=kel Johns Gärtner? - baute esdamals für mich. Ich hatte eineDecke dort oben und Kissen undwollte niemals herabkommen.V. W.: Wolltest niemals herab"kommen? Ja, ich erinnere mich.Acht Jahre alt, und dein Onkelerlaubte dir, manche Nacht dortoben zu verbringen! (NB: Siesagte es in besorgtem Ton undzog ein entsprechendes Gesicht.Weshalb? Wäre ich damals her»untergefallen und dabei ums Le=ben gekommen, würde ich jetztnicht mit ihr sprechen. Erwach"sene machen sich immer nochnachträglich Sorgen.)Ich: Oh, Onkel John hatte wenigdamit zu tun. Mama denkt ver=nünftig - sie kannte mein Baum=

haus und wußte, daß ich dort si°eher war. Es hatte ein Geländerringsum. Und ich zog immermeine Strickleiter hinauf. Nie»mand konnte midi ohne großeMühe herunterholen. Ich war da»mals ein Wildfang.V. W.: Ein Wildfang? Ja, ja -sieben Jahre sind eine lange Zeit.(NB: Kein billiger Scherz; sieblickte ernst und nachdenklichdrein und lächelte überhauptnicht. In diesem Moment hatteich das Gefühl, ich könnte michmit ihr anfreunden, und das istsehr ungewöhnlich. Sie mußetwa Dreißig sein. Ich habe die»ses Gefühl sonst nur bei wirk»lieh alten Leuten und manchmalbei Leuten bis zu Achtzehn. Aberdie Leute dazwischen, besondersdie in den Dreißigern, sind hol»zem und unzugänglich, wie On°kelJohn.)Nun, der Dialog der V. W. warnicht gerade brillant, aber er ließauf ein gewisses Verständnisschließen. Ob ich viele Freundein meinem Alter hätte? Ich sagtenein. Und sie sagte, sie hoffe,daß ich nicht einsam wäre. Ichsagte, daß ich die Absicht habe,Schriftstellerin zu werden, unddaß ich dann wahrscheinlich im»

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Charlotte Armstrong

mer recht einsam sein würde.Und sie sagte/ ja/ sie nähme an/das sei wahr.Mir gefiel diese Unterhaltung;es passiert nicht oft, daß mir einErwachsener ernsthaft zuhörtund auf das eingeht, was ich sä'ge. Und wenn die V. W. auchmanchmal von einem neuen Ge=danken überrascht schien - siewirkte niemals amüsiert. MeineAbsicht im Leben ist nicht, zuamüsieren, und es gibt eine Artvon amüsiertem Erwachsenenlä=cheln, die mich anödet.Ich fing an, die V. W. zu mögen.Doch dann, beim Dinner, sobaldich gesagt hatte, ich hätte sie ge=troffen, wurde sie mir verboten!Onkel John (nach zweimaligemRäuspern): Meredith, ich fürch=te, du solltest lieber, äh ... (Erblieb stecken; das tut er häufig.)Ich: Lieber was?0. J.: Äh ... Mrs. Corcoran undich, äh/ wir stehen nicht beson»ders gut miteinander/ äh, äh, undich meine, du solltest, äh, soll»test lieber nicht, äh ... (Er bliebwieder stecken.)Ich: Warum nicht? Hast duStreit mit ihr?0. J.: Nein, nein. Ich, äh, ichdenke bloß, äh...

Ich: Was? Ich finde, sie ist sehrnett.O.J . :Äh. . .Äh. . . (Sehr steif)Du bist kaum in der Lage, meinliebes Kind, irgend etwas dar«über zu wissen. Aber ich fürchte,äh, sie ist keine Frau, die deineMutter, äh, die deine Mutter alsgeeigneten Umgang, äh...Ich: Was für eine Frau ist siedenn? (NB: Aus Onkel Johnmuß man es regelrecht heraus«quälen.)0. J. (entschieden): Sie ist ge«sellschaftlich nicht tragbar.Ich: Was? Um Himmels willen,Onkel John! Dies ist doch dasdümmste Zeug, das ich je gehörthabe! Wieso nicht tragbar?0. J. (sehr steif): Dies ist keindummes Zeug. Und es ist nichtleicht zu erklären, wieso. (Er sahmich an, als zweifle er, ob ichüberhaupt imstande sei, so et=was schon zu verstehen.) Viel=leicht, äh, wenn du erfährst, daßes da vor Jahren, äh, eine sehrbefremdliche Angelegenheit ge=geben hat.. . Nun gut, also -ihr Mann wurde, äh, unter rechtmerkwürdigen Umständen er=schössen...Ich: Erschossen? Du meinst er"mordet? Oh, Boy! Wie? Wann?

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Warum wirkte Onkel John soverkniffen? Dachte er, es würdemich ängstigen? Erinnern sichLeute über Dreißig nicht daran,daß sie von interessanten Din«gen alles andere als geängstigtwurden? Aber er war ein Weil»chen so steif, daß er kein Wortmehr über die Lippen brachte.Immerhin quälte ich es nach undnach aus ihm heraus.Und ich denke, es ist einfach mit"leiderregend. Ich begreife nicht,warum Onkel John nicht sieht,wie mitleiderregend es ist.Die arme Mrs. Corcoran! IhrMann kam eines Abends spätnach Hause, und als er vor seinereigenen Haustür stand, traf ihnvon hinten ein tödlicher Schuß.Sie fanden den Revolver, abersonst nichts. Mr. Corcoran wur=de nicht beraubt. Es ist ein»fach ein Rätsel. Und weil es einRätsel blieb und niemand etwasherausbekam, hat man die armeMrs. Corcoran behandelt, alswäre sie eine Mörderin!Ich schäme mich für Onkel John.Weiß Gott - er hegt seinenHagestolz! Er läßt die Grenz=hecke immer höher und immerdichter wachsen und hält es mitden selbstgerechten Spießbür»

gern dieser Stadt! Scheint so, alshätte seit damals niemand mehrsie für gesellschaftlich tragbarerachtet! Wunderbar! Man be=handelt sie als femme fatale(bzw. verderbte Witwe), einfach,weil ihr Mann von jemandemumgebracht wurde, den mannicht ermitteln konnte! Wahr»scheinlich denken die selbstge«rechten Spießbürger, einer re"spektablen Person könne so et°was nicht passieren. Und ob esdas kann!Sie tut mir sehr leid, die armeMrs. Corcoran.Aber nun kommt der Knüller -ich habe ihn für den Schluß derheutigen Eintragung aufgehe«ben:Es ist mein Mord!Ich habe es aus Onkel John her"ausgequält. Oh, Boy - es isteine Sensation! Ich war in jenerNacht oben in meinem Baum'haus!Ich erinnere mich nur ganz un-klar, daß und mit welcher Über"stürzung ich damals mitten inder Nacht aus meinem Baum=haus geholt wurde und daß ichgleich am nächsten Morgen ab=reisen mußte, obwohl die Feriendoch noch längst nicht vorbei

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waren. Ich habe bis auf den heu=tigen Tag nie erfahren/ weshalb.Grundgütiger Himmel! AchtJahre alt. Ich schlafe in meinemBaumhaus, und beinah direktunter mir ereignet sich ein Mord!Und ich erfahre nichts davon!Sie haben mir einfach nichts er=zählt! Nicht mal eine einzigeFrage haben sie mir gestellt!Wunderbar! Ein richtiger Mordin meinem Leben, und ich weißnicht das geringste davon!

Der Anwalt hielt inne. Der Doktorbewegte sich und spähte wiederdurch die Tür. Drei fragende Ge=sichter starrten ihn an. Er sagte:»Nichts Neues. Es kann noch einegute Weile dauern, ehe sie wiederzu Bewußtsein kommt. Sorgenbrauchen wir uns aber nicht zumachen.«John Selby, den Blick ins Leere ge=richtet, murmelte: »Meine Schwe=ster hätte, äh, hätte sie nie wiederzu mir schicken sollen. Ich weiß jawirklich nicht, wie man mit einemsolchen Kind umgehen muß. Einunverzeihlicher Fehler, daß ich ihrdavon erzählte. Aber ich habeernstlich geglaubt -«»Daß sie daraufhin die Witwemeiden würde?« fragte der An»walt nicht ohne Ironie.

»Ja/ das habe ich geglaubt. IchNarr!«»Moment mal«, ließ sich der Poli=zeichef vernehmen. »In ihremTagebuch schreibt sie, daß sie nichtdas geringste davon weiß. Das gibtdoch gar keinen Sinn!«»Wir kennen bisher nur die Ein=tragung vom dreiundzwanzigstenJuli«, sagte der Anwalt. »Jetztkommt der fünfundzwanzigste Juli.Sehen wir, was wir dort finden.«

Ich konnte es nicht aushallen.Ich vermag einfach an nichts an°deres zu denken als an meinenMord. Ich mußte mehr darüberherausfinden.Heute nachmittag war'ich zumTee bei der Witwe. Ich glaubenicht, daß sie verderbt ist. Trau=rig ist sie, sehr traurig. Sie warwieder im Garten. Ich konntemir denken, daß sie mich auchgestern den ganzen Tag lang aufder anderen Seite der Hecke ge=sehen hat. Aber heute sprach siemit mir. So ging ich hinüber,voller Hoffnung, sie ein wenigauszufragen.Sie begrüßte mich nervös: »Hof=fentlich wird dein Onkel nichtböse, wenn er erfährt, daß dubei mir warst?«Ich versuchte zu erröten und

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antwortete: »Oh, Mrs. Corco»ran, Onkel John erzählte mirvon der schrecklichen Sache, diemit Ihrem Mann passiert ist. Undzu denken, daß ich zu dieser Zeitoben in meinem Baumhaus war!Ich kann überhaupt nicht auf=hören, daran zu denken!«»Denk lieber nicht daran«, sagtesie ziemlich bedrückt. »Es ist solange her. Dein Onkel hätte esdir nicht erzählen sollen.«»Oh«, rief ich, »ich habe ihn da°zu veranlaßt! Und da ich es nunweiß, denke ich immerzu daran,daß ich eigentlich genau hättehören und sehen müssen, wasgeschah! Das Schlimmste ist nur- ich war damals noch so klein,ich kann mich nicht erinnern,und das macht mich ganz wild!«Sie sah mich so komisch an, daßich dachte/siewürde sagen: »Oh,wenn du dich doch nur erinnernkönntest ...« Tatsächlich abersagte sie: »Wenn du noch mehrKekse möchtest - bitte, nimm.dir nur.«»Zu schlimm, daß es ein Rätselist«, sagte ich. »Warum konnteman es nicht lösen? Sie wün=sehen doch sicher, es wäre ge=löst worden. Aber vielleicht istes noch nicht zu spät.«

Sie schien verstört. (NB: War-um reißen die Menschen, wennsie erschrecken, die Augen soweit auf, daß viel mehr Weißeszu sehen ist? In der Schule beimBiologielehrer danach fragen.)»Ich wünschte. Sie würden mirdie Einzelheiten erzählen«, sagteich. »Fand man überhaupt nichtsheraus?«»Nein, nein ... Mein liebesKind, ich denke, es ist besser,wir sprechen nicht davon. Dasist keine Sache, über die ein net"tes junges Mädchen nachdenkensollte.«Ich war sehr enttäuscht. »Mrs.Corcoran, vorgestern dachte ichbesser über Sie. Zum Beispiel,weil Sie nicht lachten, als icherwähnte, daß ich damals einWildfang war. Die meisten Er=wachsenen hätten gelacht — wes=halb, das werde ich allerdingsnie verstehen. Natürlich bin ichjetzt ganz anders, denn siebenJahre machen einen großen Un°terschied. Aber ich kann einfachnicht eingehen, warum ich esnicht wissen sollte.« Sie lehntesich zurück und wirkte über=rascht. »Also enttäuschen Siemich jetzt nicht, indem Sie michnoch als achtjähriges Kind be=

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trachten«, fügte ich hinzu, »ob=wohl ich wahrscheinlich einerder vorurteilslosesten und auf=geschlossensten Menschen hierin der Gegend bin.«Sie nagte an ihren Lippen undstarrte mich an. Gekränkt warsie nicht. Ich glaube, sie ist sehrintelligent und verständig.»Ich werde über diese Sachenachgrübeln, und Sie könnenmich nicht daran hindern«, sagteich. »Ich wünschte nur, ich könn-te helfen. Ich habe mir schongedacht-vielleicht kann ich michdoch erinnern, wenn ich es ganzfest versuche.«»O nein«, sagte sie schnell/»nein, liebes Kind. Ich dankedir. Ich weiß, daß du helfenmöchtest. Aber du warst damalserst acht. Ich nehme nicht an,daß jemand dir glauben würde.«»Und jetzt bin ich erst fünf»zehn«, erwiderte ich, »und nie=mand wird es mir erzählen.«»Oh, meine Liebe«, sagte siesüß, »du bist eine ganz außer»gewöhnliche Fünfzehnjährige...Wenn ich dir nun davon erzähle,Meredith, und du siehst, wiehoffnungslos es ist - denkst du,daß du es dann vielleicht aufsich beruhen lassen kannst?«

Ich versicherte, ja, das dächteich. (Welch eine Lüge!)»Harry, mein Mann, kam häufigspät nach Haus, so auch in jenerNacht«, sagte sie. »Ich war nichtbeunruhigt darüber, ich legtemidi zur gewohnten Zeit insBett und schlief. Dann wurde ichdurch irgend etwas aufgeweckt.Ich weiß nicht, wodurch. DasSchlafzimmerfenster stand offen.Es war sehr warm, hochsommer=lieh. Ich lag in meinem Bett undlauschte. Damals stand im Vor=garten eine große Ulme. Sie istjetzt nicht mehr da - sie bekamdie Ulmenkrankheit und mußtegefällt werden. Aber in jenerNacht konnte ich die Schattenihrer Blätter sehen, die der Voll=mond auf die Zimmerwandrechts neben dem Fenster warf.Die Blätter bewegten sich einwenig und raschelten ganz leise.Es war eine zauberhaft stilleSommernacht.« (NB: Sie istziemlich gut in Stimmungsschil=derungen.)»Ich war also wach geworden«,fuhr sie fort. »Aber außer demBlätterrascheln hörte ich nichts,bis plötzlich - ein Schuß ertönte.Ich erschrak furchtbar. Reglosund voller Angst lag ich da wie

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gelähmt ... Harry schrie nicht.Auch kein anderes Geräusch warzu hören, nur das leise Raschelnder Blätter. Dann, auf einmal,war mir, als hörte ich ein kräf=tigeres Rascheln. Ich zwangmich, aus dem Bett zu springenund ans Fenster zu eilen. Da sahich deinen Onkel John.«Sie stockte, und ich hatte einigeMühe, sie zum Weiterreden zubewegen.»Nein, dein Onkel John warnicht in unserem Vorgarten. Erzwängte sich von seinem Grundsstück her gerade durch die Grenz"hecke, die damals kaum halb sohoch und so dicht war wie heute.Und dann sah ich auch Harry.Er lag auf der flachen Stufe vorunserer Haustür. Ich lief zurSchlafzimmertür. Im Korridor,am oberen Ende der Treppe,stand meine Köchin, bleich undentsetzt. Wir rannten hinunterund machten die Haustür auf.Dein Onkel stand neben Harryund sagte mir, daß Harry ...nicht mehr lebe. (NB: Bemer=kenswert dezent formuliert.)Dann eilte er an mein Telefon,um den Doktor und den Polizei»Aef herbeizurufen. Mir warganz elend, und meine Beine

zitterten so sehr, daß idi midiauf einen Stuhl in der Hallesetzen mußte ... Aber ich erin»nere mich jetzt, daß deinem On»kel, nachdem er die Telefonateerledigt hatte, plötzlich einzu=fallen schien, wo du stecktest -jedenfalls rannte er zu seinerGarage nach einer Leiter, umdich aus deinem Baumhaus zuholen.«»Verwünscht!« murmelte ich.Sie wußte, was ich meinte, dennsie sagte sofort: »Natürlichkannst du dich an nichts erin=nern. Du mußt geschlafen ha=ben. Die meisten Kinder habeneinen sehr festen Schlaf. Wahr=scheinlich bist du auch beimHerunterholen gar nicht richtigaufgewacht.«»Ich nehme es an«, pflichtete ichärgerlich bei. »Wie ging die Sa=ehe weiter?«»Nun, die Polizei kam sehrschnell - Chef Barker persön=lieh. Ebenso Doktor Coles. Siefanden den Revolver in derHecke. Sie konnten nichts überihn ermitteln. Er war ohne Fin=gerabdfückc. Es gab auch keineFußspuren bei dem trockenenWetter, das damals herrschte. Sokonnten sie die Sache niemals

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aufklären. Und das, liebes Kind«,sie zuckte die Schultern, »das istalles.« Sie trank von ihrem Teeund wirkte sehr streng.Ich fragte: »Gab es keine Ge=richtsverhandlung?«»Es gab niemanden, gegen denverhandelt werden konnte.«»Nicht Sie, Mrs. Corcoran?«»Niemand klagte mich an«, sag»te sie mit mattem Lächeln. Aberihre Augen waren so traurig.»Und doch tat man es!« rief ichhitzig. »Man verurteilte Sie so=gar!«»Liebes Kind«, entgegnete siesehr ernst, »du darfst nicht ver=suchen, eine Heldin aus mir zumachen. Chef Barker und Dok=tor Coles und gewiß auch deinOnkel John taten alles, was inihrer Macht stand, um die Sacheaufzuklären. Aber sie konntennkht herausfinden, wer es ge=wesen war, oder auch nur wes=halb. Verstehst du? So . . .« Sieseufzte und war auf einmal sehrnervös.»So begann sich alles gegen Siezu wenden!« rief ich wütend.»Oder^ woher käme sonst die un=durchdringliche Hecke? Warumwürde Onkel John mir sonstverbieten, mit Ihnen zu spre»

chen? Weshalb glaubt er. Siewären so verderbt?«»Glaubt er, ich wäre verderbt?Nun, Meredith - ich bin wederverderbt, noch bin ich eine Hei=lige. Ich bin einfach ein Mensch.«Ich habe immer gedacht unddenke es auch jetzt noch, daßdies eine billige Phrase ist. Abersie ist nützlich! Sie bringt einendazu, für jeden, der sie ge=braucht, so zu empfinden, alshätte er eben etwas ganz Unge=heuerliches bekannt - etwas, dasman selbst nicht so leicht beken=nen würde (es sei denn, manwürde ertappt).»Harry und ich«, sagte sie, »wirkamen nicht immer gut miteinsander aus, aber das ist bei denmeisten Ehepaaren so. Er trankziemlich stark. Viele Männertun das. Natürlich bemerktenunsere Nachbarn, daß bei unsnicht alles stimmte. Einige vonihnen, das weiß ich, bedauertenmich. Aber ich«, ihr Ausdruckwar jetzt wirklich bitter, »ichsollte dir so etwas nicht erzäh=len. Warum vergesse ich, daßdu noch so jung bist? Wahrhaf»tig - ich hätte es dir nicht er=zählen sollen! Vergib mir. Undlaß dich durch das, was ich dir

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erzählte, nicht aus der Fassungbringen.«»Ich doch nicht!« behauptete ichkühn. »Ich bin ziemlich unemp=findlich. Und vergessen Sienicht - ich habe einen wachenVerstand und wache Augen. Ichsehe die Schwierigkeiten ... Esist niemand anders da, den manverdächtigen könnte. Was Siebrauchen, ist -«»Nein, nein, mein Kind! Nichtsmehr davon! Ich hatte keinRecht, darüber mit dir zu reden.Ein großer Fehler, daß ich es tat.Du solltest lieber nicht mehr zumir kommen. Nicht, daß ich esnicht wollte. Ich mag dich sehrgern und würde midi freuen,dich recht oft zu sehen. Aber -«Ich unterbrach: »Onkel John istein Spießbürger, denke ich! Erhängt sein Mäntelchen nachdem Wind. Aber ich brauchedas nicht! Ich -«»Doch, auch du mußt es tun«,sagte sie eindringlich und starrtemich an. »Glaube mir - es istnicht hübsch, auf dieser Seiteder Hecke zu leben, Meredith.Aber man gewöhnt sich daran.Und nun, bitte, bezweifle niemehr deines Onkels Verhalten.«Sie war erregt und wurde im=

mer erregter. »Du mußt ...wirklich, du mußt ... mir glau=ben ... wenn ich sage ... daßich denke, er meinte ... gewißsehr freundlich zu sein ... da'mals.« Sie sagte es mit diesenkleinen Unterbrechungen undholte dabei jedesmal Luft, ganzschnell und flach.»Aber die gemeine alte Hecke,die alle sehen können!« rief ichempört. »Sie macht mich ver°rückt!«Wieder starrte sie mich an. Dannsagte sie so leise, daß es fast einFlüstern war: »Vielleicht, Mere=dith, bin ich es gewesen, die dieHecke wuchern ließ.«Natürlich klappte mir vor Ver=blüffung der Mund auf, undehe ich etwas herausbringenkonnte, sagte sie, dieses Mallaut: »Es war das Beste so. Undnun hör mir mal zu, meinKind .. .«(NB: Jetzt War ich bodenlosenttäuscht. Wie ich es hasse,wenn Erwachsene zu mir sa=gen: »Und nun hör mir mal zu,mein Kind!« Täuschen damitvor, eine Million Dinge mehrzu wissen als ich, und geben mirzu verstehen, ich hätte hübschbescheiden zu sein! Ich werde

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dadurch bloß immer gereizt.Denn es bedeutet, daß sie esleid sind, mit mir zu sprechen,und daß sie sich auf die billig-ste Art einen überlegenen Ab=gang verschaffen wollen!)»Das alles ist so lange her«,fuhr sie in diesen süßlichen To»nen fort, mit denen man kleineKinder zu besänftigen versucht,»und nichts kann es ändern. Laßes ruhen, Meredith. Ich dankedir für dein Kommen und da»für, daß du so aufgeschlossenwarst. Aber jetzt geh und ver»sprich mir, daß du nie wiederdarüber nachdenken wirst.«Ich starrte sie an, wie sie vor=hin mich angestarrt hatte, undsagte sehr höflich: »Und ichdanke Ihnen für den Tee unddie feinen Kekse, Madame.«Dann machte ich einen Knicksund ging ...Aber ich bin ihr nicht böse. Sietut mir zu leid.Nebenbei bemerkt hatte sie ge=nug Andeutungen gemacht, beidenen ich hätte einhaken kön"nen. Nun, ich tat es nicht. Abernach der Unterredung, die ichinzwischen mit Onkel Johnhatte ... Manche sind eben ein=fach vernagelt!

Wir hatten das Dinner beendet,als ich beschloß, zu versuchen,was ich aus ihm noch heraus»quälen könnte. Ich sagte:»Wenn Harry Corcoran so vieltrank, dann war er vermutlichbetrunken in der Nacht, als ererschossen wurde.«Onkel John hätte beinah seineKaffeetasse umgestoßen. »Wo=her weißt du, daß er so vieltrank?« fauchte er. »Hast mitMrs. Jewell getratscht, wie?«(Mrs. Jewell, die Frau des Gärt=nerchauffeurs, ist die Haushäl"terin; Wortschatz ungefähr hun"dert Einzelworte und drei Dut»zend Redensarten.)»O nein, das habe ich nicht.War er?«»Wer?«»Harry Corcoran.«»Was?«»Betrunken.«»So hieß es«, fauchte OnkelJohn durch die zusammengebis=senen Zähne, »Und nun, Mere=dith -«»Wo warst du zur Zeit des Mor=des?« zirpte ich unschuldig.»Meredith, ich wünsche ~«»Ich weiß, was du wünschst.Aber ich wäre so froh, wenn dues mir erzählen würdest. Komm,

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sei so lieÜ, Onkel JoHn! Meineigener Mord! Wenn ich alleTatsachen wüßte, könnte ichvielleicht aufhören, dauernddarüber nachzudenken. Ver-stehst du das nicht?«(NB: Unlogisch. Je mehr manüber etwas erfährt, um so mehrreizt es, noch mehr zu erfahren,bis man alles weiß. Aber ermerkte den Lapsus nicht.)»Ich habe dir, äh, die Tatsachenerzählt«, sagte er, »und ichwünschte, ich hätte, äh, meinenMund gehalten. Deine Mutterwird mir die Haut vom Leibeziehen. Wie, zum Teufel, binich da, äh, bloß hineingesdüitstert?«(NB: Ich dachte, letzteres wäreein Fortschritt - für seine Ver«hältnisse jedenfalls; er ist sonstimmer so verdammt steif, wenner mit mir spricht.)»Du hast mir keinerlei Einzel=heiten erzählt. Bitte, bitte, On=kel John . , .« Jetzt quengelteich ihm richtig die Ohren voll.Ich glaube nicht, daß er viel Er=fahrung darin hat, sich zu ver=leidigen. Jedenfalls hatte ich ihnnach wenigen Minuten so weit,daß er, hölzern wie immer, zureden begann.

»Nun gut. Idi werde dir alsodie, äh, die Einzelheiten erzäh=len. Das heißt, soweit ich sieweiß. Aber dann erwarte ich,äh, nichts mehr über diesesThema zu hören.«»Ich weiß«, sagte ich. Das wardie lautere Wahrheit. Ich wußtewas er erwartete. Wirklich ver«sprechen tat ich nichts. Aber erist nicht sehr scharfsinnig.»Schön«, fuhr ich fort, »nimman, du befändest dich im Zeu«genstand ... Wo warst du zurfraglichen Zeit?«»Ich war, als es geschah... (NB:Überflüssige Phrase; natürlichgeschah es.)... in der Bibliothekmit einigen Abrechnungen be=schäftigt. Es war fast ein Uhrfrüh, ich glaube... (NB: Natur"lieh glaubt er es, sonst würde eres nicht sagen.) ... als ich HarryCorcoran pfeifend die Straßeentlangkommen hörte.«»Welche Melodie?«»Was?« (Ich schickte mich an,es zu wiederholen, aber das warnicht nötig. Viele Leute lasseneinen eine Frage wiederholen,die sie recht gut verstanden ha=ben, damit sie Zeit gewinnen,sich die Antwort zu überlegen.)»Oh, diese Danny"Boy=Melo°

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die. Seine Lieblingsmelodie. Da«her wußte ich sofort, wer da dieStraße entlangkam. Er kam vomentgegengesetzten Ende derStadt, an diesem Haus vor=bei -«»War das ungewöhnlich?«»Es war, äh, weder ungewöhn«lieh noch nicht ungewöhnlich.«Onkel John schien leicht gereizt.»Es war einfach, äh, eine Tat=sache.«»Gut. Und weiter?«»Dann hörte ich den Schuß.«»Warst du wie vor Schreck ge«lahmt?«»Was?« Er starrte midi an. »Ja,natürlich - einen Moment lang.Dann rannte ich durch die Sei=tentür hinaus, äh, und zwängtemich durch die Hecke, äh, undfand ihn auf der flachen Stufevor seiner eigenen Haustür lie=gen, äh ...«»Nicht mehr lebend«, warf ichdiskret ein.Er warf mir einen unfreundli=dien Blick zu. »Ja, nicht mehrlebend. Und das, äh, ist alles.«»Das ist nicht alles! Was tatestdu? Sahst du dich nicht nadidem Mörder um?«»Ich, äh, ich sah mich um, aberda war weit und breit niemand.

Natürlich dachte idi daran, daß,äh, irgendwo jemand verstecktsein könnte. Nicht meine Sache,ihn, äh, ihn in diesem Momentaufzustöbern. Ich bückte michnach Corcorans Schlüssel, der,äh, auf die flache Stufe gefallenwar -«»Die Haustür war versdilos»sen?«»Sie war verschlossen, und ichschloß sie auf, äh, und lief zumTelefon in der Halle. Das heißt,äh, als ich sie aufschließenwollte, machte Mrs. Corcoranoder Mrs. Corcorans Ködiin dieTür von innen auf - die beiden,äh, waren eben aus dem Ober»geschoß herabgeeilt, wie esschien. Ich, äh, rief PolizeichefBarker und Doktor Coles an.«»Ja, ich weiß. Und dann rann=test du zu deiner Garage, we=gen einer Leiter, und holtestmich aus meinem Baumhausherunter ... Gut. Aber du läßtgewisse Dinge aus, Onkel John.Deine Schilderung war absolutnüchtern, du hast ihr überhauptkeine Atmosphäre gegeben.Wie, zum Beispiel, war Mrs.Corcorans Gemütsverfassung?«»Davon, äh, habe ich nicht diegeringste Ahnung«, sagte On=

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kel John mit verächtlich ge=rümpf ter Nase, »und wenn icheine hätte, wäre es, äh, keineTatsache.«Ich riskierte es, »Du denkst, siehat es getan?«Er zog sein Kinn beinah bis inden Hals zurück. »Idi, äh, idiwünschte, du würdest so etwasnicht sagen. Ich habe wenigRecht, äh, Erwägungen anzusstellen, und, äh, gar kein Recht,mir ein Urteil zu erlauben ...Es gab keinerlei Beweise.«»Aber du hast dir ein Urteil ge=bildet. Du sagtest mir, siewäre —«»Meredith, eines weiß ich si=eher! Deine Mutter würde diesalles, äh, durchaus nicht schät'zen! Auf keinen Fall gedenkeich, äh, über Mrs. CorcoransCharakter mit dir zu diskutie"ren. Ich muß darauf bestehen,daß du, äh, meinem Wortglaubst! Es wäre äußerst unge=hörig von dir -«»Onkel John, wer ließ die Heckewuchern?«»Was? Die Hecke? Die Heckegehört mir.«»So? Das habe ich aber bisheranders gehört.«Jetzt legte er los. »Wo hast du

etwas gehört? Wer hat dir er"zählt, Harry Corcoran wäre, äh,ein Trinker gewesen? Mit wemhast du getratsdit, Meredith?«Ich gestand es ihm.Hätte wenig Zweck, haargenauden Krach aufzuschreiben, dener mir servierte. Der üblicheUnsinn - Verpfliditung, michvor Schaden zu bewahren, vorDingen, die ich doch noch nichtbegriffe, enorme Verantwor°tung seinerseits und so weiter.Lauter tönende Phrasen. Wes=halb, zum Kuckuck, konnte ermir nicht geradeheraus sagen,daß es mich einen Dreck an'geht?Ich glaube aber nicht, daß esHeuchelei bei ihm ist. Ich denke,es ist Einfalt. Ich denke, OnkelJohn ist zu hölzern und zu kon=ventionell (und glaubt wahr=scheinlich außerdem, ich hättenoch nie von Sex gehört), ummir zu gestehen, daß er hin"sichtlich der hübschen Lady imNachbarhaus einst einigerma=ßen romantische Gefühle emp=fand.Gewiß sah er allerlei von Harrysbetrunkenem Nachhausekom»men, gewiß vernahm er aller»lei von den Auseinandersetzun»

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gen der beiden. Gewiß gehörteer zu den Nachbarn, denen sieleid tat. Gewiß spürte sie dieteilnahmsvolle Sympathie, undgewiß erwiderte sie sie (Frauensind so - selbst ich weiß dasschon).Frage mich, ob die beiden je einWort darüber verloren, daß sieeigentlich ein bißchen (und ganzehrsam) meinander verliebt wa«ren? Bezweifle es. Bedachtensich wahrscheinlich bloß mitverstohlenen Blicken über dieHecke und sagten nichts. Min-destens zu Onkel John würdedas passen.Nun geschieht der Mord. Irgend»wie kommt sie auf die Idee,Onkel John hätte es getan. Im»merhin hörte sie Dinge - Ra=schein der Blätter (oder derHecke?) -, sah hinaus, und dawar er!Aber natürlich hat Onkel Johnes nicht getan. Er denkt, siewar es. Er weiß, daß sie mitHarry unglücklich war.Beide denken also, der anderehätte es getan. Und was tun siedaraufhin, diese Narren? Siehaben »kein Recht«, Erwägun»gen anzustellen oder jemandenzu beschuldigen. Sie ziehen sich,

wie die Schnecken, ]e3.es in seinHaus und in sich selbst zurück,mit der immer größer werden"den Hecke dazwischen, und le»ben all die Jahre mit dem Ver«dacht, niemand als der anderekönne es getan haben! Hättensie Verstand genug gehabt, sichauszusprechen, sich richtig dieMeinung zu sagen, dann wärensie wahrscheinlich schon langeverheiratet 'und glücklich mit»einander ...Oh, wie lächerlich! Wie mitleid«erregend! Und oh, daß ich ge=boren ward, der anderen Fehlergutzumachen! (NB: Wer sagtedas? Keats? Shelley? Byron?Muß nachsehen, wenn ich wie«der daheim bin.)

