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1. Einleitung...phen Gibran Khalil Gibran, der schon 1932 sagte: „Pity the nation divided into...

Date post: 11-Apr-2020
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Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015. 1 1. Einleitung Meine Damen und Herren, guten Tag. Mein Vortrag trägt den Titel: Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft?Kurz gesagt geht es darum: 18 verschiedene Konfessionen leben zusammen und teilen die Macht untereinander auf in einem Land mit nur vier Millionen Einwohnern und in einer Region, in der die Religion eine sehr große Rolle spielt. Beginnen möchte ich mit einem Zitat des libanesischen Dichters, Malers, Bildhauers und Philoso- phen Gibran Khalil Gibran, der schon 1932 sagte: „Pity the nation divided into fragments, each frag- ment deeming itself a nation.“ Dies ist die exzellente Beschreibung einer Staatsform, oder genauer eines Phänomens, das seit sei- ner Gründung und noch vorher die wichtigsten Bereiche von Gesellschaft und Politik des Libanon dominiert des Konfessionalismus. Für Libanesen und Beobachter liegt hier der Schlüssel darin, dass der Libanon heute dort steht, wo er steht im Guten wie im Schlechten. Was ist das Positive? - Seit dem Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 vergingen 25 Jahre, in denen die Politik und nicht die Gewalt als Konfliktlösungsstrategie dominierte. Punktuell gab es allerdings sehr wohl offene, gewaltsame Auseinandersetzungen, auch nach dem Abzug der israelischen und syrischen Besatzungs- truppen in den Jahren 2000 beziehungsweise 2005. - Zwischenzeitlich erlebte der Libanon einen großen wirtschaftlichen Aufschwung. - Bis 2009 fanden relativ regelmäßige, freie und faire Wahlen statt mit relativ hoher politischer Partizipation. Regierungen haben in der Regel gewaltfrei gewechselt. - Weiterhin ist das Land relativ stabil trotz der Kämpfe in Syrien, die zunehmend auch eine kon- fessionelle Dimension bekommen und trotz des massiven Zustroms syrischer Geflüchteter; aktuell gehen wir von rund 1,4 Millionen Flüchtlingen aus Syrien und etwa 300.000 aus Palästina aus. Was ist negativ? - Das Parlament wurde 2009 letztmals gewählt, das nächste Mal wohl frühestens 2017 - Seit über einem Jahr hat das Land keinen Präsidenten - Seit 2009 vergingen insgesamt 15 Monate ohne Regierung; die aktuelle trifft sich zwar, be- wegt aber wenig - Ausufernde Korruption und Staatsverschuldung - Extreme sozioökonomische Ungleichheit - 2008 erlebte der Libanon eine Phase extremer politischer Instabilität, es gab Kämpfe und meh- rere Tote in Beirut und anderen Teilen des Landes.
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Page 1: 1. Einleitung...phen Gibran Khalil Gibran, der schon 1932 sagte: „Pity the nation divided into fragments, each frag-ment deeming itself a nation.“ Dies ist die exzellente Beschreibung

Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015.

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1. Einleitung

Meine Damen und Herren, guten Tag.

Mein Vortrag trägt den Titel: „Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch

eine Zukunft?” Kurz gesagt geht es darum: 18 verschiedene Konfessionen leben zusammen und teilen

die Macht untereinander auf – in einem Land mit nur vier Millionen Einwohnern und in einer Region,

in der die Religion eine sehr große Rolle spielt.

Beginnen möchte ich mit einem Zitat des libanesischen Dichters, Malers, Bildhauers und Philoso-

phen Gibran Khalil Gibran, der schon 1932 sagte: „Pity the nation divided into fragments, each frag-

ment deeming itself a nation.“

Dies ist die exzellente Beschreibung einer Staatsform, oder genauer eines Phänomens, das seit sei-

ner Gründung und noch vorher die wichtigsten Bereiche von Gesellschaft und Politik des Libanon

dominiert – des Konfessionalismus.

Für Libanesen und Beobachter liegt hier der Schlüssel darin, dass der Libanon heute dort steht, wo

er steht – im Guten wie im Schlechten.

