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Die Qual mit dem Rücken –
was die Wirbelsäule leistet
Script zur WDR-Sendereihe Quarks&CoWeitere Scripte finden Sie unter www.quarks.de
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Die Qual mit dem Rücken – was die Wirbelsäule leistet
Inhalt
S. 4 Steckbrief RückenS. 8 Der Rücken: allen Anforderungen gewachsenS. 11 Stararchitekt WirbelsäuleS. 14 Rückenschmerzen – eine Wohlstandskrankheit?S. 18 Bandscheibenoperationen: nur ein Schmerzspiel?S. 24 Rückenschmerzen: sanfte MethodenS. 27 Lesetipps
Bildnachweise
alle Abbildungen WDR außer:
S. 4-6 Designbureau Kremer & MahlerS. 11 Leben ohne Rückgrat; Rechte: University of Tartu
Impressum
Text: Katrin Krieft, Ilka aus der Mark,Hilmar Liebsch, Martin Rosenberg, Tilman Wolff
Redaktion und
Koordination: Claudia HeissCopyright: WDR, Oktober 2005
Gestaltung: Designbureau Kremer & Mahler, Köln
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Die Wirbelsäule
7 Halswirbel, 12 Brustwirbel und5 Lendenwirbel – den Knochen-anteil der Wirbelsäule und damitdes Rückens stellen die Wirbel.Zusätzlich gibt es noch das Kreuz-bein und das Steißbein. Sie sindauch aus einzelnen Wirbeln aufge-baut, die aber miteinander ver-schmolzen sind. Die Wirbel der ein-zelnen Rückenabschnitte müssenunterschiedlichen Anforderungengenügen, entsprechend unterschei-den sich die Wirbel in Form undGröße. Die Halswirbel sind zumBeispiel deutlich kleiner als dieLendenwirbel, denn sie müssen
nur das Gewicht des Kopfes tragen, während auf den Lendenwirbeln dieLast des Rumpfes, der Arme und des Kopfes ruht. So wiegt der Kopf nuretwa 6 Kilogramm, wogegen Rumpf, Arme und Kopf gut und gern 25 bis 30Kilo auf die Waage bringen.
Die Wirbel
Die Wirbel sind bis auf zweiAusnahmen alle gleich aufgebaut:aus Wirbelkörper, Wirbelbogen undFortsätzen. An den beiden Quer-fortsätzen und am durch die Hauttastbaren Dornfortsatz setzen dieRückenmuskeln an. Zum Rückenhin hat jeder Wirbelkörper einenWirbelbogen, der mit den Bögender anderen Wirbel eine Röhre bil-det, den Spinalkanal. In ihm ver-läuft das Rückenmark, die wichtig-ste Nervenleitung des Menschen.
Jeder Wirbelbogen hat außerdem vier Gelenkfortsätze, die mit dem darüberund darunter liegenden Wirbel ein Gelenk bilden. Dieses Gelenk macht dieWirbel beweglich, schränkt sie aber auch in bestimmte Richtungen ein.
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Steckbrief Rücken
Die Bandscheiben
Die Bandscheiben liegen zwischenden einzelnen Wirbelkörpern, nurzwischen dem ersten und zweitenHalswirbelkörper gibt es keine. Die23 Pufferscheiben bestehen haupt-sächlich aus gallertartigem Binde-gewebe, das viel Flüssigkeit spei-chern kann. Sie machen nicht we-niger als ein Viertel der Gesamt-länge der Wirbelsäule aus und tra-gen einen großen Teil dazu bei,dass die Wirbelsäule so beweglichist. Zusätzlich federn die Bandschei-ben Stöße ab, was auch das Ge-hirn schützt. Entscheidend für die Beweglichkeit des Rückens sind Höhe undDurchmesser der Bandscheiben: je höher, desto mehr Bewegung. Im Hals-bereich sind die Bandscheiben sehr hoch, in der Brust eher niedrig und inder Lendenwirbelsäule wieder hoch. Da allerdings die Pufferscheiben in derLendenwirbelsäule auch einen sehr großen Durchmesser haben, ist dieserTeil des Rückens nicht so beweglich wie die Halswirbelsäule. Die Bandschei-ben bestehen aus einem Faserring und einem Gallertkern. Sie verlieren überden Tag hinweg und vor allem mit zunehmendem Alter an Flüssigkeit. Dannkönnen sie die Belastungen nicht mehr so gut auffangen. Gleichzeitig lagernsich mit steigendem Alter Knorpelzellen und Kalksalze im den Kern derBandscheibe ein. Die gesamte Wirbelsäule wird zunehmend weniger beweg-lich und stoßempfindlicher. Irgendwann können die Faserringe einreißen,dann wird der Gallertkern herausgedrückt: der gefürchtete Bandscheibenvor-fall (siehe S. 19).