Der Anwalt ließ das TagebuAsinken. John Selby stöhnte: »Hattekeine Ahnung, nicht die geringsteAhnung, was, äh, ihr im Sinn lag.Ich wußte, daß sie aufgewecktist -«»Nicht nur das«, brummte Dr.Coles. »Unerträglich herablassendist diese Göre!«»Einen harten Lebensweg hat sievor sich«, bemerkte der Anwaltnachdenklich. »Sie wird recht ein'sam sein.«»Hält sich für verdammt smart,

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die junge Miss«, grollte der Poli=zeichef, »und ist längst nicht sosmart, wie sie annimmt. Selbykann uns bestätigen, daß sie sichselbstverständlich geirrt hat - eh?«John Selby antwortete nicht. Ertat, als hätte er es nicht gehörtund hielt seinen Blick auf AnwaltRussell gerichtet.»Man sollte sie für ihren Irrtumnicht tadeln«, sagte Russell. »Sieist eben noch nicht reif genug, umgewisse Dinge zu verstehen. Abersie spürt den inneren Zwang, eszu versuchen. Ihre wißbegierigeIntelligenz will sich den Wegdurch das Dickicht der Klischeeserkämpfen. Und das -«»Ich sehe immer noch nicht, wasgeschah«, unterbrach der Polizei"chef. »Lesen Sie weiter, Russell -falls da noch mehr steht.«»Ja, da steht noch mehr. Wir körn»men jetzt zum sechsundzwanzig»sten Juli - gestern.«

Ich habe mir etwas ausgedacht!Jetzt weiß ich genau, wie ich esmache! Ich sage einfach, ichkann mich erinnern! Ich werdeihnen erzählen, daß mich da"mals der Schuß oder sonst ir=gend etwas aufgeweckt hat unddaß ich einen Fremden davon»laufen sah ...

»Ein Märchen erzählt ~ das alsohat sie getan!« PoUzeichef Barker,schlug sich ärgerlich mit der Handauf die Hüfte. »Aber, Momentmal - Sie glaubten ihr, Selby?«»Ich glaubte ihr«, seufzte der On«kel.»Weiter«, brummte der Doktor.»Lesen Sie weiter, Russell.«

Ich weiß auch, wie ich es ma=dien kann, daß sie mir glauben.Oh, das wird hübsch!Ich werde zuerst mit OnkelJohn sprechen und in die Geaschichte, die ich ihm erzähle,alle die Kleinigkeiten mischen,die sie mir erzählt hat und vondenen er nicht weiß, daß sie mirbekannt sind. Da diese Kleinigskeiten wahr sind, wird er sichtäuschen lassen und glauben,daß ich mich wirklich erinnere!Dann werde ich zu ihr gehenund in die Geschichte, die ich ihrerzähle, alle die Kleinigkeitenmischen, die ich von Onkel Johnhabe und von denen sie nichtweiß, daß ich sie kenne. Dasmuß klappen! Sie werden mei-nen Trick nicht erkennen undmir glauben! Und dann könnensie zueinander finden, wenn sieimmer noch wollen!Ich mache mir keine Gewissens"

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bisse, solche Lügen zu erzählen.Und wenn irgend jemand Offi=zielles anfängt, mir Fragen zustellen, kann ich jederzeit einbißchen erbeben, auf einmaldoch noch zu jung und zu emp=findsam sein und scheinbar ver=stört schweigen.Muß es sehr sorgfältig vorbe=reiten. Muß mir Listen anlegen.

Russell blickte auf. »Meredith istgut in Mathematik, nehme ichan?«»Die Beste in ihrer Klasse«, ächzteder Onkel. »Verwünscht, diesesMädchen macht mir Angst.«Russell nickte und las weiter.

Liste Nr. i. Für Onkel John.Dinge, die sie mir erzählte.1. Warme Nacht. Vollmond.2. Die Ulme, die damals noch inihrem Vorgarten stand.5. Der Revolver wurde in derHecke gefunden.4. Harry schrie nicht.Und nun baue diese Punkte ein!Bevorstehender Dialog:Ich: Oh, Onkel John, jetzt erin=nere ich mich!O.J.: An was?(Falsch! Da dies in der Zukunftliegt, sollte ich seinen Part lie=ber nicht aufschreiben. Es könn=te mich verwirren.)

Ich: Ach, ich war oben in mei=nem Zimmer und dachte nachund fing ganz unversehens an,diese Melodie zu summen —Danny Boy. Und auf einmalkam mir die ganze Sache wie=der ins Gedächtnis zurück wieein Traum. Auf einmal erin=nerte ich mich, daß ich in mei=nem Baumhaus aufwachte undhörte, wie jemand diese Melo»die pfiff. Ich spähte über das Ge=länder. Der Vollmond machtedie Nacht ganz hell. Es war sehrwarm, richtig hochsommerlich.Ich konnte die Ulme im Vorgar=ten der Corcorans sehen ...(Stocken, verstört dreinblicken.)Welche Ulme, Onkel John? Daist doch gar keine Ulme. Wardort vor sieben Jahren eineUlme?(Ha, ha - das wird den Nagelauf den Kopf treffen!)Ich sah einen Mann den Zugangder Corcorans entlangkommen.Ich muß den Schuß gehört ha=ben - ich dachte, jemand hättevom vierten Juli einen Knall»frosch übrigbehalten. Ich sahden Mann hinfallen. Aber weiler keinen Schrei von sich gabund überhaupt kein Geräuschmachte, dachte ich nicht, daß er

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verletzt wäre. Ich dachte, erwäre übermüdet und plötzlicheingeschlafen.(Hui, wenn das kein Gag ist.)Dann sah ich, daß noch ein an»derer Mann da war, draußen,vor dem Straßenzaun. Er warfirgend etwas in die Hecke, unddie Hecke raschelte, als es hin=einfiel. Der Mann rannte fort,und dann kamst du aus deinemHaus ...(Bis dahin müßten Onkel Johndie Augen übergegangen sein,nehme ich an.)Ich werde sagen, daß ich nichtweiß, wer der Fremde war.»Aber du warst es auf keinenFall, Onkel John«, werde ich sa=gen, »und die Witwe Corcorandenkt seit sieben Jahren, duwärst es gewesen, und jetztlaufe ich gleich hin, um es ihrzu erzählen ...«Dann werde ich aus dem Hausrennen, so schnell ich kann. Under wird mir folgen, er kann garnicht anders!

Anwalt Russell ließ das Tagebuchsinken. »War es ungefähr so?«»Fast genauso«, seufzte JohnSeiby. »Und ich folgte ihr. Siehatte absolut recht - ich konntegar nicht anders.«

»Geschickt, wie sie sich das ausge=heckt hat«, sagte der Polizeichef.»Zu geschickt, für meinen Ge°schmack«, brummte der Doktor.Dann wandte er den Kopf. »Ja,Schwester? Was gibt's?« Er gingdurch die weiße Tür.John Selby richtete sich in seinemSessel auf. »Merediths Mutterwird mich bei lebendigem Leibeabhäuten«, murmelte er. »DieGöre hat mich wahrhaftig nachihrer Pfeife tanzen lassen. Aberwie soll ich mit ihresgleichen zu=rechtkommen? Sieht mich mit die=sen großen braunen Augen an.Man weiß nie, ob man zu einerFrau oder zu einem Baby spricht.Alles, was ich machte, war falsch.Nie hatte ich die leiseste Ahnung,was ihr im Sinn lag ... Sie sindein kluger Mann, Russell - des=halb brauche ich Sie. Ich kommemir vor wie durch die Mangel ge=dreht. Helfen Sie mir mit Mere=dith. Ich fühle mich furchtbar beidieser ganzen Sache. Wenn sieernstlich verletzt ist, und ich tragedie Verantwortung ...«»Sie sagten vorhin«, begann Rus=seil, »Sie verständen junge Leutenicht. Aber selbst wenn Sie es tä=ten, bei dieser phantasiebegabtenfünfzehnjährigen Person -«

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»Sie nehmen es zu schwer, John«,warf der PolizeiAef ungeduldigein. »Der Doktor denkt nicht, daßsie ernstlich verletzt ist. Außer"dem hat sie es sich selbst einge»brockt. Lesen Sie weiter, Russell.Was sagte sie zu der Witwe? Dasist es, was ich wissen muß. Stehtes da?«»Es muß dastehen«, sagte Russell,»sie machte ja noch eine Liste ...«

Liste Nr. 2. Für die Witwe.Dinge, die Onkel John mir er»zählte.1. Harry pfiff Danny Boy.2. Er kam an Onkel Johns Hausvorbei.5. Er war betrunken.4. Er ließ seinen Schlüssel fallen.Nicht so gut. Doch, beim zwei'ten Überlegen auch ganz gut.Was weckte sie auf? Sie weiß esnicht, aber ich weiß es!Bevorstehender Dialog:Ich: Oh, Mrs. Corcoran, Mrs.Corcoran - ich denke, ich fangean, mich zu erinnern! Ja, wirk"lieh! Hören Sie - ich glaube, ichhörte einen Mann pfeifen. Es wardie Danny^ßoy'Melodie. Undder Mann kam vom anderenEnde der Stadt her, an OnkelJohns Haus vorüber. Kann dasIhr Mann gewesen sein?

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(Ha! Sie muß einfach sagen, ja!)Ich; Und er - es scheint mir, erging nicht richtig. Er torkelte. Ertorkelte Ihren Zugang entlang.Kurz vor dem Haus ließ er etawas fallen. Vielleicht einenSchlüssel. Es muß ein Schlüsselgewesen sein, denn ich sah, wieer stehenblieb und sich danachbückte, aber...(Kleine Kunstpause an dieserStelle? Ich denke, ja.)Ich: Oh, jetzt erinnere ich mich!Er richtete sich auf. Er kann nichtgefunden haben, was er fallengelassen hatte, denn er rief et=was. Es war ein Name! Es muß... oh, Mrs. Corcoran, kann esIhr Name gewesen sein? Kannes nicht das gewesen sein, wo°durch Sie aufwachten - weil erIhren Namen rief?(Ein todsicherer Gag! Daraufnehme ich Gift!)Nun, und der Rest ihrer Ge=schichte geht weiter, wie bei On=kel John gehabt. Der Fremdeauf der Straße. Wirft den Revol=ver in die Hecke. Rennt weg.Fast im selben Moment kommt0. J. aus seinem Haus.»Also waren nicht Sie es«, wer»de ich sagen, »und ich kann dasbeweisen! Aber der arme Onkel

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John glaubte. Sie wären es ge-wesen.«Was dann? Zu dieser Zeit dürf"te Onkel John schon recht nahesein, auch wenn er sich denSchlips erst wieder umbindenmußte.Ich denke, ich sollte dann an«fangen zu weinen.Ja, so werde ich es machen. Ichdenke, das ist recht gut. Siemüssen mir ja glauben. Natür-lich stimmen die beiden Ge»schichten nicht haargenau über»ein, aber die zwei werden denTrick nie bemerken. Sie werdeneinfach überzeugt sein, daß kei-ner von ihnen beiden auf HarryCorcoran schoß. Und daraufkommt es an!Ich kann kaum abwarten, wasdann geschieht. Was werden sietun? Was werden sie sagen?Besser, ich schluchze ziemlichverhalten, damit ich alles hörenund beobachten und mir merkenkann.Wann soll ich es versuchen? Ichkann nicht warten. Jetzt wäreeine günstige Zeit! Onkel Johnist in der Bibliothek. Und sieist daheim - ich sehe Licht obenin ihrem Zimmer. Also ansWerk!

(NB: Sollte ich vielleicht Beb6rSchauspielerin statt Schriftstelle"rin werden? Oder beides? Wärezu überlegen.)

Der Anwalt klappte das Buch zu.»Das ist alles.« Er senkte den Kopfund legte eine Hand über die Ausgen, aber es war zu sehen, daßsein Mund sich zu einem leisenLächeln verzog.»Wenn da bloß irgendein Sehe"ma zu erkennen wäre«, stöhnteder Polizeichef. »Macht sich eineMenge Mühe, die ganze Sache aus"zuhecken -«»Sie hatte ein starkes Motiv«, er=innerte Russell.»Meine Romanze«, murmelte Sei"by bitter.»Nein.« Russell grinste. »Die un»bändige Wißbegier einer höchstbemerkenswerten Fünfzehnjähri-gen.«»Welches Motiv sie auch immergehabt haben mag«, grollte derPolizeichef, »diese höchst bemer-kenswerte Fünfzehnjährige erfandMärchen und bekam die Quittungdafür. Aber irgend etwas muß sievöllig richtig erfaßt haben. Ist dasklar?« Er beugte sich nach vorn.»Selby - soweit es Sie betraf, ha»ben Sie ihr das Märchen geglaubt.Sie dachten, sie erinnere sich der

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Mordnacht und Habe einen Frern»den gesehen - nicht wahr?«»Ja, das dachte ich«, sagte JohnSelby entschieden. »Und ich wareinigermaßen beeindruckt. Ich hat=te aus ganz persönlichen Gründenimmer Josephine Corcoran ver=dächtigt.«»Viele von uns haben JosephineCorcoran aus mehr oder wenigerguten Gründen verdächtigt«, be=merkte der Polizeichef trocken.»Aber niemand vermochte sichvorzustellen, wie sie es fertigge»bracht haben könnte - die Köchinstand im Etagenflur, und Sie warenso schnell am Tatort erschienen,Selby.«»Welches waren Ihre Gründe,John?« fragte Russell.»Insbesondere ein gewisses, äh,zweideutiges Gespräch, das imVerlauf eines, äh, eines von miraus ganz harmlos gemeinten Gar=tenflirts stattfand. Es schien mirdamals, daß ihr, äh, der Tod ihresMannes recht erwünscht wäre undsich ihrer Meinung nach auch ganzleicht arrangieren ließe. Ich kannihre Rede natürlich nicht mehrwörtlich zitieren, zumal sie sichsehr vorsichtig ausdrückte. Aberdie Andeutung war da. Sie hieltihn für, äh, dumm und grausam

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und unerträglich und gab zu ver=stehen, daß ihr Leben erst wiedernett und angenehm werden könn=te, wenn er, äh, daraus entferntwäre - so, als sei er, äh, eine Artlästiger Warze an ihrer Hand!«Selby schüttelte den Kopf. »Wiesoll, unter solchen Voraussetzunggen, ein Mann seiner fünfzehnjäh»rigen Nichte erklären, was ihn, äh,annehmen läßt, diese Frau sei ver=derbt? Wie soll er ihr Eindrückeund Empfindungen erläutern, dieer, äh, nicht einmal vor sich selbstscharf umreißen kann?« Er seufzte.»Die erwähnte Unterhaltung zer=störte meine, äh, unschuldige klei-ne Schwäche für diese Lady -glauben Sie mir. Seit dieser Zeitverhielt ich mich reserviert undließ die Hecke wachsen. Wenn Siesich, äh, vergegenwärtigen, daßHarry Corcoran wenige Wochenspäter tatsächlich starb, werden Sieverstehen, daß ich sieben Jahrelang mit der Erinnerung an jeneUnterhaltung gelebt habe. Hatteich recht in bezug auf die Absich-ten, die ich, äh, aus ihren Wortengehört zu haben glaubte? War ichvielleicht nicht betont genug, äh,zurückgeprallt? Hatte ich michnicht hinreichend von der bloßenIdee distanziert? Hätte ich mich,

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äh, vor mir selbst schärfer von die=ser Idee distanzieren müssen?Oder hatte ich mich durch meinenArgwohn zu einem, äh, Fehlurteilverführen lassen? Es gab keinerleiBeweise, es gab überhaupt nichts!«Er seufzte wieder und veränderteseine Haltung im Sessel. »Als ichnun dachte, das Kind hätte damalstatsächlich, äh, einen Fremden miteinem Revolver gesehen, war ichbestürzt und zunächst wie ge=lahmt. Doch sobald ich begriff, wo=hin Meredith, äh, gelaufen war —«»- banden Sie sich den Schlips umund folgten ihr«, ergänzte der Po=lizeichef. »Und Sie sahen die bei°den durch die Glasscheibe der Cor=coranschen Haustür, nicht wahr?«Diese Frage war überflüssig gewe=sen, denn John Selby hatte es be=reits zu Protokoll gegeben, aberBarker liebte Wiederholungen.»Ja«, sagte Selby, »ich sah sie amoberen Ende der Treppe. Mrs.Corcoran, äh, stand am Geländer,und Meredith, eine Stufe unter ihr,sprach ernsthaft auf sie ein.«»Verstanden Sie, was sie sagte?«»Unglücklicherweise nicht. Aberda Meredith es vorbereitet hatte,müßten wir es doch in ihrem Tage»buch finden - falls sie sich, äh, anihre Niederschrift hielt.«

»Wenn es in ihrem Tagebuch steht,ist es mir nicht bewußt geworden.«Der Polizeichef fuhr sich mit derHand über die Stirn. »Und dann,plötzlich, sagen Sie - während Me=redith eifrig beim Reden war -,schrie die Witwe etwas, das Sieverstehen konnten?«»Sie schrie: >Ich sagte dir, du sollstdich da heraushalten, du vorlautesBalg!< Und dann stieß sie Meredithso heftig, daß das Kind die ganzeTreppe hinabfiel.« Selby begannschwer zu atmen.»Und Sie eilten in die Halle?«»Bis ich mich, äh, von meinem er»sten Schreck erholt hatte und indie Halle kam, war sie schon dieTreppe herabgerast und wolltesich, äh, wie eine Furie auf Mere=dith stürzen. Es war ganz klar, daßsie das Kind am liebsten umge=bracht hätte.«»Aber Sie rissen sie beiseite undtelefonierten uns herbei«, sagteAnwalt Russell. »Versuchte Mrs.Corcoran, ehe wir kamen. Ihnenirgend etwas zu erklären?«»Sie stieß hysterische Schreie aus:>Armes Kind! Arme Kleine - sounglücklich zu fallen!< Sie wolltees so erscheinen lassen, als sei Me=redith, äh, zufällig die Treppehinabgestürzt. Doch das stimmt

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nicht! Sie hat Meredith gestoßen!Sie tat es in der Absicht, Meredithumzubringen! Das habe ich gehört,das habe ich gesehen, das weißich! Und sie weiß, daß ich es weiß!«»Bei Gott«, bestätigte Russell, »dieWitwe hat sich selbst entlarvt. Sieist wirklich eine verderbte Frau.«»Wegen des Angriffs auf Mere«dith haben wir sie jetzt«, knurrteder Polizeichef. »Und wir wissenverdammt genau, daß sie damalsihren Mann erschoß. Aber bewei=sen können wir es nicht, und siewill nicht reden. Was ich brauche,ist die Erleuchtung, wodurch sieauf einmal so außer sich geriet.Was kann das Kind gesagt haben,daß ihr die Nerven durchgingen?Ich finde es nicht, ich finde es ein»fach nicht!«Der Doktor, der ruhig neben derTür gestanden hatte, räuspertesich. »Vielleicht kann Meredithuns dabei helfen. Sie ist wieder beiBewußtsein und ziemlich fidel,würde ich sagen.«John Selby kam auf die Füße. DerPolizeichef ebenfalls.»Selby, Sie gehen zuerst«, riet derDoktor. »Und keine Fragen wäh"rend der ersten zwei oder drei Mi«nuten.«Selby schlich auf Zehenspitzen

durch die weiße Tür. Der Doktorfolgte ihm.»Eins müssen wir festhalten«, sag»te Russell, der nun auch aufstand,zu dem Polizeichef. »Harry Corcosran hat in jener Nacht nicht denNamen seiner Frau gerufen. Selby,der das Pfeifen hörte, würde auchdas Rufen gehört haben.«»Verstehe, worauf Sie damit hin=auswollen«, entgegnete der Poli»zeichet. »Es zeigt, daß Meredithmit ihrer Geschichte nicht bis da=hin gekommen ist - oder die Wit=we hätte gewußt, daß ihr ein Mär=chen erzählt wurde.«»Sie ist bestimmt nicht mal bis zudem ominösen Fremden gekom=men - oder die Witwe wäre ent=zückt gewesen, statt sie die Treppehinabzustoßen.«»Aber irgend etwas muß doch denFunken geschlagen haben!«»Danny Boy? Nein, das war be°kannt - Selby hat es damals schonerwähnt, und die Witwe wußte es.Harrys Betrunkenheit? Auch nicht,denn davon sprach schon der da»malige ärztliche Befund. Dies bei=des kann es also nicht gewesensein.«»In Gottes Namen - fragen wir dasMädchen selbst«, ächzte der Poli»zeichef.

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Sie folgten den beiden anderendurch die Tür.Die Krankenschwester hatte sichwachsam in eine Ecke zurückgezo"gen. Vier Männer standen um dasBett - Arzt, Rechtsanwalt, Kauf»mann. Polizeichef ...Meredith Lee sah sehr klein undsehr jung aus, wie sie da unterihrer Decke lag, auf dem mächtisgen weißen Kopfkissen, in demihr schmaler Kopf mit den von derBandage zurückgepreßten braunenHaaren fast verschwand. Die Bläs=se ihres Gesichtes ließ die Sommerssprossen stärker hervortreten. Diegroßen dunkelbraunen Augenblickten der Reihe nach zu jedemder vier Männer empor — vollkindlicher Demut, wie es schien.Nur Anwalt Russell glaubte ein"mal einen winzigen Schimmerselbstzufriedener Belustigung dar=in zu bemerken.»Na, junge Miss, wie fühlst dudich?« rumpelte der Polizeichefjovial.»Sie stieß mich die Treppe hinab.«Merediths Stimme war ein klein»mädchenhaftes Wimmern.Onkel John klopfte auf das Bettund sagte mahnend: »Jetzt höraber mal zu, Meredith -«»Vorsicht, Selby«, unterbrach der

Polizeichef mit leisem Lachen, »ge->brauchen Sie bloß nicht diese Re-densart! Sie wird dadurch gereizt.«Meredith sah ihr Tagebuch in Rus-sells Händen. Sie zuckte zusam=men. Für einen Sekundenbruchteilverengten sich ihre Augen, und et»was in ihrem kindlichen Gesichtließ erkennen, wie sehr sie sich be=mühte, die neue Situation abzu=schätzen.»Miss Lee«, sagte der Anwaltfreundlich und in einem Ton, alsspräche er zu einer Erwachsenen,»mein Name ist Russell. Ich binein Freund Ihres Onkels undRechtsanwalt in dieser Stadt. Ichbin derjenige, der Ihr Tagebuchsuchte und fand. Ich hoffe. Siekönnen uns verzeihen, daß wir es,durch die Situation genötigt, gele=sen haben. Dank Ihrer Eintragun»gen wissen wir jetzt, wie schlechtdiese Witwe vor sieben Jahrenhandelte.«»Ich - ich habe es doch nur vorge»geben«, erklärte Meredith in klag"lichem Diskant. »Ich war damalserst acht. In Wirklichkeit erinnereich mich an gar nichts.« Sie erbebteein wenig und sank noch tiefer inihr Kopfkissen zurück - sehr jung,sehr empfindsam und scheinbarverstört.

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»Ja, ja, Meredith«, sagte OnkelJohn liebenswürdig, »wir wissen,was du vorgegeben hast. Ich, äh,ich hatte ja keine Ahnung, daß duso geschickt bist.«»Das war mal ein richtiger Knül»ler«, sagte der Doktor.»Sehr gut, Miss Lee«, sagte derAnwalt, »wirklich sehr gut, diesezwei Geschichten, die Sie sich daausgedacht haben.«»Bist schon eine richtige Schrift»stellerin mit Ideen, junge Miss«,lobte der Polizeichef honigsüß.Meredith warf den vier Männerneinen einzigen blitzschnellen undtief verletzten Blick zu, und ihrGesicht wurde zur weinerlichenGrimasse. »Ein ganz dummes Dingbin ich«, schluchzte sie. »Alles ha=be ich verkehrt gemacht! DieHandlung habe ich falsch geplant,die Charaktere habe ich falsch ein=geschätzt! Jetzt sehe ich, daß ichgar nichts weiß und gar nichtskann! Sollte das Ganze lieber aufsgeben ...« Sie verbarg das Gesichtim Kissen und begann bitterlich zuweinen.Der Polizeichef wandte sich be=sorgt an den Arzt: »Sie fühlt sichdoch hoffentlich wohl, wie? Hatdoch nicht etwa plötzliche Schmer'zen, was?«

»Schock«, war aus dem Hinter»grund die Stimme der Kranken»Schwester zu vernehmen.»Nun mach schon, Meredith«,sagte der Doktor ermunternd undnicht im geringsten beeindruckt,»das wird dir gar nichts helfen.«»Sehen Sie«, murmelte Selby köpf =schüttelnd zu den anderen, »so istdas mit ihr. Sie ist acht, und sie istachtzig. Sie kann einen Höllen»zauber zusammenbrauen wie die=sen und dann weinen wie ein klei»nes Kind. Ich gebe auf! Ich weißnicht, was ich mit ihr machen soll.Ich habe an ihre Mutter telegra=fiert. Sie kommt und wird uns bei=den die Haut vom Leibe ziehen!Meredith, ich bitte dich .. .«Meredith fuhr fort, in das Kissenzu weinen.»Völlig recht haben Sie, Miss Lee«,sagte der Anwalt scharf. »Sie soll»ten es lieber aufgeben, eine Schrift»stellerin werden zu wollen, wennSie derart über Ihren ersten Fehlerjammern, anstatt sich Mühe zu ge=ben, aus ihm zu lernen! WollenSie jetzt bitte für eine Minute er=wachsen sein und mir zuhören?Wir bedürfen ernstlich Ihrer Hilfebei der Überführung einer Mordesrin.«-»Das - das kann nicht wahr sein«,

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wimmerte Meredith. »Ich bin dochf viel zu dumm.«

»Spielen Sie nicht die Heuchlerin!«schnappte der Anwalt. »Sie sindnicht dumm, durchaus nicht. AberSie sind ein bißchen zu sehr in sichselbst verliebt - wie dieses Tage=buch beweist und Ihr augenblick=liches Verhalten erst recht!«Meredith unterdrückte ihr Schluch=zen sehr schnell. Sie wandte einwenig den Kopf und öffnete zö=gernd das eine Auge.»Der durchschnittliche jungeMensch«, dozierte der Anwalt,»hat wenig oder gar keinen Re=spekt für die Erfahrungen ältererPersonen. Nichts kann ihn dazubewegen, den Wert solcher Erfah=rungen anzuerkennen, bis er selbsteinige Erfahrungen macht. Abereine werdende Schriftstellerin soll=te in diesen Dingen einen wenigerüberheblichen Standpunkt haben.Daher -«»Nun warten Sie einen Augen=blick!« fiel ihm John Selby mit un=gewohnter Entschlossenheit insWort. »Schelten Sie sie nicht! Siehat ein, äh, ein schreckliches Erleb=nis gehabt. Immerhin meinte sie esgut.«Meredith setzte sich aufundwisch=te die Tränen fort. Die braunen

Augen waren mißbilligend auf denOnkel gerichtet. »Langsam, OnkelJohn«, mahnte sie diskret.John Selby hob den Kopf undreckte die Schultern. »Gut.« Errang sich ein Lächeln ab. »Viel»leicht bin ich, äh, noch nicht zu altzum Lernen. Du wünschst mich zuberichtigen? Schön - du hast esalso nicht gut gemeint. Du warst,äh, absolut eitel und selbstsüchtig.Du wolltest, äh, mein Leben undJosephine Corcorans Leben in0rd=nung bringen - eine kleine Ferien=übung für, äh, deine überlegeneWeisheit ... Ist es so besser?«»Mindestens ist es vernünftig«, er=klärte Meredith kühl. Ihre Stimmewar j etzt durchaus nicht mehr klein»mädchenhaft. »Alle diese Gentle=men hier sind also der Meinung,daß die Witwe eine Mörderin ist?«»Nun, junge Miss«/ sagte der Po=lizeichef, »etwas Ähnliches habenwir uns schon seit sieben Jahrengedacht.«»Wer sind Sie eigentlich?« fragteMeredith.Er erzählte es ihr. »Und ich binhier, um einem Verbrechen auf denGrund zu kommen. Sie, jungeMiss«, sein Ton war jetzt nichtmehr ganz so jovial, »sind zu einerfalschen Schlußfolgerung gelangt.

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Die Witwe war schuldig!«»Ich verstehe bloß nicht, weshalbSie das schon die ganzen siebenJahre lang meinten«, entgegneteMeredith aufsässig.»Das kann ich mir denken«, sagteder Polizeichef. »Es ist nämlicheine Sache der Erfahrung und vie=ler anderer Dinge. Erstens weißich, was meine Routineermittlun=gen aufdecken können und wasnicht. Wenn sich nicht die geringsteSpur von der Anwesenheit einesFremden finden läßt, dann neigeich zu der Annahme, daß keinFremder dagewesen ist.«Der Polizeichef stellte seine respekt«einflößendste Miene zur Schau, mitder er schon manchen hartgesot»tenen Übeltäter eingeschüchterthatte. Aber Meredith zuckte nichtzusammen. Sie sah es mit einergewissen Bewunderung und lauschete ernsthaft.»Zweitens«, fuhr der Polizeicheffort, »und das hast du selbst be=merkt, junge Miss, gibt es hier nie=mand anders, der verdächtigt wer=den könnte. Drittens ist in neunvon zehn Fällen dieser Art nur dieEhefrau dem Mann nahe genug,um ein starkes Motiv zu haben.«»In neun von zehn Fällen«, mur"melte Meredith verächtlich.