Was ist das Positive?

- Seit dem Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 vergingen 25 Jahre, in denen die Politik und

nicht die Gewalt als Konfliktlösungsstrategie dominierte. Punktuell gab es allerdings sehr wohl offene,

gewaltsame Auseinandersetzungen, auch nach dem Abzug der israelischen und syrischen Besatzungs-

truppen in den Jahren 2000 beziehungsweise 2005.

- Zwischenzeitlich erlebte der Libanon einen großen wirtschaftlichen Aufschwung.

- Bis 2009 fanden relativ regelmäßige, freie und faire Wahlen statt mit relativ hoher politischer

Partizipation. Regierungen haben in der Regel gewaltfrei gewechselt.

- Weiterhin ist das Land relativ stabil trotz der Kämpfe in Syrien, die zunehmend auch eine kon-

fessionelle Dimension bekommen und trotz des massiven Zustroms syrischer Geflüchteter; aktuell

gehen wir von rund 1,4 Millionen Flüchtlingen aus Syrien und etwa 300.000 aus Palästina aus.

Was ist negativ?

- Das Parlament wurde 2009 letztmals gewählt, das nächste Mal wohl frühestens 2017

- Seit über einem Jahr hat das Land keinen Präsidenten

- Seit 2009 vergingen insgesamt 15 Monate ohne Regierung; die aktuelle trifft sich zwar, be-

wegt aber wenig

- Ausufernde Korruption und Staatsverschuldung

- Extreme sozioökonomische Ungleichheit

- 2008 erlebte der Libanon eine Phase extremer politischer Instabilität, es gab Kämpfe und meh-

rere Tote in Beirut und anderen Teilen des Landes.

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Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015.

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Die Frage ist also: Was für eine Zukunft hat dieses System?

1. Konfessionalismus: Definition, Kriterien, Charakteristiken

Beginnen wir mit der Theorie: Jetzt ist schon mehrmals der Begriff „Konfessionalismus“ gefallen.

Er ist aus dem Englischen Wort „confessionalism“ entlehnt. Alternativ könnte man, wie im Titel des

Vortrags, vom „konfessionellen Proporzsystem“ sprechen. Auf Englisch ist auch der Begriff

„sectarianism“ weit verbreitet. Andere sprechen sogar von einer „konfessionellen Oligarchie“ oder

vom „konfessionellen Feudalismus“.

Auf der theoretischen Ebene wurde das System, das wir heute im Libanon finden, zuerst von Arend

Lijphart beschrieben, aber nicht als Konfessionalismus, sondern als Konkordanzdemokratie, als de-

mokratisches System in gesellschaftlich segmentierten, aber stabilen Demokratien. Die Entscheidun-

gen werden dabei möglichst einstimmig, nach Verhandlungen, getroffen.

Vier Charakteristiken definiert Arend Lijphart für eine Konkordanz-Demokratie:

1. Regierung durch eine großen Koalition der Eliten aller wesentlichen Segmente der pluralen Ge-

sellschaft;

2. Veto-Recht für die einzelnen Gruppen;

3. Proportionalität als wesentlicher Maßstab der politischen Vertretung;

4. Ein hoher Grad an Autonomie für jedes Segment bei internen Angelegenheiten.

Die Macht wird dabei institutionell so aufgeteilt, dass keine Gruppe oder kein Interesse zu keiner

Zeit dominieren kann.

Wichtig ist, hier zu beachten: Es sind die Eliten, die miteinander interagieren, nicht die Bevölke-

rung.

Die verschiedenen Gruppen kann man sich also wie viele kleine Pyramiden vorstellen – an der

Spitze die Eliten und als Basis deren Anhänger; dies führt dazu, dass die politische Macht auch auf-

grund von wirtschaftlichen Ressourcen in den Händen weniger konzentriert wird.

2. Konfessionalismus im Libanon

Was hat das alles jetzt mit dem Libanon zu tun? Das möchte ich zeigen, indem ich die vier

Kriterien Lijpharts am libanesischen Beispiel durchspiele. Ich will dabei zum einen die insti-

tutionellen Rahmenbedingungen aufzeigen, andererseits aber auch zeigen, wie sich das Ganze

in der Praxis auswirken kann und zu welchen Problemen es führt.