Länge und Form
Die Wirbelsäule ist vom ersten Halswirbel bis zur Steißbeinspitze etwa60-70 cm lang und macht damit knapp ein Drittel der Körperlänge aus. ImLaufe des Tages schrumpft sie um etwa ein Prozent. Der Grund: durch dieBelastung beim Stehen und Gehen verlieren die Bandscheiben Flüssigkeitund werden schmaler. Doch dieser natürliche Effekt gleicht sich nachts wie-der aus: Wenn der Mensch liegt und der Druck auf die Bandscheiben nach-lässt, erlangen die Pufferscheiben wieder ihre ursprüngliche Größe. VonNatur aus hat die Wirbelsäule eine doppelte S-Form. Am Hals und im Len-
Die Wirbelsäule ist aus einzelnen
Wirbelkörpern aufgebaut
7 Halswirbel
12 Brustwirbel
5 Lendenwirbel
Kreuzbein und Steißbein
Wirbelkörper
Spinalkanal
Querfortsatz
Die Wirbelbögen sind Ansatzpunkt für Muskeln
und Bänder und umschließen das Rückenmark
Die Bandscheiben sind die Pufferzonenzwischen den Wirbeln – sie ermöglichenBewegungen und federn Stöße ab
Faserring
Gallertkern
Lendenwirbel
Rückenmarkskanal
Dornfortsatz
Wirbelbogen
Gelenkfortsatz
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denbereich ist sie nach innen Rich-tung Brust gebogen, Medizinernennen das eine Lordose. DieBrustwirbelsäule und das Kreuz-bein wölben sich nach außen, esentsteht die so genannte Kyphose.Durch Bänder und Muskeln ent-steht zwischen diesen Bögen eineArt Zuggurtung, ähnlich wie beiPfeil und Bogen. Das macht dieWirbelsäule elastisch und stabilzugleich.
Die Rückenmuskeln
Die Rückenmuskeln des Menschen sorgen mit den Bändern dafür, dass dieWirbelsäule aufrecht im Becken steht. Sie überziehen den Rücken in mehrerenSchichten, einer davon, der große Rückenmuskel, ist der größte Muskel desMenschen überhaupt. Er reicht von den Schultern bis zum Becken.
Man unterscheidet die so genannte autochthone Rückenmuskulatur von dersekundären Rückenmuskulatur. Die autochthone Rückenmuskulatur ist in derEmbryonalentwicklung aus denselben Teilen entstanden wie die Wirbel-körper. Sie liegt direkt auf den Wirbelkörpern und spannt sich zwischen Quer-und Dornfortsätzen.
Die sekundären Rückenmuskeln sind von Beinen und Armen her eingewan-dert und überspannen große Areale des Körpers. Sie bilden auch das Außen-relief des Rückens, so zum Beispiel der Kapuzenmuskel (Musculus trapezius),der sich vom Hals und Schulterbereich bis hin zu den Dornfortsätzen mehre-rer Hals- und Brustwirbel zieht.
Bänder
Die Wirbelkörper sind vom ersten bis zum letzten Wirbel mit langen Bändernverbunden – den vorderen und hinteren Längsbändern. Zusätzlich spannen sichnoch Bänder zwischen den einzelnen Wirbelbögen. Diese schließen den Wirbel-kanal, bis auf kleine Austrittspunkte für die Nerven, dicht ab. Auch die einzelnen
Dornfortsätze sind durch Bänder miteinander verspannt. All diese Bänderzusammen bilden mit den Muskeln eine Zuggurtung, die die Wirbelsäule sta-bilisiert und trotzdem beweglich hält. Vergleichbar ist diese Konstruktion mitden Haltetauen, durch die der Mast eines Segelbootes im Lot gehalten wird.