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»Ja, das ist ein Erfahrungssatz«,bestätigte der Polizeichef. »Und dumokierst dich, weil du denkst, wirvergessen grundsätzlich, daß eseinen zehnten Fall geben kann. Dasist ein Irrtum, junge Miss ... Nungut, irgend jemand erschoß HarryCorcoran -«»Warum verdächtigen Sie nichtOnkel John?« warf Meredith ein.»Kein Motiv«, schnappte der Poli=zeichef.»Meredith«, begann der Onkel in=digniert, »ich fürchte, du, äh —«»Ich weiß, es ist überflüssig«, sagteder Anwalt schnell, »aber sprechenSie aus, was Sie sagen wollten,Seiby.«»Ja, gut.« John Selby räuspertesich. »Also höre, Meredith. Ichwürde eher, äh, zum Mond sprin=gen, als irgendeiner Nachbarin zu=liebe einen Mann erschießen. DeineIdee - daß Josephine Corcorandachte, ich hätte es getan - ist lä»cherlich. Was immer sie sonst seinmag - für einen solchen Irrtumwäre sie, äh, zu reif. Ganz abge=sehen davon, daß sie, äh, vermut=lieh recht gut weiß, wer es getanhat. Schließlich hatte ich nie dieleiseste Absicht, sie zu heiraten.Und selbst wenn ich diese Absichtgehabt hätte - alle meine Freunde

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wissen, daß mir, äh, in einem sol=Aen Fall erinnerlich gewesen wäre,daß es so etwas wie Ehescheidunggibt. Ein mindestens so gebrauch»lieber Weg, einen Ehepartner los=zuwerden und, äh, wesentlich si=cherer als Mord.«Meredith, anscheinend verlegen,leckte sich die Lippen.»Was nun, äh, ihr Motiv betrifft,so haßte sie ihren Mann abgrün=dig. Sie ist, äh, sie ist eben ver=derbt. Das zu erkennen, ist eineSache der Erfahrung. Man spürt es- irgend etwas, äh, irgend etwasKaltes, Selbstsüchtiges, Rücksichts»loses. So, und das war alles, wasich, äh, darüber sagen kann.«»Nicht schlecht«, bemerkte Mere»dith auffallend demütig. »Ich mei=ne - ich möchte dir danken, OnkelJohn ... Wo ist sie jetzt?«»Im Hospital«, sagte der Polizei'chef. »Einige meiner Leute passenauf sie auf.«»Wurde sie — verletzt?«Dr. Coles hüstelte. »Sie gebärdetesich hysterisch. Sie beging in ihrerPanik einen schrecklichen Fehler,indem sie dich die Treppe hinab=stieß, liebes Kind. Danach blieb ihrkein Ausweg als Hysterie zu mar=kieren. Aber es ist klare Simula"tion. Ich weiß nicht recht, wie ich

dir erklären soll, woran ich das er-kenne —« "»Vermutlich ist es Erfahrungssa=ehe«, äußerte Meredith ernst. Sieschien noch etwas tief er in ihrriesi"ges Kopfkissen zu versinken. »Ichhabe die Witwe völlig falsch ein«geschätzt. Die Stadt hatte recht.«Nachdem sie sich dieses Bekenntnisabgerungen hatte, zog sie ein Ge=sieht, als werde sie sogleich wiederweinen.»Das genügt nicht«, erklärte Rus"seil. »Nein, Miss Lee, es genügtnicht, zu sagen. Sie hätten sie falscheingeschätzt. Sie müssen begreifen,was Ihnen zugestoßen ist und wieSie dazu - verführt wurden.«»Verführt?« wiederholte Meredithungläubig.»Die Witwe war schuldig, um da=mit anzufangen«, sagte Russell.»Denken Sie jetzt daran, wie Siedas erstemal bei ihrem Zaun ste-henblieben. Sie konnten nicht wis«sen, daß sie schuldig war. Siekonnten es nicht einmal argwöh"nen, da Sie bisher nichts von demMord gehört hatten. Wie hättenSie also ahnen sollen, welche Furchtüber die Witwe kam, als sie sichauf einmal des kleinen Mädchensim Ahornbaum erinnerte? Sie dach=ten, es wäre eine nachträgliche Be=

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sorgnis, daß Sie hätten vom Baumfallen können. Denn das ist dieübliche Art von Besorgnis, mit derSie Ihre Erfahrungen haben. Aberbegreifen Sie jetzt, daß - als Sieauftauchten, so voller Tatkraft undIntelligenz - die Witwe wahrhaf=tig keinen Grund zum Lächelnhatte? Natürlich nahm sie Sie ernst.Und Sie waren entzückt.«»Natürlich«, murmelte Meredith.»Mir ist es klar, und Sie solltenjetzt ebenfalls imstande sein, eseinzusehen, daß die Witwe ver=suchte. Ihre impulsive Zuneigungzu nützen. Vielleicht hoffte sie -wenn Sie sich jener Nacht dochnoch erinnerten -, daß Ihre Erin=nerungen zu ihren Gunsten beein=flußt werden könnten?«»Ja, vielleicht war es das«, gabMeredith tonlos zu.»Aber nehmen Sie es sich nicht zuHerzen«, schloß der Anwalt mitermutigendem Lächeln. »Ich anIhrer Stelle hätte mich wahrschein'lieh auch täuschen lassen. Und hin=terher ist es immer leicht, klug zureden.«»Qh, vielleicht hätten Sie sich dochnicht täuschen lassen«, murmelteMeredith. »Erfahrungen - eh?«»Nun ja-mir sind immerhin schoneinige Mörder begegnet.«

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»Und ich habe meine erste Mordesrin getroffen«, seufzte Meredith.»Himmel, was war ich dumm.«»Na, junge Miss«, erkundigte sichder Polizeichef, jetzt wieder ganzjovial, »was wirst du aber sagen,wenn wir den Punkt finden, beidem du sehr klug warst? Was hatdazu geführt, daß die Witwe plötz»lieh die Nerven verlor? Wollen wiruns nicht darüber unterhalten?«»Klug?« hauchte Meredith. »Sehrklug?«»Weshalb verlor sie plötzlich dieNerven? Das ist unsere Frage andich, junge Miss. Wo warst du indeiner Geschichte, als sie auf ein=mal wild wurde und dich die' Trep=pe hinabstieß?«Meredith lag reglos da und starrtezur Zimmerdecke.»Siehst du, liebes Kind«, begannder Doktor, »da -«»Sie sieht!« sagte Onkel John hit"zig.Meredith bedachte ihn mit einemdankbaren Seitenblick. »Nun, ichhatte eben die Sache mit demSchlüssel erwähnt«, berichtete sieund zog nachdenklich die Stirnkraus, »ja, ich hatte eben die Sachemit dem Schlüssel erwähnt. Daschrie sie wütend auf und stießmich. Ich -«

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»Wie waren die genauen Worte?«fragte der Polizeichef. »Russell,lesen Sie doch diesen Teil nocheinmal.«Aber der Anwalt tat, als hätte eres nicht gehört, und wiederholte,zu Meredith gewandt: »Sie hattenalso eben die Sache mit demSchlüs«sei erwähnt?«»Und ich dachte, sie würde darüberglücklich sein«, sagte Meredith.»Aber sie schrie und stieß mich dieTreppe hinab. Ich habe wohl irgendetwas falsch gemacht?« Sie blicktefragend zu Russell empor.»Sie haben es ganz richtig gemacht,Miss Lee«, erklärte Russell. »Hö=ren Sie bitte gut zu. Harry Corco=ran wurde in den Rücken gesdios=sen.«»Stimmt«, brummte der Polizei»chef.»Der Schlüssel lag auf der flachenStufe vor der Haustür.« Russellsprach ausschließlich zu Meredith.»Von dort langte ich ihn auf«, ließsich John Selby vernehmen.»Die ganze Zeit haben wir ver=mutet, daß Harry Corcoran denSchlüssel fallen ließ, weil der Schußihn traf. Aber das ist es nicht, wasSie sagten, Miss Lee. Sie sagten,er hätte den Schlüssel fallen lassen,weil er betrunken war. Wir haben

die ganze Zeit vermutet, der Schußwäre von hinten auf ihn abge»feuert worden, von der Straße aus.Aber wenn Sie es richtig erfaßthaben, Miss Lee - daß er sich nie»derbeugte, um den Schlüssel auf»zuheben/ und dabei in den Rückengeschossen wurde ...« Russellwartete. Er brauchte nicht lange zawarten.»Sie schoß von oben auf ihn!« riefMeredith. »Sie war oben am Fen=ster!«Russell nickte.»Von oben!« knurrte der Polizei»chef und fing an, sich die Händezu reiben. »Von oben! Und siebenJahre lang hat die Witwe den klu"gen Verstand gefürchtet, der einesTages auf diesen Gedanken kom=men würde! Ja, weiß Gott! Sieschoß aus ihrem offenen Schlaf=zimmerfenster, warf den Revolverhinunter in die Hecke, machte dieSchlafzimmertür auf, sah im Korri=dor die schreckensbleiche Köchin,eilte mit ihr nach unten - ziemlichkaltblütig, ziemlich smart!« Er lä=dielte Meredith wohlwollend zu.»Und du hast sie erwischt, jungeMiss! Zwar gibt es keine neuensachlichen Beweise, aber ich binschon mit noch weniger zurecht»gekommen! Zum Kuckuck - jetzt

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weiß ich ihre Methode, und damitwerde ich sie zum Geständnis brin»gen! Und verlaß dich darauf, jungeMiss - sie wird mir auch verraten,weshalb sie dich die Treppe hinab»gestoßen hat!«»Ist doch jetzt klar«, murmelteMeredith. »Sie denkt wirklich, ichhätte gesehen, wie er den Schlüsselfallen ließ und sich dann danachbückte.« Mit überraschend kräfti=ger Stimme fügte sie hinzu: »Kannich nicht mitkommen zum Hospi=tal? Um sie zu überführen? Ichkönnte es gut schauspielern! Ich -«Ihre Stimme erstarb. Sie hatte esschon an ihren Gesichtern gesehen— sie würden ihr nicht erlauben,ins Hospital mitzukommen, dievier erwachsenen Männer.»Ich werde gehen«, sagte JohnSelby ingrimmig. »Ich werde sieüberführen!«»Bleib schön im Bett, liebes Kind«,sagte der Doktor zur gleichen Zeit.»Die Krankenschwester wird beidir wachen. Ich dürfte im Hospitalbenötigt werden.«»Ich auch«, sagte Russell. Aber ermachte keine Anstalten, zu gehen.»Miss Lee«, wandte er sich an Me=redith, »erlauben Sie mir eine klei»ne Prophezeiung? Sie werden dieWelt und das Leben weiter Studie»

ren. Sie werden Erfahrungen sam=mein und Einsichten gewinnen, undSie werden nicht aufgeben, bisSie eine Schriftstellerin gewordensind.« Er sah die großen braunenAugen klar zu seinen eigenen Au»gen emporblicken. »Sie haben esnicht nötig, zum Hospital mitzu»kommen, Miss Lee«, fügte erfreundlich hinzu, »denn Sie be=sitzen Phantasie und Intelligenzgenug, um es sich vorzustellen.«Er legte das Tagebuch auf die Bett«decke und hielt Meredith einenBleistift hin. »Vielleicht möchtenSie die Inspiration dieser Stundenützen, um einen Schluß hinzuzu"fügen?«Meredith blickte ihn nachdenklichan. Sie kaute auf ihrem linkenDaumen. Aber ihre rechte Handgriff nach dem Bleistift.»Meredith«, sagte Onkel John, »daist noch etwas, das du mit hinein»schreiben kannst. Du hast mich,äh, von einer ganzen Menge see=lischer Korsettstangen befreit. Undes ist mir ziemlich egal, was deineMutter sagen wird.«»Wann kommt Mama?« fragteMeredith wie im Traum.»Morgen vormittag. Ich wünschte,äh, ich hätte ihr nicht telegrafiert,Jetzt haben wir es auszubaden.«

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Die Hecke

»Oh, ich weiß nicht, Onkel John«,murmelte Meredith. Für den Bruch'teil einer Sekunde wirkte ihr Ge=sieht elfenhaft verklärt. Dann wares wieder ganz sachlich. Sie kauteauf dem Bleistift und starrte nach=denklich vor sich hin.Die Krankenschwester trat behufr»sam näher. Die vier Männer raus»perten sich diskret.Nichts geschah. Meredith war mit=ten beim Nachdenken plötzlich ein°geschlafen. Die vier Männer lä=dielten sich zu und gingen aufZehenspitzen hinaus.

27. JuliHeute ganz früh zu Bett. Wegenheftiger Übermüdung. War ge=spielt, aber glaubwürdig. (Viel=leicht doch lieber Schauspielesrin?)Alle halfen, Mama zu beschwich=tigen. Polizeichef Barker undMr. Russell holten sie vom Zugab und erzählten ihr verheisßungsvolle Dinge, daß die Wit=we bald gestehen würde und soweiter. Dr. Coles nahm mir

die häßliche Bandage ab undschmückte mein leicht lädiertesHaupt mit einem netten rosa=farbenen Seidenband.Aber Mama hatte natürlich aller»lei aufgespeichert, was sie unsbekanntzugeben gedachte, nach»dem der Polizeichef und Mr.Russell wieder gegangen waren.Sie wollte gerade anfangen, On=kel John zu zerfetzen, als ichsagte: »Sei nicht so unwirsch mitihm, Mama. Er ist ein Held! Erhat mir das Leben gerettet!« Dashielt sie zurück.Nun wollte sie mit mir anfansgen, aber Onkel John sprang ein.»Meredith ist eine Heldin, Schwe-ster! Sie hat den Fall gelöst!«Mama wurde abgelenkt und ver"gaß, mit uns böse zu sein. »Wasist das plötzlich für eine Har=monie zwischen euch?« fragtesie milde. Nun, ich schätze, siekonnte sehen, daß wir uns ge«genseitig von einigen seelischenKorsettstangen befreit hatten.(NB: Männer sind interessant.M. L.)

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Leslie Charteris

Der Mann mit den grünen Scheinchen

»Das Geheimnis der Zufriedensheit«, orakelte Simon Templar,welcher bei seinen Freunden »derHeilige« heißt, »liegt darin, dieDinge zu nehmen, wie sie kom=men. Dies gilt genauso für dasroutinemäßige Tagewerk eines Bü=roangestellten, dessen große Stun=de schlägt, wenn er gelegentlichaushilfsweise die Post abzeichnendarf, wie für die kleinen Helden=taten eines Freibeuters unsererwurmstichigen Gesellschaftsord=nung im Vergleich zu seinen wirk»lieh bemerkenswerten Abenteuern.Jedenfalls erlebt man nicht immer»zu tollkühne Gefangennahmen undnoch tollkühnere Fluchtversuchemit Revolvergeknalle aus allenRichtungen. Aber immerzu begeg=net man Leuten, die förmlich dar»auf versessen sind, anderen Leu=

tenGeld zu schenken. Man brauchtsie nicht einmal zu suchen. Manbraucht sich nur ein Monokel undden richtigen Gesichtsausdruck auf=zusetzen, und schon kommen sieangelaufen, um einem ihre Geld=börsen in den Schoß zu werfen.«Er verschwendete diese Gedanken»perlen an sein gewohntes Audi=torium, und es darf als bedauer=liehe Tatsache gelten, daß keinerder beiden Zuhörer geneigt war,hierüber zu diskutieren. PatriciaHolm kannte ihn zu gut; und selbstPeter Quentin war den Gedanken»gangen des »Heiligen« inzwischenoft genug gefolgt, um zu wissen,daß eine solche Ankündigung un=vermeidlich zu einem weiteren dererwähnten kleinen Freibeuterstück'dien führen würde. Nun war esfreilich nicht so, daß Simon Temp»

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Der Mann mit den grünen Schemchen

lar um Lebensnotwendiges, Brotund Butter, verlegen gewesen wäre,aber er schätzte dazu auch Oran=genikonfitüre, mageren Speck undähnliche Dinge, und eine großzü=gige Welt pflegte ihn stets mitalledem zu versorgen ...

Infolge ungünstig gewordenerMarktlage war Benny Lucek ausNew York herübergekommen, umsein Glück in der Alten Welt zuversuchen.Er besaß ein halbes Dutzend pik=feiner Anzüge, die ihm so phan=tastisch angemessen waren, daß esimmer aussah, als werde er un=weigerlich aus den Nähten platzen,sobald sich sein Blutdruck auch nurum zwei Strich erhöhen sollte. Erhatte eine entsprechende Auswahlan mauvefarbenen und zartrosaSeidenhemden nebst einem Sorti=ment passender Krawatten in sei=nem Schrankkoffer, ferner einegenügende Anzahl modisch spitzerund wunderbar polierter Schuhe.Überdies gehörten ihm eine gol°dene Krawattennadel mit großerPerle und nicht weniger als dreisehr eindrucksvolle Fingerringe.Seine Züge strahlten Ehrlichkeit,Offenheit und gute Laune aus.Alles in allem entsprachen diese

Dinge als moralisches Betriebska«pital dem Gegenwert einer fünf»stelligen Summe. Daneben hatte ernatürlich noch eine gewisse Mengerichtiges Barkapital. Denn ohneeine gewisse Menge richtiges Bar»kapital vermag kein Falschgeld»gauner zu operieren.Benny Lucek war einer der letztengroßen Repräsentanten dieser sanf=ten Gaunerei. Und obwohl manihm in New York gesagt hatte, daßdas Spiel wirklich nicht mehr lohne,hegte er die rosige Hoffnung,neuen Boden für eine Erfolgsernteunter den zurückgebliebenen Bür=gern des alten Europa zu finden.Soviel er wußte, war seine spezielleArt der Beutelschneiderei östlichdes Atlantik bisher noch nicht exer=ziert worden, und so hatte er sichauf den Weg gemacht, um diesemMangel abzuhelfen.Er etablierte sich zunächst in einerkleinen, aber sehr vornehmen Zim=merflucht im dritten Stock des Lon»doner Park=Lane=Hotels, wechseltesein Barkapital in englische Bank=noten um und streckte seine Füh=ler aus ...

Immer wieder erscheinen in denAnzeigenspalten der Zeitungenverlockend abgefaßte Kleinanzei=

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Le&lie Charteris

gen. Aber diese eine, die SimonTemplar entzückte, schien ein be=sonders reizvolles Exemplar zusein:

Ladies und Gentlemen in be'engten Verhältnissen, die aneinem Unternehmen interessiertsind, welches großen Gewinn beigeringfügigem Risiko bietet,schreiben streng vertraulich un'ter Beifügung einiger persönli=eher Angaben an Chiffre No.10 101.

Benny Lucek wußte alles, was manüber Antwortbriefe auf eine der«artige Anzeige wissen kann. Erwar ein Graphologe von großemScharfsinn und ein klug folgernderPsychologe mit weitreichender Er-fahrung. Aus einem zweiseitigenHandschreiben, das einige vageAngaben über den Absender ent»hielt, vermochte er ein Charaktersbild mit vollständigem Hinter»grund zu entwickeln, welches inneunundneunzig von hundert Fäl»len haargenau auf den Schreiberpaßte.Und wenn das Charakterbild, daser sich von einem gewissen Mr.Tombs formte, dessen Antwortauf die kleine Anzeige zusammenmit vielen, vielen anderen bei ihmeingegangen war, nun eben das

fatale Eine von Hundert werdensollte, so war dies nicht ausschließ"lieh Bennys Fehler.Denn auch Simon Templar war einSpezialist in Briefen, wenngleichseine diesbezüglichen Künste eherauf schöpferischem Gebiet lagenals auf dem der kritischen Analyse ..,

Als Patricia am nächsten Morgenzu Templar kam, traf sie ihn beider Ausführung einer anderenschöpferischen Tat, in der er sichnicht weniger geschickt erwies.»Was, um alles in der Welt, tustdu in dieser Kleidung?« fragte sie,nachdem sie ihn verdutzt gemu«stert hatte.Templar betrachtete sich wohlge«fällig im Spiegel. Sein dunkelblauerAnzug war sauber, aber recht be»scheiden, und hatte ein leicht abge»tragenes Aussehen - ganz so, alssei es der einzige und mit verzwei"feltem Stolz gepflegte gute Anzugeines Mannes in beengten Ver=hältnissen. Seine Schuhe waren alt,jedoch makellos geputzt, seine Soksken aus grauer Wolle und sorg'fältig gestopft. Er trug ein billigesweißes, mit dünnen grünen Strei=fen verziertes Popelinehemd undeinen reinen, leider etwas unmo«

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Der Mann mit den grünen Schemchen

dem geschnittenen weißen Kragen.Sein Schlips war dunkelblau, wiesein Anzug, und schon ziemlich ab»genutzt. Über seine Weste spanntesich eine altmodische silberne Uhr"kette. Das Gesamtbild zeigte sogut wie nichts von dem SimonTemplar normaler Zeiten, der deneleganten Maßanzügen aus derSavile Row immer so etwas wieden Stempel seiner eigenen Per=sönlichkeit verlieh und dessenHemden, Schlipse und Strümpfeden Neid aller gutgekleideten jun=gen Männer erweckten, die ihmin den drei oder vier exklusivenKlubs begegneten, denen er ange=hörte. Eine schier unbegreiflicheVerwandlung!»Ich bin jetzt ein hart arbeitenderBüroangestellter bei einer Versi=cherung. Ich habe ein Jahresgehaltvon dreihundert Pfund und dietrübselige Aussicht, in weiterenfünf zehn Dienstjahren bis aufdrei»hundertfünfzig Pfund zu kommen.Zur Zeit um die Vierzig, bin ichmit einer anämischen Ehefrau undsieben schulpflichtigen Kindern ge=segnet und leiste noch immer Ab"Zahlungen auf die Hälfte einesZweifamilienhauses in Streatham,das mir in etwas über acht Jahrenendlich ganz gehören wird.« Tem=

plar kontrollierte sein Gesicht i»Spiegel. »Noch immer etwas zuschön für die gegenwärtige Rolle,denke ich. Aber das werden wirgleich haben.«Er begann sein Gesicht mit jenenschnellen, sicheren Bewegungen zubearbeiten, die für ihn typisch wah-ren. Seine Augenbrauen, leicht ge"gen den Strich gebürstet, warenauf einmal grau und buschig; seinHaar erhielt ebenfalls einen grauenSchimmer und wurde so straff überdie Schädeldecke gestriegelt, daßjeder Friseur, zu dem er gekommenwäre, unweigerlich konstatiert hat»te, er werde schon ein wenig lichtin der Mitte. Unter dem Spielseiner raschen Finger erschienenkleine Schatten an den Seiten sei«ner Stirn, unter seinen Augen undrings um sein Kinn - kleine Schatsten, so zart, daß sie selbst aufSchrittnähe nicht als künstlichidentifiziert werden konnten, undso klug placiert, daß sie dennochden ganzen Umriß und Ausdruckseines Gesichtes veränderten. Undwährend er an der Maske arbeitete,sprach er.»Falls du je ein Buch gelesen habensolltest, Pat, in dem sich jemandso vollkommen verwandelt, daßseine nächsten Freunde und seine

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eigenen Dienstboten dadurch ge=täuscht werden, dann weißt du,daß der Verfasser dir etwas vor»flunkert. Auf der Bühne sind der=artige Verwandlungen bis zu einem,gewissen Grad möglich. Im wirk=liehen Leben, wo jede Veränderungauch aus nächster Nähe betrachtetund bei grellem Sonnenlicht zu be=stehen hätte, sind sie es nicht ...Ich«, fügte er hinzu, ohne bei denfolgenden Worten zu erröten, »ichbin der größte Charakterdarsteller,der nie auf die Bühne trat, und ichweiß um diese Dinge. Aber wennes darum geht, eine neue Variationder eigenen Persönlichkeit zuschaffen, eine Variation, die nichtFreunde, sondern einen Fremdentäuschen soll - dann kann manLeistungen vollbringen!«Er wandte sich plötzlich um, undPatricia hielt verblüfft die Luft an.Er war ein völlig anderer Menschgeworden. Seine Schultern hingenein wenig nach vorn. Leicht nachvom und gleichzeitig etwas zurSeite war auch sein Kopf geneigt- ein typisches Berufsattribut klei=ner Büroangestellter. Er blicktePat an mit dem einfältigen, leiden'schaftslosen Ausdruck seiner Rolle- ein unterernährter, geistig undgefühlsmäßig etwas unterentwik»

kelter Mann mittlerer Jahre, ohneHoffnung, ohne Ehrgeiz, ständigbedrückt und bekümmert, von denwahren Freuden des Lebens aus"geschlossen durch seine beengtenVerhältnisse, zutiefst resigniertüber die öde Zwecklosigkeit seinesDaseins, fünfzig Wochen im Jahremsig knapsend und sparend, umwährend der vierzehntägigen Fe=rien an der See im August um sogründlicher von Zimmervermietemund Kellnern ausgenommen zuwerden, mit seinesgleichen ernst»haft die Possen der Politiker disakutierend und ehrlich überzeugt/daß die leeren Phrasen der Paria»mentarier dazu beitrügen, seinepersönliche Bürde zu erleichtern,und bei alledem ein zerbröckelndesStaatsgebilde stützend mit seinemStoizismus und dem Stoizismusvon Millionen seiner Art.»Soll ich es tun?« fragte er.

Von Benny Luceks Standpunktaus gesehen, hätte er es kaum bes=ser machen können. Bennys schar=fe Augen erfaßten seine Gestaltund sein ganzes Milieu mit einemeinzigen Blick, dem kein Detail.entging, angefangen von dem er»grauenden Haar, das in der Mitteetwas licht zu werden begann, bis

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hinunter zu den peinlich sauber ge=bürsteten Schuhen.»Erfreut, Sie kennenzulernen, Mr.Tombs. Gehen wir auf einen Cock=tail in die Bar. Ich nehme an, eswürde Ihnen nicht schaden.«Er geleitete seinen Gast in diekleine, nobel ausgestattete Hotel»bar, und Mr. Tombs ließ sich be»hutsam auf der Kante eines Stuh=les nieder. Es ist unmöglich, vondiesem Manne Templarscher Prä=gung anders als von »Mr. Tombs«zu sprechen; für den Simon Tem=plar, wie ihn zum Beispiel Patri=cia kannte, wäre körperlich undgeistig einfach kein Platz gewesenin jener Gestalt mit den Hänge"schultern und dem schlichten Ge=müt.»Äh - ein Gläschen Sherry viel=leicht«, sagte er und hüstelte ver=legen.Benny bestellte Amontillado. Erwußte, daß der einzige Sherry,den Mr. Tombs bisher gekostethatte, beim nächsten Lebensmit»telhändler gekauft und in irgend'einer kleinen Südweinvertriebs=firma zurechtgepanscht war.Benny war sehr erfahren darin,den Fremden, mit denen er insGeschäft zu kommen wünschte,Behaglichkeit zu vermitteln. Und

der Simon Templar, der unsiditsbar hinter Mr. Tombs' Stuhlstand, konnte nicht umhin, BennysTechnik zu bewundem. Bennyplauderte mit einem so entwaffanenden Mangel an Herablassung,daß Mr. Tombs alsbald etwas ge=löster auf seinem Stuhl saß undmit dem Gastgeber lachte unddann sogar in einem Gefühl, alshabe er nun endlich einen erfolgsreichen Mann getroffen, der ihnverstand und anerkannte, dienächsten Amontillados selbst be=stellte.Nach den dritten Amontillados,bei denen Benny sich halb tot ge=lacht hatte über eine uralte Borssenanekdote, die Mr. Tombs nichteben wortgewandt zum Bestengab, gingen sie zum Lunch in denSpeisesalon hinüber.»Geräucherter Lachs, Mr. Tombs?Oder ein wenig Kaviar? ... Da=nach sollten wir vielleicht oeufsen cocotte Rossini nehmen, inSahne mit foie gras und Trüffeln.Und als Hauptgericht gebrateneTäubchen mit Pilzen und rotemJohannisbeergelee. Ich bevorzugeimmer eine leichte Mahlzeit umdie Mitte des Tages - man wirddann am Nachmittag nicht soschläfrig, ha, ha, ha ... Ja, und

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als Getränk eine Flasche Lieb»frauenmilch?«Er wählte die Speisen und denWein mit einer angenehm unauf=dringlichen Erfahrenheit, die Mr.Tombs irgendwie zum gleichwer"tigen Partner in kulinarischer Vir«tuosität erhob. Und Mr. Tombs,dessen diesbezügliche Erfahrungin der Tat nicht über Roastbeef,Yorkshirepudding und australi"sehen Burgunder hinausreichten,wurde immer gelöster und erin»nerte sich peu ä peu noch einigerBörsenanekdoten, mit denen erseinerzeit Lachstürme bei seinenKollegen hervorgerufen hatte.Benny verstand seine Sache so gut,daß die geschäftlichen Aspekteihres Zusammenseins während derMahlzeit keine Chance fanden,sich irgendwie bemerkbar zu ma"chen; und doch bekam er es fer"tig, nach und nach alles herauszu"finden, was er über das Privatle"ben und die Ansichten seines Ga=stes zu erfahren wünschte. Hilfloszerschmelzend in der behaglichenWärme von Bennys Gastfreund'schaft wurde Mr. Tombs beinahmenschlich, und Benny holte ihnmit gelassener Kunstfertigkeitaus.»Ich habe mir immer gedacht, das

Versicherungswesen müsse einaußerordentlich interessanter Be=ruf sein. Gewiß muß man dabeiimmer wachsam bleiben. Ich stellemir jedenfalls vor, daß es eineganze Menge Kunden gibt, die derVersicherung mehr abnehmenmöchten, als ihnen zusteht.«Mr. Tombs, der seinen Job nochniemals interessant gefundenhatte, und einen versuchten Be=trug höchstens dann bemerkte,wenn ein Kollege ihn ausdrücklichdarauf hinwies, lächelte unver=bindlich und nickte.»Jene Art von doppelter Moral hatmich immer verwundert«, sagteBenny in einem Ton, als habe erdiesem Komplex schon eine Men=ge besorgter Gedanken gewidmet.»Ein Mann, der keinen Sixpencevon einem anderen stehlen würde,dem er auf der Straße begegnet,hat keine Bedenken, der Obrigkeitfünf oder zehn Shilling zu steh»len, indem er eine oder zwei Fla«sehen Kognak ins Land schmug"gelt, wenn er aus Frankreich zu»rückkehrt, oder gar mehrere hun=dert Shilling, indem er seineSteuererklärung frisiert. Wenn ereinen Geschäftspartner sucht, wür«de es ihm nicht im Traum einfalslen, mit unrichtigen Wertangaben

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zu operieren, aber wenn Einbre°eher sein Haus bestehlen, dannmacht er sich kein Gewissen dar"aus, der Versicherung gegenüberden Wert der gestohlenen Dingeheraufzusetzen.«Mr. Tombs zuckte die Schultern.»Ich nehme an«, entgegnete er aufgut Glück, »die Leute, die so etwastun, sind der Meinung, daß dieObrigkeit und die wohlhabendenVersicherungsgesellschaften ohneehin auf ihre Kosten kommen.«»Ja, ja, das mag sein«, gab Bennyzu. »Und wahrscheinlich steckt eingewisses Maß an Gesetzlosigkeitauch in den Besten von uns. Ichhabe oft darüber nachgedacht, wasich selbst unter bestimmten Um=ständen täte. Angenommen, zumBeispiel, Sie fahren eines Abendsm einem Taxi nach Hause undfinden auf dem Sitz eine Briefstasche mit tausend Pfund in klei=neren Banknoten, die sich unauf»fällig ausgeben ließen. Die Brief»tasche enthielt nichts, was daraufhinweist, wer der Verlierer ist ...Nun frage ich mich - sollte manunter diesen Umständen nicht ver=sucht sein, den Fund zu behalten?«Mr. Tombs spielte mit der Gabelherum und zögerte eine oder zweiSekunden lang. Aber der Simon

Templar hinter seinem Stuhlwußte, daß dies die Frage war, ander Benny Luceks Zukunft hing;jetzt war der Moment gekommen,den Benny so beiläufig und ge-schickt angesteuert hatte, der Mo«ment, da sich endgültig offenbarenwürde, ob »Mr. Tombs« der Mannwar, den Benny suchte, oder nicht.Dennoch war keine Spur vonSpannung oder Wachsamkeit inBennys jovialem Gesicht zu ent=decken. Benny goß den letztenRest Liebfrauenmilch in Mr.Tombs' Glas, und Mr. Tombsblickte auf.»Ich glaube«, sagte er und raus»perte sich, »ja, ich glaube, ichwürde ihn behalten. Ich habe ebenprobiert, mich in die Lage einesMenschen zu versetzen, der voneiner solchen Verlockung überfal»len wird - darüber zu theoretisie=ren hätte ja keinen Sinn, man mußversuchen, es zu fühlen. Auge inAuge mit tausend Pfund Bargeld,dazu das Bewußtsein, daß ich vielGeld nötig hätte, um meiner kran=ken Frau die Erholung zu ermögli=chen, die sie braucht - nun, dawürde ich wahrscheinlich erliegen.Nicht, daß ich -«»Mein lieber Freund, ich denkenicht daran. Sie zu tadeln«, er=

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klärte Benny herzlich. »Ich selberwürde es genauso machen. Ichwürde mir sagen, daß ein Mann,der tausend Pfund in bar mit sichherumträgt, auf der Bank gewißnoch viel mehr hat ... Es ist diealte Geschichte mit der Redlich»keit - wir werden durch unsereGesetze dazu angehalten. Aber so=bald wir nicht zu fürchten brau=dien, daß wir erwischt werden,zeigt es sich, daß unser Gewissenin Wirklichkeit doch noch rechtprimitiv ist.«Auf diesen bemerkenswerten Aus=Spruch folgte Schweigen. Mr.Tombs verspeiste unterdes denletzten Bissen seines gebratenenTäubchens, säuberte seinen Tellermit dem letzten Eckchen Toastund nahm schließlich eine türki=sehe Zigarette aus Bennys Platin»etui entgegen. Überdies fand erGelegenheit, sich zu erinnern, daßer den sympathischen Mr. Lucekeigentlich getroffen hatte, um vonihm einen geschäftlichen Vorschlagzu hören - falls Benny jetzt nochdazu gewillt war. Als der Kellnersich mit der Rechnung näherte,murmelte Mr. Tombs diskret ge=niert: »Ja, und wegen - äh - IhresInserates -«Benny schrieb seinen Namenszug

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auf die Rechnung und schob sei=nen Stuhl zurück.»Kommen Sie mit in meine be=scheidene Suite, Mr. Tombs, undwir werden uns dort weiter un=terhalten.«Sie fuhren, ihre Zigaretten rau=chend, mit dem Lift zum drittenStock hinauf und gingen dort denteppichbelegten Korridor entlang.Benny hatte einen sicheren In=stinkt für dramatische Akzente.Ohne irgend etwas zu sagen, aberauch ohne den Eindruck zu erwek»ken, als sei er jetzt absichtlich soschweigsam, machte er die Tür derSuite auf und gestikulierte Mr.Tombs hinein.Das Wohnzimmer, in das Mr.Tombs trat, war verhältnismäßigklein, dafür aber geschmackvollund anheimelnd eingerichtet.Ein ziemlich großes, von braunemPapier umhülltes und sorglos halbgeöffnetes Paket lag auf dem Tischin der Mitte des Raumes. Dreiähnliche Pakete, ebenfalls halbgeöffnet, nahmen einen der Ses=sei für sich in Anspruch. Bennynahm die Pakete auf, eins nachdem anderen, jedesmal beide Hän=de gebrauchend, und warf siegleichmütig in die nächste Zim»merecke.

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»Wissen Sie, was für Zeug dasist?« fragte er still amüsiert.Er nahm eine Handvoll des Zeugsaus dem Paket, das auf dem Tischlag, und hielt es Mr. Tombs hin.Es war von überwiegend grünli=eher Farbe. Als Mr. Tombs es an=starrte, begannen Worte, Zahlenund Formen Gestalt anzunehmen,und Mr. Tombs verschlug es denAtem.»Pfundnoten«, sagte Benny. Erwies auf die drei Pakete, die er indie Zimmerecke geworfen hatte.»Mehr davon.« Er klappte dasPackpapier des halb geöffnetenPaketes auf dem Tisch vollendsbeiseite, wodurch acht sauber ne=ben= und hintereinander errichteteStapel dicker Banknotenbündelsichtbar wurden. »Jede Menge da=von. Überzeugen Sie sich.«Mr. Tombs blaue Augen wurdengrößer und größer, und ihre Li=der blinzelten schneller undsdinel=ler, als wollten sie eine Halluzina=tion verscheuchen.»Sind das - sind das wirklich allesPfundnoten?«»Jede einzelne davon.«»Alles Ihre?«»Ja, das nehme ich an. Jedenfallshabe ich sie gemacht.«»Das müssen ja Tausende sein.