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Eins muss man sich dabei vor Augen führen: Der Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 wurde zu

großen Teilen als Konflikt zwischen Anhängern unterschiedlicher Konfessionen ausgetragen. Aber das

Abkommen von Taif, das diesen Krieg beendete, schrieb den Konfessionalismus nur noch mehr fest.

Das Problem wurde also zur Lösung – ein Phänomen, das uns auch später noch einmal begegnen wird.

a. Regierung durch eine große Koalition der Eliten.

Der Libanon erlangte seine Unabhängigkeit von der französischen Mandatsmacht im Jahr 1943, als

der damalige Premierminister Riad el-Solh (Sunnit) und Staatspräsident Beshara el-Khoury (Maronit)

ein Abkommen trafen, das als National Pact in die Geschichte einging. Die libanesische Unabhängig-

keit war also nicht Ergebnis einer breiten Volksbewegung, sondern einer Abmachung zweier politi-

scher Führer, die als Vertreter verschiedener Konfessionen auftraten. Diese Episode illustriert an-

schaulich die Rolle der Eliten in der libanesischen Politik.

i. Institutionell: Ruling Troika, Kabinett

Institutionell drückt sich diese große Koalition so aus, dass die wichtigsten politischen Ämter auf-

grund der Konfession vergeben werden – der Staatspräsident ist Maronit, der Premierminister Sunnit

und der Parlamentspräsident Schiit.

Diese Praxis der „Ruling Troika“ ist aber nicht rechtlich, sondern traditionell legitimiert, und wird

häufig als „unsaubere Konkordanz“ gewertet, weil sie Vertreter anderer Konfessionen außen vor lässt

und die höchsten exekutiven Ämter auf Maroniten und Sunniten konzentriert. Auch die Zusammenset-

zung des Kabinetts, dem laut Verfassung (Art. 65) die exekutive Macht anvertraut ist, erfolgt nach

konfessionellem und regionalem Proporz.

Letztlich hängt die Effizienz des gesamten Systems von der Zusammenarbeit unter den Eliten ab.

Der informelle Konsens ist in der Regel das Mittel der Regierung. Das führt dazu, dass formale Wege

schnell verlassen werden – Beispiel Jahreshaushalt: Den gibt es nicht, stattdessen werden die Einnah-

men durch Verhandlungen verteilt. Dieses Vorgehen ist enorm intransparent und öffnet so der Korrup-

tion alle Türen.

ii. Informell: Parteien (konfessionell motiviert)

Als Eliten sind in diesem System die Inhaber hoher politischer Ämter zu verstehen, sowie die An-

führer von Parteien. Noch ein paar Gedanken zu den Parteien: Der Libanon verfügt traditionell über

eine sehr vielfältige und kompetitive Parteienlandschaft; werfen wir mal einen Blick auf das aktuelle

libanesische Parlament, und sie bekommen einen Eindruck:

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(Grafik: Straub)

Allerdings sind Parteien in der Regel das Ergebnis eines Phänomens, das zum Beispiel Robert A.

Dahl so beschrieben hat: Gruppen lösen in pluralen Gesellschaften die (inhaltlich-programmatischen)

Parteien ab – auch wenn sie sich theoretisch an alle Libanesen richten, sind die wichtigsten Parteien

eindeutig konfessionell geprägt und vertreten die Interessen der jeweiligen Gruppe. Allerdings gibt es

innerhalb einer Konfession häufig mehrere wichtige Parteien.

Die Parteien sind in der Regel das Ergebnis komplexer Patronage-Beziehungen, die familiär, lokal,

konfessionell, wirtschaftlich und persönlich motiviert sind. Im Endeffekt sind die meisten, mit Aus-

nahme der Hisbollah, Mittel, mit denen die jeweiligen Kandidaten ihre persönlichen Ziele verfolgen.

