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Betriebliches 06 2020 ...

Date post: 28-Oct-2021
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+++ Round Table: Physische Distanz überbrücken +++ EAP: Seelsorger in der Not +++ +++ Agiles Arbeiten: Unterschätzter Stress +++ Interview: Betriebsärzte im BGM +++ ISSN 0341-4698 Art.-Nr. 98002585 Das Magazin für den Job HR Personalwirtschaft SPECIAL www.personalwirtschaft.de 06 2020 Betriebliches Gesundheitsmanagement Brücken bauen WIE UNTERNEHMEN IHRE MITARBEITER IN DER CORONA-KRISE STÄRKEN KÖNNEN
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+++ Round Table: Physische Distanz überbrücken +++ EAP: Seelsorger in der Not +++ +++ Agiles Arbeiten: Unterschätzter Stress +++ Interview: Betriebsärzte im BGM +++ IS

SN 0

341-

4698

Art.

-Nr.

980

0258

5

Das Magazin für den Job HRPersonalwirtschaft SPECIAL

www.personalwirtschaft.de

06 2020BetrieblichesGesundheitsmanagement

Brücken bauenWIE UNTERNEHMEN IHRE MITARBEITER IN DER CORONA-KRISE STÄRKEN KÖNNEN

Stress abbauen, einen gesunden Rücken stärken, ausgewogene Ernährung fördern: Unternehmen können viel tun, um die Gesundheit ihrer Beschäftigten zu unterstützen.

Die BARMER hilft und berät dabei, mit nachhaltigen und ganzheitlichen Trainings und Programmen, die ganz flexibel in Ihr betriebliches Gesundheitsmanagement integriert werden können.

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GESUND ARBEITEN

IM HOME-OFFICE

Gesund Führen im Home-Offi ce

Gesunde Selbstverpfl egung

Gesund Arbeiten im Home-Offi ce

Ergonomie im Home-Offi ce

Bewegungsprogramme

EDITORIAL

Gerade befinden wir uns auf dem Weg vom Lockdown zur Lockerung. Die Fitness-Studios haben geöffnet,Restaurants können wieder besucht werden, es dürfen sich wieder mehr Menschen treffen – alles nachwie vor mit Abstand. Unternehmen stehen nun zum einen vor der Herausforderung ihre Mitarbeiternach und nach wieder in die Büros zu holen und dort eine Infektion zu verhindern. Zum anderen gilt es,die weiterhin im Homeoffice Arbeitenden, sei es weil sie Kinder betreuen müssen oder zur Risikogruppezählen, auf Distanz zu führen. Man sollte meinen, dass das betriebseigene BGM gerade jetzt eine wichtige Rolle spielt, um Mitarbeiterpsychisch und physisch fit zu halten. Fakt ist jedoch, dass Prävention und BGM auf der Prio-Liste geradenach unten rutschen, so die Erfahrung unserer BGM-Experten beim diesjährigen Round Table. Sei es,weil das Krisenmanagement gerade alle Aufmerksamkeit beansprucht oder das BGM-Budget für dasÜberleben der Firma benötigt wird. Hier muss dringend ein Umdenken stattfinden, denn die Gesundheit der Mitarbeiter ist das höchste Gut.Unternehmen, die schon vor der Krise mit einem strategischen und digitalen BGM glänzen und mit einerVertrauenskultur punkten konnten, fällt es jetzt leichter eine Brücke zu ihren Mitarbeitern zu bauen.BGM hat nun die Aufgabe, sich als Partner in der Krise zu positionieren, denn diese wird Spurenhinterlassen. Mitarbeiter brauchen mehr denn je psychische Unterstützung. Somit sollte auch die psychischeGefährdungsbeurteilung verstärkt in den Fokus rücken. Wenn nicht jetzt, wann dann.

Elke Schwuchow, Redakteurin

Gesundheit neu wertschätzen

4

INHALT

Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

6

IMPRESSUM

VERLAG: FRANKFURT BUSINESS MEDIA GmbH – Der F.A.Z.-Fachverlag,

Frankenallee 71–81, 60327 Frankfurt am Mainn

REDAKTION: FRANKFURT BUSINESS MEDIA GmbH – Der F.A.Z.-Fachverlag,

Redaktion Personalwirtschaft, Luxemburger Str. 449,

50939 Köln, Telefon: 069 7591-3416 und -3551,

E-Mail: [email protected], www.personalwirtschaft.de

HERAUSGEBER: Erwin Stickling

CHEFREDAKTEUR: Cliff Lehnen

REDAKTION: Elke Schwuchow (Projektleitung)

KORREKTORAT: Harriet Gehring

FREIE MITARBEITER DIESER AUSGABE: Chistiane Siemann, Petra Walther

ANZEIGEN:

Denise Fei (Anzeigenmarketing), Telefon: 069 7591-3413

E-Mail: [email protected]

Christian Wenzel (Anzeigenmarketing), Telefon: 069 7591-3554

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Lea Linder (Anzeigendisposition), Telefon: 069 7591-3510

E-Mail: [email protected]

HERSTELLUNG: Ursula Schmidt

GESTALTUNG: www.auhage-schwarz.de

BILDNACHWEIS: i-stock/gettyimages

TITELFOTO: i-stock/gettyimages

Art.-Nr.: 98002585

DRUCKEREI: Williams Lea & Tag GmbH, München

COPYRIGHT:© 2020 Frankfurt Business Media GmbH – Der F.A.Z.-

Fachverlag, Frankfurt am Main

Mit Namen gekennzeichnete Beiträge stellen nicht unbedingt die

Meinung der Redaktion oder des Verlages dar. Für unverlangt

eingesandte Manuskripte übernehmen wir keine Haftung. mit der

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Sitz der Gesellschaft: Frankenallee 71–81, 60327 Frankfurt am Main

Telefon: 069 7591-3239

E-Mail: [email protected]

Geschäftsführer: Dominik Heyer, Hannes Ludwig

HRB-Nr.: 53454, Amtsgericht Frankfurt am Main

Umsatzsteuer-ID-Nr.: DE218022242

Die Europäische Kommission stellt unter http://ec.europa.eu/

consumers/odr/ eine Plattform zur außergerichtlichen Online-

Streitbeilegung (sog. OS-Plattform) bereit. Wir weisen darauf hin,

dass wir an einem Streitbeilegungsverfahren vor einer Verbraucherstreit-

schlichtungsstelle nicht teilnehmen.

BETRIEBLICHES GESUNDHEITSMANGEMENT 06_2020

3 EDITORIAL Gesundheit neu wertschätzen

6 ROUND TABLE Herausforderung: Physische Distanz überbrücken

12 FACHBEITRAG Employee Assistance Programs – Seelsorger in der Not

15 INTERVIEW Franziska Stiegler gibt Unternehmen Tipps für den Umgang mit Corona-Stress

18 STUDIENERGEBNISSE Eine Umfrage im Mittelstand zeigt: BGM ist noch ein Sorgenkind

20 INTERVIEW Professor Hans Drexler über die Bedeutung des Betriebsarztes im BGM

22 FACHBEITRAG Agiles Arbeiten kann Stress verursachen

25 CASE STUDY Digitales BGM bei der REWE Group

28 FACHBEITRAG Psychisch Erkrankte in die Arbeitswelt integrieren

6 Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

BGM ROUND TABLE

Status quouUm den Wert der Gesundheit wird – zwischen Lock-down und Lockerung – kontrovers diskutiert. Unterder Überschrift „Wie lange können wir uns ein Herun-terfahren der Wirtschaft noch leisten?“ ringen Politik,Wirtschaft und Gesellschaft um die richtige Strategie:In der einen Waagschale liegen die persönlichen Ein-schränkungen, wirtschaftliche Existenznöte der Bürgerund eine kräftige Rezession; in der anderen die drohendeAnsteckungsgefahr des Einzelnen und ganzer Gruppensowie die Überlastung des Gesundheitssystems. Wenn die Wirtschaft wieder anläuft, kommt auf Unter-nehmen die große Herausforderung zu, die Ausbreitungder Infektion am Arbeitsplatz zu verhindern. Damitdie Belegschaft gesund bleibt, müssen sie nicht nur denbetrieblichen Pandemieplan und neue Arbeitsschutz-standards umsetzen, sondern auch Maßnahmen zum

Schutz der körperlichen und psychischen Gesundheitder Mitarbeiter ergreifen. Das oberste Ziel lautet: denNormalmodus, beziehungsweise die friedliche Koexis-tenz mit dem Virus, zu erreichen. Dass die betriebliche Gesundheit ein hohes Gut ist, hatdie Mehrheit der Arbeitgeber in den vergangenen Jahrenerkannt. Aber wie lässt sich das Wohlergehen der Mit-arbeiter in der Krisensituation erhalten? In dieser Aus-nahmesituation sind vor allem die Betriebsärzte gefragt.Sie geben die grundlegenden Informationen zur Infek-tion weiter und zeigen Schutzmaßnahmen auf. In vielenUnternehmen sitzen sie im Krisenstab, der unter ande-rem darüber entscheidet, ob Desinfektionsmittel undAtemschutzmasken verteilt werden sollen, berichtetDr. Michael Drees, leitender Arzt der Ias AG. Der Medi-ziner, auch als externer Betriebsarzt tätig, beobachtet,dass die Betriebe „Prävention und BGM in ihrer Wich-tigkeit drastisch nach unten stufen“. Fast 100 Prozentder BGM-Präsenzmaßnahmen seien gestoppt und nurteilweise durch digitale Beratungsangebote ersetzt wor-den. Erfreulicherweise würden aber „Arbeitsmedizineraktuell so wertgeschätzt wie lange nicht mehr“.Dass der üblicherweise an erster Stelle stehende Prä-ventionsgedanke von BGM in Zeiten von Corona inder Prioritätenliste ganz weit nach hinten rückt, bestätigtauch Stefan Buchner, Geschäftsführer von UBGM:„Aktuell ist Krisenmanagement angesagt“, daher seivor allem die Expertise der Betriebsmediziner gefragt,um eine Ausbreitung der Infektionen am Arbeitsplatzzu verhindern.

Für ausgewählte aktuelle Themen holt sich die Personalwirtschaft

Experten an einen Tisch, um mit diesen Trends,

den Markt und die Bedürfnisse von HR zu

diskutieren. Die Expertenrunde BGM (die

in Anbetracht der aktuellen Situation als

Videokonferenz stattfand) wurde von

Erwin Stickling, Herausgeber der Personal-

wirtschaft, und Christiane Siemann, freie Jour-

nalistin, moderiert. Die Erkenntnisse lesen Sie hier.

Info zum Round Table

Die Distanz überbrücken

u Die Pandemie traf die Mehrheit der Unternehmenunvorbereitet. Gleiches gilt für die BGM-Dienstleister,die von einem auf den anderen Tag Vor-Ort-Maßnah-men der Betrieblichen Gesundheitsförderung oder aberstrategische Aufgaben wie Erhebungen und Analyseneinstellen mussten. Was also tun, um Mitarbeiter nichtim Stich zu lassen und Betriebe zu unterstützen? Die Krankenkassen, in Normalzeiten Partner von BGM-Maßnahmen, sind zum einen mit praktischen Aufgabeninfolge des Shutdowns beschäftigt. Sie stunden die Sozi-alversicherungsbeiträge und informieren zu weiterensozialversicherungsrechtlichen Fragen. So auch die IKKClassic, deren Versicherte im Handwerk arbeiten. Zumanderen kümmern sich die Krankenversicherungen umdiejenigen Betriebe, deren Mitarbeiter weiterhin tätigsind. „Wir versorgen sie mit allen notwendigen Infor-mationen zur Vorbeugung vor Ansteckung – per Webi-naren, Apps und Videos“, berichtet Frank Klingler, Leiterdes Referats Betriebliche Gesundheitsförderung. Undum die Betriebliche Gesundheitsförderung nicht ein-schlafen zu lassen, stellt die IKK Classic Firmenkunden,mit denen sie im BGM-Prozess ist, Trainingsvideos zurVerfügung. Da die Nachrichtenlage rund um das Coronavirussehr schnelllebig ist, legt die Barmer Krankenkasseeinen Fokus auf „wissenschaftlich fundierte Infor-mationen“, die auf der Homepage zu finden sind.Ebenso wurde eine extra Hotline freigeschaltet, ergänztGerd Scheup lein, Berater BGM Partnerunternehmen.Zwar seien die Präsenzveranstaltungen der Barmerkomplett heruntergefahren worden, man forciereaber die Entwicklung digitaler BGM-Angebotegemeinsam mit den bundesweiten Partnern deutlich,damit sie Beschäftigten und Unternehmen zeitnahzur Verfügung stehen. Einen anderen Weg geht die Techniker Krankenkasse(TK). Neben umfangreichen Online-Informationen rundum das Virus führt sie per Videotelefonie eine ärztlicheFernbehandlung für Versicherte mit Corona-Infektionoder -Verdacht ein, inklusive einem elektronischen Rezept.Außerdem bietet die TK eine Virtual Reality nutzendeAngsttherapie an. Die Betroffenen können eine psycho-therapeutische App mit Übungen zur Angstbewältigungnutzen und werden therapeutisch per Videotelefonatbegleitet. Das Erstgespräch mit einer umfangreichen Diag-nostik erfolgt während der Corona-Pandemie auch perVideotelefonie mit einem Therapeuten. Die Experten für betriebliche Gesundheit haben sichauch schnell auf die aktuelle Situation eingestellt. Trai-nings, Workshops oder Beratungen erfolgen jetzt aus-

schließlich über telefonische oder virtuelle Kanäle. Neuist der Schritt für die Anbieter nicht. Schon jetzt arbei-teten viele mit Videos, die Ernährungsfragen oder Trai-ningshinweise vertiefen. Aktuell ist aber Kreativität

Die Experten des Round Tables

Tom Conrads, Geschäftsführer,

insa Gesundheitsmanagement GbR

Kirsten Faust, Teamleiterin

Produkt- und Servicemanagement,

B.A.D Gesundheitsvorsorge und

Sicherheitstechnik GmbH

Gerd Scheuplein,

Berater, BGM Partnerunternehmen,

Barmer Krankenkasse

Bastian Schmidtbleicher,

Geschäftsführer, moove GmbH

Dr. Sabine Voermans,

Leiterin Gesundheitsmanagement,

TK – Techniker Krankenkasse

Thomas Radant,

BGM Beratungsprojekte,

Motio Verbundgesellschaft mbH

Philippe Bopp, Geschäftsführer,

machfit GmbH

Stefan Buchner, Geschäftsführer,

UBGM – Unternehmensberatung

für Betriebliches

Gesundheitsmanagement

Dr. Michael Drees, leitender Arzt

und Key Account Manager,

ias Aktiengesellschaft

Frank Klingler, Leiter Referat

Betriebliche Gesundheitsförderung,

IKK classic

7Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

8 Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

BGM ROUND TABLE

gefragt, um den Zustand der physischen Distanz zu überbrü-cken.Eine Methode sind zum Bespiel interaktive Livetrainings mitqualifizierten Trainern. Damit arbeitet Insa Gesundheitsmanage -ment nun regelmäßig. Gefragt seien auch Webinare, die per sedem Livecharakter sehr nahe kommen, berichtet GeschäftsführerTim Conrads. Das Thema „Führen auf Distanz“ rangiere bei Ver-antwortlichen an erster Stelle. Aber auch Hilfestellung für Mit-arbeiter und Führungskräfte, die unter Social Distancing leiden,sei gefragt. Interaktive Livemaßnahmen sind auch für den BGM-SpezialistenMoove das Mittel der Wahl. „Sie verbessern die Erlebbarkeitund reduzieren die Distanz“, erklärt Geschäftsführer Bastian

