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11_Abruzzen_Einleit_S-272-277__Final_LOW

Date post: 28-Mar-2016
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abruzzen Seite 270 − 271: Burgruine Castel del Monte am Campo Imperatore. Seite 272: Krypta mit antiken Marmorsäulen und Mönch in der Kirche San Giovanni in Venere in Strandnähe südlich von Ortona. 273 Weder Rom noch Florenz: Die Abruzzen mit ihren Dorfkirchen bieten Beschauliches. 274
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„In die Berge? Che follia!“, wehrt der Wirt des Miramare ab, als wir ihm erzählen, dass wir uns das Maiella-Massiv ansehen wollen. Auf dem Teller landet gerade eine Portion Gambas mit dicken Bohnen, die Kombination von Meeresfrüchten und Produkten aus dem Hinterland, die für die Abruzzen so typisch ist. „Aber deshalb muss ich nicht gleich in die Berge fahren“, sagt der Wirt und zeigt mit einer stolzen Geste zum Fenster.

Draußen, hinter der Uferpromenade des Adria-Städt-chen Giulianova, spannt sich ein dunkeltürkisblauer Teppich, vor dem ein paar Palmenblätter in der Septem-berluft hin und her wedeln. Es kommen gratinierte Mies-muscheln und crudità: roher, fein gehobelter Pulpo und Knurrhahn mit Fenchel. Zu all dem trinken wir den Mon-tepulciano d’Abruzzo, der irgendwie nicht richtig munden will. Zu tintig, zu stumpf. Der Rest der Welt schwärmt von seiner Weichheit. Aber er passt nicht wirklich in die mediterrane Szene, so wie die Abruzzen das Meer eigentlich auch nicht lieben.

Die Küste ist gespickt mit Stegen, die an Pfahlbauten enden, aus denen staksige Latten ragen. Von diesen traboc-chi aus Akazienholz wurden früher Fischernetze ins flache Wasser abgelassen. Nach einem Tag auf dem flachen Sand-boden zog man sie ruckartig aus dem Wasser und hatte ei-nen ordentlichen Fang. Viel weiter aufs Meer brauchte man nicht. „Heute fahren Fabrikschiffe mit Radarortung raus, da brauchst du dein Glück nicht mehr zu versuchen“, sagt später ein Fischer. Die meisten der Hütten aus Akazienholz dienen heute als Restaurants. An die Abende über dem Wasser erinnern sich Touristen zu Hause mit Wehmut. Einheimische sieht man dort selten.

Wenige Kilometer weiter im Inland spricht kein Mensch mehr von Meeresfrüchten. Die Weingärten der Abruzzen und damit das wirkliche Einsatzgebiet des Montepulciano beginnen nur ein paar Kilometer landeinwärts, wo das

ein gebirge mit verschneiten gipfeln, so einsam wie tibetisches hochland, liegt mitten in italien. die abruzzen sind irgendwie aus der zeit gefallen. zwischen quirligen adriastränden, nur eine autostunde von rom entfernt, taucht man in eine welt von trutzburgen, bergwiesen und klosterkirchen ein. skurrile bräuche und menschen inklusive. die abruzzen sind eine matte perle, die erstmal poliert werden muss.

Zwischen Schnee und Strand

abruzzen

Hinterland mild und grün und fruchtbar ist. Zwischen den Olivenbäumen wachsen Robinien. Haine mit Nussbäumen und Eichen lassen Lebensraum für kleine Wildtiere. Hier ersetzen Schmorgerichte und Eintöpfe die Meeresfrüchte.

Nur vereinzelt sind im Hinterland größere Anwesen in die Landschaft gesprenkelt. Zweistöckige Bauernhäuser, in denen mehrere Generationen mitsamt Landarbeitern unter einem Dach lebten, bevor sich die rissigen Fensterlä-den das letzte Mal schlossen. Nicht wenige der alten Höfe modern vor sich hin. Oft sieht man bescheidene Bauern-katen mit Kleinvieh, Obst- und Gemüsegarten. Die Scholle gibt was her; Wein, Oliven und Weizen wachsen gut in dem milden Klima.

Besonders eindrucksvoll sieht man das auf der Route von Teramo nach Loreto Aprutino, wenn sich die Straße durch Anpflanzungen schlängelt, die wie ein Landschafts-garten um calanchi herumgepflanzt sind. Solche erodierten Berghänge mit ihren scharfkantig ausgewaschenen Rinnen geben eine dramatische Kulisse für den eigentlich eher profanen Landbau ab.