Häufig sind diese Beziehungen streng hierarchisch und patriarchalisch organisiert, Geschlechter-

Ungerechtigkeiten bestehen fort. Die Eliten sind überaltert, haben schon zum großen Teil am Bürger-

krieg teilgehabt und sind gerade dabei, ihre Söhne oder Schwiegersöhne an der Macht zu installieren –

das System ist somit undurchlässig und nimmt teilweise feudale Züge an.

So entsteht eine wechselseitige Abhängigkeit: Die Parteien mobilisieren ihre Anhängerschaft mit

dem Argument der gemeinsamen Konfession, indem sie sich teilweise als Beschützer der jeweiligen

Gemeinschaft inszenieren, die religiösen Gefühle der Bevölkerung manipulieren und so die Macht

innerhalb der Gruppe monopolisieren. Viele der aktuell wichtigsten Politiker und Parteispitzen waren

Milizenführer während des Bürgerkriegs oder stammen von ihnen ab.

Free Patriotic Movement; 19

Lebanese Democratic Party;

4

Marada Movement; 3

Armenian Revolutionary Federation; 2

Solidarity Party; 1

Amal; 13

Loyalty to the Resistance; 12 Syrian Social

Nationalist Party; 2

Arab Socialist Ba'ath Party; 2

Progressive Socialist Party; 7

Glory Movement; 2

Other; 1

Future Movement;

26

Lebanese Forces; 8

Kataeb; 5

Murr Bloc; 2

Social Democrat Hunchakian Party;

2

Islamic Group; 1 Armenian Democratic Liberal

Party; 1

Democratic Left Movement; 1

National Liberal Party; 1 Independents; 11

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iii. Probleme, die dadurch entstehen:

a. Aktuelle, zusätzliche Spaltung 8./14. März.

Aktuell hat die Situation eine weitere Dynamik: Seit 2005 befinden sich zum ersten Mal seit langer

Zeit keine ausländischen Besatzungstruppen mehr im Libanon (Syrien 1976 – 2005, Israel 1982 –

2000). Was zu Beginn als Chance für eine freie Entwicklung des Landes galt, hat die innerlibanesische

Spaltung nur verschärft – aber zumindest hat es den Überblick vereinfacht:

(Grafik: Straub)

Zwei etwa gleich große Parteienkoalitionen, die Bewegung des 8. März (außenpolitisch nahe am

syrischen Präsidenten Bashar al-Assad und Iran) und des 14. März (außenpolitisch nahe an der syri-

schen Opposition, den USA und Saudi-Arabien), stehen sich seither unversöhnlich gegenüber. Ein

Blick auf die Abgeordneten im Parlament macht die konfessionelle Dimension dieses Konflikts deut-

lich:

Change and Reform Bloc;

29

March 8; 29

Pro-Government

Independents; 10

March 14; 58

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Fast alle sunnitischen Abgeordneten gehören zum 14. März, und fast alle schiitischen zum 8.

März. Auf beiden Seiten finden sich christliche Abgeordnete. Wenn ich also von der „Spaltung“ der

libanesischen Bevölkerung spreche, so ist damit einerseits die Spaltung entlang von Parteigrenzen

gemeint; da aber die Parteien insgesamt ebenfalls auseinander treiben, verschärft dies die spaltende

Dynamik zusätzlich.

b. Ruling Troika

Ein Problem mit der Ämtervergabe nach Konfession ist auch, dass das Amt dadurch in Mitleiden-

schaft gezogen wird und nur als Mittel zum Zweck gilt. Beispielsweise gilt der Präsident als Wahrer

Maronitischer Interessen, kann damit aber eben nicht ein neutraler Präsident aller Libanesen sein. Der

Vorschlag von Michel Aoun, selbst Kandidat, zeigt, was ich meine: Er will den Präsidenten in Zukunft

vom Volk wählen lassen, aber in zwei Schritten: Im ersten Schritt sollen alle Christen abstimmen, und

die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen stellen sich dann der Gesamtbevölkerung zur Wahl.