Schmidtbleicher. Dazu zählen Trainings und Workshops „mitdem Fokus auf den neuen Herausforderungen im Homeofficeoder Führungsaufgaben“. Er gibt noch einen wertvollen Hinweis:Die meisten Unternehmen haben momentan ihr Budget fürBGM schnell eingefroren und auch anderen Betrieben fehle dasGeld für unterstützende BGF-Schritte. Aber es gäbe die Mög-lichkeit, eine finanzielle Unterstützung für zertifizierte Präven-tionsmaßnahmen von den gesetzlichen Krankenkassen zu erhal-ten. „Damit können wir schnell Hilfe leisten vor allem für dieMitarbeitergruppen, die jetzt besonders gefordert sind, wiePflege kräfte, Mitarbeiter aus der Produktion, die nicht im Home-office tätig sind, oder auch Auszubildende, die Unterstützungbenötigen.“

u Eine andere Methode hat sich schon vor Corona bewährt:Employee Assistance Programs (EAP), auf die Arbeitgeber ver-stärkt setzen. Denn derzeit „summieren sich die Sorgen undNöte der Beschäftigten wie zum Beispiel soziale Isolation imHomeoffice, finanzielle Sorgen, Probleme bei der Kinderbetreu-ung oder Angst vor Ansteckung“, erklärt Kirsten Faust von B.A.D.Die Teamleiterin für Produkt- und Servicemanagement berichtet,dass in den EAP-Service nun Ärzte mit Fachkenntnissen zurPandemie eingebunden sind, da sich viele Fragen der Mitarbei-tenden um das Infektionsgeschehen bewegen. Diejenigen Betriebe, die bereits mit einem EAP-Service arbeiten,sind gut aufgestellt, bekräftigt Michael Drees von der Ias AG.Seine Erfahrung: Viel mehr Beschäftigte riefen momentan an.Und er bringt einen weiteren Kanal ins Spiel: Audio-Podcasts.Da die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers derzeit stärker als zuvorauch darin bestehe, „die Mitarbeiter psychologisch an die Handzu nehmen“, eigne sich dieser Weg hervorragend. Ein täglicherPodcast, in dem „die Lage geordnet dargestellt und gleichzeitigden Mitarbeitern Mut zugesprochen wird“, erfahre viel Zuspruch.Auch weil für viele das Arbeiten von zu Hause nicht unproble-matisch ist, helfe diese „quasi persönliche“ Ansprache sehr. Weil die Mitarbeiter im Homeoffice arbeiten, „verschiebt sichdie Prävention in die eigenen vier Wände“. Auf diese Formelbringt es Philippe Bopp von Machtfit. Der Geschäftsführer derOnline-Plattform, auf der Mitarbeiter Gesundheitsangebote mitphysischer Präsenz und Online-Kurse buchen können, kann diesmit Zahlen belegen. Während sich im März noch 76 Prozent derNutzer für Angebote vor Ort entschieden haben, sind jetzt 95Prozent auf digitale Maßnahmen umgeschwenkt. Die Akzeptanzsei sehr groß, sodass die vielen Gesundheitspartner ihre Trai-ningsangebote digitalisiert haben und online zur Verfügungstellen. „Die Folgen von Homeoffice, Dauerstress und psychischer

Das neue Live: telefonisch, interaktiv und audiovisuell

Belastung haben die zertifizierten Anbieter im Blick und entwickelnneue Inhalte – bis zu Beschäftigungsangeboten für Kinder –, diedabei helfen, die psychische Stabilität zu sichern.“ So viel ist klar: Die Weiterentwicklung und Nutzung von digitalenLösungen im Bereich der betrieblichen Gesundheit werden durchdie aktuelle Situation beschleunigt. „Aber mit dem Gießkannen-prinzip neue digitale Tools zu streuen, ist nicht sinnvoll“, mahntThomas Radant, BGM-Berater der Motio Verbundgesellschaft.Viele Unternehmen treffe beispielsweise der Wechsel zum mobilenArbeiten unvorbereitet. Die Folge seien neue inhaltliche Heraus-forderungen, denen man mit Online-Schulungsformaten fürWork-Life-Balance im Homeoffice, Resilienz oder Kommuni-kation im virtuellen Raum aktuell begegnen könne. Aber wie viel Digitales verträgt Führung? UBGM-GeschäftsführerStefan Buchner macht darauf aufmerksam, dass Führungskräfte-Webinare sicherlich hilfreich seien. „Aber die Kommunikations -kultur insgesamt steht auf dem Prüfstand“. Derzeit begrenzt aufTelefon und digitale Kanäle, falle „Management by going around“weg, also fehlen Mimik, Gestik und anderes. Trotzdem müssenFührungskräfte die Mitarbeiter wirksam erreichen. Jetzt zeigesich, welche Führungskräfte die Kompetenzen und genügendVertrauen aufgebaut haben, um die Leistungsfähigkeit am Remo-te-Arbeitsplatz zu erhalten. Dann ist das Führen auf Distanzerfolgreich.Einen weiteren Aspekt ergänzt Kirsten Faust von B.A.D.: DieBeschäftigten arbeiteten zwar digitaler zusammen, aber das seinicht überall vertraute Praxis. Teamwork-Prozesse müssten neuoder anders gestaltet und auch der Zusammenhalt sowie derSpirit des Unternehmens auf Distanz aufrechterhalten werden.An dieser Stelle brauchten Führungskräfte auf jeden Fall Unter-stützung, um auf die neuen Rahmenbedingungen besser reagierenzu können.

9Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

uDer Anspruch von BGM, sowohl Einfluss auf das Gesundheits-verhalten des Einzelnen zu nehmen als auch auf gesundheitsför-dernde Rahmenbedingungen inklusive des Führungsverhaltens,ist jetzt nicht außer Kraft gesetzt. Aber was gilt die Verhältnis-optimierung noch? Wie kann sie unter erschwerten Bedingungenaufrechterhalten werden?Erkennbar ist momentan: Unternehmen, die bereits eine gesund-heitsfördernde Kultur leben, profitieren in Krisenzeiten. Sie habendas Vertrauen in ihre Mitarbeiter, dass sie im Homeoffice genausoengagiert arbeiten wie im Büro, betont Sabine Voermans, Leiterindes Gesundheitsmanagements bei der TK. Und sie nähmen ihreFürsorgepflicht ernst, da „sie auch in der Ausnahmesituationdafür sorgen, dass die persönlichen Ängste und Nöte der Beschäf-tigten aufgefangen werden“. Sie suchten aktiv nach Lösungen fürProbleme, beispielsweise indem sie Eltern andere Arbeitszeitenerlauben. Dies alles trage letztlich zur Motivation und Gesund-erhaltung bei. Und wenn Führungs- und Unternehmenskultur noch nicht stim-men? Ist jetzt der passende Moment, daran zu drehen und gesund-heitsförderliche Verhältnisse herzustellen? Die Diskussion derBGM-Experten zu diesem Aspekt verläuft sehr kontrovers. Moove-Geschäftsführer Bastian Schmidtbleicher sieht einerseits die Auf-gabe von BGM-Verantwortlichen im Managen der BGF-Angeboteinklusive betriebsspezifischer Informationen. Zum anderen – weilwir noch länger mit dem Virus in Koexistenz leben müssen –könnten Befragungen der Mitarbeiter aufzeigen, an welchen Stellenwelche Art von Stressoren entstehen. Eine Analyse inklusive Hand-lungsableitungen eröffne Chancen, „die organisationale Resilienzjetzt und für die Zukunft zu stärken“. Ebenso wichtig sei die stra-tegische Weiterentwicklung von BGM für den Übergang vomLockdown zur Normalität. Moove habe ein von den Krankenkassengefördertes Programm aufgebaut, das nicht nur die nahtlose Fort-führung von BGM ermögliche, sondern „auch eine Form vonSafer Work“. Schmidtbleicher: „Wir müssen die Arbeit währendund im Übergang aus der Krise ermöglichen. Machen wir dasnicht, wird die Aufholjagd der Wirtschaft in der Post-Corona-Zeit eine durchgehende menschliche Krise werden.“ Einer der Einwände gegen dieses Szenario kommt von MichaelDrees von der Ias AG: „Ein Großteil der Unternehmen agiert imKrisenmodus und hat jetzt keine Ressourcen, an den präventiven

Wert von BGM zu denken.“ Nur ein Teil sei auf die aktuelle Home-office-Situation vorbereitet. Viele Arbeitsprozesse sind nun zwangs-digitalisiert und müssen gemanagt werden. Hier bleibe keine Luftfür andere Überlegungen. Für die Zeit nach der Krise ändere sichdies hoffentlich wieder.Machfit-Geschäftsführer Philippe Bopp beurteilt das ähnlich. Per-sonalverantwortlichen bleibe aktuell nur in Ausnahmefällen aus-reichend Zeit, um strategische BGM-Aufgaben und systematischeBGF-Maßnahmen aktiv mitzuentwickeln und absegnen zu können.Umso entscheidender sei die Rolle des BGM-Managers: Er könnein der Krise die Bereitstellung von digitalen gesundheitsförderlichenMaßnahmen garantieren und bei der Kommunikation zum Arbeit-nehmer gestaltend eingreifen. Was zählt in der Krise? Weniger die Entwicklung einer umfassendenBGM-Strategie als vielmehr die schnelle und praktische Hilfe,argumentiert auch Gerd Scheuplein von der Barmer Krankenkasse.Das bedeute, Bedarfe zu erkennen, unternehmensspezifische digi-tale Angebote zu entwickeln und diese zeitnah an die Beschäftigtenzu kommunizieren. Ebenso wichtig sei der kritische Blick nachDurchführung der ersten digitalen Maßnahmen, um eventuellAnpassungen vornehmen zu können.

Verhältnisprävention in der Krise

Kompakt: Die wichtigsten Erkenntnisse des Round Tables

1 Der Betriebsarzt ist der wichtigste Ansprechpartner bei der Umsetzung des

SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards und Fragen der betrieblichen

Gesundheit.

2 BGF-Trainings und -Workshops werden momentan fast ausschließlich über

virtuelle Kanäle angeboten. Liveformat helfen, die physische Distanz zuüberbrücken.

3 Unternehmen, die bereits eine gesundheitsfördernde Kultur leben, profi-

tieren in Krisenzeiten. Sie haben das Vertrauen in ihre Mitarbeiter, dass sie

im Homeoffice genauso engagiert arbeiten wie im Büro.

4 Das Homeoffice und die rein virtuelle Kommunikation können als

Stressoren wirken, die sowohl die Führung als auch das BGM im Blick

behalten sollten.

5 Die Pandemie wird Spuren hinterlassen. Arbeitgeber müssen darauf

reagieren, um die physische und psychische Gesundheit in der Arbeits-welt wieder herzustellen und zu erhalten.

6 Das Betriebliche Gesundheitsmanagement kann die Mitarbeiter beim

Übergang vom Lockdown zur Normalität, beziehungsweise zur

Koexistenz mit dem Virus, begleiten und unterstützen.

10 Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

BGM ROUND TABLE

Vorbilder für Qualitätstandards

u Die Pandemie rückt die Arbeitsmedizin ins Rampenlicht.Ohne sie sollte kein BGM-Prozess aufgesetzt werden. In der Vor-Corona-Zeit war diese Erkenntnis nicht immer vorhanden, daauf beiden Seiten durchaus Berührungsängste bestehen: „Wirerleben Unternehmen, in denen Arbeitsmediziner und der BGM-Steuerungskreis vorbildlich miteinander arbeiten“, berichtet Ste-fan Buchner von UBGM. Aber es gebe auch Betriebe, in denensie „getrennt voneinander vorgehen“. Während die einen kurativim Arbeits-und Gesundheitsschutz arbeiten, treiben die BGM-Verantwortlichen den präventiven Gedanken voran. Dass dieCorona-Pandemie zu einer Verschmelzung oder stärkeren Zusam-menarbeit führt, nimmt er nicht wahr und betont, dass sich„betriebliche Gesundheit aktuell völlig zu Recht auf die medizi-nischen Aspekte des Arbeits- und Gesundheitsschutzes konzen-triert“. Für Berater Thomas Radant von Motio ist das Zusammenspielbeider Disziplinen ganz entscheidend. Die Verantwortung vonBGM-Verantwortlichen sieht er darin, dass sie „immer Expertenfür mögliche Lösungen konsultieren“ und Maßnahmen ableiten.Daher stehe in der aktuellen Situation der Arbeitsmediziner alsvorrangiger fachlicher Ansprechpartner an der ersten Stelle. Diejenigen Betriebe, die ein strategisch aufgestelltes, funktionie-rendes BGM haben und „in denen der Betriebsarzt in Gesund-heitskonzepte und Planungen integriert ist, können besser mit

der Krise umgehen“, betont Arbeitsmediziner Michael Drees vonder Ias AG. Hier zeige sich, dass alle Maßnahmen zum Schutzder Gesundheit und Sicherheit der Mitarbeiter eng verzahnt sindund sinnvoll ineinandergreifen. Doch das ist nicht die Regel. Jenach Projekt und Unternehmen gelingt die Integration derArbeitsmedizin unterschiedlich gut, registriert Tom Conradsvon Insa. Er beobachtet aufseiten der Arbeitsmediziner unter-schiedliche Auffassungen darüber, wie intensiv sie ihre Leistungenim präventiven Bereich einbringen wollen. Conrads wünschtsich, dass „wir nach der Corona-Krise gemeinsam mit demArbeitsmediziner das Thema BGM wieder gut platzieren könnenund gemeinsam kurativ und präventiv auftreten“. In der jetzigenSituation liege eine große Chance für alle engagierten Beteiligten(siehe auch Seite 20). Anders als bei anderen Marktteilnehmern, die ausschließlich aufBGM ausgerichtet sind, ist B.A.D. in den 1970er-Jahren als Spe-zialist für Arbeitsmedizin und -sicherheit gegründet worden underweiterte später sein Portfolio um Betriebliches Gesundheits-management. Daher seien die Produkte schon immer interdis-ziplinär entwickelt worden. „Medizinische Informationen müssenmitgedacht und eingesteuert werden, auch bei der Strategie desBGM und typischen BGF-Maßnahmen“, erklärt Kirsten Faust.„Nicht nur die momentane Situation zeigt, wie wichtig diesesZusammenspiel ist.“