Seelen im Fluss aus Pech

Hält man an einer der vielen Klosterkirchen auf dem Weg an, kann man im Innern eine auf ganz andere Art schroffe Welt entdecken. Auf dem Fresco der Kirche Santa Maria in Piano in Loreto Aprutino laufen Seelen über eine Brücke. Manche stürzen hinunter und fallen in den Vorgarten des Paradieses, wo die Tage nur aus Tanzen und Amüsement bestehen. Manche Seelen landen im Fluss, und darin fließt siedendes Pech.

In den Abruzzen gibt es Auferstehungsfeiern, zu denen Maria im Festgewand auftritt, als wäre Jesus Christus ein Popstar, und Osterprozessionen, bei denen lebende Nat-tern auf einer Heiligenfigur herumkriechen. Die Reptilien werden dazu eigens aus dem Winterschlaf geweckt und sollen die Zukunft voraussagen. Trotz der zahlreichen Kirchen haben viele Feste heidnische Wurzeln. Feuerwer-ke, Schilffeuer und Armbrustwettschießen sollen meistens irgendetwas vertreiben.

Seite 270 − 271: Burgruine Castel del Monte am Campo Imperatore.Seite 272: Krypta mit antiken Marmorsäulen und Mönch in der Kirche San Giovanni in Venere in Strandnähe südlich von Ortona.

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Diese Abruzzen bedienen kein gängiges Italien-Klischee. Nichts erinnert hier an die schnurgeraden Sandstrände der Adria, die ziselierte Kulturlandschaft der Toskana oder das sprühende Selbstbewusstsein der Römer. Auch Zypressen sucht man vergeblich und Renaissance-Paläste auch.

Nicht einmal wirkliche Städte gibt es. Zumindest keine großen, weil das Land schon ewig geknechtet wurde. In den isolierten Lagen und schwierigen Böden beuteten Groß-grundbesitzer die Bauern bitter aus. Sie sorgten für sich und ihren Besitz, während die landlose Bevölkerung arm blieb. Größere Gemeinwesen konnten sich kaum entwickeln.

Noch Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieb der Schriftsteller Ignazio Silone sozial scharfsinnig die Ver-elendung der Kleinbauern im Machtgeflecht von Kapital, Kirche und Faschismus. In seinen Romanen resignieren die Figuren über Sätzen wie „Was nützt es, sich Gedanken zu machen? Davon ist noch kein Hungriger satt geworden.“ In diesem melancholischen Realismus seiner Sprache erken-nen viele Landsleute seine abruzzesische Herkunft wieder.

Schon im 19. Jahrhundert tauschten Hunderttausende die Perspektivlosigkeit gegen ein Dritte-Klasse-Ticket auf einem Schiff mit Kurs Amerika. New York, Rio de Janeiro oder Buenos Aires hießen die Zielhäfen. Hauptsache weg.

Mussolini verbot die Auswanderung zwar, doch gleich nach dem Ende des Faschismus schwappte die nächste Wel-le Richtung Norden. In Rom leben heute mehr Abruzzesen als in den Städten ihrer Heimatregion.

Erst in den sechziger Jahren erlebten die Abruzzesen ein erstes Wirtschaftswunder. Langsam aber stetig hat sich seitdem mittelständische Industrie angesiedelt. Im ganzen

Land berühmt sind die abruzzesischen Nudeln. Aber auch wer Konsumgüter wie Jeans, Autoscheiben, Cola-Dosen, Koffer, CDs, Keilriemen, Möbel sein Eigen nennt, besitzt mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Produkt „Made in Abruzzo“.

Anschluss an den reichen Norden

Ursprünglich zählte man die Abruzzen zum armen Süden Italiens, weil sie bis Mitte des 19. Jahrhunderts ein Teil des Königreichs Sizilien waren. Die wirtschaftlich ineffezi-ente Monarchie stürzte zwar, aber dringend nötige Land-reformen blieben auch im vereinten Italien aus und die Strukturschwäche bestehen. Neuere Wirtschaftsdaten legen allerdings nahe, dass die bescheidenen Abruzzesen inzwi-schen zu Mittelitalien aufgeschlossen haben.

Rückgängig zu machen ist die Landflucht trotzdem nicht. In den ausgedehnten Weinbergen mit ihren hohen Pergolareben schuften heute vorwiegend Rumänen und Albaner.