c. Parteien

Problematisch wird es auch, wenn es den Parteien nicht gelingt, ihren Teil des Handels einzuhalten –

bisher lautet das Prinzip: Wenn jede Konfession an sich denkt, ist an jede gedacht. Aber aktuell hat

beispielsweise das sunnitisch geprägte Future Movement das Problem, dass es seit 2009 finanzielle

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15

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Dru

sen

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08. Mrz 14. Mrz

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Schwierigkeiten durchlebt. Deshalb konnte es, wie ein Parteioffizieller zugibt, nicht so viele Stipendi-

en oder medizinische Infrastruktur bereitstellen oder Jobs im öffentlichen Sektor vermitteln, wie er-

wartet wurde. Selbst die Angestellten der Partei werden nur unregelmäßig bezahlt. Das führt einerseits

zu einem Legitimationsproblem und bietet beispielsweise in diesem Fall auch den Nährboden für reli-

giösen Extremismus, andererseits sorgt es aber auch für eine sozio-ökonomische Spaltung entlang

konfessioneller Linien.

b. Veto-Recht

i. Formell nicht vorgesehen

Ein zu Recht häufig genannter Vorteil des libanesischen Konkordanzsystems ist, dass es seit Grün-

dung des Libanon eine strukturelle Garantie gegen eine totalitäre Regierung bietet, in der Vertreter

einer Konfession über die anderen herrschen – gemäß dem Prinzip „La ghalib wa la maghlub“ (kein

Sieger und kein Besiegter). Gesetze werden beispielsweise im von einem Sunniten geleiteten Kabinett

initiiert, im von einem Schiiten geführten Parlament beschlossen und von einem christlichen Präsiden-

ten unterzeichnet. Aber formell hat keine Konfession ein Veto-Recht.

ii. Durch Spaltung vereinfacht: Beispiel Präsident

De facto hat natürlich jede der bedeutenden Parteien durch ihre Verbündeten die Möglichkeit, den

Prozess zu blockieren – wie aktuell im Fall der Präsidentschaftswahl:

Samir Geagea und Michel Aoun, Politiker und frühere Warlords aus unterschiedlichen Allianzen,

konkurrieren um das Amt. Allerdings haben beispielsweise Aouns Partei Free Patriotic Movement

und deren Verbündete, die Hisbollah, beschlossen, an keiner Parlamentssitzung teilzunehmen, solange

nicht ein „Konsenskandidat“ gefunden wurde, also: So lange nicht Aoun gewählt wird. Damit ist seit

15 Monaten der Prozess blockiert, der Kollateralschaden ist riesig – auch das ist eine Form des Veto.

iii. Problem

a. Außerdem: Hisbollah hat „militärisches Veto“

Ein Sonderfall ist in all dem die schiitische Partei Hisbollah. Im Jahr 2008 beschloss die Regierung

zwei Gesetze, bei denen sich die „Partei Gottes“ übergangen fühlte. Die Miliz der Hisbollah besetzte

handstreichartig Teile Beiruts und setzte im Abkommen von Doha durch, dass ihr im Kabinett eine

Veto-Macht zugestanden wurde; damit machte sie deutlich, dass parlamentarische Mehrheiten im Li-

banon dem konfessionsübergreifenden Konsens unterzuordnen sind. Allerdings war das Kabinett mit

dem Hisbollah-Veto quasi beschlussunfähig.

Es kann zwar keine Konfession alleine über alle anderen dominieren, doch gibt es informell Mög-

lichkeiten der Blockade. Zudem gilt das militärische Drohpotenzial der Hisbollah spätestens seit den

Ereignissen von 2008 als informelles Veto, das keine der anderen Gruppen kontern kann.