u „In der Corona-Krise liefert die Bundesregierung mit ihremstrategischen Vorgehen ein gutes Vorbild auch für BGM-Pro-zesse“, lobt Stefan Buchner von UBGM. Qualität bedeute, zunächstauf die Kennzahlen zu schauen, dann Ziele festzulegen, Maß-nahmen umzusetzen und später deren Wirksamkeit zu kontrol-lieren. Genauso funktioniere ein gutes Betriebliches Gesund-heitsmanagement: Immer wieder die Zahlen zurate ziehen undzu prüfen, ob die Verantwortlichen noch auf dem richtigen Wegsind. „Mein Wunsch ist, dass sich die Entscheider in Unternehmendaran erinnern und ihre Dienstleister daran messen werden.“ Ein anderer Aspekt von Qualität steht und fällt mit der Aus- undWeiterbildung der handelnden Akteure, erinnert Thomas Radantvon Motio. Nicht nur der Bundesverband Betriebliches Gesund-heitsmanagement, sondern auch die Richtlinien für Präventiontragen zur Qualitätssicherung bei mit ihren Kriterien zur Aus-und Weiterbildung. „Daran sollten sich Unternehmen orientieren.“Auch für Motio sind Kennzahlensysteme ein wichtiger Prüfsteinfür die Qualität im BGM, da sich Zielsetzung, Maßnahmenzu-ordnung und Wirksamkeit messbar darstellen ließen. Dass es an der Ausbildung teilweise noch hapert, zeigen Studienimmer wieder. Unternehmen setzen häufig fachfremde Per-

sonen für das Betriebliche Gesundheitsmanagement ein. Dabeiwäre es viel sinnvoller, studierte Gesundheitswissenschaftleroder Mitarbeiter mit einer Zusatzausbildung für BGM mitden Aufgaben zu betrauen. Sabine Voermans von der TKappelliert an Arbeitgeber: „Sie müssen realisieren, dass Feel-Good-Manager oder Anbieter von Einzelmaßnahmen, die sichals BGM-Berater bezeichnen, häufig nicht die erforderlichenQualifikationen mitbringen.“ BGM-Beratung beinhalte auchden Beitrag, die Organisation unter die Lupe zu nehmen, umdie Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz gesundheitsförderndzu gestalten.Viele Unternehmen wenden sich zuerst an ihre Krankenkasse,wenn sie BGM einführen wollen. So wenden sich die Betriebeim Handwerk an die IKK Classic. Natürlich spiele es auch eineRolle, so Frank Klingler, dass keine Kosten für verschiedene Bau-steine oder Maßnahmen entstehen. Ein Qualitätsmerkmal seivor allem die Systematik der Prozessschritte: die Ist-Situation zuanalysieren, gemeinsam mit dem Betrieb Ziele festzulegen, Struk-turen aufzubauen, die Mitarbeiter einzubinden, Maßnahmenaufzusetzen und zu kontrollieren in Zusammenarbeit mit demGesundheitszirkel.

Schnittstelle Arbeitsmedizin und BGM

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Wo steht BGM in einem Jahr?

u Solange es keinen sicheren Impfstoff gibt, wird das Coronavirus Wirt-schaft, Gesellschaft und das Gesundheitssystem in Atem halten. Mit einemBürokratieabbau und einer Weiterentwicklung im Bereich Telemedizinund -beratung rechnet Michael Drees von Ias. Ob die Krise das ThemaBGM stärken wird? Momentan fahren Unternehmen nur auf Sicht undPrognosen sind schwierig. Drees ist aber optimistisch, dass Arbeitgeberdurch die Krise erkennen, „welchen Mehrwert ein strategisch aufgestelltesBGM gerade in schwierigen Zeiten bieten kann“.Für die langfristige Entwicklung von nachhaltigen BGM-Projekten prog-nostiziert auch Tom Conrads von Insa einen positiven Verlauf. Denn betrieb-liche Gesundheit sei keine Frage von ein oder zwei Wochen, sondern immerauf eine längerfristige und nachhaltige Zukunft ausgerichtet. Die optimistischen Aussichten teilen nicht alle. So sei nach der Bankenkrisedie Wichtigkeit von Prävention und BGM deutlich herabgestuft worden,erinnert UBMG-Geschäftsführer Stefan Buchner. Unternehmen versuchtenzunächst, die wirtschaftlichen Verluste zu kompensieren. Letztlich sei esstark von den Entscheidern in den Betrieben abhängig, „ob sie auf die Kos-tenbremse treten oder nicht“.Diese Unwägbarkeit sieht Gerd Scheuplein von der Barmer Krankenkasseauch, jedoch geht er davon aus, dass BGM wieder eine neue Chance bekomme,„weil wir lernen, unsere Gesundheit neu wertzuschätzen“. Bei der IKK Classicvermutet man eine ähnliche Entwicklung. Vielleicht werde es kurzfristigweniger Nachfragen geben, aber danach seien die Gesundheitsthemen wiederpräsent – auch vor dem Hintergrund der Sicherung der Arbeitsfähigkeit imhöheren Alter. Aber die Krise wird Spuren hinterlassen – sowohl in der Gesellschaft alsauch bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Für Sabine Voermans von derTK ist nicht ausgeschlossen, dass Ängste und Verunsicherung zunehmenwerden. „Darauf werden wir reagieren müssen, um die physische und psy-chische Gesundheit in der Arbeitswelt wieder herzustellen und zu erhalten.“ Machfit-Geschäftsführer Philippe Bopp sieht in der Krise eine Chance, sichneu zu strukturieren und auszurichten. Er geht von mehr Digitalisierungim BGM aus. Marktteilnehmer mit einer One-size-fits-all-Lösung würdenes schwer haben zu bestehen und sollten daher schnellstmöglich umdenken. Gerade die wachsende Digitalisierung der Arbeitsprozesse erfordere neueÜberlegungen, setzt BGM-Berater Bastian Schmidtbleicher von Moove dage-gen: Wie kann diese Entwicklung so gestaltet werden, dass sie gesundheits-förderlich ist? Viel mehr als bisher stelle sich die Frage, wie sich die virtuelleArbeitswelt auf die Mitarbeiter auswirke. „BGM ist und bleibt in der Unter-nehmens- und HR-Strategie ein erfolgskritisches Hilfsmittel im Unterneh-men.“Die nächstliegende Frage ist: Lassen sich alle Arbeitnehmer impfen, wennein Stoff gegen Corona auf dem Markt ist? Hier werden Arbeitsmedizinerund BGM-Verantwortliche an einem Strang ziehen müssen, um eine best-mögliche Beteiligung zu erreichen. p

Eine Bilderstrecke mit den wichtigsten Zitaten der Round-Table-Teilnehmer finden Sie auf www.personalwirtschaft.de in der Rubrik HR-Organisation>BGM.

11Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

Jens Rickmann

12 Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

BGM EMPLOYEE ASSISTANCE PROGRAMS

u „Ich habe Angst, dass sich meine vorerkrankte Muttermit dem Coronvirus infiziert.“ „Durch den Lagerkollerkochen bei uns zu Hause die Probleme hoch.“ „Als allein-erziehende Mutter weiß ich nicht, wie ich ohne Kinder-betreuung gerade alles schaffen soll.“ Solche und ähnlicheSorgen hören Berater von Employee Assistance Programs(EAP) derzeit häufig. In der Corona-Krise sind sie ver-stärkt Anlaufstelle für Mitarbeiter, deren Unternehmenauf die externe Mitarbeiterberatung setzen. „Wir habenseit dem Shutdown einen starken Anstieg von Anrufenauf unserer Beratungshotline“, sagt Nadija Amjad-Priet-zel, Regionalleiterin EAP Expertenberatung RegionWest/Süd-West bei der ias-Gruppe. Andere EAP-Anbie-ter wie etwa das Fürstenberg Institut vermelden Ähn -liches. Die Hotline ist eine niederschwellige Möglichkeit zurKontaktaufnahme mit den externen Beratern, derenvorrangiges Ziel es ist, Mitarbeitern bei Alltagssorgen,in persönlichen Krisen, bei psychischen wie physischenProblemen, aber auch bei arbeitsbezogenen Schwierig-keiten Entlastung zu bieten. Je nach Anliegen werdendie Mitarbeiter von einem auf das Problem spezialisiertenBerater dann weitervermittelt. Dieser berät sie per Telefon,oder es werden Face-to-Face-Sitzungen – seit der Corona-Krise laufen diese vermehrt via Videokonferenz – ver-einbart. „Gerade in herausfordernden Zeiten bewährt

Seelsorger in der NotAnbieter von Employee Assistance Programs sind in der Krise besonders gefragt. Doch auch sonst ist es für Unternehmen sinnvoll, diese an ihrer Seite zu haben. Denn sie entlastenMitarbeiter sowohl von Stress und Alltagssorgen als auch von psychischen Problemen. VON PETRA WALTHER

sich das Konzept der Employee Assistance“, sagt Amjad-Pritzels Kollege Jens Rickmann, Facharzt für Arbeits-medizin. „Mitarbeiter brauchen dann verstärkt Unter-stützung, weil sich individuelle Ängste und Konflikte insolchen Phasen verstärken oder neue entstehen.“ Aberauch sonst sei EAP ist eine gute Möglichkeit, um diementale Gesundheit der Mitarbeiter – und somit letztlichauch die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen – zu erhalten.

Vertrauensvolle Unternehmenskultur nötig

Das Pharmaunternehmen Pfizer ist sich dessen schonlange bewusst: Gemeinsam mit dem Fürstenberg Institut,einem der ältesten Anbieter von EAP in Deutschland,hat es den Service im Zuge des Umzugs seines Head-quarters von Karlsruhe nach Berlin bereits 2008 imple-mentiert. „Uns war klar, dass wir unseren Mitarbeiternmit dem Firmenumzug viel abverlangen“, berichtet IngaHartleb, Personalchefin Pfizer DACH. „Schließlichwaren die Mitarbeiter gezwungen, ihr gewohntes sozialesUmfeld samt Freunden zu verlassen, manche ließenpflegebedürftige Eltern zurück, Kita- und Schulsuchestanden an, und bei manch einem war auch die persön-liche Karriere durch den Umzug mit Veränderungenverbunden.“ Hinzu kam ein kultureller Wandel: „Wäh-

Nadija Amjad-Prietzel

Inga Hartleb

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rend wir in Karlsruhe Einzel- und Zweierbüros hatten,wechselten wir in Berlin zu offenen Bürolandschaften“,erläutert Hartleb. All diese Veränderungen wollte man durch eine externeMitarbeiterberatung begleiten lassen. Inzwischen ist derFirmenumzug längst vorbei, doch das EAP-Angebot istgeblieben – und läuft: „In der derzeitigen Pandemie wirdder Service besonders in Anspruch genommen, was fürKrisenzeiten typisch ist. Doch auch im vergangenen Jahrlag die Nutzerrate bei 6,7 Prozent“, sagt Torsten Grewe,betrieblicher Gesundheitsmanager bei Pfizer. Zum Ver-gleich: Die durchschnittliche Nutzungsrate bei Unter-nehmen allgemein liegt bei den Kunden des FürstenbergInstituts laut dessen Benchmarking-Auswertung für2019 bei fünf Prozent, bei jenen speziell aus der Phar-ma- und Chemiebranche bei 3,6 Prozent. Dass dieNutzer quote bei Pfizer so hoch ist, ist laut Grewe eingutes Zeichen. „Das zeigt uns, dass die Mitarbeiter Ver-trauen zu unserem Unternehmen und dem Angebothaben.“ Reinhild Fürstenberg, Geschäftsführerin desFürstenberg-Instituts, unterstreicht diese Aussage: „Inder Regel nutzen Mitarbeiter EAP stärker, wenn imUnternehmen eine offene vertrauensvolle Unterneh-menskultur gefördert wird“, sagt sie.

EAP ist kein Selbstläufer

Ausreichendes Vertrauen zur EAP-Dienstleistung wie-derum muss erst einmal aufgebaut werden. „MancheUnternehmen glauben, sie kaufen mit EAP einen Serviceein, mit dem sie sofort ihre Mitarbeiter erreichen. EAPist jedoch kein Selbstläufer, sondern muss erst einmalzum Laufen gebracht werden“, sagt Juliane Barth,Geschäftsführerin von Corrente. Wie das erreicht werdenkann? „Immer wieder drüber reden“, lautet die Kurz-formel von Pfizer-Personalchefin Inga Hartleb. DieImplementierung von EAP bei Pfizer sei ein Prozessgewesen. Um die Dienstleistung bekannt zu machen,habe man eine Kampagne mit Informationen über dasIntranet, Flyer und ähnliche Marketinginstrumente auf-gesetzt. Hinzu kam die Präsentation bei allen wichtigenFirmenveranstaltungen wie etwa dem „Tag der offenenTür“. „Auf diese Weise und nicht zuletzt durch die posi-tiven Erfahrungen derer, die EAP in Anspruch genom-men haben, ist die Bekanntheit der externen Mitarbeiter -beratung sukzessive gewachsen“, so Hartleb.Letztlich hat die Einführung zwei bis drei Jahre gedauert.Dass es einer längeren Implementierungsphase für EAPbedarf, ist nicht ungewöhnlich. Schließlich handelt es

Torsten Grewe

Reinhild Fürstenberg

Juliane Barth

14 Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

BGM EMPLOYEE ASSISTANCE PROGRAMS

sich – ausgenommen spezielle Krisenpakete, wie sie vordem Hintergrund der Corona-Krise jetzt vermehrt ange-fragt wurden – um einen langfristigen Service, der gutin die Unternehmensprozesse einzugliedern ist, wieReinhild Fürstenberg betont. „Es kommt darauf an, EAPzum integrierten Bestandteil der Personalentwicklungzu machen“, pflichtet Nadija Amjad-Prietzel von derias-Gruppe bei. In diesem Zusammenhang rät sie, EAPnicht nur am Anfang zu bewerben, sondern fortwährend– sei es über Plakate, Beiträge im Intranet oder Ähnlichem.