Zehntausende! Oder noch mehr!«Benny warf sich in den freige=machten Sessel.»Ich bin wohl der reichste Mannder Welt, Mr. Tombs«, sagte erohne besondere Betonung. »Ichschätze, ich müßte wohl der reich»ste sein. Denn ich vermag soschnell Geld zu machen, wie sichein Schalterhebel herumlegen läßt.Ich meine das wörtlich. IA habediese Banknoten gemacht.«Mr. Tombs berührte einen derStapel auf dem Tisch vorsichtigmit den Fingerspitzen, als erwarteer insgeheim, von ihm gebissen zuwerden. Seine Augen waren run=der und größer denn je.»Sie meinen doch nicht - äh - Fäl=schungen?« flüsterte er.»Gott behüte«, sagte Benny.»Bringen Sie diese Scheinchen zurnächsten Bank, erzählen Sie demKassierer, Sie hätten Zweifel dar=an, und bitten Sie ihn, sie zuprüfen. Bringen Sie sie meinetwe»gen zur Bank von England. Inallem, was hier auf dem Tisch unddort in der Ecke liegt, ist nicht eineeinzige Fälschung. Aber ich habediese Banknoten gemacht! SetzenSie sich, und ich werde es Ihnenerzählen.«Mr. Tombs setzte sich steif auf

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den zweiten Sessel. Seine Blickewanderten hin und her zwischenden Banknotenstapeln auf demTisch und den Banknotenpaketenin der Zimmerecke. Er zeigte da=bei einen Ausdruck, als hätte esihn eher erleichtert denn verwun-dert, wären sie mit einemmal ver"schwunden gewesen wie ein Spuk.»Die Sache ist so, Mr. Tombs -ich ziehe Sie ins Vertrauen, weilich glaube. Sie gut genug kennen'gelernt zu haben. Ich habe mirmeine Meinung über Sie gebildet.Ich mag Sie ... Diese Banknoten,Mr. Tombs, sind mit Versuchs«platten gedruckt, die von einemBurschen, der dort arbeitete, ausder Bank von England gestohlenwurden. Er war in der Gravierab»teilung. Und als dort neue Druck"platten für Pfundnoten gemachtwurden, stellte man versehentlicheinen Satz zuviel her. Dieser Satz,aus je einer Platte für die Vorder=seite und die Rückseite bestehend,wurde ihm zur Zerstörung über"geben. Aber er zerstörte die Plat=ten nicht. Er war wie der Mann,über den wir sprachen - der Mannim Taxi. Er hatte zwei echte Plat"ten, mit denen sich echte Pfundno»ten drucken ließen, und wenn eres wollte, konnte er diese beiden

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Platten für sich behalten. In diessem Fall brauchte er nichts weiterzu tun, als zwei gleichgroße Imita»tionen herzustellen, die sich nie»mand genau ansehen würde, undeine Anzahl Linien kreuz undquer über ihre Druckflächen zuziehen. Diese beiden Platten wür»den dann in irgendein Panzerge=wölbe gesperrt und wahrschein'lieh nie mehr beachtet werden,und er hätte die beiden echten. Erwußte noch nicht, was er eigent«lieh damit machen sollte, als er siean sich nahm, aber nun hatte ersie ... Und bald danach bekam erAngst, daß die Sache doch nochentdeckt werden könnte, undrückte aus. Er fuhr nach Amerikaund blieb in New York, woher ichkomme.Zufällig nahm er ein Zimmer indem gleichen Haus in Brooklyn, indem auch ich wohnte. Ich kannteihn nur wenig, denn er war immersehr still und zurückgezogen undschien durch irgend etwas bedrücktzu sein. Da wir uns nur oberfläch"lieh kannten, hätte ich keinen An=laß gehabt, ihn zu fragen, was eswäre, und ich kümmerte mich auchnicht weiter darum. Aber dann be=kam er Lungenentzündung.Da ich der einzige im Hause war,

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mit dem er hin und wieder einpaar Worte gesprochen hatte,schien es ganz natürlich, daß ichmich seiner annahm. Ich tat fürihn, was ich tun konnte. Viel wares nicht, aber er wußte mir Dankdafür. Ich bezahlte seinen Miet»rückstand und kaufte ihm einigeszu essen. Der Arzt stellte nämlichfest, daß er halb verhungert war- er hatte bei der Ankunft in NewYork nur ein paar Pfund in derTasche gehabt, und als sie ver«braucht waren, hatte er buchstäb»lieh von den Abfällen gelebt, dieer sich bei einigen Metzgereienerbetteln konnte. Er hungerte sichhalb zu Tode und hätte eine Milslion Pfund in Reichweite gehabt!Doch davon wußte ich zunächstnoch nichts.Die Lungenentzündung gab ihmden Rest. Ausgemergelt wie erwar, nützte weder das bißchenEssen, das ich ihm nun kaufte,noch die Hilfe, die der Arzt ihm zuleisten versuchte. Eines Nachtsging es mit ihm zu Ende. Ich saßan seinem Bett, als seine letzteStunde kam. Er sah mich auf ein»mal mit ganz großen Augen anund sagte: >Dank für alles,Benny.< Und dann erzählte er mirvon sich und von der Sache mit

den Platten. >Du nimmst diesePlatten an dich, Benny<, sagte er.> Vielleicht können sie dir nützen.<Wenige Minuten später war er tot.Und am Morgen, kaum daß dieLeiche aus dem Haus war, ver"langte die Wirtin, ich solle zuse«hen, daß ich seine Sachen schleuslügst aus dem Wege brächte - siebekäme einen neuen Mieter. Nun,ich brachte seine Sachen in meineigenes Zimmer. Es war nicht viel,aber ich fand die Platten.Vielleicht können Sie sich vorstel»len, was mir die Platten bedeute»ten, nachdem ich gründlich überdie ganze Sache nachgedacht hatte.Mein damaliger Job in einer Ga=rage brachte mir nur ein paar Dol"lar in der Woche ein. Ich war wieder Mann im Taxi, von dem wirsprachen.Zum Glück besaß ich etwas Er»spartes. Nun mußte ich das rich=tige Papier auftreiben und jeman'den finden, der mir die Banknotendruckte. Alles sehr schwierig,denn ich verstand nichts von dertechnischen Seite der Sache, undziemlich riskant obendrein. Eswürde mich meine gesamten Er«sparnisse und - wenn es daneben»ging - vermutlich einige Jahre Ge«fängnis kosten. Doch wenn es ge«

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lang, dann würde mich die Hinter»lassenschaft des armen Kerls zumMillionär machen. Er war zu=gründe gegangen, weil er zu vielAngst hatte, es zu versuchen.Aber - wie stand es mit meinemMut?«Benny Lucek schloß sekundenlangdie Augen, als durchlebe er nocheinmal alle die furchtbaren Zwei»fei und Gewissensnöte.»Sie sehen, für welchen Weg ichmich schließlich entschied«, fuhr erfort. »Es kostete viel Zeit und vielGeduld. Dennoch blieb es derschnellste Weg, eine Million zumachen, von dem ich je gehörthabe . , . Das liegt nun sechs Jahrezurück. Ich weiß nicht genau, wie=viel Geld ich heute bei verschiede"nen Banken liegen habe. Aber ichweiß, daß es mehr ist, als ich je=mals ausgeben kann. Und so wares auch schon vor drei Jahren.Damals, als ich alles besaß, wasich mir nur wünschen konnte, be=gann ich über die anderen Leutenachzudenken, die Geld brauch»ten, und beschloß, ihnen zu hel=fen. Da ich ja in den USA lebte,mußte ich natürlich mein englissches Geld bei immer anderenBanken des Landes in Dollar um=wechseln, eh' ich es ausgeben oder

an andere fortgeben konnte - fürWohltätigkeit, für verschämteArme, für strebsame bedürftigeLeute und viele, viele andere guteZwecke. Das alles war sehr richtigund schön und befriedigte mich.Doch eines Tages fiel mir ein, daßder Bursche, dem ich die Plattenverdankte, Engländer war. Undich dachte mir, daß einiges vondiesem Geld nun endlich auch anLeute in England gelangen sollte,die es nötig hätten.Das ist der Grund, weshalb icKüber den Ozean kam ... Erzählteich Ihnen eigentlich/daß jener Bur=sehe, als er ausrückte, eine Frauhinterließ? Es kostete mich zweiMonate emsiger Arbeit unter Mit»Wirkung der besten Londoner De=tektivagentur, um sie als Bediene»rin in einem billigen EdinburgherTeesalon ausfindig zu machen.Jetzt ist ihr Dasein auf Lebenszeitgesichert. Und sie glaubt glückli»cherweise an das Märchen, das ichihr erzählte - irgendein entfernterVerwandter, den es in Wirklichskeit niemals gab, sei in Australienals wohlhabender Mann gestor»ben und habe ihr sein Vermögenhinterlassen. Selten habe ich so=viel innere Befriedigung empfun=den, wie bei diesem hübschen Ar=

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rangement ... Ja, aber wenn ich- irgendeinen anderen Burschen fin=

den kann, dessen Frau einigesGeld braucht«, fügte Benny nobelhinzu, »Geld, das er nicht für sieverdienen kann - dann will ichselbstverständlich ebenfalls hel=fen.«Mr. Tombs schluckte vernehmlich.Benny Lucek hatte sich, neben allseinen sonstigen Talenten, nunauch als ein Meister der Vortrags=kunst erwiesen, und die Art seinerDarlegungen war darauf berech=net, den bekannten Kloß in dieKehle eines beeindruckten Zuhö=rers zu zaubern.»Würden Sie vielleicht einigesGeld haben mögen, Mr. Tombs?«fragte er mit taktvoller Diskre=tion.Mr. Tombs hüstelte.»Ich - äh — nun, ich kann die Ge=schichte noch gar nicht fassen, dieSie mir da erzählt haben, Mr. Lu=cek.«Mr. Tombs nahm einige der Bank=notenbündel auf, betrachtete sieverlangend, ließ sich die einzelnenBanknoten eines Bündels durch dieFinger gleiten und legte plötzlichdas Ganze wieder auf den Stapel,als wünsche er festzustellen, obihn das Zurückweisen der Versu=

chung mit irgendwelchen wohl=tuend tugendhaften Empfindun=gen beglücken würde, die als eineArt Entschädigung für den mate°riellen Verzicht bewertet werdenkönnten.Anscheinend fiel das Experimentnicht ganz befriedigend aus. Mr.Tombs' Mund zuckte.»Sie haben mir alles über sich er»zählt«, murmelte Benny teil=nahmsvoll, »und über Ihre Frau,deren zarte Gesundheit am ehe=sten durch eine lange Seereise ge=kräftigt werden könnte. Ich neh=me an, daß es Ihnen Schwierigkei=ten machen wird. Ihren Kinderneine gute Ausbildung zu geben -ein Umstand, den Sie von sich ausnicht einmal erwähnten ... Ichmöchte Ihnen helfen, dies alles inOrdnung zu bringen, Mr. Tombs.Sie können von meinen Bankno»ten kaufen, so viele Sie wollen.Der Preis, den ich Ihnen machenwürde, betrüge zwanzig Prozentdes Nennwertes. Soviel kostet esmich selbst, das Papier und dieDruckfarben zu beschaffen und dieNoten gedruckt zu bekommen -der Mann, der sie für mich druckt,erhält begreiflicherweise denHauptanteil der Kosten. Vier Shil=ling für eine Pfundnote, das ist

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der reine Selbstkostenpreis. UndSie können sich zum Millionär ma=chen, wenn Sie wollen.«Mr. Tombs schluckte abermals.»Sie treiben - Sie treiben«, stam=melte er mitleiderregend, »Sie trei=ben doch wohl keinen Scherz mitmir?«»Aber ich bitte Sie, Mr. Tombs -ich bin glücklich, einem Mann wieIhnen helfen zu können.« Bennyerhob sich und legte freundschart'lieh eine Hand auf Mr. Tombs'Schulter. »Sehen Sie - ich versteheja, daß dies alles ein Schock für Siegewesen sein muß. Sie brauchensich nicht gleich zu entscheiden.Warum gehen Sie nicht nachHause, um in aller Ruhe noch ein»mal darüber nachzudenken? Kom=menSie morgen wieder zum Lunchzu mir, falls Sie sich entschließen,eine gewisse Anzahl dieser Bank'noten zu erwerben, und bringenSie dann das entsprechende Geldmit. Rufen Sie mich heute abendum sieben Uhr an und lassen Siemich wissen, ob ich Sie erwartendarf.« Er zog eine kleine HandvollBanknoten aus einem der oberstenBündel und stopfte sie Mr. Tombsin die Tasche. »Hier - nehmen Sieein paar Muster mit und legen Siesie bei einer Bank vor, nur für den

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Fall, daß Sie es immer noch nichtglauben können.«Mr. Tombs nickte mechanisch undblinzelte dabei gedankenverlorenvor sich hin.»Jetzt bin ich der Mann im Taxi«,sagte er mit schwacher Stimme.»Wenn man wirklich jene Brief«tasche findet -«»Wer verliert dadurch?« fragteBenny. »Die Bank von Englandvielleicht. Ich weiß über die natio"naiökonomischen Zusammenhängenicht genau Bescheid, aber ich neh°me an, sie hat letzten Endes dieRechnung zu bezahlen. Doch wirdsie ärmer durch die paar tausendPfund, um die Sie dann reichersind? Ich denke, es wird ihr kaummehr ausmachen, als Ihnen einPenny, den Sie aus der Tascheverlieren ... Also, Mr. Tombs,denken Sie in aller Ruhe darübernach.«»Ja, ja, das werde ich«, murmelteMr. Tombs mit einem letzten ver=langenden Blick auf den Tisch mitden Banknotenstapeln.»Da wäre natürlich noch eins«,sagte Benny und legte einen Fin«ger über seine Lippen. »Kein Wortvon dem, was ich Ihnen erzählte,zu irgendeiner lebenden Seele -nicht einmal zu Ihrer Frau! Ich

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vertraue Ihnen, daß Sie die Sachemit derselben Verschwiegenheitbehandeln wie Ihre Versiehe"rungsangelegenheiten. Sie verste=hen, weshalb - nicht wahr? EineGeschichte wie die, die ich Ihnenerzählte, würde sich wie ein Lauf"teuer verbreiten. Und sobald sieder Bank von England zu Ohrenkäme, wäre es aus und vorbei mitunseren schönen grünen Schein»chen - man würde neue Bankno"ten mit verändertem Dekor her»ausgeben und die alten einziehen,so schnell sich das nur machenließe.«»Gewiß, Mr. Lucek«, murmelteMr. Tombs, »ich verstehe.«

Er verstand es vollkommen, sovollkommen, daß die vergnüglicheGeschichte, die er Patricia nach sei»ner Heimkehr erzählte, infolge sei"ner Begeisterung beinah ein wenigzusammenhanglos wurde.Er erzählte sie ihr, während er seinMake=up entfernte und die äußereHülle des bescheidenen Versiehe»rungsangestellten mit der gewohn"ten Kleidung Simon Tempiarsvertauschte; als er damit fertigwar, sah er wieder so untadelignobel aus, daß Patricia sich irgend»wie erleichtert fühlte.

Schließlich glättete er die Bankno-ten, die »Mr. Tombs« zum Ab«schied von Benny in die Tasche ge»steckt bekommen hatte, undbrachte sie in seiner Brieftascheunter. Dann blickte er auf dieUhr.»Laß uns gehen und eine Nonstop»Show bewundem, Darling«, sagteer. »Danach werden wir ein KiloKaviar zwischen uns teilen undmit einigen Flaschen Cordon Rou»ge hinunterspülen. Freund Bennybezahlt!«»Bist du denn sicher, daß dieseBanknoten echt sind?« fragte Pa-tricia, und Simon lachte.»Sweetheart - keine dieser Bank»noten ist irgendwo anders als inder Bank von England gedrucktworden. Diese Schemchen sind.wie Gold! Das ist eine der festenRegeln des Falschgeldgaunerspielsim allgemeinen und bei FreundBenny im besonderen, obschon ichmich frage, warum er eigentlichnicht — oh, mon dieu!«Simon sprang mit einem Schreides Entzückens mindestens einenhalben Meter in die Höhe.Die verblüffte Patricia starrte ihnan. »Was, in aller Welt -«»Oh, nur eine kleine Idee«, er-klärte er. »Manche solcher kleinen

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Ideen reißen mich buchstäblich indie Luft. Und diese hier ist einewahre Pracht!«Er schwenkte Patricia gutgelauntdurch die verheißenen Vergnügun=gen, ohne ihr zu erzählen, daß dieIdee, die ihn hatte hüpfen lassenwie ein Zicklein - und dies oben»drein unter Gebrauch eines fran=zösischen Ausrufs -, mit einer sehrnützlichen Verwendung von Falsch'geld zusammenhing. Aber umPunkt sieben Uhr fand er Zeit, dasPark=Lane=Hotel anzurufen.»Ich habe mich entschlossen zutun, was der Mann im Taxi tunwürde, Mr. Lucek«, sagte er.»Nun, Mr. Tombs, das ist eineerfreuliche Nachricht«, entgegneteBenny. »Ich erwarte Sie also mor=gen um ein Uhr zum Lunch. Wie=viel übrigens gedenken Sie zu er=werben?«»Ich fürchte, ich kann nicht mehrals - äh - dreihundert Pfund flüs=sig machen. Das würde dann einemGegenwert von fünfzehnhundertentsprechen - nicht wahr, Mr.Lucek?«»Für Sie, Mr. Tombs, werden esausnahmsweise sogar zweitausendsein«, erklärte Benny großzügig.»Wenn Sie kommen, habe ich allesfür Sie bereit. Also, Mr. Tombs -

bis morgen ein Uhr im Hotel=foyer...«

Mr. Tombs stellte sich drei Minu=ten vor der Zeit ein. Obwohl erdieselbe Kleidung anhatte wie amvergangenen Tag, umgab ihn einfestliches Air. Das brandneue Paarweißer Glacehandschuhe und einerosa Nelke im Knopfloch trugendas ihre dazu bei.»Ich habe heute früh im Büro ge=kündigt«, sagte er. »Und ich hoffe,ich brauche diesen Platz nie wie=derzusehen.«Benny murmelte Glückwünsche,aber sein Ton war etwas pressiertund entschuldigungheischend.»Ich fürchte, Mr. Tombs, wir müs»sen unseren Lunch verschieben«,fügte er hinzu. »Ich habe da vor=hin von einem meiner Rechercheu»re eine Nachricht über eine alteLady erhalten - eine arme Witwein Derbyshire. Ihr Mann hat sievor zwanzig Jahren verlassen, undihr einziger Sohn, der bisher fürsie sorgte, wurde vorgestern beieinem Autounglück getötet. Auchsie hatte auf mein Inserat geant=wertet. Es scheint, daß sie jetztsehr dringend eines unverhofftenWohltäters bedarf. Daher will ichmit dem Zwei=Uhr=Zug nach Der»

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byshire hinauf und zusehen, wasich für sie tun kann.«Mr. Tombs gab vor, eine Tränedes Mitgefühls zu unterdrücken,die vermutlich doch nicht geflossenwäre, und begleitete Benny zu des=sen Suite. Einige vielbenutzte, abernoch recht ansehnliche lederneKoffer und ein wahres Monstrumvon Schrankkoffer/ die im Wohn=zimmer herumstanden, bereits mitGepäckzetteln versehen und allebis auf einen Handkoffer auchschon verschlossen, bekräftigtenBennys mitgeteilte Absichten. Nurnoch eins der Banknotenpakete warsichtbar, achtlos auf das eine Endedes Tisches gelegt.»Haben Sie das Geld mitgebracht,Mr. Tombs?«Mr. Tombs nickte, brachte seineabgewetzte Brieftasche zum Vor»schein und entnahm ihr mit etwasunsicheren Händen ein Bündel kni=sternd neuer Fünfpfundnoten.Benny empfing das Bündel, warfeinen beiläufigen Blick auf die Ban=derole, die mit dem Aufdruck »300Pfund« und einem doppelt signier'ten Bankstempel versehen war,und legte es mit der Achtlosigkeiteines echten Millionärs auf denTisch. Dann winkte er Mr. Tombsin einen mit dem Rücken zum Fen=

ster stehenden Sessel und ließ sichin einem Sessel an der gegenüber'liegenden Seite des Tisches nieder.»Zweitausend Empfundnoten wä=ren schlecht in Ihren Anzugtaschenunterzubringen, Mr. Tombs«, be=merkte er leutselig. »Ich sollte lie=ber ein kleines Paket für Sie ma=chen.«Unter Mr. Tombs' verlangendenBlicken nahm er vier Banknoten'bündel vom Stapel und warf sieseinem Gast in den Schoß. Mr.Tombs ergriff sie und prüfte siegierig und in aller Hast, indem ersie mit der linken Hand hielt undihre oberen Ecken unter seinemrechten Daumen hindurchlaufenließ, so daß es vor seinen Augennur so schwirrte von schönen grün«liehen Einpfundnoten.»Sie können sie natürlich durch"zählen, wenn Sie das möchten«,sagte Benny, »so viel Zeit habenwir noch. In jedem Bündel müssenfünfhundert sein.«Aber Mr. Tombs schüttelte denKopf. »Ich nehme Ihr Wort dafür,Mr. Lucek. Ich habe gesehen, daßes alles Einpfundnoten sind. Einegroße Menge Einpfundnoten, zu=sammen bestimmt zweitausend.«Benny lächelte, schob geschäftigdas große Banknotenpaket zur Sei=

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te und streckte seine offene Rechtezu Mr. Tombs hinüber. Mr. Tombsgab ihm die vier Bündel zurück.Und Benny packte sie zu zwei undzwei übereinander auf einen be"reitgelegten Bogen braunes Einswickelpapier, schlug das Papiervon hinten und von vome sauberüber ihnen zusammen, knifftedann die offenen Enden und legtesie so rasch und geschickt wie eingeübter Ladengehilfe über das ent»standene rechteckige Päckchen.Und Mr. Tombs' gierige Augenverfolgten jede seiner Bewegun»gen mit der Intensität eines ein=fältigen, aber ernsthaften Zuschau«ers, der ein Zauberkunststückchenzu ergründen versucht.»Meinen Sie nicht, daß es einefurchtbare Tragödie für eine armeWitwe sein müßte, die alle ihreErsparnisse in solche Banknotensteckt und dann findet, daß. sie -äh - begaunert worden ist?« frag"te Mr. Tombs.Bennys dunkle Augen blickten injäher Bestürzung zu ihm auf. »Eh- was war das?«Aber Mr. Tombs' sorgenzerknit»tertes Gesicht hatte die Unschuldeiner Schafsphysiognomie. »Ach,das -«, murmelte er, »das ging mirnur so durch den Kopf.«

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Erleichtert lächelnd stellte Bennyüber zwei Drittel seines teurenKunstgebisses zur Schau und fuhrmit der Arbeit an seinem Päckchenfort. Mr. Tombs' Blicke hingegenkonzentrierten sich mit wahrhafthypnotischer Intensität auf BennysTun.Aber Benny war nicht beunruhigt.Er hatte an diesem Vormittag bei»nah eine Stunde damit verbracht,seine Vorbereitungen zu treffenund zu erproben. Das obere Kabeldes offenen Schiebefensters hinterMr. Tombs' Sessel war bis auf eineeinzige Drahtfaser durchgefeilt,und das Gewicht des Fensters wur«de von einem kleinen, leicht in denFensterrahmen getriebenen Stahl»nagel getragen. Von diesem Stahlsnagel führte ein dünner, jedodisehr fester dunkelfarbiger Nylon»faden zum Boden hinab und hierdurch eine unter der HeizkörpersVerkleidung verborgene Schraub"Öse hindurch unter den Teppich.Am anderen Ende des paßrecht ge"legten Teppichs kam er durch einezweite, dort direkt in den Bodengeschraubte kleine Öse wieder zumVorschein und endete, bequem undganz unauffällig zu ergreifen, amKnauf der Tischschublade.Nun war Benny auch mit dem

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kunstgerechten Binden der Schnurseines Päckchens fertig und suchtein seinen Taschen nach einem Mes=ser, um das überschüssige Bind=fadenende zu stutzen.»Gleich haben wir es, Mr. Tombs«,sagte er verheißend und dehnteseine Sucherei auf die Schubladeaus. Dies ermöglichte es ihm, un=bemerkt den Nylonfaden zu paksken und kräftig daran zu ziehen.Die Sache funktionierte - dasSchiebefenster sauste mit lautemKnall herunter.Aber Mr. Tombs sah sich - nichtum!Es war die verblüffendste Sache,die sich je in Benny Luceks Lauf-bahn ereignet hatte. Es war un"glaublich, beinah übernatürlich. Eswar ein so stupendes Phänomen,daß Bennys Mund unwillkürlichaufklappte, während sich in seinerMagengegend fassungslose Be=stürzung aufblähte wie ein kleinerBallon und ihm die Lungen ein=engte. Ein Gefühl verqueren Ge"kränktseins kam über ihn, wie esein geübter Busspringer empfin"den würde, wenn der nahende Busim Augenblick, da er aufspringenwill, sich senkrecht in die Luft er»höbe und über die Hausdächer entsschwände. Es war eine jener Sa=

Aen, die einfach nicht vorkom"men.Doch bei dieser phantastischen Ge"legenheit war es vorgekommen!In der halb offenen Tischschublade,deren Vorderseite nun gegen Ben"nys Bauch drückte, eben außerhalbdes Sichtwinkels von Mr. Tombs'Augen, befand sich ein zweites inbraunes Papier gewickeltes Pack»chen, das dem, welches Benny so"eben angefertigt hatte, zum Verswechseln ähnlich sah. Äußerlichjedenfalls. Der Unterschied lag in»nen. Denn während das Päckchen,das Benny unter Mr. Tombs' Blik»ken hergestellt hatte, Unzweifel«haft mit zweitausend echten Ein»pfundnoten gefüllt war, enthieltdas zweite Päckchen nichts als paß=recht geschnittenes Zeitungspapier.Und nie zuvor in Bennys Laufsbahn, seit der erste Fisch nach demKöder geschnappt hatte, war derAustausch der beiden Päckchenmißlungen!Nur um dieses Austauschs willenwar der bewährte Trick mit demherabsausenden Schiebefenster in»szeniert worden - ein sonst unafehlbarer Trick, der eins der we-sentlichsten Geheimnisse in, Ben»nys Betrügerspiel darstellte. DasOpfer, wenn es zu Hause sein

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Päckchen öffnete und sich betrogenfand, konnte nicht gut zur Polizeigehen, ohne sich selbst der Mit=Wirkung an einer gesetzwidrigenTat zu beschuldigen; es pflegte denVerlust hinzunehmen und zuschweigen.Welch bewundernswert einfachesund nützliches System!Und doch konnte, wie sich nunerstmals zeigte, das ganze unfehl=bare Schema durch die über'menschliche Apathie eines Opfersgefährdet werden, das einfachnicht auf den lauten Knall einesplötzlich herabfallenden Schiebe"fensters reagierte! Einer ähnlichenPanne bei künftigen Fällen mußteirgendwie vorgebeugt werden, un«bedingt vorgebeugt werden!»Das - das Fenster scheint herab=gefallen zu sein«, bemerkte Bennyheiser und kam sich vor wie derHeld eines Melodrams, der eben,gegen Ende des dritten Aktes, aufden Schurken geschossen hat, ihngetroffen zu Boden sinken siehtund nun, gemäß Rollenbuch, über=flüssigerweise ausrufen muß >Ha,mir scheint, ich habe ihn getroff en<,damit es auch der dümmste Zu=schauer begreift.»O ja«, pflichtete Mr. Tombsfreundlich bei, »ich hörte es.«

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»Das - das Haltekabel muß geris»sen sein.«»Ja, vermutlich. Anders wäre eskaum zu erklären.«»Merkwürdig, wie solche Sachenpassieren können. So - so plötz=lieh, nicht wahr?«»Gewiß, sehr merkwürdig«, bestä=tigte Mr. Tombs in höflichem Kon=versationston, ohne den Blick vonBenny zu wenden.Benny begann zu schwitzen. DasPseudopäckchen in der Schubladewar kaum eine Spanne weit vonseinen aktionsbereiten Händenentfernt. Wenn es ihm nur fürzwei Sekunden gelänge, den star=ren Blick dieser verwünschten Au=gen von sich abzulenken, dannwäre der Austausch so leicht undschnell durchgeführt wie das öff°nen eines Jackettknopfes.Aber die Chance kam nicht. Eswar ein toter Punkt, von dem Ben°ny bisher nicht einmal geträumthatte. Und die zwingende Not=wendigkeit, sich sofort etwas aus»zudenken, um die Situation zumeistern, trieb ihn an den Randder Panik.»Hätten Sie wohl zufällig ein Ta=schenmesser bei sich, Mr. Tombs?«fragte er mit schwitzender Bieder»keit. »Oder eine kleine Schere?

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Irgend etwas, um das Bindfaden»ende abzuschneiden?«»Oh, ich kann das auf andere Artmachen«, sagte Mr. Tombs.Er stand auf, beugte sich über denTisch und wollte nach dem Päck=dien greifen. Benny scheute wieein erschrockenes Pferd.»Machen Sie sich keine Mühe, Mr.Tombs«, japste er. »Ich werde -ich werde —«»Aber ich bitte Sie - das ist dochkeine Mühe«, sagte Mr. Tombsund versuchte abermals, nach demPäckchen zu greifen.Benny, in höchster Not, stieß esmit einer anscheinend Ungeschick»ten Handbewegung vom Tisch. Erwar alles mögliche, aber keinMann der Gewalt - sonst hätte erjetzt versucht sein können, anderszu handeln. Die anscheinend un=geschickte Handbewegung nebstHinabstoßen des Päckchens - dieswar das vorletzte Kunststück, daser sich hatte ausdenken können,um die Sache doch noch zu retten.Jetzt schob er hastig seinen Stuhlzurück und beugte sich hinab. Mitder einen Hand tastete er nachdem gefallenen Päckchen, mit deranderen versuchte er nach demPseudopäckchen zu greifen. BeimAufheben des gefallenen Päck=

diens, gedeckt durch den Tisch,mußte es ihm doch möglich sein,den Austausch zu bewerkstelligen!Seine linke Hand fand das Pack»chen auf dem Boden. Seine rechteHand fuhr fort, nervös in derSchublade herumzusuchen. Sie ta°stete hierhin und dorthin, behut»sam zuerst, dann immer hitziger,bis weit in die Schublade hinein.Nichts! Verzweifelt kehrte sie zu=rück in das vordere Drittel. IhreFingernägel schrappten hastig überdas Holz. Das verwünschte Pseu»dopäckchen hatte doch eben nochziemlich weit vorn in der Schub=lade gelegen!Er wurde gewahr, daß er nicht ewigin gebückter Haltung bleibenkonnte, und begann sich aufzu»richten, langsam, das Herz wie voneiner eisigen Faust umkrampft.Und als seine Augen in gleicheHöhe mit der Schublade kamen,sah er zu seinem Entsetzen, daßdas Pseudopäckchen irgendwie bisan das rückwärtige Ende derSchublade geraten war! Bei allerBedeutung, die es für ihn besaß,war es nun praktisch unerreichbar;ebensogut hätte es mitten in derSahara liegen können.Mr. Tombs lächelte milde.»Die Sache ist wirklich ganz ein=

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fach«, sagte er, offenbar noch im"mer mit Bezug auf das Kappen desBindfadenendchens.Er nahm das echte Päckchen ausBennys kraftloser Hand, legte esauf den Tisch, wickelte sich daslose Bindfadenende um den rech»ten Zeigefinger und gab ihm einenkurzen Ruck. Der Bindfaden rißdurch wie abgeschnitten, sauberund knapp über dem Knoten.»Ein kleiner Trick von mir«, be=merkte Mr. Tombs schalkhaft. Ernahm das Päckchen auf, klemmtees sich unter den linken Arm undstreckte Benny die rechte Handentgegen. »Nun, Mr. Lucek - Siewissen, wie dankbar ich Ihnen bin.Aber jetzt darf ich Sie nicht längerdavon abhalten, sich jener - äh -armen alten Witwe zu widmen. Le=ben Sie wohl, Mr. Lucek.«Er drückte überschwenglich Ben=nys Hand und begab sich zur Tür.Da war auf einmal irgend etwasbeinah Beschwingtes in seinemGang, ein bisher nicht vorbände»nes Blitzen in seinen blauen Au=gen, eine Art verklärter Seligkeitin seinem Lächeln - Erscheinun»gen, die Benny zugleich heiß undkalt machten. Sie gehörten einfachnicht zu Mr. Tombs aus dem Ver"sicherungsbüro ...

»He, Sie - Moment mal!« japsteBenny, doch die Tür hatte sich be"reits geschlossen. Benny sprangauf. »He, Sie -«Er riß die Tür auf und - starrte indas rötliche Vollmondgesicht einessehr großen Gentlemans mit Re=genmantel und Melone, der aufder Türschwelle stand.»'n Tag, Mr. Lucek«, sagte dergroße Gentleman gelassen. »Darfich eintreten?«Er schien die Erlaubnis für gege»ben zu halten, jedenfalls kam erungeniert ins Wohnzimmer. Alserstes erregte das Paket auf demTisch seine Aufmerksamkeit. Erlangte sich einige der Bündel vonden Stapeln und sah sie durch. ImGegensatz zu den vier Bündelnechter Pfundnoten, mit denen Mr.Tombs sich entfernt hatte, lag beijedem der übrigen Bündel nur obenauf eine echte Pfundnote, währendder Rest des Inhalts aus grünli"chen Papierstücken derselben Dik=ke und Größe bestand. '»Ziemlich interessant«, bemerkteder große Gentleman.»Wer, zum Teufel, sind Sie?«brauste Benny auf, und das röt=liehe Vollmondgesicht wandte sichmit sehr plötzlicher und gebieteri»scher Direktheit zu ihm hin.

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»Ich bin Chefinspektor Teal vonScotland Yard. Unseren Informa»tionen zufolge sind Sie im Besitzerheblicher Mengen falscher Bank»noten.«Benny holte recht beklommen Luft.»Das ist absurd, Mr. Teal«, sagteer schrill. »Sie werden hier nichteine einzige falsche Banknote fin=den.«

Der Blick des Detektivs fiel auf dasBündelchen Fünfpfundnoten, mitdenen Mr. Tombs seinen Kauf be=zahlt hatte. Er nahm es auf undprüfte die Noten sorgfältig, einenach der anderen.»Hmm, und nicht einmal sehr gu=te Fälschungen«, brummte er undrief den Sergeanten, der draußenim Korridor wartete ...