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c. Proportionalität

i. Parlament, Kabinett

Die Vertretung der Konfessionen in den höchsten Ämtern habe ich schon angesprochen, außerdem

ist das Parlament proportional zwischen den einzelnen Konfessionen aufgeteilt (je 50 Prozent für

Christen und Muslime mit entsprechenden Unterteilungen). Auch im Kabinett ist die Verteilung ent-

sprechend.

ii. Problem: Entspricht nicht Realitäten, erleichtert ausländische Einmischung

Dass dies aber nicht mehr den gesellschaftlichen Verhältnissen entspricht, ist ein offenes Geheim-

nis – es gilt als sicher, dass die Christen im Parlament überrepräsentiert sind im Verhältnis zu ihrem

Anteil an der Gesamtbevölkerung. Immer wieder werden Forderungen nach einer Neu-Aufteilung des

Parlaments laut, aber bisher konnte sich keine davon durchsetzen. Außerdem wird häufig die bereits

angesprochene Aufteilung der wichtigsten politischen Ämter kritisiert. Seit Jahren debattiert der Liba-

non über ein neues Wahlgesetz – mit teilweise völlig absurden Vorschlägen. So gilt als Favorit unter

verschiedenen christlichen Parteien (selbst von verschiedenen Koalitionen) das „Orthodox Law

Proposal“, bei dem man nur für Kandidaten der eigenen Konfessionen stimmen kann.

Das System ist eigentlich auf Balance aus, selbst um den Preis der Verhältnismäßigkeit. Um aber

die eigene Position im Vergleich zu den anderen aufzuwerten und die Balance zu umgehen, greifen die

verschiedenen Gruppen in verfahrenen Situationen häufig auf ausländische Verbündete wie etwa

mächtige Nachbarstaaten zurück, die somit eine gewaltige Rolle dabei spielen, Konflikte im Libanon

hervorzurufen oder beizulegen.

d. Autonomie in inneren Angelegenheiten

Falls kulturelle Bruchlinien zu tief sind, schlägt beispielsweise Robert A. Dahl vor, die verschiede-

nen Gruppen in verschiedene politische Einheiten zu unterteilen und ihnen so eine gewisse Autonomie

zuzugestehen, allerdings besteht auch hierin das fundamentale Problem der pluralistischen Demokra-

tie: die Balance zwischen Autonomie und Kontrolle zu finden.

i. Zivilrechtlich große Autonomie, große Macht für politische und religiöse Führer

Tatsächlich ist von den libanesischen Sekten häufig die Rede als Staaten im Staate. Weil die Kon-

fession den zivilrechtlichen Status der Libanesen bestimmt und eigene Zivilgerichte für fast alle der

genannten Konfessionen existieren, können politische Führer großen Einfluss auf die Anhängerschaft

ihrer jeweiligen Konfession ausüben – in Zusammenarbeit mit religiösen Persönlichkeiten wie bei-

spielsweise dem sunnitischen Großmufti oder dem maronitischen Patriarchen.

Damit überschreitet der Konfessionalismus die Grenze des Politischen und spielt auch im gesell-

schaftlichen Zusammenleben eine bedeutende Rolle; das zeigt zum Beispiel die Diskussion um die

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Zivilehe, die bisher im Land nahezu unmöglich zu schließen ist – auch durch den Druck religiöser

Vertreter – oder die Tatsache, dass unterschiedliche Bildungseinrichtungen für die verschiedenen Kon-

fessionen existieren. Und weil Konfessionen die Rolle des Staates zunehmend ersetzen, wird die Re-

gierung so weit geschwächt, dass sowohl nicht-staatliche Akteure (wie der bewaffnete Arm der His-

bollah) als auch andere Staaten großen Einfluss gewinnen.

ii. Problem: Z.B. Zivilehe, verhindert „cross-cutting cleavages“

Obwohl Lijphart davon ausgeht, dass eine Konkordanzdemokratie cross-cutting cleavages entwi-

ckeln kann, also die Konfessionsgrenzen überschneidende Identitäten schaffen, wird dies für den Li-

banon häufig bestritten; das konfessionelle System erreicht eher das Gegenteil. Zudem unterschätzt

Lijpharts Theorie beispielsweise den transnationalen Charakter religiöser Identitäten, was im Libanon

dazu führe, dass ausländische Akteure bedeutenden Einfluss auf die Anhänger der jeweiligen Konfes-

sionen haben – etwa der Iran auf die Schiiten, wie ich 2010 erfahren habe, als Ahmadinejad zu Besuch

war.

iii. Identität

Ein weiteres Problem, das damit zusammenhängt, ist, dass die konfessionelle Identität Gefahr läuft,

wichtiger zu werden als die libanesische.