Ein weiterer Aspekt, der untypisch für Süditalien ist, könnte eine Rolle spielen: In den Abruzzen gibt es kaum Mafia. Der Geheimbund hat in der armen Appennin-region keine Tradition und vielleicht auch zu wenig Geschäftsfelder.

Zerstörerische Einflüsse kennen die Abruzzen dennoch zur Genüge. Die Naturgewalten spielen der Region mit hoher seismischer Aktivität übel mit. Erdstöße erschüttern die Städte schon seit Jahrhunderten. Ein weiterer Grund,

Weder Rom noch Florenz: Die Abruzzen mit ihren Dorfkirchen bieten Beschauliches.

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warum es hier an Prachtbauten und historischen Stadtker-nen mangelt.

Das letzte große Beben von 2009 hat auf viele Jahre hi-naus die Hauptstadt L’Aquila und ihre Umgebung verwüs-tet. Wo noch vor Kurzem Studenten die Bars und Cafés bevölkerten, sind viele Gebäude irreparabel beschädigt. Eilig gezimmerte Gerüste, bewacht von Militär, hindern die Ruinen am Einsturz. Die Regierungsgelder für den Wieder-aufbau kommen selten hier an. Viele Menschen leben auf Jahre in Blech-Containern.

Im II. Weltkrieg verschanzten sich die zurückweichenden Nazis monatelang in Stellungen, deren Linien genau durch die Region verliefen. Hier wurden die blutigsten Schlachten geschlagen. Orte wie Ortona, Ancona und Pescara wurden in zähen Häuserkämpfen fast völlig zerstört.

Plattenbauten prägen das ungewohnte Bild dieser italienischen Städte. Endlose Reihen von Grabsteinen für kanadische und neuseeländische Soldaten sind bis heute grausige Zeugen der Blutbäder, die das Leid der Zivilbevöl-kerung doch nicht ahnen lassen. Allein durch die Explosion von Blindgängern beim Wiederaufbau der Landwirtschaft nach dem Krieg starben mehr Menschen als während der Kampfhandlungen.

Weiter im Landesinneren steigt das Land immer steiler an. Der Apennin, der Gebirgsrücken, der sich über den gan-zen italienischen Stiefel zieht, erhebt sich in den Abruzzen zu seiner größten Höhe. Ganz anders als der Rest der Regi-on ist das weitläufige Bergland im Westen in vieler Hinsicht unberührt. Den Abruzzesen ist das Hochland suspekt, es ist kaum besiedelt oder durch Landbau und Industrie zerstört.

Rund zwei Drittel der Provinz bestehen aus Gebirgszügen mit den größten Naturschutzgebieten Italiens.

Tibetische Steppe in mediterranem LichtDas wildschroffe Gran-Sasso-Massiv gehört dazu mit dem fast 3.000 Meter hohen Corno Grande. Bergseen, unbe-rührte Wasserfälle und der südlichste Gletscher Europas begeistern Naturtouristen. Wer den Weg macht, bekommt eine seltene Pflanzen- und Tierwelt gratis. Gämsen, Adler, Wanderfalken, Wildkatzen, Fischotter stellen die Po-pulation des völlig intakten Ökosystems. Endemischer Einwohner ist der Apenninwolf, der fast ausgestorben war, und selbst eine Unterart des Braunbären hat kein Problem mit dem Habitat. Die Bergwelt sieht so vertraut aus wie die Alpen, bietet aber eine höhere Schneesicherheit und ist deshalb unter Skifahrern eine Empfehlung.

Am Westrand fällt das Gebirge in das Hochplateau Campo Imperatore ab. Auf über 1.500 Metern Höhe erstrecken sich Tundrawiesen mit drahtigen Gräsern ohne Bäume und erinnern an ostasiatische Steppen. Klein-Tibet sagen die Einheimischen. Die italienische Sonne taucht die Berge oft in ein warm glänzendes Licht, das die Gipfel aufleuchten lässt. Im Sommer verwandelt sich die Steppe in eine Blumenwiese mit bunten Orchideen und Narzissen. Botaniker haben ihre helle Freude an der Flora. Seltene Pflanzen, von denen es manche nur hier gibt, blühen ein-fach am Wegesrand.

Fauna und Flora der Bergwiesen am Campo Imperatore.