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Die Sterbeurkunde

In den zwei Jahren/seit er der Stadtals Polizeiarzt zur Verfügung stand,war Dr. Paul Standish mit vielenArten gewaltsamen Todes in Be=rührung gekommen. Doch erst inder Nacht, da man Dr. EdwardCheney ermordet fand, wurde ihmbewußt, daß die Wahrnehmungseiner amtlichen Pflichten zu einerganz persönlichen Angelegenheitwerden konnte.Der Anruf der Polizeizentraleweckte ihn kurz nach zwei Uhrdreißig in jener Nacht. Bis er sichangezogen hatte, wartete schon einPolizeiauto unten vor dem Haus,um ihn in eine nördliche Gegendder Stadt nahe dem Fluß zu brin=gen. Hier, in einer Straße mit dürf»tigen Wohngebäuden und schmut=zigen Lagerhäusern, wartete einzweites Polizeiauto. Es stand so,

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daß seine Scheinwerfer eine schma=le Zufahrt zwischen zwei Lager»häusem beleuchteten.Einer der anwesenden Polizeibe"amten informierte Standish, undStandish nahm es mehr oder weni=ger routinemäßig zur Kenntnis. Erahnte noch nicht, worauf erschließ»lieh stoßen würde, obwohl er mitdem ersten flüchtigen Blick erkannthatte, daß der Mann, der mit demGesicht nach unten auf dem Kopf»Steinpflaster der Zufahrt lag, er=mordet worden war. Der Hinter'köpf war zertrümmert und blutig.Standish/ der daran gewöhnt war,sich jedem Fall als Diagnostikerzu nähern und ihn mit klinisch er=fahrenen Augen anzusehen, be=merkte den abgetragenen Zustandder Kleidung des Ermordeten. Da=von war übrigens schon im Anruf

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Die Sterbeurkunde

der Polizeizentrale die Rede gewe=sen; ein ärmlich gekleideter, nochnicht identifizierter Mann, hatte esgeheißen, und Standish war nichtdarauf gefaßt, etwas Besondereszu finden, bis er die Leiche um=drehte und erkannte, daß dieserMann einst sein Freund gewesenwar.Das Erkennen geschah sehr schnellund völlig unverhofft; es erschufterte ihn und machte ihn innerlichelend. Die Nachtluft war plötzlichkühl und so feucht, daß sie das At=men erschwerte. Obwohl Standishwahrnahm, daß einer der Polizei»beamten ihn ansprach und auchdie Worte verstand, brauchte ereinige Sekunden, um den erstenSchock zu überwinden und wiederklar zu denken.»Wir haben seine Taschen durch»sucht, so gut wir das konnten, ohneihn zu bewegen«, hatte der Polizei»beamte gesagt. »Scheint, daß ervöllig ausgeplündert ist. Wir neh=men an, ein paar Strolche erschlu=gen ihn irgendwo auf der Straßeund brachten ihn hier außer Sicht.«Standish zwang sich zur Konzen»tration. Während er, um die Tat=zeit zu bestimmen, seine Testsüber das Stadium der Leichenstarrevornahm, überzeugte er sich, daß

die Taschen des Ermordeten tat=sächlich leer waren.Danach hätte es hier eigentlichnichts mehr für ihn zu tun gege=ben; sein dienstlicher Job, die Fest=Stellung der Todesursache und dieBestimmung der Tatzeit, war be=endet. Gleichzeitig aber - da seineGedanken zurückgingen zu demDr. Cheney, den er vor zehn Jah=ren gekannt hatte, als er selber einjunger Assistenzarzt im Städti=sehen Hospital gewesen war undCheney der Chefarzt -, gleichzeitigaber wußte er, daß es nicht genü=gen konnte, einen Bericht zu schrei=ben, der einfach besagen würde,daß benannter Dr. Cheney durchmehrere Schläge mit einem stumpsfen Gegenstand ermordet wordensei.Er wandte sich zu den Polizistenum und fragte, welcher von ihnender zuständige Streifenpolizistwäre.»Ich, Sir«, antwortete einer derUniformierten. »Sah ihn hier lie°gen, als ich um zwei Uhr fünfzehnauf meinem Streifengang draußenvorbeikam und routinemäßig in dieDurchfahrt hineinleuchtete.«»Sie sind vorher schon einmal vor»beigekommen?«»Jawohl, Sir. Um ein Uhr fünf»

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zehn. Da war noch nichts von ihmzu sehen.«Standish richtete sich auf - einetwa mittelgroßer Mann mit gera=den, kräftigen Schultern und einemklar geschnittenen Gesicht, das j etzt,im Licht der Autoscheinwerfer, ha=ger und eckig aussah. Seine Augenverdüsterten sich, und sein Mundwurde zu einer schmalen, grimmi=gen Linie, als er noch einmal se»kundenlang auf die Leiche hinab»starrte. Dann hob er den Blick underkundigte sich, ob jemand vomMorddezernat hier sei.»Ja, ich«, sagte eine Stimme, »Ser"geant Wargo.«Standish erkannte den Mann alseinen Assistenten von LeutnantBallard. Er hatte gehofft, Tom Bai«lard würde selbst hier sein; er warmit Ballard befreundet und brauch«te ihn jetzt. Aber er fragte nichtnach ihm. Er nickte bloß. Und alser gleich danach draußen auf derStraße die Ambulanz anhalten hör»te, bat er den Sergeanten, zu war«ten.Wenige Minuten später, nachdemdie Ambulanz mit der Leiche da»vongefahren war, standen sie aufdem Gehsteig, und Wargo, einjunger Mann mit Verstand undTalent, der bisher weder eine Frage

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gestellt noch eine Meinung geäu»ßert hatte, sagte: »Wir sind ziem'lieh sicher, daß er schon tot in dieDurchfahrt geschleppt wurde/Doktor.«»Unbedingt«, bestätigte Standish.»Aber er ist nicht hier irgendwo inder Nähe erschlagen worden. Alsich ihn untersuchte, war er schonmindestens drei Stunden tot.«Wargo pfiff überrascht vor sichhin. Dann, als wäre etwas in Stan=dishs Art, was er nicht verstand,fragte er: »Kennen Sie ihn, Dok»tor?«Standish nickte und nahm sich Zeit,seine Gedanken zu ordnen; erwußte, daß er jetzt nicht wiederzu Bett gehen konnte und daß erHilfe brauchen würde. »Ballardmacht heute nacht keinen Dienst?«fragte er.»Nein, heute nacht nicht«, erwi=derte Wargo. »Der Captain sagte,er solle zusehen, daß er ein paarStunden Schlaf bekäme. Der Leut=nant war seit vorgestern früh un=unterbrochen auf den Beinen, wiebeinah jeder in der Polizeizentrale,auch beim Morddezernat. Hängtdamit zusammen, daß FrankieMontanari aus der Untersuchungs"haft entwischt ist.« Wargo lachtefreudlos. »Wenn man Frankie

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findet, wird es vermutlich für dasMorddezernat Arbeit geben.«Standish hatte wenig Interesse anMontanari/ der wegen einer Glücks-spielaffäre, versuchter Bestechungund Beteiligung an Wettschwinde«leien in Untersuchungshaft gewe»sen war; die Zeitungen hatten an»gedeutet, daß sein Strafmaß davonabhängen würde, ob er den wirk'liehen Boß des Glücksspielsyndikastes verriete, für das er tätig war.Standish empfand nichts als Grimm,weil er jetzt wegen eines solchenFalles auf Leutnant Ballards Hilfeverzichten mußte.»Ich fahre noch zum Leichenschau»haus«, sagte er. Und dann, nebendem Polizeiauto stehend, erläuterteer dem Sergeanten, was dieser in«zwischen für ihn erledigen könne.

Dr. Cheneys Praxis und Wohnunglagen im Erdgeschoß eines Zwei"familienhauses irgendwo im Ostender Stadt; die Umgebung war nurum wenige Grade besser als einSlum. Als Standish dort eintraf,stand ein Polizeiauto vor demHaus, und auf den Verandastufensaß Sergeant Wargo.»Das Haus gehört dem Burschen,der im Obergeschoß wohnt«, be°richtete Wargo. »Ich bekam den

Schlüssel von ihm. Dieses Cou-pe -«, er wies auf einen alten Che"vrolet, der vor dem Polizeiautostand, »ist Doktor Cheneys Wa«gen. Die Wagenpapiere sind da,aber kein Arztkoffer. Auch in derPraxis und in der Wohnung habeich den Arztkoffer nicht gefunden.Überzeugen Sie sich selbst.«Standish betrat, von Wargo ge»folgt, das ärmlich möblierte Warte"zimmer, das unmittelbar hinter derVeranda lag. Er inspizierte denanschließenden Praxisraum und dienach hinten hinaus gelegenenWohnräume und fand bestätigt,daß der kleine Koffer, ohne denCheney niemals einen Kranken«besuch gemacht hätte, tatsächlichnicht vorhanden war. Da er diesvorerst nicht besser begriff als dieentleerten Taschen des toten Man"nes, wandte er sich dem Termin«buch auf dem Schreibtisch zu.»Er machte seinen letzten Kran"kenbesuch um fünf Uhr.«»Der Bursche im Obergeschoß sahihn gegen sechs zurückkommen«,sagte Wargo. »Er glaubt, Cheneyging gegen neun noch einmal fort.«»Weshalb glaubt er das?«»Er hörte die Türklingel läutenund hörte, daß der Doktor auf"machte. Er glaubt, gleich danach sei

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der Doktor noch einmal fortge«gangen.«

Es war fast sechs Uhr, als PaulStandish in seine Wohnung zu=rückkehrte. Er zog sich aus, gingaber nicht zu Bett, sondern unterdie Brause. Danach saß er grübelndam Schreibtisch und versuchte,einen Grund für diesen Mord zufinden, der von außen her so ab»solut sinnlos schien.Daß es nicht seine Arbeit war, sichdarüber den Kopf zu zerbrechen,wurde ihm erst dadurch bewußt,daß Leutnant Ballard es ihm sagte,als Standish ihn um acht Uhr drei»ßig in der Polizeiwache aufsuchte.Sie hatten oft zusammengearbeistet, diese zwei, wobei es im allge=meinen Ballard war, der nach Hilfeschrie, während Dr. Standish im=mer wieder zu betonen pflegte, daßer eigentlich andere Aufgaben hät=te, als Detektivarbeit zu tun. Aberdieses Mal war die Sache umge»kehrt. Und obwohl der Leutnantsich aufmerksam anhörte, wasStandish zu erzählen hatte, kamvon ihm kein Wort der Ermutigungoder auch nur die geringste Aner»kennung der vorgetragenen Theo=rie.»Sergeant Wargo denkt, es war

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ein Raubüberfall«, sagte er, »undmir scheint es auch so. Ein paarHalbstarke fielen Cheney an, wahr"scheinlich leistete er Widerstand,und sie schmetterten ihm eins überden Kopf.«»Drei Stunden, bevor er gefundenwurde?«»Na und? Vielleicht passierte es inihrer Nachbarschaft. Zuerst ver=drückten sie sich. Nach einer Weilekriegten sie Angst, kamen zurückund brachten ihn fort. Bei Gott —ich könnte mir ein Dutzend Er»klärungen denken, Paul.«Standish versuchte geduldig zusein. »Jemand kam gegen neunUhr zu Cheney und holte ihn ab -mit einem Auto. Andernfalls hätteCheney seinen eigenen Wagen be=nutzt. Er muß seinen Konsulta»tionskoffer mitgenommen haben.Erstens hätte er sich ohne den Kof=fer niemals auf einen Krankenbe=such begeben. Zweitens ist derKoffer, wie du von Wargo erfah=ren haben dürftest, weder in seinerPraxis oder in seiner Wohnung,noch in seinem Auto oder sonstwozu finden. Cheney wurde erst dreiStunden nach dem Tod gefunden- ohne den Koffer, aber mit völligausgeräumten Taschen. Er hattenichts bei sich, was ihn hätte iden»

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tifizieren können. Wäre er mirnicht bekannt gewesen, dann hätteer vermutlich tagelang im Leichen»schauhaus gelegen, ehe wir heraus"fanden, wer er war. Und ich sagedir, Tom - das alles paßt nicht zueinem Raubüberfall mit zufälligtödlichem Ausgang.«Ballard fuhr sich mit den Fingerndurchs Haar; seine klugen grauenAugen wirkten irritiert. Er pflegtevernünftige Begründungen anzu=erkennen, wenn sie ihm vorgetra'gen wurden. Aber er war zur Zeitein sehr gehetzter Mann, belastetdurch den Druck von oben, der vonihm und jedem anderen Polizei=beamten der Stadt verlangte, kostees was es wolle, den entsprunge'nen Untersuchungshäftling FrankieMontanari zu finden - eine Auf=gäbe, die eigentlich etwas außer»halb seiner Linie lag.»Hör zu, Paul«, sagte er, »diesesMal kann ich dir nicht beipflichten.Ich bin überzeugt, daß es ein paarganz gewöhnliche Strolche sind,die Cheneys Tod auf dem Gewis»sen haben. Und du weißt, wie wirsolche Burschen fangen — wir ver=stärken das betreffende Revier umeinige bewährte Männer, die ihreAugen und Ohren offenhalten, undbeim zweiten» oder drittenmal,

wenn die Strolche ihren Trick wie=der abzuziehen versuchen, habenwir sie. Und dann finden wir auchsehr schnell heraus, was sonst nochauf ihre Rechnung kommt. Dabeiwerden wir sicher entdecken, daßdie Sache mit Cheney ebenfalls da=zugehört.« Er hielt inne, um Atemzu holen, und fügte hinzu; »Dochgesetzt den Fall, ich hätte unrecht- was erwartest du, was ich tunsoll?«Paul Standish wollte antworten,erkannte aber, daß seine Antwortdoch unpassend ausgefallen wäre,und hielt sie lieber zurück. Er warsich bewußt, daß - falls Ballardrecht hatte - in dieser Sache wirk»lieh nichts mehr getan werdenkonnte. Falls Ballard jedoch un=recht hatte, dann war nur eineeinzige Erklärung möglich; undzwar - daß Cheney vorsätzlichund aus einem ganz bestimmtenGrund getötet worden sein mußte.Und Standish, der nach wie voran die Richtigkeit seiner Theorie ,glaubte, wollte erfahren, was diesser Grund war. Wie jeder guteDiagnostiker wünschte er das War»um zu erfahren. Doch als er davonsprach, klang es albem - sogar fürihn selbst.»Ich will wissen, warum.«

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Ballard seufzte und warf die Händeempor. »Hilf mir, Montanari fin-den/ Paul! Sobald wir ihn haben/setze ich zwanzig Männer auf dieSache Cheney an. Vielleicht kön-nen sie dir deine Frage dann be-antworten. Ich kann es nicht/ Paul.Im Augenblick nicht.« Er blickteStandish an/ die grauen Augenhalb geschlossen. »Wer war dieserCheney eigentlich - ein Freund vondir/ oder so etwas?«

Mary Hayward stellte Paul Stan-dish eine einzige Frage - gegen elfUhr dreißig/ nachdem für diesenVormittag der letzte seiner Spredi"stundenpatienten abgefertigt war.Mary/ seine Praxishilfe und Labo-rantin und Sekretärin und Tele-fonistin und Buchhalterin/ mit ei-nem Wort sein Mädchen für alles/hatte mittelblondes Haar/ grüneAugen und eine wohlgestaltete Fi-gur. Sie machte sich Sorgen überStandishs Zeiteinteilung und nichtminder über einige seiner Neigun-gen/ die ihr zu wenig nutzbringendschienen. Sie glaubte, daß er alsPolizeiarzt sein Talent verschwen-de und weit besser daran tun wür-de/ sich mehr um seine Privatpra-xis zu kümmern. Und da sie jungund geradeheraus war/ sprach sie

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nicht allzu freundlich über Dr.Cheney.»Ich kann nicht verstehen/ weshalbSie sich so sehr mit dieser Sachebefassen«/ sagte sie. »Nach allem/was Sie mir früher von ihm er-zählten/ dachte ich/ er wäre einziemlich heruntergekommenes Sub-jekt.«»Er war kein heruntergekommenesSubjekt/ Mary. Er ist Chefarzt imStädtischen Hospital gewesen/ alsich dort assistierte/ ein hochan-ständiger Mann -«»Ja/ vor zehn Jahren.«»Er war es bis zu seinem letztenAtemzug. Nicht hart genug viel-leicht. Doch das ist das Schlech-teste/ was über ihn zu sagen wäre.Manche Leute mokierten sich dar-über/ daß er am Leben gescheitertsei - ein billiger Irrtum! Er warimmer ein guter Arzt. Und ichglaube nicht/ daß er je in seinemLeben etwas Unehrenhaftes oderethisch nicht Vertretbares getanhat.«Standish hielt inne; seine Gedan-ken schweiften zurück in die Ver-gangenheit. Mehr zu sich selbst alszu Mary sprechend/ erzählte erdann/ wie Dr. Cheney seine guteStellung im Hospital aufgegebenhatte/ um sich ganz seiner Privat-

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praxis zu widmen/ und wie im fol-genden Winter ein schleudernderLastwagen seine Frau und seinenzweijährigen Sohn beim Überque-ren der vereisten Straße getötethatte.»Manche Menschen können solcheSchicksalsschläge überwinden. An-dere können es nicht. Cheneykonnte es nicht. Es brach ihm dasHerz. Er schloß seine große Praxisim Westen der Stadt/ er verkauftesein Wohnhaus in der vornehmenStraße/ vor dem sich das Unglückereignet hatte. Ein Jahr lang warer für uns alle verschollen. Nie»mand wußte/ was er während die-ser Zeit tat, auch ich wußte es nicht.Aber ich weiß/ daß es das Bestewar/ was den Bewohnern jenesViertels im Osten der Stadt ge-schehen konnte, als er schließlichdort eine neue Praxis eröffnete/eine richtige Armeleutepraxis. Erverdiente gerade genug/ um be-scheiden davon zu leben - seinfrüheres Vermögen hatte er einemWaisenhaus geschenkt/ das haupt-sächlich Kinder von Verkehrsop-fern aufnimmt -/ und wer zu ihmkam/ erhielt ärztliche Behandlung/ganz gleich, wer er war und ob erbezahlen konnte oder nicht.«Die stille Hochachtung in Standishs

Worten beeindruckte Mary; ihrBlick wurde in sich gekehrt. Siesagte/ daß es ihr leid täte und daßsie bisher irgend etwas mißver-standen haben müsse/und siebliebin den folgenden zehn Minutenauffallend ruhig. Aber als Stan-dish dann auf seine Uhr sah/ sicherhob und erklärte/ er fahre jetztzum Leichenschauhaus und vondort zur Distriktsanwaltschaft/wurde sie unversehens wieder diealte und rief: »Vergessen Sie bloßnicht Ihre Verabredung mit Mr.Lane um zwei Uhr!«Standish runzelte die Stirn. »SagenSie sie ab. Rufen Sie Mr. Lane anund -«Mary unterbrach ihn mit erschreck-tem Gesicht und vorwurfsvollerStimme. Sie erinnerte daran/ daßMr. Lane reich sei und daß die ver-einbarte gründliche Untersuchungdieses Mannes der Praxis nochmehr solcher zahlungskräftigenPatienten zu bringen verspräche/und -Standish blieb unerschütterlich. Ersagte/ morgen oder übermorgensei auch noch früh genug/ und Mr.Lane würde es schon verstehen/wenn Mary ihm klarmache/ derDoktor sei wegen eines dringlichenFalles abgerufen worden.

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George Harmon Coxe

»Das nennen Sie dringlich? «M ary sStimme klang noch immer sehrvorwurfsvoll. Sie hätte weiter zurechten versucht, wäre Standishnicht einfach hinausgegangen.

Auch die Übersendung einerDurchschrift jedes Obduktionsbe»fundes an das Büro des Distrikts"anwalts gehörte zu den Pflichteneines Polizeiarztes. Im Fall Cheneylieferte Paul Standish diese Durch»schrift persönlich ab.John Quinn, der Distriktsanwalt,hatte eine Besprechung, als Stan=dish eintraf. Fast eine halbe Stundelang mußte Standish im Vorzim=mer warten, ehe die gepolsterteTür aufging und ein dicker, hart=gesotten aussehender Mann er»schien. Er hieß Mike Darrow undsprach noch, während er heraus'kam.»Na, daran habe ich erst mal einWeilchen zu kauen«, sagte er zuQuinn, der bei der offenen Türstehengeblieben war. »Wenn Siemich wiederzusehen wünschen,sollten Sie mir lieber eine Vorla=düng schicken ... He, Doktor.Wie geht's, wie steht's?«Standish erhob sich, ohne zu ant=Worten, und ging zu Quinn hinein.Quinn, offensichtlich verärgert,

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fluchte einen Moment lang leisevor sich hin, ehe er Standish be=grüßte und zum Platznehmen auf=forderte. Dann nahm er die Durch»schrift des Obduktionsbefundesentgegen und lauschte dem Kom=mentar des Doktors.Standish wußte, noch ehe er seineAusführungen beendet hatte, daßdie Aussichten ungünstig waren;er konnte es Quinn vom Gesichtablesen und fand es bestätigt, alsder Distriktsanwalt von einemBudget zu sprechen begann, wel=dies ihm nicht viel Bewegungsfrei«heit ließe.Dann fragte er: »Was ist nun Ihregenaue Ansicht, Doktor?«»Ich glaube nicht, daß Cheney dasZufallsopfer eines simplen Raub=Überfalles wurde«, sagte Standish.»Und wenn ich recht habe, gab eseinen ganz bestimmten Grund fürden Mord. Ich dachte. Sie wüßtenvielleicht einige Tatsachen, vondenen ich noch nichts weiß, undkönnten sich einen entsprechendenGrund vorstellen.«Quinn erwiderte, es täte ihm leid,aber er könne sich beim bestenWillen keinen Grund für einenvorsätzlichen Mordanschlag aufDr. Cheney vorstellen. Er machteeine kleine Pause und fügte dann

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hinzu, vielleicht könne Standishihm in einer anderen Frage helfen.»Wo wäre«, sagte er, »ein guterPlatz, um eine Leiche zu verstek»ken?«Standish horchte auf. »MontanarisLeiche?« erkundigte er sich nach=denklich. »Wie können Sie wissen,daß er Ihnen nicht einfach durch»gegangen ist?«»Ich werde es Ihnen erzählen«,sagte Quinn und begann mit MikeDarrow, der in den letzten Jahrender Prohibition, als noch ziemlichjunger Mann, ein übler Schlägerund Allround= Verbrecher gewesenwar. Er erwähnte eine Reihe vonVerhaftungen, deren Gründe vonAutodiebstahl und Versicherungs=betrug bis zu Erpressung und Tot»schlag reichten, ohne daß es je zueiner Verurteilung kam - stets ausMangel an Beweisen, und diesganz offensichtlich, weil regelmäßigalle Belastungszeugen unter Druckgesetzt worden waren und ihre an=fänglichen Aussagen vor Gerichtwiderriefen. Dann kam er auf Dar=rows geheimes Glücksspielsyndi=kat zu sprechen, das anscheinendnun auch anfangen wolle, Einflußauf gewisse sportliche Ereignissezu nehmen und Nutzen daraus zuziehen. Und hierbei war Darrow

ein böser Fehler unterlaufen, in»dem er versuchte, das Baskettball«team einer High School zu beste'dien.»Als diese jungen Kerle empört zuuns kamen und ihre Geschichte er=zählten«, sagte Quinn, »stießenwir natürlich nach. Dabei kamenwir auf einige Boxer und ein paarTurnierreiter, die dasselbe Liedsangen. Montanari ist zwar derBursche, der die Bestechungsange»böte machte. Aber der Boß im Hin=tergrund ist bestimmt kein andererals Darrow, obwohl wir das nochnicht beweisen können. Und Mon"tanari wußte, um was es ging - imallgemeinen und für ihn im be=sonderen. Ich hatte seine Frau hier.Ich sagte ihr, daß er nur zwei Jahrebekommen würde, wenn er ver=nünftig wäre und uns Mittel gegenDarrow in die Hand gäbe. Ichversprach ihr sogar, daß ich midischon nadi einem Jahr für seineBegnadigung einsetzen würde. Idimachte ihr klar, daß er wahrschein«lieh mit fünfzehn Jahren zu rech«nen hätte, wenn er sich weigernwürde, die Wahrheit über Darrowzu sagen. Sie begriff und erklärtesich bereit, mit ihm zu reden. Unddann verriet sie mir etwas. «Quinnbeugte sich bedeutungsvoll über

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den Schreibtisch. »Sie verriet mir,daß sie in ungefähr sechs Monatenein Baby bekommen wird. Bis da"hin hatte sie es ihrem Mann nochnicht gesagt. Aber sie sagte es ihmnach der Unterredung mit mir. Dasweiß ich. Denn vorgestern, am Tagnach seinem Verschwinden aus derUntersuchungshaft, kam sie wiederzu mir, völlig gebrochen und ver=zweifelt, und erzählte, Frankie seiganz vernünftig und zu jeder Zu°sammenarbeit mit uns bereit ge»wesen und habe ihr geschworen,die Wahrheit zu sagen. Sie konntesich seine Flucht nicht erklären undflehte mich an, alles zu tun, umihn wiederzufinden. Sie fühle ganzdeutlich, daß er in schrecklicher Ge"fahr sei, sagte sie. Und ich denkenun, Montanari ist nach der Fluchtirgendwie auf Darrow gestoßenund hat den Fehler gemacht, ihmzu drohen, daß er singen würde.«Quinn lehnte sich wieder in seinenSessel zurück und fügte hinzu:»Deshalb suchen wir eine Leiche.Das ist die Art, wie Darrow solcheSache regeln würde. Er weiß ja/daßMontanaris Aussage ihn für denRest seines Lebens hinter Gittergebracht hätte.« Quinn stand aufund zuckte die Schultern. »Tut mirleid, Doktor. Aber ich sehe nicht,

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wie ich Ihnen helfen soll. Bis wirMontanari haben, werde ich nichtimstande sein, an etwas anderesauch nur zu denken.«

Es war fast fünf Uhr, als PaulStandish in seine Praxis zurück»kehrte. Mary Hayward, die anihrem Schreibtisch saß und Kran=kenblätter durchsah, warf einenBlick auf sein Gesicht und enthieltsich klugerweise jeder Bemerkung,als er in sein eigenes Zimmer gingund die Tür hinter sich zumachte.Es war ein Fehler gewesen, Zeitbei Quinn zu verschwenden, sagtesich Standish, während er Hut undMantel ablegte. Und weil er sicherschöpft und geschlagen fühlte,erschien es ihm jetzt auch als Feh»ler, daß er sich überhaupt über dasMaß seiner dienstlichen Pflichtenhinaus mit Cheneys Tod befaßthatte. Er hatte Stunden um Stun»den darauf verschwendet, ohne je»den Sinn und Zweck, und das sollteihm eine Lehre sein - in Zukunftwürde er sich streng an seine Vor«schritten halten.Das jedenfalls dachte er, als er diePost durchsah, die Mary ihm aufden Schreibtisch gelegt hatte.Als hinderlich für seine Vorsätzesollte sich indessen wieder einmal

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die Tatsache erweisen, daß er einhartnäckiger Mann war, dessenVerstand — vor ein medizinischesoder sonstiges Problem gestellt -dieses Problem unaufhörlich um»kreiste, abtastete und an Hand dervorliegenden Informationen erwog.Und schließlich dachte er, ohnerecht zu wissen, weshalb, an denalten Doktor Frederic Lathrop zu»rück, seinen Lehrer an der Colum«bia University. Als er sich der vie=len guten Ratschläge erinnerte, dieder große alte Mann ihm gegebenhatte, kam ihm auch ein häufigwiederholter Leitsatz in den Sinn:Die Wahrheit klingt immer wahr...Das war es, was Lathrop, damalszugleich einer der bedeutendstenGerichtsmediziner der VereinigtenStaaten, zu sagen pflegte, wenn ervor einem besonders schwierigenProblem stand. Und Standish er«kannte jetzt, obwohl ihm jeneThese manchmal ein bißchen ab"geschmackt geklungen hatte, waser brauchte: Die Wahrheit.Wenn Cheney — wie Ballard be"hauptete - durch die Hände ge"wohnlicher Strolche gefallen war,dann konnte er sich zufriedenge»ben; wenn nicht, dann mußte erherausfinden, warum. Er mußte dieWahrheit wissen!

Er stand auf, das dunkle Haar wirrund deutliche Anzeichen von EraSchöpfung im Gesicht. Er ging einpaar Schritte hin und her und setz»te sich wieder, zündete eine Ziga"rette an und spielte zerstreut mitdem Feuerzeug. Was ihn dabei anDr. Cheneys verschwundenes Köf»ferchen denken ließ, wußte er nicht.Aber plötzlich hatte er eine Idee,und Standish langte nach seinemeigenen Konsultationskoffer. DerInhalt aller dieser Koffer war jaweitgehend der gleiche, und Stan=dish fragte sich, ob der Mord viel"leicht durch irgend etwas zu ent«rätseln wäre, was Cheney bei sichgetragen hatte.Er holte, einen nach dem anderen,die vertrauten Gegenstände ausseinem Koffer und legte sie auf denSchreibtisch - das Stethoskop, dasKästchen mit den Spritzen, einanderes Kästchen mit dem Gerätzum Blutdruckmessen, das Fieber-thermometer, einige Verbandsapäckchen, ein Etui mit Tinktur«fläschchen, mehrere Schachteln mitMedikamenten, ein kleines chirur-gisches Besteck und so weiter. Auseiner Seitentasche brachte erschließlich seinen Rezeptblock zumVorschein und dann einen anderen,größeren, nicht so häufig benutz"

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ten Formularblock. Als er diesenFormularblock sah, blitzte es plötz=lieh in seinen Augen auf.Eine Minute lang saß er reglosda, während sein Verstand arbei=tete. Dann — ohne recht zu hof=fen, daß er eine Antwort bekäme,aber verzweifelt wie ein Mann,der am Ende nach einem Stroh=halm greift - hob er den Telefon'hörer ab und wählte eine Num=mer.Er bekam die Verbindung, sprachmit schnellen, dringlichen Worten,lauschte auf die Entgegnung undsagte: »Gut, ich komme sofort hin=über.«Als er den Hörer auflegte, war einneuer Glanz in seinen Augen. Unddieser Glanz zeigte sich auch noch,als Standish zehn Minuten späterim City Hall Building eine Tür mitder Aufschrift Gesundheitsamtöffnete.Der junge Sekretär, mit dem Stan=dish telefoniert hatte, stand war=tend hinter der hölzernen Schran=ke, die den Raum in zwei Hälftenteilte. Als Standish ihm dafürdankte, daß er seinetwegen längergeblieben sei/legte der junge Mannein Formular auf die Schranke -ein Formular von derselben Art,wie Standish sie zuletzt aus seinem

Konsultationskoffer geholt hatte.Am Kopf des Formulars standendie Worte gedruckt: Ärztliche Be=scheinigung eines Sterbefalles, unddieses hier war ausgefüllt und un=terschrieben von Dr. Edward Che=ney.»Stimmt da etwas nicht?« fragteder Sekretär, stutzig gewordendurch die Aufmerksamkeit, mit derStandish die Bescheinigung stu=dierte.Standish verneinte, notierte sichaber die Todesursache, die Dr.Cheney niedergeschrieben hatte.Magengeschwüre, chronisch, undhierdurch verursachte Blutungenim Magen==Darm=Bereich, spontan- so hatte Cheney es formuliert.Der Verstorbene war ein gewisserCharles Judson; die Bescheinigungtrug das gestrige Datum.Ehe er wieder ging, stellte Standishdem Sekretär einige weitere Fra=gen und erhielt bereitwillig Ant=wort. Dann fuhr er mit seinemAuto auf kürzestem Weg hinüberin den Osten der Stadt und zu Dr.Cheneys Praxis.

Bei Tageslicht wirkte das Zwei"familienhaus noch unerfreulicherals bei Nacht. Standish fand dieTür zu den Praxisräumen unver=

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schlössen. Cheneys Sprechstunden»hilfe, eine Frau mittlerer Jahre, waranwesend. Sie beantwortete Stan=dishs Frage nach Charles Judson,indem sie prompt erklärte, nie voneinem Patienten dieses Namensgehört zu haben, und erlaubte esStandish, selbst in Cheneys Pa»tientenkartei nachzusehen.Als Standish festgestellt hatte,daß tatsächlich keinerlei Unteria»gen für Judson vorhanden waren,bat er, telefonieren zu dürfen, undrief Leutnant Ballard in der Poli=zeizentrale an.»Ich habe eine Spur im Mord anCheney«, sagte er. »Ich beabsich=tige, einen Burschen namens EarleJennings aufzusuchen.« Er nannteeine Adresse und fügte hinzu:»Kannst du mich in einer Viertel'stunde dort treffen, Tom?«»Nein.«»Warum nicht?« fragte Standish,überrascht und etwas verärgertdurch Ballards lapidare Antwort.»Weil ich bis über beide Ohren inder Montanarisadie stecke. Ichmuß gleich zu einer Besprechungmit dem Captain und dem Com=missioner und weiß nicht, wielange das dauert. Ruf mich ineiner Stunde wieder an, Paul.«»In einer Stunde?« wiederholte

Standish aufgebracht. »In einerStunde?«Dann taten Spannung und Über»müdung das ihre; er verlor dengewohnten Gleichmut, und seineStimme wurde schroff. Er sagte,daß er sich seit halb drei Uhrnachts um die Aufklärung einesMordfalles bemühe, was eigent"lieh nicht seine Sache wäre, unddaß er jetzt endlich eine Spur ge=funden habe. Aber wenn Ballardnichts darüber zu hören wünsche,dann sei ihm das auch recht. Erjedenfalls habe nicht die Absicht,eine Stunde ungenutzt verstrei=chen zu lassen, nicht einmal zehnMinuten. Er werde dann eben aufeigene Faust handeln. Und wieBallard darüber denke?»Immer mit der Ruhe«, sagte Bai»lard, »immer hübsch eins nachdem anderen. Wieso ist dieserBursche Jennings denn so wichtig?Wer ist er überhaupt?«»Er ist ein Leichenbestatter«, sagteStandish und legte auf.