3. Welche Chance bleibt für die Zukunft?

a. Wer will das System ändern?

i. Verfassung

Sowohl Artikel 95 als auch das Taif-Abkommen geben die Abschaffung des politischen Konfessiona-

lismus als Ziel aus.

ii. Zivilgesellschaftliche Akteure

Es gibt auch eine kleine, aber sehr aktive Gruppe, die immer wieder Demos im Libanon abhält –

gegen den Konfessionalismus, für Säkularisierung und gegen die alten, immer gleichen Eliten. Erst im

Mai fand wieder eine Demo in Beirut für die Zivilehe statt – es nahmen aber nur ein paar Hundert

Leute daran teil, wie schon seit Jahren.

Dennoch hat der Libanon einen sehr aktiven NGO-Sektor und eine Zivilgesellschaft; darauf werden

wir im Workshop noch genauer eingehen, und ich bin sicher, Raji kann zu dem Punkt in den Fragen

auch gleich noch einiges sagen. Nur ein Beispiel: Die NGO LADE „Lebanese Association for Democ-

ratic Elections“ hat Wahlbeobachter bei Kommunalwahlen durchgesetzt, was wichtig ist - gerade weil

Wahlen eben häufig sehr konfessionell aufgeladen sind. Im NGO-Bereich engagieren sich auch viele

Jugendliche, die sie sich immer mehr von der aktiven Politik abwenden, wie jüngere Umfragen nahe-

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legen. Gerade über soz. Netzwerke ist aber die jüngere Generation auch extrem vernetzt, es gibt FB-

Gruppen, die sich mit dem Thema beschäftigen, etc.

b. Wer will es beibehalten?

1. Politische Elite durch Klientelismus, Medien

In der Bevölkerung ist das System mehrheitlich akzeptiert, aber gerade in Beirut zunehmend um-

stritten – beispielsweise an der Frage des Wahlgesetzes.

Wenn die politische Elite über den Konfessionalismus diskutiert, geht es eher um eine Überarbei-

tung des bestehenden Systems als um dessen Abschaffung – zu der ja, wie ich gezeigt habe, formal

durchaus eine Absicht besteht. Aber sowohl die Koalition des 14. als auch die des 8. März stimmen

darin überein, das System im Wesentlichen zu erhalten.

Wichtig ist dabei auch zu betonen: Wir sprechen hier nicht nur über ein politisches System, es hat

auch weit reichende gesellschaftliche Auswirkungen. Lediglich 2010 ging Parlamentspräsident Nabih

Berri einmal soweit, ein Komitee zu fordern, das sich mit der Abschaffung des Konfessionalismus

beschäftigen sollte. Der Aufschrei war groß, und das Projekt wurde nicht weiterverfolgt.

Ein Mittel, durch das sich das politische System selbst stabilisiert, sind die Medien:

Sender Politischer Akteur Konfession Pol. Allianz

Future TV Future Movement Sunnitisch 14. März

Murr TV Gabriel Murr Griechisch-

Orthodox 14. März

NBN Amal Schiitisch 8. März

al-Manar Hisbollah Schiitisch 8. März

OTV Free Patriotic Movement Maronitisch 8. März

al-Jadeed nicht eindeutig (ehem. Anti-Future) nicht eindeutig eher 8. März

LBCI nicht eindeutig (ehem. Lebanese Forces) nicht eindeutig,

eher maronitisch eher 14. März

Télé Liban Präsident, Regierung alle

Acht Fernsehsender, fünf davon mit klarer konfessioneller Ausrichtung, tragen dazu bei, das Sys-

tem in seiner Charakteristik zu erhalten Wer soll Alternativen aufzeigen?

Das System zerstört sich also und wiederholt sich dennoch, eine Schlange, die ihren eigenen

Schwanz auffrisst.