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m a r k e n

u m b r i e n

l a t i u m

a b r u z z e n

m o l i s e

a p u l i e n

k a m p a n i e n

Guilianova

Pescara

OrtonaChieti

Teramo

L’Aquila

Avezzano

Vasto

Campobasso

1

2

3

35

4

4

Anbaugebiete 1 Controguerra 2 Montepulciano d’Abruzzo Colline Teramane 3 Montepulciano d’Abruzzo 4 Trebbiano d’Abruzzo 5 Molise

Tronto

Lago di Campotosto Gran Sasso

2912 m

Majella2793 m

A14

A25

A24

A1

10 20 30 40 50 km

5 10 15 20 25 mi

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Der Fischreichtum der Küste macht es möglich: das Fischen mit großen Netzen, ohne dabei nasse Füße zu bekommen.

Italo-Western trifft Benediktiner-Mönch

Auch das scheinbar unwirtliche Land eignet sich zur Land-wirtschaft: Zwischen Edelweiß, Enzian und Adonisröschen weidet Vieh auf der 80 Quadratkilometer großen Hochebe-ne. Dessen Fleisch und Milch schmecken intensiv, weil es sich von den würzigen Gräsern ernährt.

Den Abruzzesen gilt die Hochebene dennoch als Ende der Welt. Nach seiner Absetzung und Verhaftung 1943 wurde hier Benito Mussolini interniert. Man steckte ihn gut bewacht in ein Berghotel in der sicheren Annahme, dass er vor eventuellen Befreiungsaktionen abgeschirmt sei.

Ohne Rücksicht auf schwere Verluste fiel ein Himmel-fahrtskommando aus deutscher Luftwaffe und SS in die Bergregion ein und schaffte den Faschisten außer Reich-weite der Alliierten. Im Verlauf seiner weiteren Flucht Richtung Schweiz ließ sich Mussolini jedoch von einer Partisanentruppe erwischen. Die Freiheitskämpfer machten kurzen Prozess und beförderten den Ex-Duce ins Jenseits.

Weil die Luft so rein ist, richtete man ein Spiegel-teleskop im Campo Imperatore ein. Auf der Suche nach Objekten, die die Umlaufbahn der Erde kreuzen, hat es schon rund 200 Asteroiden ausgemacht. Auf dem Campo Imperatore sieht man, wie die Planeten in sicheren Bah-nen laufen.

Beliebt ist die unwirkliche Kulisse auch bei Filmema-chern. Die Landschaftsaufnahmen zu dem Mittelalter-Monumentalfilm Der Name der Rose entstanden in der Einsamkeit des Campo. Außer Sean Connery ritt Franco Nero als sprachökonomischer Rächer des Italo-Westerns Keama über die Hochebene. Michelle Pfeiffer schwebte als verfluchte Isabeau d’Anjou durch den Phantasy-Schmachtfetzen Der Tag des Falken.

Viele Italiener lernen die Einsamkeit und die perfekte Stille der Ebene erst nach und nach kennen. An kleinen Hütten, die über das Tal verteilt und für jedermann offen sind, treffen sich Radfahrer, Biker und Camper. Eine bessere Szenerie für ein Picknick gibt es auf der Welt nicht. In Sichtweite der gezahnten Gipfel gibt es salciche in Öl mit Orangenschalen und Rosmarin und ventricina, die würzigen Schweinswürste, mit gegrilltem Brot. Andere packen Pecorino aus, coppa mit Kräutern und geschmortes Kaninchen, gefüllt mit Leber und Steinpilzen.

Dazu steuert jeder noch eine Geschichte bei, darüber, wie seine Mama das Kaninchen mit gekräuterter coppa verfeinert und die nonna den sugo noch im Terracottatopf gekocht hat.

Nur 50 Kilometer weiter liegen die Touristen am wei-ßen Adriastrand von Giulianova. Wer seinen Sonnenschirm und die Liege für ein kleines Bad allein lässt, sieht vom türkisblauen Wasser aus den schneebedeckten Gipfel des Gran Sasso.

Doch kaum einer ahnt, dass es so nah an diesem Leben zwischen Sonnencreme und Eis am Stiel ein ganz anderes gibt: ein Leben mit arrosticini, Lammspießen, für die die Abruzzesen spezielle Grills haben. Darauf wird das Fleisch rauchig und zart. So nimmt es die milden Tannine des Weins genauso perfekt auf wie das knusprige Fett die Säure. Genau dann weiß man, warum der Montepulciano d’Abruzzo ein genialer Wein ist. zig

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