EAP als Bestandteil von PE

Wie aber kann EAP zum Bestandteil der Personal- undauch Führungskräfteentwicklung werden? „Wir schauenuns nicht nur die allgemeinen Zugriffszahlen für EAPan, sondern auch die Themenbereiche, zu denen Unter-stützung gesucht wird“, berichtet Inga Hartleb. „Unsgeht es darum, Trends zu erkennen, um entsprechend

gegensteuern zu können. Das wäre zum Beispiel derFall, wenn sich die Mitarbeiter vermehrt aufgrund hoherArbeitsbelastung oder schlechter Feedbackkultur an dasFürstenberg Institut wenden.“Nach Meinung von Juliane Barth, Mitbegründerin desEmployee Assistance European Forums (EAEF), das dieProfessionalisierung von EAP in Europa vorantreibenwill, ist es vor allem wichtig, EAP von Anfang an zumChefthema zu machen. „Der EAP-Anbieter sollte mög-lichst viele Firmeninfos erhalten und zum Beispiel überBetriebsvereinbarungen Bescheid wissen“, betont sie.Denn: „Damit der Berater bei arbeitsplatzbezogenenProblemen weiterhelfen kann, muss er wissen, welchesArbeitsumfeld im Unternehmen herrscht, ob Umstruk-turierungen stattfinden, welchen Herausforderungengerade begegnet werden muss und Ähnliches.“ „Der EAP-Anbieter sollte die Unternehmenskultur seinesKlienten kennen“, bringt es Nadija Amjad-Prietzel aufden Punkt. Nur dann sei auch ein kundenspezifischerZuschnitt des Angebots, also die Auswahl der passendenEAP-Maßnahmen, möglich. Eine zentrale Frage der ias-Gruppe an den Kunden sei in diesem Zusammenhangimmer: „Was ist für uns wichtig zu wissen?“

Breite Expertise vonnöten

Nützlich sind die Infos zum Unternehmen laut JulianeBarth freilich aber nur, wenn der externe Berater auchtatsächlich das Unternehmen mit im Blick hat undnicht rein mitarbeiterfokussiert arbeitet. Ergo ist es beider Auswahl sinnvoll, verstärkt auf einen Mix an Berater-Qualifikationen beim EAP-Anbieter zu achten: Nebentherapeutisch ausgerichteten Psychologen, sozialpä-dagogischen Kräften und Sozialarbeitern sollten auchBerater mit unternehmensbezogenem Wissen an Bordsein. Zudem ist eine breite Expertise des EAP-Anbieters hin-sichtlich der Themen wichtig. „Viele, die sich EAP aufdie Fahne schreiben, bieten nicht das umfassende Pro-gramm, das die unterschiedlichen Felder der Lebens-beratung genauso abdeckt wie psychosoziale Themeninklusive individueller Gesundheitsberatung, arbeits-platzbezogenen Themen und Führungskräfteberatung“,beschreibt Reinhild Fürstenberg den Markt. Sie zähltzudem einen gut ausgebauten Service für weitergehendespezifische Hilfsangebote wie etwa Schuldnerberatung,Kinderbetreuung oder Pflege der Eltern für die Mitar-beiter zum entscheidenden Erfolgskriterium von EAP. Ausschlaggebend auch: Die Berater-Hotline sollte ambesten durchgängig für die Mitarbeiter erreichbar sein.Ferner ist die Möglichkeit von Face-to-Face-Beratungin verschiedenen Städten von großer Bedeutung. Und– spätestens seit der Corona-Krise – nicht mehr weg-zudenken: die Beratung via Videokonferenz. p

Etablierte Anbieter von EAP

B.A.D GmbH – www.bad-gmbh.de

Corrente – www.corrente.de

pme Familienservice –

www.familienservice.de

Fürstenberg Institut –

www.fuerstenberg-institut.de

ias-Gruppe – www.ias-guppe.de

ICAS Deutschland – www.icas-eap.com

INSITE – www.insite.de

Otheb – www.otheb.de

Quelle: eigene Recherche

EAP im Unternehmen implementieren

Was ist zu tun, wenn ein Employee Assistance Program im

Unternehmen eingeführt werden soll? Folgende Maßnahmen

haben sich bewährt:

• Präsentation des Programms vor Multiplikatoren wie

Führungskräften und dem Betriebsrat

• Prominente Platzierung im firmeneigenen Intranet

• Mail an alle Beschäftigten mit Erstinformation und

Darstellung der Intention (im besten Falle durch

Geschäftsführer/Vorstand)

• regelmäßige Hinweise in internen Newslettern und

anderen Unternehmenspublikationen

• Verteilung von Flyern an Beschäftigte (zum Beispiel über die Gehaltsabrechung, in

Onboarding-, Elternzeit- und Wiedereinstiegsmappen)

• großflächige Verteilung von Visitenkarten des EAP-Anbieters

• Platzierung von Plakaten (zum Beispiel in Kantine, Aufzügen et cetera)

• Vorstellung des EAP im Rahmen einer Betriebsversammlung

• Inhouse-Vorträge oder Webinare von Experten des EAP-Anbieters oder Beratungstagemit diesen

• Infostände, zum Beispiel vor der Kantine

• Einzelmaßnahmen bei speziellen Firmenevents – zum Beispiel Stresstest bei

Gesundheitstagen mit Verweis auf die EAP-Maßnahmen

Welche speziellen Leistungenbieten EAP-Anbieter in derCorona-Krise? Und auf wassollten Sie bei der Auswahleines professionellen Dienst-leisters achten? Das lesen Sieunter dem Link pwgo.de/seelsorge-pandemie.

Alexa Ahmad,

Geschäftsführerin,

pme Familienservice

15Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

BGM PSYCHISCHE GEFÄHRDUNGSBEURTEILUNG

„Es darf uns auch mal die Puste ausgehen“ Bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen stehlen sich immer noch viele Betriebeaus der Verantwortung. Doch in der Corona-Krise spitzen sich Stresssymptome zu. Wie könnenFührungskräfte intervenieren? Franziska Stiegler vom BKK Dachverband zeigt Lösungen auf.INTERVIEW: CHRISTANE SIEMANN

u Personalwirtschaft: Frau Stiegler, stimmt der Ein-druck, dass momentan der psychische Stress derBeschäftigten so stark in den Vordergrund tritt, dassArbeitgeber ihn nicht mehr ignorieren können? Franziska Stiegler: Ja, das ist richtig. Gerade in diesenZeiten zeigt sich der starke Einfluss von Arbeitsbedin-gungen sowie der Führungs- und Unternehmenskulturauf unsere psychische Gesundheit.

Was hören Sie aus Betrieben? Welche Ängste oderStresssymptome der Mitarbeiter werden Ihnen gespie-gelt? Grundsätzlich gibt es drei Reaktionstypen von Menschen:die Vernunftbestrebten, die nach rationaler Aufklärungund Handlungsempfehlungen suchen. Dann diejenigen,die das Risiko eher leugnen und die man dazu bringenmuss, Schutzmaßnahmen einzuhalten. Und drittens dieÄngstlichen bis Panischen, denen man die extremen Sor-gen nehmen muss. Die verantwortlichen Akteure müssenaber versuchen, alle zu erreichen, und das ist eine riesigeHerausforderung.

Wie gehen Arbeitgeber damit um? Sehr unterschiedlich. In den ersten Wochen dominiertenvor allem Hektik, Sorgen und das Jonglieren um den pas-

Franziska Stiegler, Referentin für psychische Gesundheit in der Arbeitsweltbeim BKK Dachverband und Projektleitung psychische Gesundheit in derArbeitswelt (psyGA), INQA

senden Stil der internen und externen Kommunikation.Vieles musste ad hoc entschieden werden. In der nächstenPhase zeigte sich, dass die Betriebe entsprechend ihrervorher gelebten Kultur auf die Corona-Situation reagierten.Das heißt zum Beispiel: Wo Misstrauen herrschte, ver-stärkte sich dieses Verhalten von dem Moment an, alsdie Mitarbeiter im Homeoffice arbeiteten. Unternehmen,die jedoch eine Führungskultur haben, die auf Vertrauen

Foto

: BKK

16 Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

BGM PSYCHISCHE GEFÄHRDUNGSBEURTEILUNG

setzt, konnten und können entspannter damit umgehen.Hier sind alle die Betriebe im Vorteil, die bereits vorCorona die Arbeitsbedingungen auch auf die psychischeGesundheit der Mitarbeitenden ausgerichtet haben.

Liegen in der Krise auch Chancen für eine neue Art derZusammenarbeit? Wir hören, dass die Ausnahmesituation ebenso Potenzialefreisetzt. Es scheint, dass sie viele Akteure zusammen-schweißt, die jetzt sehr pragmatisch und konstruktiv angemeinsamen Lösungen arbeiten. Alltägliche Konfliktewie das Gerangel um Zuständigkeiten oder Schuldzu-weisungen treten in den Hintergrund, weil alle ein klaresgemeinsames Ziel vor Augen haben und alle gleichsambetroffen sind – vom Vorstand bis zum Pförtner.

Gibt es Rezepte, die dazu beitragen können, dass sichdie psychischen Belastungen für Mitarbeiter und Füh-rungskräfte derzeit in Grenzen halten? Aus meiner Sicht bewähren sich drei Faktoren: ein sorgsamausgewählter Krisenstab, Führungsstärke und eine ein-heitliche Kommunikation. Die Aufgabe des Krisenstabsist es, die Lage zu beurteilen und Entscheidungen zutreffen. Beispielsweise welche Mitarbeiter systemrelevantsind, von wem Präsenz am Arbeitsplatz erwartet wirdund wie die Schichtpläne zu organisieren sind. Außerdemmuss er die Ausführung koordinieren und überwachen.

Was verstehen Sie unter Führungsstärke? In diesen Zeiten sind psychologisch betrachtet diejenigenführungsstark, die Unsicherheit zugeben können. Das istvertrauenserweckender, als krampfhaft zu versuchen,Kontrolle zu signalisieren. Für Führungskräfte bedeutetdieses Verhalten eine große Heraus-forderung. Denn in den vielen Orga-nisationen gilt die Devise: Wer sichambivalent zeigt, ist schwach. Derzeitscheinen aber Ausnahmen von dieserRegel möglich zu sein. Wichtig ist es,sich gut in den Führungskreisen abzu-stimmen, gemeinsame Entscheidungenzu treffen und diese einheitlich zu kommunizieren. Zweifelder Mitarbeitenden sollten unbedingt gehört und zurück-gespielt werden. Die Botschaft sollte aber lauten: „Wirmachen das jetzt so bis auf Weiteres. Eure Bedenkennehme ich aber mit in die nächste Entscheiderrunde.“

Was zeichnet eine gute „Corona-Kommunikation“ aus? Sie gleicht in diesen Tagen einem Tanz auf Messers Schnei-de. Dass die Botschaft beim Empfänger entsteht, ist eineSchlüsselerkenntnis der Kommunikationspsychologie.Doch es ist in großen Betrieben kaum möglich, alleBeschäftigten einzeln anzusprechen. Hier hilft es, dieKommunikation möglichst breit aufzustellen. Ihr Zielsollte sein: Verständnis- und Informationslücken zuschließen sowie Zusammenhänge zu veranschaulichen.Die Folgen für den eigenen Betrieb sollten möglichst all-gemeinverständlich erläutert werden. Und es sollten auchdie Fragen beantwortet werden, die Beschäftigte wirklichbewegen, wie die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz.

Was ist noch zu beachten?Die Wortwahl ist wichtig – sie kann Sicherheit oder aberAngst vermitteln. Daher empfiehlt es sich, positive und neu-trale Begriffe zu verwenden wie „Lösungen“, „Empfehlung“,„Pläne“ oder „Unterstützung“. Auf Krisenbegriffe wie„Bedrohung“, „Infektion“, „Ansteckungsrisiko“ oder „Todes-fälle“ sollte verzichtet werden. Außerdem gilt: Informationenanbieten, aber nicht den Beschäftigten aufzwingen.

Homeoffice in der Familie ist problematisch, paralleldazu haben viele noch das Thema Homeschooling oderdie Betreuung kleiner Kinder zu stemmen. Außerdemarbeiten viele das erste Mal für eine längere Zeit zuHause. Was raten Sie Führungskräften, damit es gelingt?Von uns allen wird gerade eine übermäßige Flexibilitätverlangt. Wir sind aus Routinen geworfen und arbeitenauf einem erhöhten Stresslevel, noch bevor wir überhauptangefangen haben zu arbeiten. Vorgesetzte sollten dasberücksichtigen und sie können nicht oft genug betonen,

dass sie sehen und wertschätzen, wasihre Leute derzeit leisten. Es hilft zudem,dass der Krisenstab zwar neue Rege-lungen als Orientierungspunkte vor-gibt, aber den direkten Führungskräftenerlaubt, diese für das eigene Team aus-zugestalten. Die Vorgesetzten könnenzusammen mit dem Mitarbeiter pas-

sende Lösungen zum Beispiel für die Arbeitszeiten imHomeoffice finden. Nach dem ersten Ausprobieren solltensie auch wieder korrigiert werden dürfen, wenn sich zeigt,dass sie sich in der Praxis nicht bewähren.

Also Trial and Error?Das Gefühl, in einem Testmodus zu sein, hilft, die Stress-belastung etwas zu reduzieren. Allen sollte klar sein: Eswird wahrscheinlich nicht möglich sein, die gleichenErgebnisse zu erbringen wie im Normalzustand. WennBetriebe das kommunizieren, motiviert das die meistenMitarbeiter und sie werden überrascht sein, was auch imAusnahmezustand alles geschafft werden kann.

Auf www.personalwirt-schaft.de finden Sie in derRubrik HR-Organiastion>BGMeine Checkliste für die Umsetzung der psychischenGefährdungsbeurteilung inIhrem Unternehmen.

Mehr zum Thema

Praxisgerechte Unterstützungsangebote für Betriebe und Beschäftigte zur gesundheits -

fördernden Arbeitsgestaltung und Hilfestellungen zur Durchführung der Gefährdungsbeurteilung

bei psychischen Belastungen finden Sie hier: www.gda-psyche.de und www.psyGa.info.

„Wir sind aus Routinen geworfen

und arbeiten auf einemerhöhten Stresslevel.“

17Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

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„Die Corona-Kommunikationgleicht einem Tanz auf

Messers Schneide.“

Fällt es Arbeitgebern, die bisher die Belastungen durchpsychische Faktoren am Arbeitsplatz im Blick hatten,leichter, mit der Krise umzugehen? Da bin ich mir ziemlich sicher. Betriebe, die ein ganz-heitliches BGM leben, haben sowohl die Strukturen, umauf die zunehmenden Belastungen zu reagieren, alsauch das Ohr an den Mitarbeitenden. Sie wissen, wasihre Leute bewegt und dass die Gesundheit eine zentraleKennzahl dafür ist, wie erfolgreiche Betriebe arbeiten.

Aber jetzt ist wohl nicht der ideale Zeitpunkt, umeine psychische Gefährdungsbeurteilung zu starten.Das kommt darauf an: Selbst für Betriebe, die bislangnoch keine umfassende Gefährdungsbeurteilung durch-geführt haben, ist ein Start nie zu spät. Sie birgt inklusiveder Workshops gerade jetzt viel Potenzial. Meine Emp-fehlung ist, solange die äußeren Bedingungen so fragilbleiben, sollten keine neuen Prozesse angestoßen werden.Dennoch – in jedem Meeting, auch virtuell, lohnt essich, die Frage einzubauen, was belastet uns zurzeitbesonders und wie können wir es zunächst kurzfristiglösen.

Ob Mitarbeiter, Führungskräfte, Vorstände oderKunden: Alle stehen unter einem enormen Stress.Haben Sie eine Empfehlung für das Auffüllen despersönlichen Kraftreservoirs?  Der bereits oft zitierte Vergleich zwischen Sprint undMarathon ist hier sehr richtig. Wir alle sind ohne Trai-ning gestartet und da ist es völlig normal, dass uns zwi-schendurch die Puste ausgeht. Wir sollten uns erlauben,auch einmal innezuhalten. Sich die Zeit zu nehmen, dieungewöhnliche Situation zu reflektieren hilft neue Kraftzu schöpfen. Dafür können wir die Check-in und Check-out-Methode verwenden.

Wie sieht die Methode aus?Zu Beginn eines jeden Tages in jeder Teamrunde stehtdie kurze Abfrage: Wer steht wo, was beschäftigt ihn,welche Fragen stellen sich? Was funktioniert bereitsgut? Zum Ende des Tages oder der Runde schließt dasCheck-out ab: Konnten die wichtigsten Fragen geklärtwerden, mit welchem Gefühl gehe ich hier raus? Wassoll beim nächsten Mal anders, was wieder genausosein? Dabei geht es nicht um eine lange Ausführung,sondern eine kurze Einschätzung. Damit schaffen wires, die unübersichtliche Situation in überschaubareHäppchen einzuteilen. p

Raus aus der KomfortzoneDie Digitalisierung, die gerade in Zeiten der Corona-Pandemie mit großen Schritten voranschreitet, wird häufig zum Stressfaktor für Arbeitnehmer. Hier ist ein ganzheitliches BGMvon Unternehmen gefragt. Unsere Umfrage im Mittelstand zeigt, dass noch viel zu tun ist.