Zu der Zeit, da er sein Auto aufder anderen Seite der Straße ge=parkt hatte und sich dem schwarzdrapierten Schaufenster näherte,das in etwas schäbig gewordenenGoldbuchstaben die Aufschrift

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Earle lennings - Bestattungen"ternehmer trug, war Paul Stan"dish beschämt über seinen Aus"bruch und nicht mehr ganz sicher,ob sein Verdacht zu Recht bestand.Er betrachtete das Schaufenster,das ihm nicht viel verriet, stelltefest, daß das Bestattungsunter«nehmen auf der linken Seite einenBäckerladen, auf der rechten einkleines Schreibwarengeschäft alsNachbarn hatte und daß die ganzeUmgebung einen recht herunter«gekommenen Eindruck machte.Einen Moment lang fühlte er sichversucht, es einstweilen dabei be°wenden zu lassen und etwas spä«ter zusammen mit Ballard nocheinmal herzukommen; daß er diesdann doch nicht tat, geschah nichtnur aus Stolz und angeborenemStarrsinn, sondern vor allem ausdem immer wachen Verlangen, dieWahrheit zu erfahren.Nachdem er so weit gekommenwar, konnte er nicht einfach wie=der umkehren und eine Stundevertrödeln, während er auf Ver=Stärkung wartete. Also öffnete erdie Tür und betrat einen langen,schmalen Raum mit dunkel ge"tünchten Wänden, einigen schwarz"gestrichenen Korbstühlen und abegenutztem dunklem Fußbodenbe"

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lag. Am rückwärtigen Ende, nebeneinem dunkel drapierten Durch»gang, stand ein alter schwarzerSchreibtisch.Da niemand zu sehen war, gingStandish an dem Schreibtisch vor=bei, schob die Draperie vor demDurchgang beiseite und kam ineinen kurzen Korridor, der in denAufbewahrungsraum führte. Alser den Aufbewahrungsraum be=trat, hörte ihn der Mann, der dortan einem Sarg beschäftigt war,und fuhr herum - ein dunkel ge"kleideter Mann mit schlauen, un=steten Augen, ungefähr so großwie Standish, aber schmaler. Erhatte eine Art Schraubenschlüsselmittlerer Größe in der Hand.»Was wollen Sie?« fragte er.»Sind Sie Earle Jennings?«»Nja. Wieso?«»Das Gesundheitsamt erteilteIhnen eine Beisetzungsgenehmi-gung für einen gewissen CharlesJudson.«»Nja, stimmt.« Die Stimme desMannes klang mißtrauisch, aberder Ausdruck seiner Augen an»derte sich nicht. »Und wir habenihn heute nachmittag begraben.«»So?« Standish blickte umher, be"merkte im Hintergrund den offesnen Durchgang zu einer Art Ar"

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beitsraum, wo sich niemand wei"ter zu befinden schien, trat lang«sam an das niedrige Podest mitdem Sarg heran und versuchteeinen der Handgriffe des Sarges,um das Gewicht zu prüfen. »Ichbezweifle das«, sagte er. »öffnenSie diesen Sarg und lassen Sie se"hen, wer darin liegt.«Jennings fluchte lästerlich. Dannverlangte er zu wissen, wer Stan=dish sei, und als er das Wort Poli«zeiarzt hörte, trat Angst in seinenBlick. Dennoch versuchte er denwilden Mann zu spielen, aber alsStandish entschlossen auf ihn los"ging, wich er zurück, und sein Ver-halten änderte sich.»Na schön, Doktor«, sagte er. »Siesind schief gewickelt. Doch wennSie unbedingt reingucken müssen- bitte.« Er ging an die andereSeite des Sarges, schraubte dieVerschlüsse los und klappte denDeckel hoch. Als er beiseite trat,warf Standish einen schnellenBlick in den Sarg und zuckte zu»sammen.Denn der tote Mann in dem bil«ligen, flachen Sarg — ein magerer,nicht einmal mittelgroßer Mannmit spitzem Gesicht und dünnemSchnurrbärtchen - war FrankieMontanari, dessen Foto Standish

erst gestern in den Zeitungen ge"sehen hatte.Nach dem ersten Schock schauteStandish genauer hin und ent"deckte das Bnschußloch dicht hin-ter der linken Schläfe.Im Moment, da er es entdeckte,wußte er, daß er einen-Fehler ge"macht hatte. Seine Überraschunghatte ihm anderthalb oder zwei le«benswichtige Sekunden geraubt,und nun war es zu spät. Die jäheBewegung hinter seinem Rückenmehr ahnend als hörend, wollte ersich zur Seite werfen. Aber da trafihn auch schon ein wuchtigerSchlag auf den Hinterkopf, undrasender Schmerz explodierte inseinem Gehirn.Der Fußboden schien sich aufzu-bäumen, der ganze Raum drehtesich wie ein Karussell. Standishsackte betäubt zusammen; er gingin die Knie. Dann war Jenningsüber ihm und schleifte ihn davon,und er hatte keine Kraft, sich da=gegen zu wehren. Eine Tür knalltezu, schwärzeste Dunkelheit hieltihn umfangen.

Ohne das Bewußtsein auch nureinen Moment lang völlig zu ver"lieren, brauchte Paul Standish eineWeile, ehe er die Kraft fand, sich

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aufzurichten. Er erkannte, daß erin irgendeinep engen Abstellkam=mer eingesperrt war - einer so en=gen Kammer, daß ihm der Platzfehlte, sich mit genügendemSchwung gegen die Tür zu wer=fen, um sie aufzusprengen.Als er begriff, daß er sich nichtallein befreien konnte, begann erzu überlegen und fand beinahaugenblicklich das Schema für denMord an Cheney. Jetzt, auf ein=mal, wußte er, was geschehen warund weshalb es geschehen war. Erwußte auch, was er selbst zu er=warten hatte, und war bereit da=für, als einige Minuten später dieTür geöffnet wurde. Er trat hinausund fand Darrow draußen stehen,eine Pistole in der Hand. Halb ne=ben und halb hinter Darrow standJennings.Darrows breites Gesicht war grim=mig und erbarmungslos. »Mußtenunbedingt Ihre Nase hineinstek=ken - huh?« fauchte er.Standish starrte die beiden anund erwog seine Chancen. DieAussichten gefielen ihm nicht; erwußte jetzt, wie recht der Distrikts'anwalt gehabt hatte, als er sagte,Montanari habe einen Fehler ge=macht, als er Darrow bedrohte.»Frankie ist Ihnen also nach der

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Flucht in die Hände gelaufen«/sagte er zu Darrow. »Und erdrohte Ihnen, daß er singen würde- nicht wahr?«»Ja. Er fühlte sich so stark miteinem Schießeisen in der Tasche,der kleine Mann. Mit diesemSchießeisen.« Darrow gestikuliertemit der Pistole in seiner Hand undlachte auf - ein häßliches Geräusch.»Aber ich nahm es ihm einfachweg.«»Gewiß, Sie nahmen es ihm ein=fach weg. Und nachdem Sie ihnaußerdem einfach erschossen hat»ten, saßen Sie auf einmal in derKlemme. Das war ein unvorher»gesehener Mord, ein Mord, denSie nicht hatten planen können.Sie besaßen kein Alibi. Statt des=sen besaßen Sie eine Leiche, die Sieschleunigst verschwinden lassenmußten. Und dafür dachten Siesich eine famose Methode aus.«Standish hielt einen Moment langinne; seine Erbitterung über Dar=rows verderbte Schlauheit war sogroß, daß sie seine Angst vor derGefahr erstickte, die ihm selberdrohte. »Sie brauchten eine Sterbe»bescheinigung. Und um dieseSterbebescheinigung zu kriegen,brauchten Sie einen Arzt. EinenArzt ohne Familie, arm und, wenn

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möglich, ein bißchen vertrottelt -wie zum Beispiel Cheney.« Erholte Atem und fügte hinzu:»Aber Cheney war nicht vertrot=telt. Als Sie das erkannten, wuß=ten Sie, daß Sie auch ihn tötenmußten. Es machte Ihnen nichtviel aus - Blut hatten Sie sowiesoschon an den Händen, und auchfür mehrere Morde kann man janur einmal gehängt werden. Ichdenke, Cheney wußte ebenfalls,um was das Spiel ging.«Wieder hielt er inne, und seine Er»bitterung wuchs ins Unerträgliche,als er sich vergegenwärtigte, wasmit dem Mann geschehen seinmußte, der einst sein Freund ge=wesen war. Cheney hatte zu wäh=len gehabt zwischen Herausgabeder Bescheinigung und dem Tod.Und er mußte erkannt haben, wiewinzig seine Chance war zu über»leben, selbst wenn er das Papierhergab. Aber er hatte die Chanceergriffen, weil es seine einzigeChance war. Und indem er es tat,hatte er zugleich eine Spur hinter»lassen - für irgendwen, der neu=gierig genug sein würde, dieseSpur zu verfolgen.»Die erste Bescheinigung, die erausschrieb«, brummte Darrow,»enthielt mir zu viele merkwür»

dige Worte über die Todesursache.Ich dachte, er versuchte damit demGesundheitsamt einen Tip zu ge-ben, und ließ ihn eine zweite Be»scheinigung mit Worten ausschrei«ben, die ich verstehen konnte.War doch sehr schön, das mit denMagengeschwüren und den Blu=tungen. Ganz unverdächtig. Wo"durch sind Sie stutzig geworden?«»Welchen Unterschied macht dasjetzt noch?«»Keinen, da haben Sie recht, Dots=tor.« Darrow verzog den Mund ZHeinem spöttischen Grinsen; seinekleinen Augen waren unversöhn=lieh. »Tja, morgen früh also wirdFrankie als Charles Judson begra=ben, und niemand außer mir undJennings wird wissen, was mit ihmgeschehen ist. Allerdings werdenwir nun einen größeren Sarg neh=men. Sie müssen nämlich auchnoch hineinpassen, Doktor.«Er wandte den Kopf zu Jenningsund murmelte etwas. Aber Stan=dish hörte es nicht; Schweißtrop»fen standen ihm auf der Stirn,während er seinen Verstand zer=marterte, um einen Ausweg zufinden. Er sah Jennings hinausge»hen und gleich darauf mit zweiSägeböcken zurückkommen; danndirigierte ihn Darrow mit dem

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Schießeisen in einen Lagerraum,wo er das eine Ende eines umfang»reichen Sarges anheben mußte,während Jennings das anderenahm.Er spürte kaum das Gewicht derLast, er dachte an Ballard. Er warsicher, daß Darrow mit seinemPlan nicht davonkommen würde —Ballard wußte, daß er sich zu Jen»nings begeben hatte, und wenn ernicht bald wieder auftauchte, wür"de Ballard in Aktion treten undherausfinden, was geschehen war.Daran gab es keinen Zweifel.Aber er durfte nicht erwarten, daßDarrow ihm diese Geschichte ab"nehmen würde.Dennoch versuchte er es. Wäh=rend sie den Sarg in den Aufbah»rungsraum schleppten, sagte ersein Sprüchlein auf. Darrow, dernebenher ging und ihn nicht ausden Augen ließ, lachte ihn einfachaus.Nun wußte er, daß er zu kämpfenhätte - egal, was dabei heraus'kommen würde. Und er wußte,daß er sich beeilen und handelnmüsse, ehe die Zeit für ihn aus»rann. Da er nichts mehr zu verlie-ren hatte, lag das Problem nurnoch in der Wahl der Methode.Als sie den Sarg auf die Sägeböcke

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hoben, er und Jennings, und Dar»row als unbeteiligter Zuschauerneben der rechten Längsseite desSarges stand, war er plötzlich eis=kalt und konzentriert und wußte,was er zu tun hatte.Er schob - während Jennings amanderen Ende bemüht war, dennicht ganz richtig stehenden Säge"bock mit einem Fuß zurechtzurük=ken, und dabei den Sarg mühsamin der Schwebe hielt - seine linkeHüfte unter die linke Ecke desSarges, half mit beiden Händennach und brachte in jäher Kraftaanstrengung den Sarg aus demGleichgewicht.Was dann geschah, vollzog sichbinnen einer halben Sekunde.Aber für Standish war es eine ra=pide Folge klar und deutlich ge-geneinander abgegrenzter Einzelsheiten. Er hörte Jennings schreien,als der Sarg kippte und zu fallenbegann. Er sah das Mündungs«teuer der Pistole aufblitzen undhörte die Detonationen, als Dar"row blindwütend zweimal schoßund gleichzeitig versuchte, sichdurch eine unbeholfene Rück»wärtsbewegung vor dem stürzen"den Sarg in Sicherheit zu bringen.Dann krachte der Sarg zu Boden,daß der ganze Raum erzitterte.

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Mitten durch das Getöse gellteDarrows Schmerzensschrei - derschwere Sarg hatte ihn noch er"wischt und ihm ein Bein gebro*chen.Danach überstürzten sich die Ein=drücke für Paul Standish. Er sahdie Pistole aus Darrows Hand fal»len und ein Stück über den Bodenrutschen; er sah, daß Jenningsnach der Pistole greifen wollte,und warf sich über den Sarg, umihm zuvorzukommen. Aber Jen=nings hatte den kürzeren Weg underwischte die Pistole.Standish sah, wie Jennings sichwieder aufrichtete und die Pistolegegen ihn hob. Dann dröhnte einSchuß. Jennings zuckte zusammenund taumelte/und Standish glaubete zu begreifen, daß der Schußnicht aus dieser Pistole gekommensein konnte. Während er dem fal=lenden Jennings die Waffe entriß,wurde ihm mit seltsamer Ein"dringlichkeit bewußt, daß Darrowstöhnte wie ein verwundetes Tier.Ungläubig den Kopf wendend,sah er Sergeant Wargo mit einemPolizeirevolver in der Hand nebendem Durchgang zum Laden ste-hen.Im selben Sekundenbruchteil lan"dete Jennings endgültig auf dem

Boden. Darrow hörte auf zu stöh»nen, und plötzlich war es ganzstill im Raum. Wargo kam in Zeit»lupentempo herbei und blickte aufDarrow, der ohnmächtig geworsden war, und dann in MontanarisSarg.Standish, irgendwie verwundert,daß er noch lebte und sich bewe«gen konnte, kam in die Höhe undstieß den angehaltenen Atem aus.Er versuchte etwas zu sagen, muß"te sich aber erst räuspern, ehe dieWorte kommen wollten. Als erWargo die Pistole reichte, sah er,daß seine Hände zitterten, undspürte eine seltsame Schwäche inseinen Beinen emporkriechen.»Woher sind Sie denn gekom-men?« fragte er schließlich.»Ich war draußen.« Wargo bedeu«tete Standish durch eine Handbe«wegung, mit ihm zusammen denSarg von Darrows Bein zu heben.»Der liebe Mike wird also miteinem kürzeren Bein auf den Elek-trischen Stuhl klettern müssen«,sagte er; zur Vervollständigungder Antwort auf Standishs Fragefügte er hinzu: »Leutnant Ballardsagte, nach der Art, wie Sie amTelefon mit ihm sprachen, wärealles möglich, und ich sollte lieberhinfahren, um ein Auge auf Sie

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zu haben. Als ich Mike Darrow inden Laden gehen sah, wurde mirklar, daß ich bald nachschauenmüßte.«

Leutnant Ballard bekam den Restder Geschichte eine halbe Stundespäter zu hören; Darrow war in=zwischen zum Polizeihospital ge°bracht worden und Jennings zumLeichenschauhaus. Da ihm nochimmer der Schock über das in denGliedern saß, was seinem FreundStandish hätte widerfahren kön=nen, waren seine Kommentare ansfangs recht knapp und kritisch.Dann fiel ihm etwas anderes ein,und er zuckte die Schultern.»Weshalb, zum Kuckuck, meckereich eigentlich herum?« sagte er.»Wir haben Montanari, und wirhaben Darrow, und wir wissen,daß du in bezug auf Doktor Che=ney recht hattest. Du hast ganzschöne Angst ausstehen müssen,und das geschah dir recht. Hättestmir ja am Telefon die ganze Ge°schichte erzählen können.«»Ich wußte es zu dieser Zeit selbstnoch nicht«, antwortete Standish.»Wie sollte ich wissen, daß ichMontanari in dem Sarg findenwürde? Alles, was ich wußte, war,daß Cheney jene Sterbebescheinis

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gung niemals 'freiwillig ausgestellthätte.«Ballard runzelte die Stirn, er ver=stand es nicht und wollte wissen,weshalb. »Sterben nicht viele Leu«te an Magengeschwüren und anBlutungen im Magen= und Darm=bereich?«»Doch, natürlich. An der Formu=lierung als solcher war nichts ver»kehrt.«»Was sonst hat dich stutzig ge°macht?«Standish nahm sich Zeit, weil erdie Dinge klarzumachen wünschte.»Hör zu«, sagte er. »Die gesetzsliehen Bestimmungen verlangen,daß, wenn jemand plötzlich stirbt,die Sterbebescheinigung von einemAmtsarzt ausgestellt werden muß- es sei denn, es wäre ein behan=delnder Arzt da', der mit dem Fallvertraut ist. Wörtlich heißt es: Be»handelnde Ärzte dürfen lediglichden Tod solcher Personen beschernigen, denen sie während der zumTode führenden Krankheit ärzt'liehen Beistand geleistet haben,und so weiter.«»Ich begreife immer noch nicht«,murmelte Ballard.»Judsons Sterbebescheinigung be=sagte, die Blutungen seien spontanund eine Folge der chronischen

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Magengeschwüre gewesen. EinArzt aber, der eben herbeigerufenworden war, konnte dies aus eige=ner Feststellung nicht wissen. Erhätte mit dem Krankheitsfall ver=traut sein müssen, um eine solcheDiagnose zu stellen.«»Demnach -«»Demnach fuhr ich, als ich dieseDiagnose gelesen hatte, zu Che=neys Praxis und durchforschte sei=ne Patientenkartei. Cheney hatniemals einen Patienten namensJudson gehabt und ist niemalsordnungsgemäß zu einem Judsongerufen worden. Wäre er an je=nem Abend zu einem Mannnamens Judson gerufen wordenund hätte er diesen im Sterbenliegend gefunden, dann würde erniemals eine Sterbebescheinigungausgestellt, sondern den zuständi=gen Amtsarzt informiert haben.Alles andere wäre ein Verstoß ge=gen die ärztliche Berufsethik undgesetzwidrig gewesen.« Standishmachte eine entschiedene Handbe=wegung. »Und daher wußte ich,daß Cheney nur durch Gewalt zurAusstellung dieser Bescheinigunggezwungen worden sein konnte.Cheney war nun einmal so. Nieim Leben hätte er etwas Unehren=

haftes getan. Aber er tat immersein Bestes, um die Wahrheit wahrkimgen zu lassen.«Ballard blickte Paul Standish an;Respekt und noch einiges mehr lagin seinem Blick. Er berührte denDoktor beim Arm.»Wenn du einem Burschen ver=traust«, murmelte er, »dann gehstdu für ihn in die Hölle - nichtwahr, Paul?«Standish hörte nur einen Teil vonBallards Worten und war zu er=schöpft, um dem Gehörten vielAufmerksamkeit zu schenken. Waser sich im Augenblick am meistenwünschte, waren ein Drink undetwas zu essen. »Was sagtest duda?« fragte er.»Nichts«, erwiderte Ballard. »Aberweißt du, Paul - laß uns gehenund deine hübsche Sprechstunden»hilfe treffen, die immer so viel andir herumnörgeln mußte. Ich könn=te mir denken, daß sie in Zukunftziemlich stolz auf dich sein wird...Wie ist das - spendierst du heutedie Drinks, oder soll ich es tun?«Standish sagte, das sei ihm gleich'gültig.Aber das erste Glas müßtensie auf Dr. Edward Cheneyleeren ,.,

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John D. MacDonald

Immer diese ganz Schlauen

Gestern gab er mir wieder einmalunverhofft die Ehre - mein FreundKeegan, Detektivleutnant von derDes'Moines'Polizei.Er brachte einen fühlbaren Hauchdes frostigen Iowa=November=abends mit ins Zimmer, pflanztesich breitbeinig vor dem Kamin=teuer auf, den Mantel offen, denHut ins Gesicht geschoben, riebsich die großen, knochigen Händeüber den Flammen, grinste michzwinkernd an und sagte: »Fertigfür diesmal, Doc. War ein saube=res Päckchen. Wirklich - ein sau=beres Päckchen ...«»Bourbon, Keegan?« fragte ich.»Nur, falls kein Brandy mehr daist, Doc. Richtiges Brandywetterheute.«Als ich mit der Flasche und zweiGläsern zurückkam, hatte er sei'

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nen Mantel ausgezogen und überdie Couch geworfen; sein Hut lagdaneben am Boden. Er selbst saßvor dem Feuer, die langen Beinegegen die Flammen gestreckt, undseine Schuhsohlen dampften.Ich goß Brandy ein, rückte denkleinen Kamintisch zurecht, setztemich an das andere Ende und war=tete. Ich wußte, was Keegan be"wegte. Er hat das Haus voll halb«erwachsener Töchter, die jedenRaum mit ihrem Gekicher und Ge«hopse füllen; dort findet er keineGelegenheit, von seinen düsterenTriumphen zu sprechen. Alsopflegt er mich, unter anderem, stetsmit seinem Bericht über den je»weils neuesten Fall heimzusuchen.Immer erst, wenn er den Fall ab=geschlossen hat. Doch dann brand"frisch ...

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Immer diese ganz Schlauen

Er guckte mich von der Seite anund fragte: »Doc, haben Sie jeversucht, einen Autohändler hin=ters Licht zu führen?«»Sicher. Damit er das alte Auto zuhöherem Preis in Zahlung nimmt.Aber geglückt ist es nie.«»Wie sollte es auch? Wissen Sie,was mir mal einer von diesenBrüdern gesagt hat? >Leutnant<,hat er gesagt, »Sie verkaufen viel"leicht alle zwei Jahre mal einAuto. Aber ich verkauf zehn amTag. Welche Chance bleibt Ihnenda gegen mich?<«Das war die Art, wie Keegan seineBerichte zu beginnen pflegte; ichwurde aufmerksam.»Und genauso ist's mit den ganzSchlauen, Doc«, fuhr er grinsendfort. »Mit diesen Laien, die sicheinbilden, sie brachten ein fehler»loses Verbrechen zustande ...Gebt mir ein Dutzend von diesenganz Schlauen, und ich vertilge siezum Frühstück ohne Pfeffer undSalz! Die Berufsverbrecher sindunsere Plage, 'die können einem zuschaffen machen. Aber diesen ganzSchlauen passieren Dinge! Na, ichsage Ihnen, Doc - die lassen Ma=sehen im Netz, daß ein Walfischdurchschlüpfen kann! Da wardoch die Sache mit jener Frau in

dem Wochenendhaus am Bären»tatzensee/ auf dem halben Wegnach Omaha— jetzt, vor zwei Wo=Aen, Ende Oktober. Erinnern Siesich, Doc?«»So ungefähr. Hieß es nicht, siewäre von einem Landstreicher er=mordet und beraubt worden? IhrMann kam doch von einer Ge»schäftsreise zurück und fand sieermordet - stimmt's? Und daschien sie schon zwei Wochen odernoch länger tot gewesen zu sein -nicht wahr? Niemand hatte sievermißt, infolge der fortgeschrit"tenen Jahreszeit waren die Nach»bam schon in die Stadt zurückge«kehrt, und die Leute im nahenDorf hatten geglaubt, auch siewäre bereits wieder in der Stadt.Sie war erdrosselt worden, soweitich mich erinnere.«»Ja, so stand's damals in der Zei"tung. Aber nun will ich's Ihnenmal genau erzählen, damit Sie se=hen, welches Problem zu lösenwar ... Grosswalk heißen dieLeute, Cynthia und Harold Gross=walk. Hatten sich vor zehn Jäh"ren kennengelernt. Damals stu=dierte er noch Medizin und warVierundzwanzig. Sie war Dreißigund hatte allerlei Geld. Er heira=tete sie, gab das Studium auf und

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tat die nächsten fünf oder sechsJahre lang gar nichts. Dann über=nahm er eine Vertretung - ärzt=liehe Instrumente, Verbandszeug,Sprechstundenbedarf ... WissenSie, Doc — wenn eine verheirateteFrau umgebracht wird, kümmereich mich immer erst mal darum,wie's in der Ehe ausgesehen hat.Können Sie verstehen - eh?«»Und ob«, bestätigte ich.»Na schön, ich forsche also nach.Natürlich haben sie nicht nur dasWochenendhaus, sondern auch einhübsches Haus hier in der Stadt.Besitzen kaum Freunde, dafüraber Nachbarn mit Ohren. Habensich oft und heftig gestritten -wahrscheinlich um Geld, wie dieLeute vermuten. Das Geld gehörtnämlich ihr. Gehörte nämlich ihr,muß ich wohl sagen.Schön. Ich nehme mir diesenGrosswalk vor. Na und, meint er,was wäre denn schon dabei, wennsie sich manchmal nicht so rechtvertragen hätten? Ich sollte malgefälligst versuchen, zusammenmit der Staatspolizei herauszufin"den, wer seine Frau umgebrachthätte, statt in seinen häuslichenAngelegenheiten herumzuschnüf=fein. Daraufhin erzähle ich ihm,daß er eigentlich ganz hübsch ver»

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dächtig ist. Dies sei ihm längst be=kannt, sagt er, aber er hätte sienun mal nicht umgebracht. Im sel=ben Atemzug behauptet er einbißchen zu viel - er könne sienämlich gar nicht umgebracht ha»ben, und mehr wolle er nicht sa=gen ... Spielte eben auf ganzschlau, der gute Harold. Aber ichvertilge ja diese ganz Schlauenzum Frühstück ohne Pfeffer undSalz ...«Keegan schwieg und betrachtetegedankenverloren sein leeres Glas.Ich beugte mich hinüber und goßes wieder voll.»Sie merken, Doc, worauf er hin=auswollte. Er überließ es mir, zubeweisen, wieso er sie gar nichtumgebracht haben könnte. Genauumgekehrt also! Ganz schlau!Na schön - ich gehe erst mal zudem Verkaufsmanager der Firma;für die er arbeitet. Richtig - dieVertreter müssen genaue Rappor=te liefern. Und Harold Grosswalkhat genaue Rapporte geliefert. Erhatte eine westliche Tour gehabt- Kalifornien. Bißchen weit weg,Und doch nicht ganz ausgeschlos=sen, daß er zwischendurch malherübergeflogen wäre/um sich indas Wochenendhaus am Bärentat=zensee zu schleichen, seine Frau

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umzubringen, ein bißchen Geldund anderen Krims einzustecken,damit die Sache echt aussieht,dann schnell wieder zurückzuflie=gen und da weiterzumachen, wo eraufgehört hat. Hätte anderthalbNächte und einen Tag oder an=derthalb Tage und eine Nacht be=ansprucht. Nach polizeiärztlicherFeststellung ist die Frau ungefähram 10. Oktober ermordet worden,und erst am 25. Oktober hatGrosswalk sie gefunden. Aber wasich von dem Verkaufsmanagerhöre, fügt sich gar nicht in meineTheorie!Der Verkaufsmanager erzählt mirnämlich, daß Grosswalk am 8. Ok=tober drüben in Los Angeles krankgeworden ist und sich in ein Hos=pital begeben hat und daß er vom8. bis zum 15. Oktober in diesemHospital gewesen ist, also einevolle Woche. Ich bekomme Na°men und Adresse des Hospitals,und insoweit wäre eigentlich allesin schönster Ordnung. Doch jetzt,Doc, werden Sie sehen, welchenfundamentalen Fehler unser ganzschlauer Harold Grosswalk ge=macht hat! Weshalb nämlich hater mir jenen simplen und klarenSachverhalt nicht selbst erzählenkönnen? Wäre er unschuldig, dann

hätte er es erzählt. Aber er, unserganz Schlauer, war ja so stolz aufjede Schwierigkeit, die er mir inden Weg legen konnte!«»Und daraufhin mußten Sie per=sönlich nach Los Angeles?« fragteich und schenkte die Gläser aber»mals voll.»Freilich mußte ich das«, erwiderteer und grinste grimmig. »Aber eshat ein ganz schönes Gerede ge=kostet - sie geben ja nicht gerneGeld aus für derartige Reisen.Wollten mir einreden, das allesließe sich auch durch Telefon undFernschreiber klären. Schließlichrückten sie wenigstens die Spesenfür eine Eisenbahnfahrt herausund sagten, wenn ich partout fliesgen wollte, dann müßte ich dieDifferenz aus eigener Tasche zu=zahlen - aber das machen Sie malals Vater von vier Teenagern!Gut, ich fuhr also mit der Eisen"bahn, kam hin und besuchte denArzt - das heißt, die Ärzte, dennGrosswalk hatte sich ja in ein ridi=tiges Hospital begeben ... Ja, na»türlich - der Fall Grosswalk! Istihnen noch ganz geläufig. Nachden Symptomen, die der Patientzeigte, schien es sich um das An°fangsstadium eines Nervenzusam=menbruches zu handeln - nicht

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ganz einfach zu diagnostizieren.Sie drehten ihn durch alle mögli»dien Tests, Untersuchungen, Be«obachtungen, sie gaben ihm be»ruhigende Medikamente und In»jektionen. Versicherten mir, daßer die ganze Zeit ununterbrochendort gewesen wäre - er hätteüberhaupt nicht verschwindenkönnen, nicht mal für eine Vier=telstunde. Sie zeigten mir die Un=tersuchungsbefunde und die Be»handlungsrapporte - lückenlos,wirklich jede halbe Stunde ge»deckt. Was ihm eigentlich gefehlthat, darüber sind sie sich allersdings nicht ganz klar geworden.Dem Abschlußbefund zufolge warer jedenfalls nachher wieder ziem"lieh okay, die sieben Tage im Ho=spital mit allem Drum und Dranhatten ihm gut getan. Am Spät"nachmittag des 15. Oktober ent=ließen sie ihn und gaben ihm einRezept für ein leichtes Schlafmit=tel mit ... Sie sehen, Doc - werselber medizinische Kenntnissehat, kann ein ganzes Ärztekolle"gium an der Nase herumführen!«»Demnach war Ihre Reise um»sonst?« fragte ich.»Ach wo, keineswegs.« Keeganlachte trocken. »Ganz nebenbeihatte ich ja auch nach Besuchern

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gefragt. Sie zeigten mir eine Re=gistrierkarte. Ein Mädchen hatteunseren guten Harold besucht, sooft es erlaubt war - immer das"selbe Mädchen. Ich notierte mirNamen und Adresse und fuhr hin.Ein nettes hübsches Ding, neun»zehn Jahre alt, lebt bei den Eltern.Die Eltern halten Grosswalkdurchaus nicht für den geeignetenMann, das Mädchen dafür um somehr. Liebt ihn heiß und innig. Ichkriege heraus, daß Grosswalk derKleinen allerhand vorgeschwatzthat. Seine Frau wäre leidend, un°heilbar krank und hätte nicht mehrlange zu leben. Deshalb wäre esunnütz und sinnlos, sie noch miteiner Scheidung zu quälen. Mankönne doch warten. Und natürlichwäre es für das Mädchen sowiesobesser, einen Witwer zu heiraten,statt einen geschiedenen Mann.Selbstverständlich hatte sie inzwi»sehen Nachricht von Grosswalkbekommen - er habe seine Frauermordet aufgefunden und werdeso bald wie möglich kommen, umdie neue Situation mit ihr undihren Eltern zu besprechen. Daßwir ihm einstweilen strikt verbo°ten hatten, die Stadt zu verlassen,teilte er ihr allerdings nicht mit.Na schön - ich versuche der Klei»

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nen klarzumachen, daß sie lieberkeine allzu üppigen Hoffnungenhegen möge, denn leider hättenwir Grosswalk in Verdacht, seineFrau ermordet zu haben. Das gibtnatürlich Geschrei und Tränen.Die Mutter kommt herbeigelau«fen - ja, sie sei gar nicht über»rascht, so etwas hätte sie sichlängst gedacht, und so weiter.Beim Weggehen höre ich noch bisauf die Straße hinaus, wie dieMutter mit dem Mädchenschimpft ...«»Hallo, die Gläser sind leer«, warfich ein und behob den Mangel.Keegan quittierte es mit breitemGrinsen, nahm einen Schluck undfuhr fort: »Hierher zurückgekehrt,ging ich sofort zu Mrs. Gross«walks Arzt, und der erzählte mir,sie wäre gesund gewesen wie einPferd. Anders hatte ich es kaumerwartet. Gut. Dann fuhr ich zumBärentatzensee hinaus und sahmir das Häuschen noch einmal an.Reizend, sage ich Ihnen, Doc. Festgenug gebaut, daß man auch denhärtesten Winter dort verbringenkann. Ganz moderne ölheizan"läge, reizende kleine Küche, ditoBad, zwei hübsch eingerichteteZimmerchen. Alles besser gelüftetals bei meinem ersten Besuch, aber

an dem Geruch von damals warnatürlich die Leiche schuld. Gross»walk hatte seinerzeit übrigens an«gegeben, er hätte nichts berührt,nur die Leiche, und das Häuschenwäre nicht abgeschlossen gewesen.Na schön - ich schnüffelte herum.Ließ mir dabei verdammt viel Zeit.Mrs. Grosswalk hatte alles sauberund hübsch instandgehalten. Imsogenannten Schlafzimmer gab eszwei Klappbetten. Nur eins davonwar heruntergeklappt. Ein Nacht-hemdchen lag darauf, durchsichtigund modisch, und das kam mirseltsam vor. Ich sah mir den Wand«schrank mit der Wäsche an. Rieh«tig - da hatte Mrs. Grosswalk einhalbes Dutzend Flanellpyjamas,die natürlich viel besser zu denrauhen Oktobernächten dort dräu"ßen paßten.Hier in der Stadt hatte ich schongenug herumgefragt. Ich wußte,daß 'Mrs. Grosswalk alles andereals leicht und flatterhaft gewesenwar - keine Frau von der Sorte,die sich einen Freund kommenläßt, wenn der Mann mal fort ist.Was mag einer solchen Frau An-laß geben, sich an einem bestimm»ten Abend mal nicht praktisch,sondern hübsch mit Reizwäscheausstaffiert ins Bett legen zu wol"

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len? Klare Sache, Doc - der Gatteist von der Reise zurückgekehrt!Aber verdammt - er konnte zudieser Zeit doch gar nicht von derReise zurückgekehrt sein! Oder?Jedenfalls merkte ich mir die Sa=ehe mit dem Nachthemdchen undbeschloß, darüber noch nachzu=denken.Dann schnüffelte ich weiter herumund fand etwas anderes. NämlichSpuren, die erkennen ließen, daßein Auto tief in das Gebüsch ne=ben dem Grundstück hineingefah=ren war. Damals, als ich wegender Leiche das erstemal dort drau=ßen gewesen bin, hatte Mrs.Grosswalks Auto hinter demHäuschen geparkt gestanden. Nunüberlegte ich - wenn der Wagentief ins Gebüsch gefahren wurde,konnte man ihn nicht sehen, we=der vom Weg her noch vomGrundstück aus. Und wenn keinWagen zu sehen war, mußte dochautomatisch der Eindruck entste=hen, es wäre niemand zu Hause,und daraufhin würde dann auchniemand anklopfen. Das wun=derte mich ein bißchen, aber viel=leicht hatte Mrs. Grosswalk es sogemacht, wenn sie gar keinenWert auf Besuch legte - es gibtsolche Menschen, und zu Mrs.