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c. Weitere Einflussfaktoren wo stehen wir jetzt?

i. Bürgerkrieg Syrien

Der syrische Bürgerkrieg destabilisiert das Land jetzt schon. Es gab heftige Kämpfe in der Vergan-

genheit, zum Beispiel in Tripoli oder in Arsal an der östlichen Grenze. Zudem die drängende Flücht-

lingsproblematik: Weit über eine Million Geflüchtete, dem Land fehlen aber auf allen Ebenen die er-

forderlichen Ressourcen. Zudem ist der Krieg in Syrien zunehmend konfessionell geprägt, das ver-

stärkt auch das Problem im Libanon. Unterschiedliche Konfliktparteien haben natürlich auch unter-

schiedliche Interessen im Libanon – Assad eher pro Status Quo, Islamisten dagegen, die ursprüngliche

syrische Opposition kämpft gegen die Hisbollah...

ii. Internationale Akteure

1. Regionale Akteure – Iran, Saudi-Arabien, Türkei…

All diese Akteure sind für Veränderungen in ihrem Sinne – aber im Rahmen des Status Quo, denn

Stabilität hat Vorrang. Der Libanon verliert aber durch Syrien eher an Bedeutung im Vergleich zu vor

fünf Jahren – zuvor galt er immer als Schauplatz für Stellvertreterkriege (Battleground of the Middle

East), jetzt geht es in Syrien aber ums große Ganze. Dies ist bestimmt ein Faktor, der zur Stabilität

beiträgt.

2. Westliche Akteure

Sind de facto für Stabilität (auch Israel), loben den Libanon gelegentlich, verurteilen Hisbollah, sind

aber jederzeit bereit, zur Hilfe zu eilen, wenn sie gerufen werden…

4. Fazit

Welche Zukunft hat der Konfessionalismus also? Ich denke, das System in sich ist stabil, zumin-

dest für die kommenden Jahre, insbesondere wenn die Lage in Syrien so bleibt wie jetzt. Die meisten

Politiker der älteren Generation haben den Machtwechsel in ihren Reihen soweit vorbereitet, das Prin-

zip und zum Teil auch das System sind in großen Teilen der Gesellschaft anerkannt (Wahlbeteiligung

2009: 55 Prozent).

Die Strukturen sind vorhanden und die Unsicherheit ist groß, was passiert, wenn man etwas ande-

res versucht, Motto: Keine Experimente. Aber: Auflösungserscheinungen sind erkennbar. Das System

ist nicht mehr in der Lage, alle Gesellschaftsmitglieder mitzunehmen, es ist hochgradig ineffizient und

scheint in einer Sackgasse angekommen – was aber nichts heißen muss, denn das dachten wir schon

mehrmals im Libanon. Gut möglich, dass es noch einige Zeit lang so weitergeht, dennoch fehlt der

politischen Elite die notwendige Flexibilität, die sie bräuchte, um sich dauerhaft selbst zu erhalten –

langfristig ist das System zu sehr auf Klientelismus und Korruption ausgelegt, um wirklich effizient zu

sein.

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Die Angst vor dem Krieg in Syrien und dem Islamismus verunsichert meiner Meinung nach gerade

noch große Teile der Bevölkerung – ohne ihn würde ich auch eine Art Generalstreik in der Bevölke-

rung für möglich halten, eine Art Zedernrevolution 2.0 für echte Reformen. Das Potenzial dafür wäre

jedenfalls vorhanden, die Unzufriedenheit habe ich oft als recht groß erlebt – wenn 12 Stunden am Tag

der Strom ausfällt oder es zu wenige Schulen gibt; sowohl unter jungen Beirutis als auch beispielswei-

se in der verarmten Bevölkerung in Tripoli ist der Frust groß.

Hinweis: Dieser Text ist das Manuskript des Vortrags von Bodo Straub bei der von Alsharq mit-

organisierten Tagung „The State of the States. Stand und Chancen zivilgesellschaftlichen Handelns im

Nahen Osten“ in der evangelischen Akademie Bad Boll vom 3. bis zum 5. Juli. Daher sind keine Quel-

lenangaben vorhanden.

Bei Rückfragen zu einzelnen Punkten oder mit der Bitte um weitere Informationen wenden Sie sich

bitte per E-Mail an den Verfasser: [email protected]


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