1. BGM soll Mitarbeiter zufriedener machenDie Unternehmen verfolgen mit BGM mehrere Ziele. DieMitarbeiterzufriedenheit steht an erster Stelle, das nachhaltigeLeistungsniveau an zweiter. Vor allem größere Unternehmenwollen damit aber auch gezielt ihr Arbeitgeberimage fördern.

3. Bewegungsangebote dominierenSchaut man auf die Topthemen im BGM, sind esneben dem Arbeitsschutz vor allem Bewegungs -angebote, von denen Mitarbeiter profitieren kön-nen (63 Prozent). Maßnahmen zur Vereinbarkeitvon Familie und Beruf sowie zum Thema Stressma-nagement folgen auf den Plätzen zwei und drei.

2. Gespräche und Befragungen statt AU-Statistiken

Die Unternehmen setzen bei der Analyse imBGM vor allem gezielte Mitarbeitergesprä-che und Mitarbeiterbefragungen ein (rund60 Prozent). In der Vorgängerstudie 2015dominierte dagegen noch die Fehlzeiten -analyse.

5. Arbeitsverdichtung und schlechteFührung belasten die Gesundheit

Die Befragten sehen in der zunehmendenArbeitsverdichtung und in einer schlechtenFührungskultur die zentralen Ursachen fürpsychische Belastungen und Erkrankungen.Gleichzeitig sind 43 Prozent der Studien teil -nehmer der Meinung, dass die Arbeits -verdichtung im eigenen Unternehmen nichtbesonders beachtet wird.

4. Digitale Tools spielen im BGM noch keinegroße Rolle

Während Informationsplattformen oder Webinareimmerhin in vier von zehn befragten Unternehmen einegroße Bedeutung im BGM haben, spielen Tracking-Tools, Apps für digitales Coaching oder die Telemedizinzurzeit kaum eine Rolle.

18 Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

BGM STUDIENERGEBNISSE

8. Immer noch zu viele EintagsfliegenIm Mittelstand fehlt die strategische Ausrich-tung des BGM. Nur 26 Prozent der Unterneh-men haben ein übergreifendes BGM-Konzeptund nur 39 Prozent leiten aus den Analysenregelmäßige Maßnahmen ab. 58 Prozent derBefragten sind auch der Meinung, dass vieleBGM-Maßnahmen nur Eintagsfliegen sind.

10. Das Topmanagement erfährt zu wenig30 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass das Topmanage-ment so gut wie nichts über den Gesundheitszustand der Mitarbeitererfährt.

9. Es fehlen qualifizierte BGM-BeauftragteBei 30 Prozent der befragten Unternehmen fehlteine klar definierte Zuständigkeit für das ThemaBGM, in Betrieben mit weniger als 500 Mitarbei-tern sagen sogar 41 Prozent der Befragten, dass niemand für das Thema explizit zuständig sei. Den BGM-Beauftragten fehlt zudem in der Mehrzahl der befragten Betriebe ein besondererQualifika tionsnachweis für ihre BGM-Arbeit.

6. Die psychische Gefährdungsbeurteilungist immer noch kein Pflichtprogramm

55 Prozent der befragten Unternehmen führen eineGefährdungsbeurteilung der psychischen Belastun-gen durch. Das sind zwar deutlich mehr im Vergleich zu 2015 (plus 20 Prozentpunkte), abergemessen an den gesetzlichen Anforderungen zuwenig. Größere Unternehmen sind hier weiter (72 Prozent führen die Beurteilung durch). Aller-dings: Nur 21 Prozent der Unternehmen, die diepsychische Gefährdungsbeurteilung umsetzen,berücksichtigen alle vom Gesetzgeber empfohlenenProzessschritte.

7. Zusammenhang von digitaler Transformati-on und BGM wird unzureichend erkannt

Organisatorische Veränderungen, Arbeitsplatzunsicher-heit, kürzere Innovationszyklen, höhere Lernanforde-rungen – in fast der Hälfte der befragten Unternehmenstellen diese Punkte große Herausforderungen der Digitalisierung dar. Die digitale Transformation wirdaber nur selten mit BGM in Verbindung gebracht. Innur zwölf Prozent der befragten Unternehmen stellt dieBegleitung der digitalen Transformation ein BGM-Zieldar. Und fast die Hälfte der Befragten verneint die Aussage, dass BGM bei einer organisatorischen Veränderung im eigenen Unternehmen eine wichtigeRolle spielt.

Über die Studie

Der Blick auf das Betriebliche Gesundheitsmanagement muss sich ändern und er hat sich teilweise auch schon geändert.

Das zeigt die Neuauflage unserer Studie „BGM im Mittelstand“, die wir im vergangenen Jahr nach 2015 nun zum zwei-

ten Mal zusammen mit dem Fürstenberg Institut, der ias-Gruppe und der Techniker Krankenkasse durchgeführt haben.

Die Grundlage für die vorliegende BGM-Studie ist eine Online-Befragung, die im Zeitraum von Juni bis Septem-ber 2019 stattfand. In der Auswertung wurden insgesamt 284 Fragebögen berücksichtigt. Die Studienteilnehmer

arbeiten zu einem Drittel in kleineren Unternehmen mit weniger als 100 Mitarbeitern (32 Prozent). Großunternehmen

mit mehr als 3000 Mitarbeitern finden sich dagegen kaum unter den befragten Unternehmen (nur sechs Prozent). Die

Zielgruppe der Befragung waren Personalverantwortliche, BGM-Experten und Führungskräfte. Für das Fragebogende-

sign hatten wir mit Wiebke Arps (TK), Dorit Mikula, Falk Naumann (ias-Gruppe) und Anika Ohlsen (Fürstenberg Institut)

ausgewiesene BGM-Experten sowie mit Hartmut Lüerßen einen erfahrenen Marktforscher an unserer Seite.

Die Ergebnisse unserer Studie „BGM im Mittelstand – Das betriebliche Gesund-heitsmanagement in Zeiten digitaler Transformation“ können Sie unter demLink www.pwgo.de/bgm-im-mittelstand als PDF kostenfrei downloaden.

19Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

20 Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

BGM ARBEITSMEDIZIN

ten wird, basiert auf gesetzlichen Verpflichtungen nachdem Arbeitssicherheits- und Arbeitsschutzgesetz oderder Arbeitsmedizinischen Vorsorgeverordnung. DieVerantwortung für die Umsetzung liegt beim Arbeit-geber, der Betriebsarzt unterstützt ihn dabei. Gemeinsamverfolgen sie das Ziel, nicht nur Berufskrankheiten zuverhindern, sondern auch die Beschäftigungsfähigkeitder Mitarbeitenden zu erhalten. Daher sollte der Betriebs-arzt der erste Ansprechpartner für ein effektives Betrieb-liches Gesundheitsmanagement sein.

Das heißt, er gibt die Gangart vor?Wir vertreten nicht den Anspruch, dass der Betriebsarztdas Heft in der Hand hält, denn BGM muss auf vieleSchultern verteilt werden. Doch eine dieser Schulternmuss zwingend der Betriebsarzt sein. Denn er hat ganzwesentliche Informationen: Wo zwickt es Mitarbeiterbei der Arbeit? Wo ruckelt es im Betrieb? Wo sollteman ansetzen? Welche Maßnahmen sind für den ein-zelnen Mitarbeiter sinnvoll? Denn keinesfalls sollte manBGF-Maßnahmen, die medizinisch von zweifelhaftemWert sind, der Belegschaft anbieten. Wir können beur-teilen, ob ein Angebot eher ungeeignet ist, weil es mehrschadet als nützt. Daher erwarten wir, dass die Betriebs-ärzte aktiv reingrätschen. Ihre Expertise muss in einsystematisches BGM einfließen.

Und das passiert derzeit nicht?Was wir mit Sorge beobachten, ist, dass selbsternannteGesundheitsmanager ihre Leistungen sehr eloquent anbie-ten und so auch in manche Betriebe reinkommen. Wäh-rend Arbeitsmediziner elf Jahre Ausbildung hinter sichhaben, reicht für den Titel eines Betrieblichen Gesund-heitsmanagers der Besuch einiger Kurse. Diese Gesund-

u Personalwirtschaft: Herr Drexler, solang die Epi-demie andauert, wird der Betriebsarzt den Ton in allenmedizinischen Fragen im Betrieb angeben. Wie habenSie in der Vor-Corona-Zeit die Zusammenarbeit zwi-schen Arbeitsmediziner und den Verantwortlichenfür Betriebliches Gesundheitsmanagement erlebt? Hans Drexler: Sehr unterschiedlich. Es gibt Unterneh-men, in denen die Zusammenarbeit vorbildlich funk-tioniert, und es gibt Negativbeispiele. In der Großin-dustrie beispielsweise, die seit Jahrzehnten BGM betreibt,ist der Betriebsarzt nicht nur in den internen Steue-rungskreis eingebunden, sondern seine Meinung undExpertise sind maßgeblich für die Ableitung von Maß-nahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung unddes Gesundheitsmanagements.

Wie sieht es in anderen Unternehmen aus? In KMU fehlen oft das Know-how und die Kapazitäten,um ein Betriebliches Gesundheitsmanagement zu imple-mentieren. Mehr noch, Untersuchungen deuten daraufhin, dass die vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Maß-nahmen zum betrieblichen Arbeits- und Gesundheits-schutz insbesondere in Kleinst- und Kleinbetriebennicht umgesetzt werden. Deshalb haben wir beispiels-weise zusammen mit Unternehmen und der BarmerKrankenkasse Projekte wie in Thüringen gestartet (sieheInfokasten), um Beschäftigte und Betriebe besser undnachhaltig mit betriebsmedizinischen und BGM-Ange-boten versorgen zu können.

Welche Rolle sollte der Arbeitsmediziner idealerweiseim Betrieb einnehmen? Vieles, was in Betrieben derzeit unter dem Label Gesund-heitsmanagement oder Gesundheitsförderung angebo-

Professor Dr. med. Hans Drexler

Professor Dr. med.Hans Drexler ist Direk-tor beim Institut undder Poliklinik fürArbeits-, Sozial- undUmweltmedizin inErlangen und Präsidentbei der DeutschenGesellschaft fürArbeitsmedizin undUmweltmedizin(DGAUM) e.V.

Foto

: priv

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„Der Betriebsarzt sollte der erste Ansprechpartner sein“In Corona-Zeiten hochgeschätzt, aber welche Rolle spielt der Betriebsarzt sonstbeim Betrieblichen Gesundheitsmanagement? Wir sprachen mit ProfessorHans Drexler, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin undUmweltmedizin (DGAUM).INTERVIEW: CHRISTIANE SIEMANN

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heitsmanager setzen aber oft den Impuls für BGF-Maß-nahmen, die das Unternehmen Geld kosten. Da werdenRessourcen verschwendet oder falsch eingesetzt.

Inwiefern läuft etwas falsch?Ich nenne ein Beispiel: Wenn ein „Gesundheitscoach“als Einzelmaßnahme im Betrieb ein Rückentraininganbietet, dann ist das eine gute Erfindung der Leute,die davon leben. Die Wissenschaft sagt, dass der Menschirgendeine Art von Bewegung wie Joggen, Schwimmenoder Laufen betreiben muss, um den Rücken zu stärken.Nur Passivität ist schlecht. Abgesehen davon, dassRückenschmerzen auch Ausdruck einer psychischenFehlbelastung sein können. Aber wenn die Verhältnisseim Betrieb vorher nicht analysiert wurden, laufen solcheMaßnahmen ins Leere.

Haben die Geschäftsführungen im Blick, dass derBetriebsarzt eine zentrale Funktion beim BGM hat? Leider nicht immer, daran müssen wir von beiden Sei-ten arbeiten. Selbst das BEM, das Betriebliche Wie-dereingliederungsmanagement,wird vielerorts ohne ihn durch-geführt. Der Betriebsarzt musssich immer wieder einbringen undden Arbeitgeber daran erinnern,dass er ihn bereits für BEM undBGM bezahlt. Das erfordert vonihm auch, flexibler sein zu müssen und Spielräume zunutzen. In vielen Unternehmen ist das Thema Gesund-heit in der Personalabteilung verortet und läuft mehroder weniger beachtet nebenher. Manche Betriebsärztelassen das zu, weil sie lieber im weißen Kittel im stillenKämmerlein ihrer Arbeit nachgehen.

Sie appellieren also auch an Ihre eigene Zunft. Wogibt es Nachholbedarf?Wir haben bei Netzwerkprojekten für die betrieblicheGesundheitsförderung untersucht, wie die Betriebsärzteeingebunden sind. Dabei haben wir gesehen, dass esneben engagierten Kollegen auch solche gibt, die sichfür die Aktivitäten der BGM-Verantwortlichen nichtinteressieren. Und wiederum ein Teil ist gar nicht infor-miert darüber, dass es einen Gesundheitskreis im Betriebgibt.

Was wünschen Sie sich von den Beteiligten?Wenn das Unternehmen das Ziel verfolgt, ein Betrieb-liches Gesundheitsmanagement aufzustellen, dann solltees immer den Betriebsarzt ansprechen und ihn als Part-ner für medizinische Fragen einbinden. Aber ebensogibt es eine Holschuld der Kollegen. Wenn sie voneinem Arbeitskreis für betriebliche Gesundheit erfahren,müssen sie sich aktiv einmischen.

„Gesund arbeiten in Thüringen“

Das Projekt „Gesund arbeiten in Thüringen (GAIT)“ von der Barmer Krankenkasse und der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM)unterstützt Betriebe unter anderem bei der Implementierung eines Betrieblichen

Gesundheitsmanagements, der Durchführung der psychischen Gefährdungsbeurteilung und

der Vermittlung eines Betriebsarztes.

www.gesund-arbeiten-in-thueringen.de

Was erwarten Sie von den internen oder externenBetrieblichen Gesundheitsmanagern?Sie sollten keine Berührungsängste habe, sondern aufden Betriebsarzt zugehen und ihn fragen, wo sie ansetzenkönnen. Er weiß, wo die meisten Probleme auftreten,weil er oftmals im Vieraugengespräch – unter Wahrungder ärztlichen Schweigepflicht – von einem Mitarbeitermehr erfährt, als jede Befragung herausfinden könnte.

BGM will nicht nur auf das Verhalten des IndividuumsEinfluss nehmen, sondern auch auf die Verhältnisseim Sinne einer gesundheitsfördernden Unterneh-mens- und Führungskultur. Sehen sich hier auch dieBetriebsärzte am Zug? Natürlich, Arbeitsmediziner haben schon immer dieAufgabe gehabt, Sekundärprävention zu betreiben.Untersuchungen, Früherkennungsmaßnahmen oderGespräche, die keine Maßnahmen nach sich ziehen,sind umsonst. Wenn der Betriebsarzt merkt, in einerAbteilung häufen sich psychosomatische Beschwerdender Mitarbeiter, dann muss er zum Abteilungsleiter

oder zur Ges chäftsführung gehenund sagen: Hier ist etwas faul.Ursachen können schlecht orga-nisierte Arbeitsabläufe, ungeeig-nete Führungspersonen oder derunpassende Führungsstil sein.