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Grosswalk schien es zu passen. Nagut, ich schnüffelte weiter. Guckteauch mal in den Kühlschrank, undder war bis oben voll mit gutenSachen, Mrs. Grosswalk hätte fürlängere Zeit nichts einzukaufenbrauchen. Hmm ...« Keegan hieltinne, lehnte sich zurück und sahmich erwartungsvoll an.»Na, Keegan«, sagte ich, weil ichiwußte, daß er dies von mir erwar=tete, »ich bin aber sicher. Sie ha=ben noch etwas mehr entdeckt.«»Na eben - den Widersinn, dieglatte Unmöglichkeit! Hier pas=siert ein Mord, und zur gleichenZeit befindet sich der Mörder meh=rere tausend Meilen weit weg inLos Angeles! Das habe ich ent=deckt! Und doch kriegte ich ihn -weil er ja einer von den ganzSchlauen war! Können Sie raten,wie er die Sache angestellt hat?«Natürlich hatte ich nicht die ge=ringste Ahnung. Aber ich mußtees versuchen, das war ich Keeganschuldig. »Nun, vielleicht hat ersich irgendeiner raffinierten Vor=richtung bedient?«»Femgesteuerte mechanische Hän=de, um seine Frau zu erdrosseln?Nein, Doc - danebengeraten!«»Dann hat er eben irgendwen ge°dungen.«

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»Freilich gibt es Kerle, die man fürso etwas dingen kann. Doch die er=ledigen ihren Job mit dem Schieß'eisen. Oder mit dem Messer. Odermit einem Stück Bleirohr. Voneinem gedungenen Würger habeich noch nie gehört. Nein, nein,Doc - er hat es wahrhaftig selbstgetan!«»Ehrlich, Keegan - ich kann mirnicht vorstellen/ wie er das gemachthaben sollte.«»Hätte mich auch verdammt ge=wundert, wenn Sie sich das vor=stellen könnten, Doc! Schön, ichwerd's Ihnen erzählen ... Ich über»legte mir alles noch einmal, ganzgenau. Und da kam mir eine Er"leuchtung. Simple Cop=Logik, Doc- was durch die geographischenGegebenheiten unmöglich schien,mußte anderweitig zu erklärensein. Vielleicht durch den Zeit»punkt.Gut. Ich gehe also zu dem Polizei»arzt, der damals die Leiche unter»sucht hatte, und frage ihn einiges.Nein, sagte er, als er diese Frauuntersuchte, wäre sie bestimmtschon zwölf bis fünfzehn Tage totgewesen. Wodurch er das wüßte,frage ich. Durch den Zustand derLeiche, sagt er, durch die Art, wiedie Verwesung fortgeschritten ist.

Ich frage ihn, ob es da feste Regelngibt. Nein, sagt er, keine absolut'festen Regeln, man müßte esschätzen - unter Berücksichtigungder Todesursache, der herrschen'den Temperatur, der etwa vorhan'denen Raumfeuchtigkeit, der Kör=perkonstitution des Toten, der Artseiner Kleidung, des Umstandes,ob Insekten an ihn konnten odernicht und welche Art von Insekten,und so weiter. Da hatte ich plötz=lieh eine ganz klare Idee!«Ich goß die Gläser wieder voll.Keegan nahm einen kleinenSchluck, nickte mir zu und sprachweiter: »Ich fuhr noch einmal hin=aus zu dem Häuschen und schnüfsfeite von neuem herum. Dauerteeine ganze Weile, bis ich den erstenHinweis entdeckte - die Kerzen!Es gibt kein Wochenendhaus, indem nicht auch Kerzen verwahrtwürden. Die Grosswalks verwahr"ten ihre in der Küche, auf einembesonderen Brettchen im Küchen»schrank. Ganz seltsam aussehendeKerzen — das muß ich schon sagen,Doc! Irgendwie halb zerschmolzenund dann wieder fest geworden,mit flachen Unterseiten und dauer»haft aneinandergeklebt - so lagensie da.Ich sah es, wunderte mich und

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Katte einen neuen Einfall. Ich ginghin und inspizierte die Brennerder Ölheizung. Unter den Heizele»menten fand ich ein paar regel"recht ausgeglühte, mürbe gewor"dene und heruntergefallene Me=tallstückchen. Das genügte mir.Und der Rest war ganz einfach.Ich ließ Grosswalk ins Headquar»ter holen und für einige Stundenin eine Haftzelle sperren. Inzwi=sehen nahm ich mir einen unsererjungen Polizisten vor, steckte ihnin ein buntes Baumwollhemd, eineausgebeulte Arbeitshose und eineschäbige Lederjacke und bläute ihmein, was er nachher in GrosswalksGegenwart erzählen sollte. Erkriegte es prachtvoll hin - ein biß"chen fahrig und stockend und garnicht wie auswendig gelernt.>Ja<, sagte er und hatte sogar einerumplige Stimme, >ja, Leutnant -vorchtes Jahr, da hab' ich mir dochso 'ne kleine Motorsäge jekauft.Un mit der bin ich nu immer rumzu den Camps. Sind doch villeLeute da, wo Feuerholz jeschnittenhaben wollen. War auch bei MissisJrosswalk jewesen. Die brauchtekein Schnittholz. War aber freund"lieh und nett und brachte mir waszum Trinken raus.< Ich warf dieFrage ein, wann das gewesen

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wäre. >Na<, sagte er, >so irjend»wann um den Siebzehnten nun,jlaube ich - irjendwann um denSiebzehnten rum.<Das war nämlich ein Punkt, beidem wir vorsichtig zu sein hatten- wir durften das Datum nicht aufden Tag genau festlegen lassen.>Was denn, um den Siebzehntenrum?< sagte ich zu dem vermeint«liehen Motorsägenbesitzer. >Damuß sie doch schon eine Wocheoder noch länger tot gewesen sein!Irren Sie sich da nicht mit demDatum, Boy?<Er schüttelte bedächtig den Kopfund erklärte: >Nein, Leutnant - eswar um den Siebzehnten rum! Undvon wejen tot — da war sie nichttot! Höchst lebendig war sie da!Und ich hab ihr nich etwa ver-kannt. Ich kannte ihr doch, hatteihr früher schon im Dorf jesehen- so 'ne rundliche, freundlicheFrau mit blondem Haar. Nein,nein, das war um den Siebzehntenrum, und da lebte sie noch! Aberwissen Sie was, Leutnant - ichkann ja mal jehen und mein Rech»nungsbuch holen. Da steht's drin,wann ich im Camp beim Bären»tatzensee jewesen bin. Und daswar um den Siebzehnten rum!<«Vor meinem geistigen Auge war

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ein deutliches Bild des biederenMotorsägenmannes entstanden -ich mußte lächern.Keegan sah es und sagte grinsend:»Komischer Trick — wie? Hauteaber hin... Na, ich schicke alsoden Sägenbesitzer los, damit ersein Rechnungsbuch holt. »Dauertaber 'n Weilchen<, sagt er noch,>ich muß ja erst janz weit raus<,und poltert davon ... Ich hatte na»türlich die ganze Zeitlang unserenSchlaukopf genau im Auge behal=ten und merke jetzt, daß er weichwird. Noch ein paar freundlicheFragen von mir, und er fängt an zugestehen.

Am Sechzehnten hat er sie um=gebracht - am Tag, nachdem sieihn aus dem Hospital entlassenhatten. War natürlich mit demFlugzeug herübergekommen. Abernicht hierher, sondern nach Oma«ha, wo er vorsorglich schon seitanderthalb Monaten ein altes Autofür die letzten fünfzig Meilen be=reitstehen hatte.Er erzählt die ganze Sache, alsspräche er zu sich selbst, den Blickstarr zu Boden gerichtet. Hätte denMord nicht riskiert, wenn seineFrau die letzten sieben Tage da»vor mal in der Stadt oder im Dorfgewesen wäre. Immerhin kannte

er ihre Gewohnheiten - war sieerst mal draußen, dann verließ siedas Grundstück am liebsten über«haupt nicht mehr, und diesesmalhatte sie es seit zehn, elf Tagennicht verlassen.Sie war etwas überrascht, ihnfrüher als erwartet wiederzusehen,und wunderte sich über das alteAuto. Aber er erzählte ihr, dieFirma hätte umdisponiert und daseigene Auto hätte er unterwegs inReparatur geben müssen - jetztwäre er vier, fünf Tage frei, undnun wollten sie es sich mal wiedernett und gemütlich machen, wie inalten Zeiten. Darüber freute sie

-sich sehr. Und nach einer Stunde,kurz bevor sie zu Bett gehen woll"ten, riskierte er es. Er faßte sie vonhinten mit einem Arm um denHals und drückte, bis sie tot war.Er sagte, es hätte endlos gedau"er t . . . Das geschah gegen neunUhr abends.Als nächstes machte er sämtlicheFenster fest zu und schloß die Vor»hänge, wusch sein Geschirr, seinBesteck und sein Glas ab, über-zeugte sich, daß der Tank der 01°heizung noch fast voll war, undstellte den Thermostat auf diehöchste Stufe ein. Außerdem pack"te er so viel Brennholz wie möglich

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in den Kamin und machte auchdort Feuer - er wußte, daß es bin»nen weniger Stunden wegbrennenwürde. Dann setzte er zwei ble«eherne Waschwannen voll Wasserauf den ölfeuerungsofen, nahmalles Geld, das er finden konnte,und auch etwas von ihremSchmuck, knipste das Licht aus,schloß die Tür hinter sich zu undfuhr ihren Wagen neben demGrundstück so tief ins Gebüsch,daß er nicht mehr zu sehen war.Er sagt, als er das Haus verließ,wäre es dort schon so heiß gewe=sen wie in einem Ofen ... Hmm,wenn man sich das vorstellt, wirdman ganz durstig - finden Sienicht, Doc?«»O doch«, bestätigte ich und fülltedie Gläser nach.»Tja, und dann«, sagte Keegan,nachdem er einen Schluck genom=men hatte, »dann raste er mit demalten Auto nach Omaha zurück,ließ es dort irgendwo stehen underwischte tatsächlich noch das Elf»uhrflugzeug nach Los Angeles. InLos Angeles telefonierte er amnächsten Morgen herum undmachte Kundenbesuche über Kun=denbesuche, um sein Alibi zu si=ehern. Anschließend absolvierte erden Rest seiner Geschäftstour und

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kehrte am Vormittag des Fünf und»zwanzigsten zum Häuschen amBärentatzensee zurück. Er betratdas Häuschen und konnte unterAufbietung aller Energie geradenoch sämtliche Fenster aufreißen.Dann rannte er eiligst in die frischeLuft hinaus, denn ihm war hunde»elend geworden.Er ließ über eine Stunde vergehen,ehe er sich wieder hineinwagte. Bisdahin war die Temperatur schonannähernd normal geworden. Ersah sich im Haus um und bemerkte,was ihm damals entgangen war -nämlich, daß sie 'beide Betten her"untergeklappt hatte. Er klapptesein Bett hoch. Aus den Wannenauf dem Heizkessel war natürlichdas Wasser verdampft, und dieWannenböden waren durchge"brannt. Er nahm die Wannen undschmiß sie in den See.Seine Frau wollte er begreiflicher»weise am liebsten nicht betrachten,aber er sagt, er hätte sie einfachbetrachten müssen, und sie hätteausgesehen wie eine zwei Wochenalte Leiche - die furchtbare Hitzeim Haus hatte also den beabsich»tigten Erfolg gehabt. Bei dieserFeststellung sei ihm abermalsschlecht geworden.Danach hat er ihren Wagen aus

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dem Gebüsch geholt und zum ge°wohnten Platz hinter dem Hauszurückgefahren. Dann ist er wie=der hinein, hat sich alles noch malgenau angesehen und für gut be=funden, hat die meisten Fensterzugemacht und sich schließlich insDorf begeben, um die Polizei zualarmieren... Tja — ein ganzSchlauer, Doc! Und diese Sortevertilge ich zum Frühstück ohnePfeffer und Salz, wie Sie sehen.«Zufrieden seufzend leerte er seinGlas. Als ich es von neuem füllenwollte, machte er eine abwehrendeHandbewegung.»Immer diese ganz Schlauen!«sagte er und schüttelte milde denKopf. »Kommen sich wunder werweiß wie gerissen vor und lassenin Wirklichkeit Löcher im Netz,daß ein Walfisch hindurchschlüp»

fen kann ... Wenn sidi die räum=liehe Entfernung nicht zwingenläßt, nimmt so ein starrsinnigerCop eben den Zeitfaktor unter dieLupe - an irgend etwas muß es jahapern, und zaubern kann auchder Schlaueste dieser ganz Schlauennicht,.. Ouuaah -«, er gähntelaut. »Können es morgen in allerRuhe in den Zeitungen lesen, Doc.Dachte mir aber. Sie hätten Spaßdaran, es glekh aus der Quelle zugenießen.«Damit erhob er sich.Ich half ihm in den Mantel. B"knallte sich den Hut auf den Kopf,als gelte es, einen Grundstein zusetzen. In der offenen Tür blieb erstehen und grinste mir zu.»Immer diese ganz Schlauen,Doc«, murmelte er. »Immer dieseganz Schlauen...«

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Das verschlossene Zimmer

Vielleicht haben Sie die Tatsachenin der Zeitung gelesen: FrancisSeton wurde hinter seinem Schreib-tisch am Boden liegend gefunden,dem Tode nahe durch einen kom»plizierten Schädelbruch. Er war miteinem bleigefüllten Besenstielmehrmals über den Hinterkopf ge«schlagen worden. Sein Safe warberaubt worden. Die Leute, die ihnfanden, waren seine Sekretärin,Iris Lane, und sein Bibliothekar,Harold Mills; die beiden waren -wie es im höflichen Sprachge'-brauch der Zeitungen heißt - hier»

. zu von der Polizei befragt wor"den.Insoweit scheint es recht alltäglich.Nichts zeigt an, weshalb Superin"tendent Hadley von Scotland Yardwegen dieser Angelegenheit fastvon Sinnen geriet und weshalb er

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gegen zehn Uhr an einem strahalenden Junimorgen sich Dr. Gi"deons Fells Haus in Chelsea nä»herte und an der Tür läutete.Die Frühsommersonne verlieh denalten Häusern am Themseuferganz eigene Reize; ein leicht dun»stiges Glitzern lag über dem Flußund den blumenverzierten Ufer-gärten. Und oben, im sonnen"durchfluteten Studio mit den gro=ßen Fenstern, fand Hadley den ge=lehrten Doktor zigarrenrauchendmit der Lektüre eines Magazinsbeschäftigt.Dr. Fells mächtige Gestalt ragteaus dem übergroßen Sessel empor,der seinen eigenen Dimensionenannähernd entsprach. Sein rundesrosiges Gesicht strahlte ein freund"liches Begrüßungslächeln aus, wäh--»r<nd er dem eintretenden Hadley

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Das verschlossene Zimmer

über den Rand seiner Brille entge=genblickte. Doch schon bei Had»leys ersten Worten zog ein beküm=merter Ausdruck die Ecken seinesSchnurrbartes herab.»Seton ist wieder bei Bewußt«sein«, verkündete Hadley. »Ichhabe eben mit ihm gesprochen.«Dr. Fell brummte. Widerstrebendlegte er das Magazin aus derHand.»Ah«, sagte er, »und Seton be=streitet natürlich die Geschichte,die seine Sekretärin und sein Bi=bliöthekar erzählen?«»Nein. Er bestätigt sie.«»In jeder Einzelheit?«»Ja, in jeder Einzelheit.«Dr. Fell blähte seine Wangen auf,blies einige dicke Wolken Zigar»renrauch in die Luft und blickteihnen versonnen nach. Seine Baß-stimme war gedämpft.»Wissen Sie, Hadley«/ brummteer, »das habe ich beinah erwar»tet.«»Ich nicht«, schnappte der Super=intendent. »Und ich akzeptiere esauch nicht ohne weiteres. Deshalbbin ich hier. Sie werden sich dochirgendeine Theorie über diesenunmöglichen Einbrecher gebildethaben, der einem Mann die Schä»deldecke einschlug und den Safe

plünderte und dann einfach in derLuft verschwand. Meine Theorieist nach wie vor, daß Miss Laneund Harold Mills lügen. Wenn...«Er hielt inne und starrte, am Fen"ster stehend, auf die Straße hinab.Seine Handbewegung war sodringlich, daß Dr. Fell sich ächzendund mit einiger Mühe aus demSessel erhob und ans Fenster trat.Unten, auf dem gegenüberliegen»den Gehsteig, war ein nett undsommerlich gekleidetes Mädchenzu sehen, das nachdenklich zu denFenstern heraufschaute. Als Dr.Fell den Vorhang beiseiteschob,wodurch er und der Superinten"dent sichtbar wurden, schien es,als blicke sie ihnen kühn in dieAugen,Sie war das, was man einen sport°liehen Typ nennt, mit wohlgeform"ter, mittelschlanker Figur und em»stem, aber sehr sympathischemGesicht. Ihr halblanges braunesHaar war zu einem Pferdeschwanzzusammengefaßt. Ihr Teint zeigteeine angenehme Sonnenbräune.Sie war nicht auffallend hübsch,aber Gesundheit, Lebenskraft undoffensichtliche Charakterstärkeverliehen ihr einen weit größerenReiz, als bloße Hübschheit diesvermocht hätte.

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»Iris Lane«, sagte Hadley mit ver=haltener Stimme.Dr. Fell war auf leicht zerstreuteArt verwundert. Er hatte sichFrancis Setons Sekretärin viel älterund ausgesprochen mäusisch vor=gestellt.Als Iris Lane die beiden Männeram Fenster sah, zeigte ihr aus»drucksvolles Gesicht eine ganzeSkala von Gefühlen - zuerstÜberraschung/ dann Enttäuschung,danach leichter Ärger und schließ»lieh sogar Furcht. Ihr rechtes Kniebewegte sich unter dem Rock, alswolle sie im nächsten Moment är=gerlich mit dem Fuß aufstampfen.Dr. Fell und Hadley dachten eineSekunde lang, gleich werde siekehrtmachen und davonlaufen.Doch dann schien sie einen Ent=Schluß zu fassen. Sie blickte schnellnach rechts und nach links undkam mit raschen, energischenSchritten quer über den Fahr=dämm auf das Haus zu.»Was soll denn das bedeuten —?«überlegte Hadley laut, alsderDok=tor ihn unterbrach.»Sie will mich sprechen, verlassenSie sich darauf«, dröhnte er mitseinem ungeheuren Baß, »und ichbin froh, daß Ihr Anblick sie nichtdoch noch verscheucht hat.«

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Miss Lane bestätigte es wenigeAugenblicke später. Trotz all ihrerMühe, unbefangen und kühl zuwirken, kehrten ihre Augen im»mer wieder zu Hadley zurück,»Es scheint«, sagte sie und ver=suchte ein kleines Lächeln, »daßich den Superintendenten gerade"zu verfolge. Oder er mich. Ich.weiß nicht, welches von beiden zu=trifft.«Hadley nickte. »Scheint mir auchso«, äußerte er unverbindlich,»Führt Sie etwas Besonderes her?«»Ja. Ich — ich wünsche DoktorFell zu sprechen. Allein.«»Oh. Weshalb?«»Weil es meine letzte Hoffnungist«, antwortete Iris Lane mit er»hobenem Kopf. »Weil es heißt,daß niemand, nicht einmal einstreunender Hund, von hier weg=geschickt wird.«»Nonsens!« brummte Dr. Fell,daß es klang wie ein ferner Don»ner; er war dennoch über dieseWorte entzückt und versuchteseine Gefühle durch allerlei miß=billigende Geräusche und das An»bieten einer Erfrischung zu ka=schieren. Hadley glaubte zu er=kennen, daß der gelehrte Mannbereits halb am Haken zappelte,und wollte schier verzweifeln.

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Das verschlossene Zimmer

Doch es war unmöglich, Miss La=nes Aufrichtigkeit mit Argwohnanzusehen.»Es ist ganz einfach«, erklärte sie,kerzengerade auf einem Stuhl sit=zend, während ihre Finger denVerschluß ihres weißen Hand=täschchens abwechselnd öffnetenund schlössen. »Harold Mills undich waren mit Mr. Seton allein imHaus. Und in Mr. Setons Safe be=fanden sich dreitausend Pfund.«Dr. Fell runzelte fragend die Stirn,»So? Warum so viel bares Geld?«»Mr. Seton beabsichtigte zu ver=reisen«, sagte Iris Lane mit merk=lieber Anstrengung. »Er wolltenach Amerika, um ein Jahr in Ka=lifomien zu verbringen. Er trafseine Entscheidungen immer ganzplötzlich - geradeso.« Sie schnippste mit den Fingern. »Wir hattennicht die geringste Ahnung davon,Harold Mills und ich, bis er unsam Morgen jenes Tages mit derNeuigkeit überraschte. Zwei Bank=boten brachten das Geld. Mr. Se=ton legte es in ein Safe und er=zählte uns, weshalb er sich so vielbares Geld habe bringen lassen.Und das besagte gleichzeitig, daßwir unsere Stellungen los waren.«Und sie begann die ganze Ge=schichte zu erzählen.

Natürlich waren, das bekannte sieunumwunden, ihre Nerven an je»nem Abend überreizt. Das hingteils mit dem völlig unerwartetenVerlust ihrer Stellung zusammen,teils mit dem schwülen, gewitter=drohenden Wetter, das seit demfrühen Vormittag über dem altenHaus in Kensington gehangen hat=te, und teils auch mit Mr. SetonsPersönlichkeit.Francis Seton war ein Bücher=Sammler. Als Iris sich seinerzeitauf ein Inserat hin bei ihm um dieStellung als Sekretärin bewarb,hatte sie erwartet, ein dürres, ver=staubtes Männlein mit dicken Bril=lengläsern zu finden. Statt dessenfand sie einen untersetzten, breit'schultrigen Mann mit graublon»dem Haar, rotem Gesicht und arg=losen blauen Augen. Seine Energiewar ungeheuerlich. Er belebte dasalte Haus wie ein Brummkreisel.Er hatte die Leidenschaft des ech=ten Sammlers; er war großzügigund konnte auch sehr rücksichts»voll sein, falls es ihm nicht geradeungelegen kam.Aber er wirbelte völlig neue undkeineswegs erfreuliche Dinge auf,als er an jenem drückend schwülenVormittag Iris Lane und HaroldMills in sein Arbeitszimmer rief.

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John Dickson Carr

Sie hatten in dem großen Biblio"theksaal gearbeitet, der vor seinemArbeitszimmer lag. Dieses Arbeits»zimmer, ebenfalls ein ziemlich gro°ßer Raum, war nur durch den Bi"bliotheksaal zu erreichen und hattezwei Fenster, die auf einen verwil-derten Hintergarten hinausgingen.Bibliotheksaal und Arbeitszimmerlagen im Obergeschoß des geräu°migen Privathauses.Als Iris Lane und Harold Mills dasArbeitszimmer betraten, stand Se°ton an seinem Schreibtisch in derMitte des Raumes und entnahmeinem Leinwandbeutel dicke Bank'notenbündel/ von denen ihm einsversehentlich in den Papierkorbfiel.»Hören Sie«, sagte er mit der um=werfenden Offenheit eines Kindes,»ich fahre nach Amerika. Auf min°destens ein Jahr.«Er schien sich insgeheim über dieArt zu amüsieren, wie Iris Laneund Harold Mills bei dieser Eröff=nung zusammenzuckten.»Aber, Sir -«, wollte Harold Millsbeginnen.»Krise!« rief Seton und wies aufdie Schlagzeile einer Zeitung.»Krise!« rief er und wies auf dieSchlagzeile einer zweiten Zeitung.»Diese ewigen Krisen machen mich

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krank! Kalifornien ist der richtigePlatz für mich! Orangenhaine undOzeanbrisen - wenigstens steht esso in den Broschüren. Nebenbeibemerkt will ich den alten Bücher»narren Isaacson in Beverly Hillsmit zwei Folianten vom Ende desfünfzehnten Jahrhunderts ver"rückt machen vor Neid.«Sein Ausdruck wurde bedauernd.»Ich muß Sie beide gehen lassen«,brummte er. »Würde Sie natürlichgerne mitnehmen. Kann es miraber nicht leisten. Bedauerlich.Nichts dagegen zu machen. WerdeIhnen noch je ein Monatsgehaltauszahlen. Nein, verdammt - zweiMonatsgehälter! Wie gefällt Ihnendas?«Strahlend vor Erleichterung, daßer dies vom Herzen hatte, ließ erdas Thema fallen. Er raffte dieBanknotenbündel zusammen. Erbückte sich nach dem Bündel, dasversehentlich in den Papierkorbgeraten war - eine Übung, die seinGesicht purpurrot anlaufen ließ.Dr. Woodhall, sein Arzt, hatte ihnwegen zu hohen Blutdrucks ge=warnt, aber er war wieder einmalganz Tatkraft.Der kleine eiserne Safe standrechts hinter dem Schreibtisch ander Wand. Seton öffnete ihn mit

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Das verschlossene Zimmer

einem Schlüssel, packte die Bank"notenbündel in eine grüne Geld»kassette, klappte den Kassetten»deckel zu und schloß den Safe wie»der ab. Iris hatte den Vorganghalb benommen und wie im Traumverfolgt.Vermutlich nicht nur wegen derdrückenden Schwüle standenSchweißtropfen auf Harold MillsStirn.»Und wann werden Sie abreisen,Sir?« fragte er.»Abreisen: Oh ...«, Seton über»legte, »übermorgen, denke ich.«»Übermorgen schon?«»Samstag«, erklärte Seton. »Im«mer ein guter Tag zum Antritteiner Seereise. Miss Lane, Sie er=ledigen das. Stellen Sie fest, wel»dies Schiff am Samstag nach NewYork abfährt und aus welchemHafen, und lassen Sie eine Einzel«kabine für mich buchen.«»Aber Ihr Paß —«, wandte Iris ein.»Völlig in Ordnung«, entgegneteSeton kühl. »Habe die Gültigkeitverlängern lassen.«Das Wort, das Iris nun durch denSinn schoß, war »Raub«. Sie konn"te nichts dafür. Es hing nicht mitdem vielen Geld zusammen, dassie eben gesehen hatte - ein An=blick, der manchen Menschen die

Finger jucken macht und phanta«stische Träume hervorruft, was al"les sich mit so vielem Geld anfan-gen ließe.Nein, damit hing es nicht zusam»men - wie sie übrigens später auchder Polizei erklärte. Es hing mitder bedrückenden Entscheidungzusammen, von der sie betroffenworden war. Noch gestern hattesie sich völlig sicher gefühlt. Erstvor einer Woche war sie von einemvierzehntägigen Urlaub aus Corn«wall zurückgekehrt, wo es weniganderes zu tun gab, als in einemzitronengelben Badeanzug auf demgleichfalls zitronengelben Sand amStrand zu liegen oder den Kon"trast zwischen den warmen Son=nenstrahlen und dem frischenSalzwasser auf der immer brau»ner werdenden Haut zu spüren -die Zukunft würde sich schon ganzvon selber regeln.Und mehr. Da war ein nett aus-sehender Mann gewesen - nicht zujung, nicht zu alt, sondern geradein den richtigen Jahren -/ der anden Strand kam und Aquarellbil»der malte. So schlechte Bilder üb»rigens, daß Iris erleichtert war, alssie erfuhr, daß er von Beruf nichtMaler, sondern praktischer Arzt inLondon sei.

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Zufällig entführte ein Windstoßeins seiner Aquarelle in ihre Nähe;sie fing es ein und brachte es ihmzurück. Dadurch kamen sie insGespräch, und bei diesem Gesprächergab es sich, daß der Name desMannes Charles Woodhall und derMann selbst Francis Setons Arztwar. Dies berührte Iris; sie sahdarin ein gutes Omen. Sie mochtediesen Dr. Woodhall. Er war min=destens so unterhaltsam wie Mr.Seton, aber ohne Setons unermüd=liehe Bravour - er wußte, wann esbesser war, zu schweigen.Er pflegte auf einem Klappstühl=chen zu sitzen, bekleidet mit eineralten, bequemen Flanellhose, Ten=nisschuhen und einem leichtenHemd, und um immer wieder neueSkizzen von Iris zu machen. Dabeihing ihm stets eine Zigarette imMundwinkel, und wenn ihm Rauchin die Augen kam, fing er an zublinzeln, und wenn er blinzelte,verlängerten sich die Lachfältdienneben seinen Augen bis beinah hinzu seinen Schläfen, die schon einbißchen grau wurden. Zwischen"durch erzählte er. Er erzählte glück»selig von allen möglichen Dingenauf Erden und am Himmel und imMeer. Und gegen Ende eines jedenTages entschuldigte er sich. ganz

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ernsthaft, daß die Skizzen wiederso schlecht gelungen seien. AberIris, obwohl sie insgeheim mit sei=nem Urteil übereinstimmte, sam=melte sie alle. Und so vergingendie Ferien.Sie würden sich in London wiedersehen.Und Iris hatte einen guten Job, zudem sie zurückkehrte.Die ganze Zukunft sah erfreulichaus - bis Francis Seton an jenemMorgen alles zerstörte.