Arbeitsmediziner sind aber keine Organisations -berater. Hier können qualifizierte externe BGM-Bera-ter, die mit Experten verschiedener Fachrichtungenkooperieren, einen Mehrwert schaffen. Alles, was der Gesundheit dient, ist förderlich. Undwenn qualifizierte Berater systematisch vorgehen, erwar-ten wir nur, dass sie sich mit dem Betriebsarzt absprechenund bei den geplanten Maßnahmen auf den Rat einesärztlichen Kollegen hören. Wir sind keine Konkurrenten,weil wir ja das gleiche Ziel verfolgen. Aber wenn selbst-ernannte Gesundheitsmanager versuchen, ihre Einzel-maßnahmen gewinnbringend im Unternehmen zu plat-zieren, dann läuft was falsch bei der betrieblichenGesundheit. p

„Manche Betriebsärztegehen lieber ihrer Arbeit im stillen

Kämmerlein nach.“

22 Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

Stress mit der Beweglichkeit Agiles Arbeiten wirkt sich positiv auf die Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit von Mitarbeiternaus. Dennoch gibt es auch Aspekte, die enormen Stress verursachen können. Welche sind das?Und wie können Unternehmen diesen entgegenwirken?VON PETRA WALTHER

u „Gelähmt vor lauter Beweglichkeit“ – so betitelte die Süd-deutsche Zeitung im August vergangenen Jahres einenArtikel zum agilen Arbeiten. Das legt nahe, dass agiles Arbei-ten Mitarbeiter eher bremst, sie überlastet. Es stellt sich dieFrage, ob ständige Agilität samt Selbstverantwortung nichtzur Überforderung oder für manche Mitarbeiter auch zurSelbstausbeutung werden kann. Vorweg: Insgesamt gesehen scheint dem nicht so zu sein.Die Studienlage zu agilem Arbeiten und psychischer Gesund-heit ist aktuell noch wenig umfangreich. Doch Forschungs-ergebnisse zur Wirkung der grundlegenden Prinzipien undMerkmale des agilen Arbeitens wie Autonomie oder Feed-back zeigen, dass Selbstorganisation und -verantwortunggrundsätzlich positive Effekte auf Gesundheit und Leis-tungsfähigkeit von Beschäftigten haben: Motivation undArbeitszufriedenheit können dadurch gesteigert sowie Kran-kenzustände reduziert werden. Auch erste Studien, die sichdirekt mit agilem Arbeiten und Gesundheitsaspekten beschäf-tigen, weisen insgesamt auf geringere Stresssymptome derProbanden hin.Doch es ist nicht alles nur schwarz oder weiß. So kommtdas Ende 2018 abgeschlossene Forschungs- und Gestal-tungsprojekt PräFo (PräFo steht für „Prävention von Belas-tungen bei formalisierter Arbeit in Dienstleistung und tech-nischer Entwicklung“) zu der Erkenntnis, dass bei derEinführung agilen Arbeitens erheblicher Leidensdruck beiden Mitarbeitern entstehen kann, selbst wenn agile Methodenvon ihren Anwendern äußerst positiv bewertet werden. Dasvom Bundesministerium für Bildung und Forschung geför-derte Verbundprojekt ist unter anderem von der UniversitätAugsburg und dem ISF – Institut für SozialwissenschaftlicheForschung München durchgeführt worden. Auch eine 2019 durchgeführte Befragung von 425 Beschäf-tigten mithilfe des Index des Deutschen Gewerkschaftsbundes(DGB) „Gute Arbeit“ zeigt neben Chancen agiler ArbeitRisiken für die psychische Gesundheit der Beschäftigten.Sie liegen insbesondere in einer gesteigerten Arbeitsintensität.

Laut der Studienautoren Nadine Müller und Christian Willespielt Zeitdruck dabei eine große Rolle: 69 Prozent derbefragten agil Arbeitenden sind davon (sehr) häufig betroffen,mehr als zwei Drittel von ihnen empfinden den zeitlichenDruck dabei als (sehr) starke Belastung. Zudem machenfast zwei Drittel der agil Arbeitenden Überstunden, wodurchdie Belastung nochmals zunimmt. Unter anderem wächstder Anteil der Beschäftigten, die ihre Arbeitszeit in denAbend ausweiten.

Es hapert an der Ausgestaltung

Was läuft schief? Warum kommt es zu solchen Stresssitua-tionen, obwohl die agilen Werte und Prinzipien eigentlichdarauf angelegt sind, Belastungssituationen zu vermeiden?Oder anders gefragt: Wann kommt es zu Stress beim agilenArbeiten? Laut Müller und Wille ist die konkrete Umsetzungder agilen Praktiken und Methoden ein möglicher Grund:Ob und wie sehr agile Arbeit mit positiven oder negativenKonsequenzen einhergehe, hänge nachweisbar von ihrerAusgestaltung ab. Die Studienautoren empfehlen unteranderem, nötige Rahmenbedingungen und Organisations-formen für agile Projektarbeit zu schaffen. Ganz wichtigdabei: die Führungskräfte für agiles Arbeiten zu sensibilisierenund zu qualifizieren. Dies ist auch für Roland Ziegler, leitender Werksarzt beiMTU Aero Engines AG, ein wichtiger Ansatzpunkt. „VielenFührungskräften fällt es schwer, ihr Team im Sinne derSelbstorganisation einfach machen zu lassen“, begründeter – und erinnert sich in diesem Zusammenhang an denAusspruch eines Mitarbeiters während einer Schulung:„Stressig wird’s, wenn sich die Chefs nicht zurückhaltenkönnen.“ „Rutscht der Vorgesetzte immer wieder in seinealte Führungsrolle, indem er zum Beispiel Berichte vomTeam fordert, nimmt er den Mitarbeitern den nötigen Frei-raum“, sagt Ziegler. Diese fühlten sich dann hin und hergerissen, ein Interessenskonflikt entstehe, weil die Mitarbeiter

BGM AGILES ARBEITEN

Dr. Roland Ziegler

auf der einen Seite agil arbeiten, auf der anderen Seite aberauch den Forderungen ihres Vorgesetzten nachkommenwollen.Um solchen Situationen vorzubeugen und eine agile Team-kultur zu fördern, hat man bei MTU drei Führungswerteformuliert: 1. We create trust, 2. We transform, 3. We empo-wer. „Insbesondere die Vertrauensbasis muss institutiona-lisiert werden“, so Ziegler. Ohne das entsprechende Mindset,also die passende Grundhaltung, sei agiles Arbeiten schwierig.

Für ein gutes Fundament sorgen

Das gilt nicht nur für die Führungskraft, sondern auch fürdie Mitarbeiter, die agil arbeiten. „Man kann den Mitar-beitern nicht eine agile Arbeitsweise überstülpen“, hatYvonne Eich, die das Center of Excellence Agile & Design& Innovation Management bei der Zurich Group mitver-antwortet, festgestellt. Das führe nur zu Widerstand undStress, da die Arbeitsweise Selbstverantwortung sowie einegroße Offenheit und Transparenz erfordere. „Vielen istSelbstverantwortung erst einmal fremd, und die erforderlicheOffenheit empfinden sie teilweise als sozialen Druck“, erläu-tert Eich. Agil zu arbeiten nur um des agilen Arbeitenswillen macht folglich keinen Sinn. „Wir binden nur solcheMitarbeiter in agile Projekte ein, die auch wirklich hinterAgilität und New Work stehen“, so Eich. „Wer will, kanndie Arbeitsweise in einem internen Workshop kennenlernen– und bei Interesse dann auf uns zugehen.“MTU schreibt ebenfalls seine agilen Projekte aus. Vor allemaber sorgt das Unternehmen für eine gute Ausbildung derteilnehmenden Mitarbeiter. „Die Bereitschaft für agilesArbeiten allein reicht nicht aus. Die Mitarbeiter brauchenein starkes Fundament, bevor sie loslegen. Werden sie gut

vorbereitet beziehungsweise qualifiziert, erzeugt dies Sicher-heit und beugt Stressmomenten in der Praxis vor“, ist Arbeits-mediziner Roland Ziegler überzeugt. Bei den Schulungsmaßnahmen von MTU wird unter ande-rem die für agiles Arbeiten nötige Feedbackkultur aktiv ein-geübt. Ziegler: „Feedback zu geben und zu nehmen bedeutet,sich zu öffnen, und damit fühlen sich viele Menschen imArbeitskontext unwohl. Wir wirken daher insbesonderedarauf hin, Feedback nicht als Kritik zu verstehen, sondernals wichtige Impulse für die weitere Entwicklung eines Pro-jekts.“„Es ist eine Mentalität des Ausprobierens gefordert“, fügtKai Schwiebert, der bei SAP agile Teams begleitet undzudem Gründer des Instituts für virtuelle Führung undTeams ist, in diesem Zusammenhang hinzu. Die oft ange-führte Fehlertoleranz dürfe kein Lippenbekenntnis bleiben.„Wenn die Fehlertoleranz nur oberflächlich gelebt wird undetwa der Product Owner ständig versucht, Fehler zu ver-meiden, ist agiles Arbeiten mit zu viel Anstrengung ver-bunden“, stellt Schwiebert klar.

Große und kleine Pausen einbauen

Äußerst anstrengend kann nach Erfahrung des SAP-Beraterszudem der schnelle Rhythmus beim agilen Arbeiten werden.„In Abständen von wenigen Wochen jeweils etwas liefernzu müssen, wie es die Sprints bei Scrum vorsehen, verursachtbei einigen Menschen so etwas wie Erwartungsstress“, erläu-tert er. Aber auch sonst könne die schnelle Taktung dazuführen, dass die Leute ausbrennen. Um dem vorzubeugen,sollten unbedingt Pausen eingelegt werden. „Bei SAP habeich gute Erfahrung damit gemacht, den Mitarbeitern nachzwei bis drei Monaten intensiver Arbeit sozusagen eine Aus-

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Wir machen Arbeit

Yvonne Eich

Kai Schwiebert

24 Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

zeit vom Agilen zu gewähren. Während dieser Zeit habensie die Gelegenheit, anderen Tätigkeiten im Job nachzuge-hen“, berichtet Schwiebert. Solche in unregelmäßigen Abstän-den gesetzten Pausen erzeugten einestarke Wertschätzung bei den Pro-jektmitarbeitern – und neue Energie.Die HR Pioneers, ein Beratungskol-lektiv für agile Personal- und Orga-nisationsentwicklung, das selbst auchagil arbeitet, wollen der Schnelligkeitbeim agilen Arbeiten indes mit vielenMikropausen entgegenwirken. Sohaben die Mitarbeiter es sich zum Beispiel zur Regel gemacht,am Ende eines jeden morgendlichen Stand-ups kurz inne-zuhalten. „Eine Mitarbeiterin stellt eine Reflexionsfrage, wel-che die Aufmerksamkeit aller Teilnehmenden jeweils aufsich selbst lenken soll. Zum Beispiel: Was kann ich mir heuteGutes tun? Danach folgt eine Minute Stille“, erzählt AgileManagement Consultant Michael Terstesse. Auch in längereMeetings bauen die HR Pioneers kleine Achtsamkeitsübungenein: „Wir starten die Zusammenkunft meist mit einer Check-in-Frage, die jeder beantwortet, etwa ,Was ist mir in denletzten Tagen besonders gut gelungen?‘. Beendet wird dasMeeting mit einem Check-out à la ,Was habe ich heutegelernt?‘“ Diese vermeintlich kleinen Dinge bewirken nachÜberzeugung von Michael Terstesse am Ende Großes: Nebeneiner spürbaren Entschleunigung werde der Weg zu einergesundheitsförderlichen Kultur geebnet.

Retrospektiven zur Stressreduktion nutzen

Chancen zur Stressreduktion bei Scrum bieten außerdemdie Retrospektiven. Sie sind zentral für den Austausch unddie Selbstorganisation agiler Teams. Denn Ziel der Zusam-

menkünfte ist, die Zusammenarbeit im Team sowie Abläufeund Inhalte zu reflektieren, um sie kontinuierlich zu ver-bessern. Somit bietet es sich an, hier auch Stressfaktorenund Belastungssituationen zu thematisieren. Allerdings istdas laut Kai Schwiebert gar nicht so einfach: „Die technischenund inhaltlichen Aspekte der Projekte stehen bei den Retro-spektiven meist im Vordergrund. Eine gezielte Abfrage derindividuellen Stresslevel und wie diesen im Team begegnetwerden könnte, sind dagegen selten auf der Agenda vorzu-finden“, ist seine Erfahrung. Zudem sei sehr viel Vertrauender Teammitglieder nötig, schließlich müssten diese offen-legen, womit sie nicht klarkommen. Nach Ansicht vonYvonne Eich ist der Scrum Master hier quasi als Teamcoachgefordert. „Auf jeden Fall sollte er sehr genau hinschauen,wie es jedem Einzelnen im Team geht, empathisch agierenund sich als Vertrauensperson erweisen“, sagt sie. Das funk-tioniere wiederum nur, wenn der Scrum Master Vorbildsei. „Nur wenn er selbst ehrlich und offen ist, werden sichauch die Teammitglieder öffnen“, meint Eich. „Es gilt, einen echten Dialog mit gegenseitigem Verständniszu entwickeln“, schließt sich Michael Terstesse an. Um dieszu erreichen und die Teamresilienz zu fördern, müssten dieRetrospektiven möglichst zur Situation passend angeleitet

werden. Von großem Wert sei zudem,Menschen mit dabei zu haben, dieaußerhalb des Teams stehen. So seineutrales Feedback gesichert. KaiSchwiebert hält gar eine Art ausge-bildeten Gesundheitslotsen zurBegleitung des Teams für sinnvoll.Dieser könne dabei unterstützen, dasseinzelne Teams ihre jeweils eigene

Kultur entwickeln, in der auch gesundheitliche Aspekteberücksichtigt werden. Und: Auch individuelle Stressorenwürden beachtet werden.

Anpassung der Gefährdungsbeurteilung

MTU-Werksarzt Roland Ziegler hält eine gesundheitlicheBegleitung agiler Teams ebenfalls für sinnvoll. Denn selbstwenn die Rahmenbedingungen stimmen, die Mitarbeiterfür agiles Arbeiten qualifiziert werden und einige von ihnensich auch schnell an die neue Arbeitsweise gewöhnen, Faktsei: „Für jeden Einzelnen ist die agile Projektarbeit zunächstetwas Neues und somit auch mit Unsicherheiten verbunden.“Bei MTU nehmen sich interne Gesundheits- und Sozialbe-rater daher der speziellen Herausforderungen beim agilenArbeiten für die Mitarbeiter an. Zudem sei man dabei, dieGefährdungsbeurteilung zur psychischen Belastung an denagilen Kontext anzupassen. „Schließlich geht es bei derGefährdungsbeurteilung ja nicht nur darum, ein Gesetz zurbetrieblichen Arbeitssicherheit zu erfüllen“, führt Ziegleraus. Vielmehr sei immer zu schauen: Wo liegt der Mehrwertfür die Mitarbeiter und das Unternehmen? p

BGM AGILES ARBEITEN

Learnings für Unternehmen, die agiles Arbeiten einführen wollen

• Wer agil arbeitet, sollte auch hinter dem Konzept stehen. Daher sollte es immer nur als

Angebot unterbreitet und nicht aufgestülpt werden.

• Agiles Arbeiten läuft nicht auf Knopfdruck. Es müssen die richtigen Rahmenbedingun-gen geschaffen und die Mitarbeiter darauf vorbereitet werden.

• Wichtig: Die Führungskräfte für agiles Arbeiten sensibilisieren. Denn wenn sie die

Selbstverantwortung der Teams durch Vorgaben oder Forderungen immer wieder

unterbrechen, erzeugen sie bei den Mitarbeitern Stress.

• Nicht jeder fühlt sich mit der nötigen Offenheit und Transparenz beim agilen Arbeiten

wohl. Wer Feedback bei den Mitarbeitern aktiv einübt, beugt daher Stress vor.

• Pausen tun angesichts der schnellen Taktung beim agilen Arbeiten Not. Nach Monaten

intensiver Arbeit bedarf es einer kleinen Auszeit.

• Auch Mikropausen, die mit Achtsamkeitsübungen einhergehen können, wirken Stress

entgegen.

• Die Retrospektiven bei Scrum sind optimal, um Teamresilienz zu fördern. Eine gute

Anleitung ist dabei wichtig.

• Zu überlegen ist eine gesundheitliche Begleitung agiler Teams. Nötig ist zudem eine

Anpassung der Gefährdungsbeurteilung zur psychischen Belastung an den agilen Kontext.

Michael Terstesse

„Man kann Mitarbeiterneine agile Arbeitsweise

nicht überstülpen.“Yvonne Eich, Center of Excellence Agile & Design &

Innovation Management, Zurich Group

25Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

u „Gesunde Mitarbeiter in gesunden Unternehmen“:Dieses Ziel kann mit gesundheitsförderlichen Maßnah-men laut der Luxemburger Deklaration zur BetrieblichenGesundheitsförderung (1997) nur erreicht werden,wenn eine Orientierung an den Leitlinien Partizipation,Integration, Projektmanagement und Ganzheitlichkeiterfolgt.Die Rewe Group, einer der führenden Handels- undTouristikkonzerne in Deutschland und Europa, hat sichals Mitglied des europäischen Netzwerks ebenfalls ver-pflichtet, das Betriebliche Gesundheitsmanagement(BGM) an diesen Leitlinien auszurichten. Die dezen-tralen Strukturen sowie die vielfältigen Tätigkeitsfelderstellten bisher eine große Herausforderung dar, indi-viduelle und zielgruppenspezifische Konzepte im BGMzu realisieren und somit allen Leitlinien – insbesondereder Ganzheitlichkeit – gerecht zu werden.

Die Idee: Eine digitale Gesundheitsplattform für alle

Durch die Einführung der digitalen Gesundheitsplattform„Gemeinsam.topfit“ stellt sich die Rewe Group den viel-fältigen Herausforderungen. Ziel des Projekts ist es,möglichst viele Mitarbeiter – egal wann und wo – zuerreichen. Das Projekt stellt eine Kooperation zwischender DAK-Gesundheit, dem Präventionsanbieter Topfit

Service Deutschland und der Rewe Group dar. Ob imSupermarkt, Baumarkt, Reisebüro, in der Logistik oderin der Verwaltung, jeder Mitarbeiter soll die Möglichkeithaben, an den Angeboten teilzunehmen und so aktivseine Gesundheit zu fördern. Dabei soll die einfache undansprechende Gestaltung der vielseitigen Inhalte bewir-ken, dass die Plattform zeitgleich zum Personal Trainer,Motivationscoach und Präventionsbeauftragten wird.Die zentralen Bausteine des Projekts stellen die Online-Plattform (verfügbar als App und Web-Version) sowiedie Ausbildung von sogenannten „Gemeinsam.topfit-Machern“ (Multiplikatoren) als Gesundheitsbotschafterinnerhalb des Unternehmens dar.

Die Umsetzung: Die „Gemeinsam.topfit“-App

Studien zeigen, dass circa jeder fünfte deutscheSmartphone-Besitzer Gesundheits-Apps nutzt. Die

BGM DIGITALES BGM

Fitness aus der HosentascheWie gelingt es einem Konzern, alle Mitarbeiter dezentral für das Thema Gesundheit zu motivierenund sie dabei zu unterstützen? Die Rewe Group hat hierfür ein digitales BGM in Form einer Appeingeführt. Gerade in der Corona-Krise ein echter Mehrwert.

Die genossenschaftliche REWE Group ist einer der führenden Handels- und Touristikkonzernein Deutschland und Europa. Im Jahr 2018 erzielte das Unternehmen einen Gesamtaußenumsatzvon über 61 Milliarden Euro. Die 1927 gegründete REWE Group ist mit ihren mehr als 360 000Beschäftigten in 22 europäischen Ländern präsent.

REWE Group CASE STUDY

26 Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

BGM DIGITALES BGM

Übertragung solcher digitalen Instrumente in das BGMermöglicht Unternehmen, die Verbindung von privaterund beruflicher Gesundheitsförderung der Arbeitneh-mer zu gewährleisten. Die digitale Gesundheitsplattformzur Förderung der Gesundheitskompetenz der ReweGroup zielt darauf ab, Gesundheitswissen an dieBeschäftigten heranzutragen und sie bei der praktischenUmsetzung zu unterstützen. Um dabei den dezentralenStrukturen der Rewe Group entgegenzuwirken, machteman sich die genannten wissenschaftlichen Erkenntnissezunutze und entwickelte die „Gemeinsam.topfit“-Platt-form, auf die alle Mitarbeiter über PC sowie mobileEndgeräte Zugriff haben (siehe Abbildung oben). Der

Zugang zur Plattform erfolgt über einen anonymenZugangscode, der postalisch oder digital an die Mit-arbeiter versendet oder im Rahmen von Gesundheits-tagen sowie über Führungskräfte persönlich verteiltwird. Das Unternehmen erhält keine Rückschlüsse aufindividuelles Nutzerverhalten, kann aber durch denZugriff auf anonyme aggregierte Daten das Angebotentsprechend den Nutzerinteressen weiterentwickeln. Die Online-Plattform lädt die Mitarbeiter ein, sichmehr zu bewegen und gesünder zu ernähren. Hierfürwerden Informationen zu den im Leitfaden Präventionzu §20 SGB V (GKV-Spitzenverband, 2018) aufgeführ-ten Präventionsfeldern (Bewegung, Ernährung,Stressmanage ment und ergonomisches Arbeiten) bereit-gestellt.

Die Inhalte: Für Körper und Seele

Im Bereich „Bewegung“ finden die Nutzer eine Vielzahlvon Übungsvideos zur Verbesserung der körperlichenFitness und Gesundheit und somit zur Präventionbestimmter Beschwerdebilder, wie beispielsweiseNackenschmerzen. Die Dauer und Intensität der Übun-gen sind variabel gestaltet, sodass eine Wahlmöglichkeitzwischen unterschiedlichen Anforderungsstufenbesteht. Das Angebot im Bereich Bewegung ist sehrvielseitig, so finden sich beispielsweise Übungen zuRücken gesundheit, Fit im Alter, Faszientraining oderKoordination.Die Rubrik „Ernährung“ beinhaltet ansprechende Infor-mationen und Rezepte für eine gesunde und bewussteErnährung. In Text- und Videoformat erfährt der Por-talnutzer von den aktuellsten Trends aus der Ernäh-rungsforschung und verschiedenen Ernährungsformen,die als gesund oder ungesund eingestuft werden. Der „Mental.Fit“-Bereich enthält Audio- und Video-dateien zu verschiedenen Entspannungs- und Stress-bewältigungsverfahren (zum Beispiel Meditationen,progressive Muskelrelaxation, Augenentspannung etcetera). Ein weiterer Fokus liegt zudem auf dem ThemaSchlaf und dessen Relevanz für unsere Gesundheit.Durch diese vielfältigen Angebote können die NutzerBewältigungsstrategien zum Umgang mit persönlichenStresssituationen aufbauen.Um das Angebot für möglichst alle Zielgruppen derRewe Group attraktiv zu gestalten, wurde der tätig-keitsspezifische Bereich „Job.Fit“ entworfen (sieheAbbildung links). Unter der Rubrik „Gesundes Arbei-ten“ werden die zielgruppenspezifischen Anforde-rungen aufgegriffen: Die Mitarbeiter erhalten gesund-heitsförderliche Informationen, die auf individuelleHerausforderungen bei ihrer Arbeitsaufgabe abge-stimmt sind. Beispielsweise stehen den Marktmitar-beitern hilfreiche Lehrvideos zum Greifen im Tief-Der berufsspezifische Bereich „Job.Fit“ geht auf die Bedürfnisse einzelner Mitarbeitergruppen ein.

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Die App ist immer und überall nutzbar und ermöglicht somitjedem Mitarbeiter die Integration von Sport, gesunder Ernährungund Entspannung in sein Leben.

27Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

kühlbereich oder zum rückenfreundlichen Einräumender Regale zur Verfügung. Kollegen aus der Verwaltungerhalten hingegen Tipps zum ergonomischen Arbeitenam Schreibtisch.

Der Mehrwert: Gesundheit, Information und Weiterbildung

Zusätzlich zu den vier genannten Präventionsbereichenwurden noch weitere nützliche Anwendungen in dasGesundheitsportal integriert:l „Fit.Blog“: Hier werden aktuelle Themen, wie neue

Forschungsergebnisse, Gesundheitstrends oder sai-sonale Themen aufgegriffen.

l „Meine Auszeit“: Hier finden Nutzer individuelleMöglichkeiten für eine aktive Pausengestaltung inForm von Übungen zum Abbau physischer und psy-chischer Anspannung oder zur Verbesserung derKonzentrationsfähigkeit sowie für den Ausgleich zurkörperlichen Arbeit.

l „Challenges“: Virtuelle Wettbewerbe in Teams oderals Einzelperson haben als Ziel, die Motivation derMitarbeiter zu erhöhen und gleichzeitig die Nach-haltigkeit des Projekts zu steigern. Durch die natio-nalen und persönlichen Challenges (zum Beispielradeln, laufen, entspannen) wird ebenfalls eine Ver-besserung des Teamgeists und der Unternehmens-identifikation angestrebt.

l Screening-Aktionen: Über einen Online-Fragebogenkonnten Nutzer beispielsweise ihr persönliches Darm-krebsrisiko bestimmen und sich ein immunologischesTestpaket nach Hause senden lassen.

Darüber hinaus wird die Plattform genutzt, um Ter-mine, zum Beispiel für die betriebsärztliche Sprech-stunde, zu buchen oder sich über weitere gesundheits-bezogene Projekte und Angebote der Rewe Groupinformieren zu können. So finden Mitarbeiter bei-spielsweise Informationen zu Vereinbarkeit von Beruf,Familie und Privatleben, Angebote für Krisensituationenoder auch zum Arbeitsschutz. Alle Rubriken werdenregelmäßig mit neuen Inhalten und Angeboten aktua-lisiert. Neben dem Online-Portal ist der zweite Baustein desProjekts die Ausbildung von sogenannten „Topfit-Machern“. Nach Abschluss einer „Macher“-Schulungübernehmen die Gesundheitsbotschafter eine Multi-plikatorenfunktion, sprich sie fungieren als Ansprech-partner für Kollegen zu „Gemeinsam.topfit“ und dessenInhalten und helfen zusätzlich, das Projekt innerhalbder Rewe Group zu kommunizieren. Die regelmäßigangebotenen Schulungen sind kostenlos und behandelngesundheitsrelevante Themen und Informationen zurNutzung der „Gemeinsam.topfit“-App.

Das Ergebnis: Gesunde Mitarbeiter

„Gemeinsam.topfit“ ist durch die Steigerung der per-sönlichen Gesundheitskompetenz sowohl ein Benefitfür den einzelnen Mitarbeiter als auch für das Unter-nehmen. Gesunde Mitarbeiter sind in der Regel zufrie-dener und können eine höhere Arbeitsleistung erbringen.Zudem sind sie weniger anfällig für Erkrankungen.Damit trägt die Plattform wesentlich zur Mitarbeiter-zufriedenheit und Arbeitgeberattraktivität bei. Die Ver-knüpfung von onlinebasierten Inhalten und persönlicherAnsprache am Arbeitsplatz durch geschulte Multipli-katoren ist dabei ein besonderer Mehrwert. p

Anna Peck, Expertin CoE Gesundheit &

Innovation, REWE Group, Köln,

[email protected]

Jill Bohling, Werkstudentin CoE Gesundheit &

Innovation, REWE Group, Köln,

[email protected]

AUTORINNEN

1 Den Roll-out für „Gemeinsam.topfit“ in den dezentralen Strukturen der Rewe Group zu

organisieren, stellte sich als Herausforderung dar:

• Betreuung von bis zu 10 000 Einheiten in Deutschland,

• unterschiedliche Geschäftseinheiten mit verschiedenen Tätigkeitsfeldern: Vollsortiment,

Discount, Fachmärkte (Baumarkt), Produktion, Touristik,

• niedriger Durchdringungsgrad bisheriger Kommunikationsmedien,

• geringe zeitliche Ressourcen der Führungskräfte und Mitarbeiter vor Ort.

2 Den Führungskräften in den Märkten und der Logistik muss der Mehrwert von

„Gemeinsam.topfit“ deutlich sein. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die Akzeptanz des

Projekts und für das Informieren ihrer Mitarbeiter. Hierzu ist es wichtig, die Führungskräfte zielgruppenspezifisch anzusprechen und die Vorteile von „Gemeinsam.topfit“ hervorzuheben.

• Eine größere Reichweite und Verfügbarkeit von BGF-Maßnahmen (orts- und zeitunabhängig)

ist gegeben.

• Die Online-Plattform ist als Kommunikationsmedium unabhängig von der technischen

Ausstattung am Arbeitsplatz nutzbar.

• „Topfit-Macher“-Multiplikatoren tragen zur Präsenz des Themas Gesundheit bei und stehen

als Ansprechpartner vor Ort zur Verfügung.

• Zusätzliche Funktionen der Online-Plattform, wie die Terminbuchungsfunktion, helfen

Prozesse zu vereinheitlichen und tragen zur Entlastung der BGM-Experten bei.

• Strategische Ziele des BGM lassen sich durch Angebote und Maßnahmen im Rahmen von

„Gemeinsam.topfit“ operationalisieren.

• Die App ermöglicht einen Erkenntnisgewinn zu Interessen und Bedürfnissen der Mitarbeiter

durch anonyme, aggregierte Datenauswertung („Lernen in Echtzeit“).

• Durch die Online-Plattform können neue Zielgruppen erreicht werden, für die eine Beteiligung

an BGF-Maßnahmen bisher nicht möglich war.

• Eine erhöhte Umsetzungsgeschwindigkeit von Maßnahmen ist durch eine schnelle

Kommunikation und Bereitstellung über die Online-Plattform gewährleistet.