Das Gewitter, das seit den Morgen'stunden in der Luft gehangen hat=te, brach am späten Nachmittaglos.Es brachte wenig Erleichterung fürIris. Sie und Harold Mills setz=ten ihre Arbeit fort. Noch langenach dem Dinner saßen sie arbei=tend beim gedämpften Licht ihrerSchreibtischlampen in der Biblio=thek, einem saalartig großen undsehr langen Raum mit bis zurDecke aufragenden Bücherregalenan den Wänden, reich ausgestattetund mit dicken Teppichen versehenwie jedes andere Zimmer im Haus,aber jetzt, nach dem schwerenGewitterregen, von unerträglichfeuchtwarmer Luft erfüllt. Iris'Kopf schmerzte. Sie hatte zwei

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Dutzend Briefe fortgeschickt undalle Detaills für Setons Reise ar=rangiert - Mr. Seton brauchte jetztnur noch die Koffer zu packen. ZurZeit saß er übrigens nebenan inseinem Arbeitszimmer und räumteseinen Schreibtisch auf. Die Türzwischen den beiden Räumen wargeschlossen.Harold Mills legte den Kugel»Schreiber beiseite.»Iris?« fragte er leise.»Ja?«Harold Mills blickte zu der ge=schlossenen Verbindungstür undräusperte sich.»Ich möchte Sie etwas fragen, Iris«,raunte er.»Bitte.«Sie war verwundert über seinenTon. Er saß an seinem eigenenSchreibtisch, etwa vier oder fünfSchritte von dem ihren entfernt,mit der abgeschirmten Schreibtisch'lampe neben sich. Das Licht derLampe fiel auf sein glattes fahl=blondes, straff an den Kopf gebür=stetes Haar und sein wachsbleichesGesicht mit dem altmodischen, ir=gendwie lächerlich wirkenden Knei=fer. Da er recht jung war, meinteer wohl, durch den Kneifer gesetztund verläßlich auszusehen.Die nächsten Worte brachte er,

nach einem abermaligen Blick aufdie Verbindungstür/ mit beinahgehetzter, seltsam heiserer Stimmeheraus: »Was ich fragen möchte,ist - geht es Ihnen leidlich? Finan»ziell, meine ich?«»Oh, gewiß.«Natürlich stimmte das nicht ganz.Aber sie war im Moment durchausnicht geneigt, sich in eine Erörte=rung ihrer wirtschaftlichen Lagenach dem Verlust ihrer Stellungeinzulassen. Sie dachte an etwasganz anderes. Dr. Woodhall hatteversprochen, im Lauf des Abendshereinzukommen, um nach Setonzu sehen. Es war jetzt schon bei=nah elf Uhr. Seton, der daraufschwor, daß seine ungeheure Vita=lität ausschließlich auf die strikteEinhaltung seiner Gewohnheitenzurückzuführen sei, war in allendiesen Dingen präzise wie die se=kundengenaue Uhr auf dem Ka=minsims. Schlag elf würde er dieletzte der zehn Zigaretten anzün=den, die ihm am Tag erlaubt waren,den einen Whiskysoda trinken,den er sich allabendlich gönnte,und auf die Minute genau um halbzwölf im Bett liegen. Wenn Dr.Woodhall sich nicht beeilte ...Iris' Kopfschmerzen hatten sichverstärkt. Mills redete weiter, aber

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sie hörte es nicht/bis ihr mit einem-mal die Unhöflichkeit ihres Ver=haltens bewußt wurde.»Oh, entschuldigen Sie. Ich fürchte,ich habe nicht verstanden, was Sieda eben sagten -«»Ich sagte«, wiederholte Mills, jetztübrigens mit seiner normalenStimme, »daß es mir aus mehr alseinem Grund leid tut, daß wirunsere Stellungen verlieren.«»Mir auch, Harold. Das dürfen Sieglauben.«»Wahrscheinlich verstehen Sie esdoch nicht ganz. Meine Tätigkeitist von recht spezieller Art. Eswird mir nicht leicht sein, einenneuen Posten zu finden.« Einesanfte Röte stieg in seinen Wan=gen empor. »Doch das ist es nicht,was ich eigentlich meine. Ich be°klage mich nicht. Es ist sehr an-ständig von Mr. Seton, uns mitzwei Monatsgehältern abzufinden.Aber ich hatte insgeheim gehofft,den Job bei Mr. Seton mehr oderweniger für immer zu behalten.Hätte es sich so entwickelt, dannwollte ich etwas ganz Bestimmtestun.«»Was denn?«»Ich wollte Sie bitten, mich zu hei»raten«, sagte Mills.Tiefe Stille folgte.

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Iris starrte ihn an. Nie hatte sie anMills einen persönlichen Gedan»ken verschwendet, an den Mann,der nun linkisch und schüchterndasaß und vor lauter Verlegenheitmit den Fingerknöcheln knackte.Sein Gesicht zeigte, daß er dieswußte. »Bitte, sagen Sie nichts.«Er stand auf. »Ich möchte nicht,daß Sie sich verpflichtet fühlen,jetzt irgend etwas zu sagen.« Erbegann mit kleinen, kurzen Schrit»ten hin und her zu gehen. »Ichgebe zu, daß ich bisher so gut wienichts erkennen ließ.«»Sie haben niemals die geringsteAndeutung —«Er gestikulierte. »Ja, ich weiß. Dasist nicht meine Art. Ich kann soetwas nicht. Ich wünschte, ichkönnte es.« Er blieb stehen. »Aberdieser Doktor Woodhall, zum Bei»spiel •-«»Was ist mit Doktor Woodhall?«Mills fand keine Gelegenheit, eszu sagen. Denn nun folgte derMoment, da sie, sehr deutlich, dasGeräusch im Arbeitszimmer ver-nahmen.Als sie es später zu beschreibenversuchten, waren weder Iris Lanenoch Harold Mills imstande, genauzu sagen, ob es sich um einen un"terdrückten Schrei oder ein Stöh"

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nen oder den Anfang eines jähenWortwechsels gehandelt hatte. Eskonnte dies oder das oder jenesoder sogar eine Kombination allerdrei Möglichkeiten gewesen sein.Dann folgten einige Verhältnis"mäßig sanfte Geräusche, etwa so,als werde ein Stück Fleisch zurecht«geklopft. Hiernach war nichts wei»ter zu hören als das Rieseln desnachlassenden Regens ...Das war die Geschichte, die IrisLane in Dr. Fells Studio erzählte.Beide, Dr. Fell und SuperintendentHadley, lauschten mit gespannterAufmerksamkeit, obwohl sie dieGeschichte bereits mehrmals ge=hört hatten - Hadley direkt vonIris Lane, und Dr. Fell auf demUmweg über Hadley.»Wir wußten nicht, was passiertsein mochte«, fuhr Iris fort. »Wirriefen Mr. Seton beim Namen, aberer antwortete nicht. Harold Millsversuchte die Tür zu öffnen, dochvergeblich.«»War sie verschlossen?«»Nein, verklemmt. Die regen«feuchte Luft hatte das Holz auf-quellen lassen. Harold Mills ver-suchte es mehrmals auf normaleArt, aber sie ging erst auf, als ereinen Anlauf nahm und sich mitder Schulter dagegen warf.«

»Und dann?«»Dann gingen wir natürlich hin«ein. Im Arbeitszimmer war nie»mand außer Mr. Seton. Das weißich genau, denn ich hatte gefürch«tet, wir würden noch jemand an»ders sehen. Das Zimmer war hellerleuchtet. Der große bronzeneKronleuchter war voll eingeschalatet. Selbst hinter der halboffenenTür des kleinen Alkovens, der alsWaschraum dient, brannte Licht.Praktisch war alles auf den erstenBlick zu übersehen. Niemand konn°te sich irgendwo versteckt haben.«Sie hielt inne, um die Szene vorihren geistigen Augen wiederer"stehen zu lassen.Francis Seton lag jenseits desSchreibtisches, zwischen demSchreibtisch und den Fenstern. Erwar bewußtlos; aus seinen Nasen«löchern sickerte Blut.Seine Zigarette auf der Kante desSchreibtischs versengte unter bei»ßendem Geruch das polierte Ma»hagonieholz. Der Schreibtischstuhlund das kleine Ablegetischchenneben dem Schreibtisch waren um»gekippt. Ein Fleck auf dem dickengrauen Teppich zeigte an, wohinSetons Glas gefallen war, zusam"men mit einer verkorkten, unver»sehrt gebliebenen Whiskyflasche

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und einem großen, mit Metalldräh=ten umwirkten Sodawassersiphon.Seton stöhnte. Als sie ihn herum»drehten, fand Harold Mills dieWaffe.»Es war ein Stück von einem aus»gehöhlten und mit Blei gefülltenBesenstiel«/ sagte Iris; sie sah die=ses fatale Ding noch immer ganzdeutlich vor sich. »Es war nicht viellänger als meine ausgestreckteHand, wog aber mindestens einPfund oder mehr. Harold Mills, derursprünglich angefangen hatte,Medizin zu studieren, betastetevorsichtig Mr. Setons Kopf. Dannsagte er bestürzt, ich solle liebereilen und einen richtigen Arzt her=beirufen.Ich war gegen die Fenster zurück"gewichen - dessen erinnere ich

\rnich genau. Die Vorhänge warennicht-ganz zusammengezogen. Ichwollte dahinterschauen, weil ichfürchtete, vielleicht wäre dort je=mand verborgen. Wir schoben alsodie Vorhänge ganz zurück. Unddann sahen wir das obere Ende derLeiter. Sie war vom Garten ausgegen das Sims des rechten Fen=sters gelehnt. Und ich bemerktenoch etwas, das ich immer wiederbeschwören werde, bis Sie es mirglauben. Doch lassen wir im Au»

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genblick außer acht, was dieswar.Ich lief hinaus, um Doktor Wood=hall anzurufen, aber ich brauchtenicht zu telefonieren. Ich traf ihn,als er von der Eingangshalle herdie Treppe heraufkam.«Es gab verschiedene Dinge, die siehier nicht erzählte.Sie sagte nicht, wie ermutigend esfür sie war, Dr. Woodhalls klu=ges, humorvolles Gesicht zu sehen,das ihr unter der Krempe einesdurchnäßten Hutes entgegenlächel»te. Dr. Woodhall trug einen trie»f endnassen Regenmantel mit hoch=gestelltem Kragen und hatte seinschwarzes Köfferchen in der Hand.»Ich wußte zuerst nicht, wie erhereingekommen war«, fuhr Irisfort. »Mr. Seton hatte dem Dienst»mädchen und der Köchin erlaubt,nach dem Dinner zu irgendeinerVeranstaltung zu gehen, von dersie erst kurz vor Mitternacht heim=kehrten. Aber die Haustür warnicht abgeschlossen gewesen, wiemir Doktor Woodhall später er=zählte. Im Augenblick allerdingssagte er: >Hallo, stimmt irgend et=was nicht?< Ich glaube, ich antwor=tete:>KommenSie nur ganz schnellherauf. Etwas Schreckliches ist pas=siert.< Er erwiderte nichts, sondern

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eilte an mir vorbei die Treppe hin=auf und durch die Bibliothek insArbeitszimmer. Ich folgte ihm aufden Fersen. Nachdem er Mr. Setonuntersucht hatte, erklärte er, eshandle sich um einen mehrfachenSchädelbruch, hervorgerufen durcheinige wuchtige Schläge. Ich fragte,ob ich nach einer Ambulanz tele»fonieren solle. Aber er sagte, Mr.Seton dürfe nicht viel bewegt wer=den und wir müßten sehen, daßwir ihn hier im Haus in sein eige=nes Bett schafften.Als wir ihn zu seinem Schlafzim»mer trugen, fielen ihm einige Sa=chen aus den Taschen. Der Schlüs=sei zum Safe, den er stets an deranderen Seite seiner Uhrkette trug,war nicht vorhanden.Den Rest kennen Sie. Der Safewar beraubt worden. Nicht nur dasGeld fehlte, sondern auch die bei»den wertvollen Folianten, mit de=nen er jenen alten Büchersammlerin Beverly Hills neidisch machenwollte. Anscheinend ein ganz kla=rer Fall - die Leiter vor dem einenFenster, verregnete Fußspuren indem Blumenbeet am unteren Endeder Leiter. Ein Einbruch. Es mußteein Einbruch gewesen sein. Nur-«,Iris hielt inne und räusperte sich,»nur, daß merkwürdigerweise beide

Fenster von innen verriegelt wa=ren.«Dr. Fell brummte.Irgend etwas an dieser Geschichteinteressierte ihn sehr. Er hob denKopf und wechselte einen Blickmit Superintendent Hadley.»Beide Fenster«, knurrte er, »wa=ren also von innen verriegelt. Des»sen sind Sie sicher - eh?«»Absolut.«»Sie könnten sich nicht geirrt ha°ben?«»Ich wünschte nur, es wäre so«,sagte Iris hilflos. »Und Sie wissenja, was man bei Scotland Yarddenkt. Man denkt, Harold Millsund ich hätten Mr. Seton über»fallen und ihm den Schädel ein=geschlagen . . . Es ist so furcht'bar einfach, diese Vorstellung.Harold Mills und ich warenmit Mr. Seton allein im Haus.Wir saßen vor der einzigen Türzu seinem Arbeitszimmer. BeideFenster des Arbeitszimmers warenvon innen verriegelt. Abgesehenvon der Leiter vor einem dieserFenster gab es keinerlei Anzeichenfür einen möglichen Eindringling,und wie hätte ein Eindringlingdurch diese Fenster entkommensollen, die sich nur von innen ver=riegeln lassen? Nun, demnach

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konnte es einfach niemand andersgewesen sein als wir beide. Nurwaren wir es nicht. Mehr kann ichnicht sagen.«Dr. Fell machte die Augen auf.»Aber, meine werte junge Lady«,widersprach er und pustete dabeiFunken aus seiner Zigarre wie einkleiner Vulkan, »was immer manbei Scotland Yard von Ihnen den=ken mag — ich nehme an, manglaubt nicht, daß Sie verrückt spie=len? Gesetzt den Fall, Sie undMills hätten diesen Einbruch vor»getäuscht? Gesetzt den Fall, Siebeide hätten die Leiter unter dasFenster gestellt? Würden Sie undMills dann beschwören wollen, dieFenster seien von innen verriegeltgewesen? Wenn Sie dies täten,würden Sie nur beweisen, daß derandere Teil Ihrer Geschichte nichtwahr sein kann.«»Ich sagte vorhin«, entgegnete Irismit fester Stimme, »daß ich etwasbemerkt habe, was ich immer wie»der beschwören würde, bis Sie esmir glauben. Und dieses Etwaswar -«»Einen Moment bitte«, unterbrachSuperintendent Hadley; er war ge=schlagen und wußte es, aber er warfair. »Ich will offen zu Ihnen sein,Miss Lane«, fuhr er fort. »Kurz

bevor Sie kamen, erzählte iADok«tor Fell, daß Mr. Seton wieder beiBewußtsein ist. Er hat zu mir ge°sprechen. Und -«»Und?«»Mr. Seton bestätigt Ihre Ge"schichte in jeder Einzelheit«, sagteHadley. »Er hat Sie und HaroldMills von jeglichem Verdacht be=freit, in das Verbrechen verwickeltzu sein.«Iris schwieg; ihr Gesicht wurdebleich unter der sonnengebräuntenHaut.»Er sagt«, fügte Hadley nach kur=zem Schweigen hinzu, »daß er anseinem Schreibtisch saß, mit demGesicht zur Verbindungstür. Erschwört, daß er Sie und Mills inder Bibliothek miteinander redenhörte, obwohl er nicht verstand,was Sie redeten. Er bestätigt, daßdie Fenster von innen verriegeltwaren - er selbst hatte sie kurzzuvor verriegelt. Einige Minutennach Elf glaubte er das Geräuscheines Schrittes hinter sich zu hören- eines verstohlenen Schrittes, wieer sagt. Gerade als er sich erhebenwollte, traf ihn ein richtiger Schlagüber den Schädel, und das war dasletzte, dessen er sich erinnert.Demnach scheint es, daß Sie unsdie Wahrheit gesagt haben.«

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Das verschlossene Ammer

»Hummff«, machte Dr. Fell.Iris starrte Hadley an. »Dann wer»de ich also nicht - werden Sie midialso nicht verhaften?«»Nein, ich werde Sie nicht verhaf=ten«, schnappte der Superinten=dent. »Tut mir leid, sagen zu müs»sen, daß ich nicht sehe, wie ichüberhaupt irgendwen verhaftenkann. Die Fenster waren von innenverriegelt. Die einzige Tür war be=wacht. Niemand war im Arbeitszim=mer versteckt. Und doch muß, nachSetons eigener Aussage, irgend je»mand eingedrungen sein und ihnniedergeschlagenhaben. .. Enver=flixtes Rätsel, das uns da irgend«wer eingebrockt hat! Ein dreimalverflixtes Rätsel! Und wenn Siemir nicht glauben, kommen Sie mitund sprechen Sie selbst mit Seton.«

Francis Seton lebte - und starbbeinah-mit einem gewissen Pomp.Sein Schlafzimmer war im schwe-ren, dunklen, verschnörkelten Stildes Zweiten Französischen Kaiser"reidis gehalten, mit einem gewal'tigen Himmelbett als beherrschen'dem Möbelstück. Er lag mit Kopfund Schultern auf einem Berg vonKissen, und sein rotes, rundes Ge=sieht glühte aus einer Art Ritter»heim von Bandagen hervor.

»Die Zeit ist bald vorbei«, warnteDr. Charles Woodhall, der nebendem Bett stand. Die Finger seinerRechten lagen an Setons Handge»lenk, aber Seton zog die Hand zu»rück.Hadley war geduldig. »Was ichnoch wissen möchte, Mr. Seton/ istfolgendes — wann verriegelten Siedie beiden Fenster?«»Sagte ich Ihnen bereits«, knurrteSeton. »Ungefähr zehn Minutenbevor dieser Bursche heranschlichund mich niederschlug.«»Aber Sie konnten keinen Blickauf die Person werfen, die Sie nie"derschlug?«»Nein, leider. Sonst würde ich —«»Ja. Doch weshalb verriegelten Siedie Fenster?«»Weil ich die Leiter vor dem redi°ten Fenster entdeckte. Konnte dochnicht einfach Einbrecher hereinlas»sen, nicht wahr?«»Sie versuchten nicht herauszufin"den, wer die Leiter dort angelegthatte?«»Nein, dazu hatte ich keine Zeit.«»Dennoch waren Sie ein bißchennervös?«Während der vorangegangenenUnterhaltung hatte Iris manchmalden Eindruck gehabt, daß Seton -wären nicht seine Verletzungen

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gewesen - sich am liebsten auf dieSeite gerollt, sein Gesicht in denKissen versteckt und vor Unge=duld gestöhnt hätte. Aber die letzteFrage entfachte seinen Zorn.»Wer sagt, daß ich nervös war?Nervös! Ich, und nervös! Ich werdeniemals nervös! Ich habe keineNerven im Leib!« Er wandte sichan Dr.Woodhall undHarold Mills.»Habe ich welche?«»Sie haben eine außergewöhnlichstarke Konstitution«, entgegneteDr. Woodhall liebenswürdig.Seton schien eine Ausflucht zu wit°tern. Seine blutunterlaufenen Au=gen wanderten, ohne daß er dabeiden Kopf bewegte, von Woodhallzu Mills, kehrten dann aber wie=der zu Hadley zurück.»Nun? Sonst noch etwas, das Siewissen wollen?«»Nur noch eine Frage, Mr. Seton.Sind Sie absolut sicher, daß nie»mand im Arbeitszimmer oder imAlkoven verborgen war, ehe Sieüberfallen wurden?«»Absolut sicher.«»Dann wäre es alles, Sir. Niemandverborgen, weder vorher noch nach=her. Fenster verriegelt, vorher undnachher. Ich glaube nicht an Gei=ster, und deshalb ist die Sache un=möglich.« Hadley sprach sehr ru=

hig. »Entschuldigen Sie, Mr. Seton,aber sind Sie sicher, daß Sie wirk»lieh überfallen wurden?«»Und entschuldigen Sie mich«, un»terbrach eine neue Stimme, droh"nend und doch irgendwie entschuladigend.Dr. Fell, dessen Gegenwart nurum ein geringes weniger auffal=lend war, als die eines mittelgroßenFesselballons, hatte seinen unbe=schreiblich verbogenen Filzhut nichtabgenommen — ein Verstoß gegengute Sitten, der ihm normalerweisenicht unterlaufen wäre. Aber seinWiederauftreten erfolgte mit einerVehemenz, die unwillkürlich anden Reitenden Boten des Königsin einer Opernpersiflage denkenließ. Iris Lane konnte sich nicht er°innern, ihn während der letztenacht oder zehn Minuten gesehenzu haben. Er kam durch die offeneTür hereingestapft, in der einenHand seinen Krückstock, in deranderen einen mit Zeitungspapierumwickelten Gegenstand.»Sir«, begann er, an Francis Setoagewandt, »ich würde es sehr be=dauern, wenn mein Freund HadleySie mit seiner letzten Frage an denRand eines Schlaganfalls gebrachthaben sollte. Daher ist es nur fair,Ihnen mit aller Bestimmtheit zu

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bestätigen, daß Sie überfallen wur»den und wuchtige Schläge auf denKopf erhielten - und zwar voneiner hier im Zimmer anwesendenPerson. Im übrigen bin ich erfreutdarüber, daß die Polizei Ihr Ar=beitszimmer seit jenem Abend ver=schlössen gehalten hat.«Tiefe Stille entstand.Dr. Fell entnahm dem Zeitungs»papier einen Sodawassersiphonund setzte ihn mit einigem Nach=druck auf den Tisch in der Mittedes Zimmers. Es war ein großer,rings mit Metallfäden umwirkterSiphon.Und Dr. Fell trat einen Schritt zu=rück.»Verwünscht, Hadley«, brummteer, »warum haben Sie mir nichtsvon diesem Siphon erzählt? ZehnTage in einem geistigen Abgrund,und alles nur, weil Sie mir nichtsvon diesem Siphon erzählten! Damußte erst eine junge Lady kom=men und ihn erwähnen!«»Aber ich habe Ihnen von einemSiphon erzählt«, widersprach Had=ley. »Ein dutzendmal habe ichIhnen davon erzählt!«»Nein, nein, nein«, beharrte Dr.Fell. »Sie sagten ein Siphon. EinSiphon ist für mich eben nichtsals einer jener ganz gewöhnlichen

gläsernen Siphons, unabdingbaresAttribut aller englischen Kneipen.Sie sagten nicht, daß es sich umdiese besondere Art von Siphonhandle.«»Aber was, zum Kuckuck, hat derSiphon überhaupt mit der Sachezu tun?« fragte Hadley. »Mr. Setonwurde nicht mit einem Siphon be=wußtlos geschlagen.«»O doch, das wurde erl« verkün=dete Dr. Fell.Es war plötzlich so sttll, daß maneine Fliege vor einem der offenenFenster summen hörte.»Sehen Sie«, fuhr Dr. Fell emst=haft und eifrig fort, »die gewöhn»liehen Siphons bestehen aus ein=fächern Glas. Sie sind weder mitsolchen über Kreuz gelegten Me»tallfäden umwirkt, noch haben siesolch ein pompös vernickeltes Kopf=teil, das sich abschrauben läßt. Mitanderen Worten - dieses hier istein sogenannter Heimsiphon, denman selbst mit klarem Wasser fül=len kann. Die erforderliche Koh°lensäure wird dem Wasser dannaus einer kleinen Metallkapsel zu=geführt, die Sie hier oben im Kopfsteil des Apparates sehen.«Erleuchtung zeigte sich auf Hadsleys Zügen.»Ah!« schnaufte Dr. Fell. »Jetzt

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haben Sie es, Hadley - nicht wahr?Die Polizei wird routinemäßig denRestinhalt jedes Glases, jeder Fla»sehe, jeder Karaffe analysieren,die sie am Tatort findet. EinemSiphon jedoch wird sie kaumeinen zweiten Gedanken schen=ken, weil am Inhalt eines norma«len Sodawassersiphons einfachnicht herummanipuliert werdenkann. Am Inhalt dieses Siphonsaber konnte herummanipuliertwerden!«Dr. Fell ging zu dem Tischchenneben dem Bett, nahm ein dortstehendes Wasserglas, brachte eszu dem anderen Tisch, spritzteSodawasser aus dem Siphon hin=ein, hob das Glas an seinen Mundund berührte den Inhalt vorsieh»tig mit der Zungenspitze.»Ich denke, Mr. Harold Mills«,sagte er, »Sie sollten sich lieberselbst stellen, wegen Diebstahlsund versuchten Mordes.«

Dr. Fell lachte still in sich hinein,als er wieder in seinem Studio saß.»Und Sie sehen immer noch nichtklar?« fragte er.»Doch«, erklärte Dr. Woodhall.»Nein«, rief Iris Lane.»Der ganze Trick«, fuhr Dr. Fellfort, »beruht auf der Tatsache,

daß die Mickey Firn genannte Be»täubungsdroge bei dem Opfer ge=nau dieselben Empfindungen her=vorruft wie ein heftiger Schlagüber den Kopf - den vehementenSchmerz, das Dröhnen in den Oh"ren, die beinah sofortige Bewußt"losigkeit.Mills hatte an jenem Tag ein Dut"zend Gelegenheiten, die Droge inden Heimsiphon zu manipulie"ren. Er wußte, genauso wie Sie eswußten, Miss Lane, daß Mr. Se=ton seinen Whiskysoda, den ein"zigen des Tages, kurz nach elf Uhrabends trinken würde. Das Geldund die beiden wertvollen Folian»ten hatte er sich bereits aus demSafe geholt, als Mr. Seton seinNachmittagsschläfchen hielt. DieLeiter, die der Sache den Anscheinverleihen sollte, als sei ein Ein=bredier am Werk gewesen, lehnteer kurz nach zehn Uhr abends un"ter das zu dieser Zeit noch offeneFenster, als er angeblich zum Hän°dewaschen hinuntergegangen war.Dabei vergaß er übrigens dieHaustür abzusperren, die Sie,Doktor Woodhall, nachher unver»schlössen fanden. Dann brauchteer nur noch zu warten, daß es elfUhr würde.Kurz nach elf Uhr trank Mr. Seton

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den präparierten Whiskysoda,verspürte jenen furchtbaren Kopf=schmerz, den er für einen Schlagüber den Schädel hielt, stieß einenunterdrückten Schrei aus, wolltevon seinem Sessel aufspringen,stürzte aber zu Boden und riß da=bei verschiedene Gegenstände mit.Da die Wirkung der Droge aufeinem jähen Blutandrang zum Kopfberuht, führt sie bei einem Mann,der sowieso an zu hohem Blut"druck leidet, fast unweigerlich zuNasenbluten, was der Sache einenrealistischen Anstrich verlieh.«Dr. Fell hielt inne, um seine erlo°schene Zigarre wieder anzuzün"den. Dann blickte er zu Iris.»Mills tat nur so, als wäre die Türverklemmt. In Wirklichkeit warsie es nicht. Durch dieses Manö=ver wollte er dem angeblichenEinbrecher Zeit verschaffen, denSafe zu plündern und zu ver=schwinden. Schließlich bekam erdie Tür auf und lief mit Ihnen hin°ein. Als er Mr. Seton herumdrehte,ließ er das bleigefüllte Stück Be=senstiel aus seinem Ärmel gleiten,schob es mit dem Fuß unter Se=tons Körper und lenkte danndurch dramatische Gesten IhreAufmerksamkeit auf diesen Ge»genstand.

Danach befühlte er, wie Sie sicherinnern, Mr. Setons Kopf, heu»chelte Entsetzen und schickte Siefort, um einen Arzt herbeizuruefen. Dies gab ihm Gelegenheit, füreinige Minuten allein im Arbeits"zimmer zu sein und -«»Sie meinen«, unterbrach Iris,»daß er diese Gelegenheit be«nutzte, um -«, sie machte einigeheftige Armbewegungen.»Ja«, bestätigte Dr. Fell. »DieseGelegenheit benutzte er zu meh=reren wuchtigen Schlägen auf denKopf des bewußtlosen Mannesund zu einigen anderen Dingen.Zum Beispiel nahm er den Safe»Schlüssel von Mr. Setons Uhr=kette. Ferner spülte er - für denwahrscheinlichen Fall, daß die Po=lizei sich damit befassen würde -das heruntergefallene Whiskyglasim Waschraum sorgfältig ab undgoß aus der unversehrt gebliebe»nen Flasche einige Tropfen härm«losen Whisky hinein. Aber er fandkeine Zeit mehr, den Inhalt desSiphons zu erneuern, ehe Sie mitDoktor Woodhall ins Arbeitszim»mer zurückkehrten. Er ließ alsoden Siphon unberührt und sagtesich - nicht ganz zu Unrecht, wiewir wissen, daß ein Sodawasser»siphon wohl kaum das Interesse

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John Dickson Cass

der Polizei erregen würde. EinTaschentuch um seine Hand ver»hütete Fingerabdrücke. Aber einunvorhersehbares Mißgeschickmachte ihm einen Strich durch dieschlaue Rechnung.«Dr. Woodhall nickte.»Sie meinen den Umstand«, sagteer, »daß Seton die Leiter bemerkteund daraufhin die Fenster verrie=gelte?«»Ja. Und der unselige Mr. Millsentdeckte die verriegelten Fenstererst, als es zu spät war. Miss Lanehingegen ist, wie Sie bemerkt ha=ben dürften, eine sehr umsichtigejunge Lady. Sie schaute zu denFenstern. Sie wußte, daß die Fen=ster von innen verriegelt waren.Sie war bereit, dies vor jedem Ge=rieht zu beschwören. So mußteMills - ein schwacher, wankelmü=tiger Mensch, der höchstens dannEntschlossenheit zeigt, wenn esum das Aneignen fremden Eigen=tums geht - stillhalten und ab=warten, wie sich die Dinge ent=wickeln würden. Er konnte nichteinmal mehr an jenen verräteri=sehen Siphon gelangen, da die Po=lizei das Arbeitszimmer unterVerschluß hielt.Dennoch hatte er zunächst einbißchen Glück. Natürlich hat

Francis Seton unmittelbar vor demÜberfall niemals das Geräuscheines verstohlenen Schrittes hin»ter sich gehört. Davon kann sichjeder durch einen Blick auf dendicken Teppich des Arbeitszim»mers überzeugen. Ich habe michmanchmal gefragt, ob der guteMr. Seton in diesem Punkt viel'leicht vorsätzlich geschwindelt hat.Aber unsere kleine Unterhaltungmit ihm zeigte den wahren Grund.Seine vielgerühmte Vitalität wirddiesen Mann noch umbringen -sie hat ihn in einen Nervenzu»stand versetzt, der ein Jahr Erho=lung in Kalifornien wirklich wün=sehenswert macht. Sobald er dieLeiter vor dem Fenster entdeckteund an Einbrecher zu denken be=gann, war er bereit, sich alles ein»zubilden.«Iris blickte aus den Augenwinkelnzu Dr. Woodhall. Woodhall, dieunvermeidliche Zigarette zwischenden Lippen, sah sie an.»Ich - ich bringe es nicht ebengern zur Sprache«, sagte Iris.»Aber -«»Mills Vorschlag?« fragte Dr. FeM.liebenswürdig.»Nun, ja.«»Meine liebe junge Lady«, erklärteDr. Fell mit ähnlich zarter Rucks

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Das verschlossene Zimmer

sichtnahme, wie sie eine LadungZiegelsteine entwickelt, die unver=sehens durch ein Oberlichtfenstergepoltert kommt, »da erwähnenSie den einzigen Punkt, bei demMills wirklich Geschmack bewies.Scharfblick. Raffinement. Ganznebenher dürfte er allerdings auchgemeint haben, daß ein Verbre»eher, der Heiratsvorschläge macht,die betreffende Lady in eine milde,

mehr oder weniger unkritischeStimmung versetzt, die ihm gütigeNachsicht verschafft, falls ihmdann doch noch ein Fehler unter»läuft. Aber können Sie wirklichsagen, es täte Ihnen leid, daß manHarold Mills in der Grünen Minnafortbrachte?«Aber Iris und Dr. Woodhall hör=ten schon gar nicht mehr auf Dr.Fells Worte...

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Copyright -Vermerke

Rex Stout, Help Wanled, MaleCopyright 1946 by Rex Stout, reprinted by pennission of the author

John Dickson Carr, The Locked RoomCopyright 1945 by The Anierican Mercury, Inc., reprinted by permission of A.« author

George Harmon Coxe, Death CertificateCopyright 1947 by George Harmon Coxe, reprinted by permission of Brandt & Brandt

Leslie Charteris, The Green Goods Manfrom the book »The Brighter Buccaneer«, Copyright 1953 by Leslie Charteris,renewed, reprinted by pennission of the author

Anthony Boucher, A Matter of SdiolarshipCopyright 1955 by Anthony Boudier, reprinted by permission of Willis Kingslay Wtog

Charlotte Armstrong, The Hedge BetweenCopyright 1955 by Charlotte Armstrong, included in the book »The Albatros«(Coward-McCann, Inc.), reprinted by permission of Brandt & Brandt

Thomas Waish, The Night Calhoun Was Off DutyCopyright 1958 by Thomas Waish, reprinted by permission of Littauer & Wilkinson

Jack London, The Master of MysteryCopyright 1902 by The Macmillan Company, renewed by Charmian K. London,reprinted by permission of Irving Shepard

Hugh Pentecost, Murder Plays ThroughCopyright 1952 by Judson Philips, reprinted by permission of Brandt & Brandt

MacKinlay Kantor, Sparrow CopCopyright 1955 by MacKinlay Kantor, Copyright © renewed 1961 by MacKinlayKantor, reprinted by permission of The Worid Publishing Company

Rufus King, The Y-Shaped ScarCopyright 1959,1940,1941 by Rufus King, reprinted by permission of Rogers TerrillLiterary Agency

John D. MacDonald, I Always Get the CutiesCopyright 1954 by Mercury Publications, Inc., reprinted by permission of the authorand Littauer & Wilkinson

Ellery Queen, The Three WidowsCopyright 1950 by Ellery Queen, reprinted by permission of the author

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In gleicher Ausstattung wie der vorliegende Band erschien inder Reihe HEYNE-ANTHOLOGIEN:

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THE BEST FROM FANTASY AND SCIENCE F1CTION, AnthonyBouchers große Science Fiction Anthologie, hier erstmals indeutscher Sprache. Die besten Stories aus dem führendenamerikanischen SF Magazin „The Magazin of Fantasy andScience Fiction" l

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