UNTERM STRICH Was hat das Projekt gebracht?

STOLPERSTEINE Wo hat es im Projekt gehakt?

28 Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

Begleitung zurück ins BerufslebenNach oder mit einer psychischen Erkrankung zurück ins Arbeitsleben zu finden, ist schwer,denn Klischees und Stigmatisierungen sind nicht selten. Ausgebildete Genesungsbegleiterkönnen wertvolle Integrationsarbeit leisten, auch im Rahmen eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements.

u Psychische Erkrankungen nehmen immer mehr zu.Wer eine psychische Erkrankung, wie zum Beispiel eineDepression oder einen Burn-out hat, zählt meist zu denchronisch Erkrankten. Wie kann man psychisch Er -krankte (wieder) in den Arbeitsmarkt integrieren? Lag bei Ausbruch der psychischen Erkrankung nochkein festes Beschäftigungsverhältnis vor, sind die erstenAnsprechpartner oft die zuständige Arbeitsagentur oderdas zuständige Jobcenter. Hier wird dem Betroffenenoft geraten, zunächst nach Stellen zu schauen, die etwasunter dem eigenen Qualifikationsniveau liegen, um daszarte Pflänzchen Genesung nicht zu gefährden. DerHintergedanke einer solchen Eingliederungsstrategieist, dass sich der Betroffene nicht gleich wieder zu hohen

Erwartungen und Leistungsdruck aussetzen soll.Damit diese eher unorthodoxe Integrationsstrategieaufgeht, ist die Rolle von HR von besonderer Bedeutung,da sie Fingerspitzengefühl beweisen muss. Das setztallerdings voraus, dass HR um die Erkrankung desBewerbers weiß. Möchte ein psychisch erkrankter Bewer-ber seine berufliche Reintegration vorsichtig mit einerTätigkeit unterhalb seines Qualifikationsniveaus begin-nen, sollte HR darauf Rücksicht nehmen und ihm diegleichen Chancen einräumen wie den übrigen Bewer-bern. Den psychisch kranken Bewerber zu stigmatisieren,ihm als überqualifiziert oder wegen der Rückfallgefahrals untauglich von vornherein abzusagen, sollte ver-mieden werden. In der Praxis scheitert diese Integrations -

BGM WIEDEREINGLIEDERUNG

29Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

zu besprechen, wohin die Reise gehen soll. Leider wirdimmer noch zu viel über die Betroffenen gesprochen,nicht mit ihnen. Ihnen pauschal den Stempel „Buch-halter“ aufzudrücken, was oftmals leider der gängigenPraxis entspricht, hat sich als nicht zielführend erwiesen.In der „unterstützten Beschäftigung“ hat sich geradedie „personzentrierte Grundhaltung“ als besonderswirksam herausgestellt. Es bedeutet, die Interessen undFähigkeiten sowie die Ressourcen, Bedarfe und Bedürf-nisse der zu unterstützenden Person als Ausgangspunktfür das eigene professionelle Handeln zu nehmen. Dabeihaben sich vor allem sogenannte Nischenarbeitsplätzebewährt, die aber in puncto Recherche, Netzwerkbildungund Stellenakquise viel Zeit benötigen – mehr, als denReha-Anbietern oftmals zur Verfügung steht.

Trügerische Lösung Teilzeit und Minijob

Mehr Sinn macht hier eine Tätigkeit in Teilzeit oderzunächst eine geringfügige Beschäftigung – der soge-nannte Minijob. Auch dieser Punkt wird von Arbeits-agenturen meistens als Allzweckwaffe gesehen. „WenigerDruck durch weniger Arbeitszeit“ lautet hier die einfacheGleichung. Dabei könnte ein psychisch Erkrankter auch

einen Vollzeitjob schaffen, wenn dieRahmenfaktoren es zulassen. Um -gekehrt kann auch ein Teilzeitjob un -erträglich sein, wenn der Druck zustark ist oder das Betriebsklima nichtstimmt. Es kommt also nicht primärauf die Arbeitszeit an. Teilzeitstellenund Minijobs bergen auch das Risiko,

dass der Betroffene sich im Vorstellungs gespräch dafürrechtfertigen muss, dass er „nur“ Teilzeit arbeiten möch-te, wenn vorher Vollzeit gearbeitet wurde. Liegt keinobjektiver Grund vor (zum Beispiel Kindererziehungs-zeiten) oder äußert der Betroffene sogar seine Erkran-kung als Grund für seinen Wunsch, läuft er Gefahr,umgehend eine Absage zu erhalten. Ein weiterer Grund, warum es fatal wäre, sich aus-schließlich auf Teilzeitstellen zu fokussieren, ist, dassdiese am Arbeitsmarkt eher selten angeboten werden.Bei den Minijobs kommt noch erschwerend hinzu, dasssie kein ausreichendes Einkommen bieten und mandaher weiterhin auf staatliche Transferleistungen (zumBeispiel Wohngeld, „aufstockendes Hartz IV“ oderErwerbsminderungsrente) angewiesen ist.

Wie kann berufliche Reintegration funktionieren?

Die Strategien der Arbeitsvermittlung – sei es in derArbeitsagentur, im Jobcenter oder beim Anbieter derberuflichen Rehabilitation – führen leider nur selten

strategie jedoch häufig, weil diese Bewerber kaum eineChance bekommen. Anbieter der beruflichen Rehabilitation agieren meistähnlich wie die Arbeitsvermittlungen. Die Vermittlungin gering qualifizierte Beschäftigung wird von ihnenhäufig als Allheilmittel gesehen. In der Praxis ist dieseStrategie aber nicht selten kontraproduktiv, weil derBetroffene sich trotz seiner gesundheitlichen Einschrän-kungen unterfordert und falsch eingesetzt fühlt. Mansollte ihn auch nicht zu einer falschen Beschäftigungüberreden oder gar – unter Androhung von Sanktionen– zwingen.

Administration nicht per se stressfrei

Besser wäre es, gezielt nach einem Betrieb zu suchen,in dem ein herzliches und rücksichtsvolles Betriebsklimaherrscht, denn den Kollegen und Vorgesetzten kommteine Schlüsselrolle bei der Integration zu. Sie müssenStimmungs- und Leistungsschwankungen des Rehabi-litanden insbesondere in der Anfangsphase abfedern.Auch ein Einzelbüro oder ein Ruheraum können einegroße Hilfe sein, denn sie bieten dem Rehabilitandenwertvolle Rückzugsmöglichkeiten. Außerdem sind dieUmgebungslautstärke und die Ablen-kungsfaktoren reduziert, die die Kon-zentration mindern. Zu finden istdiese Voraussetzung meist eher imMittelstand (im Gegensatz zu einemKonzern) und in eher administrativenFunktionen (im Gegensatz zu denklassischen „Denkeraufgaben“). Dasheißt aber nicht automatisch, dass jeder Rehabilitandin der Buchhaltung eingesetzt werden sollte, dem oftmalsklischeehaften administrativen Beruf. Denn insbesonderein den Zeiten des Jahresabschlusses ist die Tätigkeit desBuchhalters durchaus stressig. Der Beruf des Buchhaltersist auch mitnichten einer, den man ohne Weiteres alsQuereinsteiger lernen kann. Die Prozesse, Anträge undIT-Systeme sind komplex und ohne langjährige Berufs-erfahrung wird heutzutage kein Buchhalter mehr ein-gestellt. Von daher ist es trügerisch zu meinen, jederpsychisch Kranke wäre im Job des Buchhalters gut auf-gehoben.

Personenzentrierte Beratung kommt zu kurz

Erstrebenswert wäre es vielmehr, die Anbieter der beruf-lichen Reha dazu zu verpflichten, genau den konkretenEinzelfall zu prüfen, nach den wirklichen beruflichenInteressen und den individuellen Ressourcen des Men-schen zu schauen. Übergeordnetes Ziel sollte es sein,den Rehabilitanden ganzheitlich als Menschen zubetrachten und mit ihm im gegenseitigen Einvernehmen

Die Strategien derArbeitsvermittlungführen leider nur selten zum Ziel.

Mehr zum Thema

Bundesarbeitsgemeinschaft fürRehabilitation (BAR) e.V.:Arbeitshilfe für dieRehabilitation und Teilhabepsychisch kranker undbehinderter Menschen,Frankfurt/Main, 8/2010.

Hohn, Kirsten/Siefken, Jan:„Weil alles gut passt“ –Nachhaltige Teilhabe amArbeitsleben durch„Unterstützte Beschäftigung“,in: RP Reha – Recht und Praxisder Rehabilitation, 2/2019, Seite 36–43.

Jacobsen, Bastian:Gesundungsprozess aktivfördern, in: Personalwirtschaftextra – BetrieblichesGesundheitsmanagement,September 2015, Seite 22–24.

Maurer, Mascha: Zielgruppenaktivieren, in: Personal -wirtschaft extra – BetrieblichesGesundheitsmanagement,September 2015, Seite 18 f.

30 Personalwirtschaft Sonderheft 06_2020

BGM WIEDEREINGLIEDERUNG

menbedingungen sind unter anderem (vergleiche BAR,2010): l Klarheit, Eindeutigkeit und Transparenz,l Verlässlichkeit und Kontinuität,l Ruhe und Gelassenheit sowie l Vermeidung von Überforderung und Unterforderung.

Betätigungsfelder der Genesungsbegleiter

Neben den üblichen Einrichtungen und Betrieben, dieGenesungsbegleiter einstellen (gemeint sind hier zumBeispiel Krankenhäuser oder ambulante Eingliede-rungshilfen), könnten zum Beispiel auch die Jobcenterim Fallmanagement von Genesungsbegleitern profitie-ren. Diese können im Tandem ihr spezialisiertes Betrof-fenen-Know-how zur Verfügung stellen und die Inte-gration den wirklichen Möglichkeiten anpassen.Alternativ sollten Genesungsbegleiter in die Fortbil-dungen der Fallmanager zum Thema psychische Erkran-kungen eingebunden werden. Dies wäre im Idealfallein wie oben beschriebener Nischenarbeitsplatz, dersowohl für die Betroffenen als auch für die Fallmanager

sinnstiftend sein kann. In der Praxisspielt diese wertvolle Win-win-Situa-tion aber leider noch nicht mal in derDiskussion eine Rolle.Eine weitere Einsatzmöglichkeit desGenesungsbegleiters wäre im Rahmendes Betrieblichen Eingliederungsma-

nagements (BEM) und/oder in der Prävention psy-chischer Erkrankungen als sogenannter „Gesundheits-lotse“ bei eher größeren Unternehmen. Ein Beispiel fürden Einsatz von Gesundheitslosen im präventivenBereich, aber losgelöst von der reinen psychischen Pro-blematik, bietet das Gesundheitsmanagement bei Drägerin Lübeck. Hier arbeiten Multiplikatoren aus den eigenenReihen als Gesundheitslotsen. Das Konzept erweist sichals große Bereicherung für Dräger, da sich einerseitsviele Kollegen für dieses Ehrenamt begeistern könnenund sich andererseits das Angebot so größerer Beliebtheiterfreut, als würde es nur über E-Mail und Intranet vonHR vertrieben werden. Grundsätzlich ist der unternehmenspolitische Hebelbeim BEM aber etwas größer, weil seit 2004 jeder Arbeit-geber seinen erkrankten Mitarbeitern ein BEM anbietenmuss. Es wäre für die psychisch beeinträchtigten BEM-Teilnehmer eine gute Unterstützung, neben den arbeits-medizinischen Aspekten auch die Erfahrung von selbstbetroffenen Mitarbeitern in den eigenen Rückkehrpro-zess einfließen lassen zu können. Diese könnten vorallem dabei helfen, das Haushalten mit den eigenenKräften zu verbessern, aber auch vor zu hohen Erwar-tungen zu schützen. In der Praxis spielt diese Optionbisher leider kaum eine Rolle. p

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zum Ziel. Aber muss ein psychisch Erkrankter deshalbgrundsätzlich auf den ersten Arbeitsmarkt verzichten?Mitnichten. In der psychosozialen Landschaft hat sichseit einigen Jahren die Idee des „Peer-Supports“ durch-gesetzt. Das heißt, dass Betroffene mit eigener Krisen-erfahrung andere Patienten bei ihrem Genesungswegbegleiten und auf Wunsch auch beratend zur Seite ste-hen. Für die Betroffenen ist es positiv, sich jemandemgegenüberzusehen, der selbst Krisenerfahrung hat unddamit einen Umgang gefunden hat. Ansprache, Empa-thie und Kommunikation fallen einem „Genesungsbe-gleiter“, wie er in der Praxis auch oft heißt, leichter.Außerdem dient er als Hoffnungsgeber, denn der ehe-mals psychisch Kranke hat einen Weg gefunden, seineeigene Erkrankung zu meistern und wieder erwerbsfähigzu sein.

Transparenz und Verlässlichkeit

Typische Angebote eines Genesungsbegleiters sinddaher eine Sprechstunde, eine Recovery-Gruppe oderein Trialog – also eine Diskussionsrunde, an der sichBetroffene, Angehörige und Profisdes Hilfesystems beteiligen. In Ham-burg bildet das UniversitätsklinikumEppendorf Genesungsbegleiter in denAusbildungsgängen „ExperienceInvolvement“ (kurz: Ex-In) seit meh-reren Jahren erfolgreich aus. Neu hin-zugekommen ist auch die Ausbildung des „UpsidesPeer-Support-Workers“, der seinen Piloten im April2019 hatte. Aber Vorsicht: Beide Ausbildungen eint, dass sie auf-grund ihrer verkürzten Dauer („Ex-In“ zwölf Monate,„Upsides“ zwei Monate plus Zusatzmodule) keine aner-kannten Berufsausbildungen sind, sondern lediglichFortbildungen mit Zertifikat. Das erschwert oft dieFinanzierung. Dafür erleben die Absolventen in derPraxis aber oftmals genau das, was sie am dringendstenbenötigen: ein herzliches und rücksichtsvolles Umfeld,eine sinnstiftende Tätigkeit und für ihre Arbeit dankbareMenschen. Die Betriebe, die Genesungsbegleiter ein-stellen, gewähren diesen oftmals größere Freiräume. Esist nicht schlimm, wenn der psychisch eingeschränkteKollege mal eher nach Hause geht, mal krankgeschriebenist oder nur wenige Stunden arbeiten möchte. Auf diese Wünsche wird größtenteils Rücksicht genom-men, denn die Arbeitgeber sind oftmals soziale Ein-richtungen, die selber Klienten aus dieser Klientel betreu-en. Die Einstellung, die diese Arbeitgeber ihrenGenesungsbegleitern entgegenbringen, ist deckungs-gleich mit den Grundvoraussetzungen für eine erfolg-reiche Reintegration der Bundesarbeitsgemeinschaftfür Rehabilitation (BAR). Diese verschiedenen Rah-

Reiner Ott, Genesungsbegleiter und

Vorstand, Genesungsbegleitung und

Peerberatung Hamburg (GBPH) e. V.,

[email protected]

Bastian Jacobsen, Absolvent

im Studiengang Management &

Human Resources, Leuphana

Universität Lüneburg,

[email protected]

AUTOREN

Seit 2004 muss jederArbeitgeber seinen

erkrankten Mitarbeiternein BEM anbieten.

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