Nerven und Rückenmark
Die Wirbelkörper bilden den Wirbelbogen, in dem das Rückenmark verläuft.Es ist so nach allen Seiten geschützt. Zwischen den Wirbelbögen der ein-zelnen Etagen treten große Nerven aus, die zum Beispiel zum Bauch, zuArmen und Beinen ziehen. Man teilt das Rückenmark in Abschnitte oderSegmente ein, und zwar in ebenso viele, wie es Wirbelkörper gibt. DasMark ist im Durchschnitt 45 cm lang, also deutlich kürzer als dieWirbelsäule. Dies liegt daran, dass ab dem vierten Schwangerschaftsmonatdas Rückenmark deutlich langsamer wächst als die Wirbelkörper. Das bedeu-tet, dass nicht immer das entsprechende Segment auf Höhe des Wirbel-körpers liegt. Daher besteht das Rückenmark ab dem 2. Lendenwirbelkörpernur noch aus einzelnen Nervenfäden, die zu ihrem ursprünglich vorgesehe-nen Austrittspunkt ziehen. Diesen Teil des Rückenmarks nennt man „CaudaEquina“ zu Deutsch: Pferdeschwanz.
Schmerzen
Über 75 Prozent aller Rückenschmerzen entstehen im Lendenbereich. Derobere Bereich der Wirbelsäule, die Hals-Nacken-Region, ist am zweithäufig-sten von Schmerzen geplagt, etwa jeder vierte Rückenschmerz geht vomNacken aus. Es gibt sehr viele verschiedene Ursachen für das Volksleiden.Nummer 1: Entzündungen, Verletzungen, Durchblutungsstörungen oder Ab-nutzungserscheinungen können Rückenschmerzen auslösen. Manche Be-schwerden beruhen auch auf falscher Haltung oder Schonhaltungen, zumBeispiel bei der Büroarbeit. Dabei muss die Fehlhaltung nicht einmal in derNähe der Wirbelsäule liegen. Auch unterschiedlich lange Beine etwa kön-nen zu Schmerzen führen. Die ganze Konstruktion steht in einem empfind-lichen Gleichgewicht, so dass sich schon kleine Veränderungen negativ aus-wirken können: sogar ein Fehlbiss im Kiefergelenk kann Rückenbeschwerdenauslösen. So zeigt sich immer wieder, daß Menschen wegen einer falscheingepassten Zahnfüllung neben Schmerzen im Kiefergelenk sogar Rücken-probleme entwickeln können.
Ihre typische doppelte S-Form bekommt die
Wirbelsäule durch Muskelzug und Bandverspannung
Halswirbelsäule mit Wölbung nach vorne
Brustwirbelsäule mit Wölbung nach
hinten (Kyphose)
Lendenwirbelsäule mit Wölbung
nach vorn (Lordose)
Kreuzbein und Steißbein
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Der Rücken ist ein perfekt aufeinander abgestimmtesKonstrukt aus Wirbeln, Bandscheiben, Muskeln undBändern. Dabei ist er im Laufe eines Lebens immerneuen Anforderungen ausgesetzt, und er versucht stän-dig, sich an sie anzupassen.
Zarte Wirbel im Mutterleib
Gerade einmal sechs Zentimeter ist das ungeboreneKind lang, wenn Wirbelsäule, Bänder und Muskeln desRückens entstehen. Die Verknöcherung der Wirbelsäulebeginnt in der sechsten Schwangerschaftswoche. Diezunächst knorpeligen und weichen Anlagen derWirbelkörper werden zunehmend härter – die Wirbel-säule entsteht. Dieser Vorgang beginnt in der Brust-wirbelsäule und schreitet dann Richtung Kopf undBecken fort. Wirklich abgeschlossen ist er erst im14. Lebensjahr, wenn die letzten Wirbel verknöchertsind. Ab dem vierten Schwangerschaftsmonat sind inder Wirbelsäule auch Bandscheiben nachweisbar.
Von grade nach krumm – die Wirbelsäule kommt
langsam in Form
Die Wirbelsäule ist beim Erwachsenen sanft s-förmiggeschwungen. Beim Neugeborenen ist diese Krüm-mung zwar vorhanden, aber nicht so stark ausgeprägt.Insbesondere Hals- und Lendenwirbelsäule sind beimSäugling noch fast gerade. Erst wenn das Kind imersten Lebensjahr lernt, den Kopf zu heben und zu hal-ten, entwickeln sich auch die Muskeln am Hals stärkerund üben über die Bänder Zug auf die Halswirbel aus.Diese biegen sich unter diesem Zug und kommen solangsam in die richtige Form: Die Halswirbelsäulewölbt sich Richtung Brust, die so genannte Halslordo-se entsteht.
Bewegung formt den Rücken
Je mehr sich das Kind selbstständig bewegen kann,desto stärker wirken neue Kräfte auf die Wirbelsäule.Das gilt besonders für das Laufen lernen ab etwa demersten Lebensjahr: Die Beine strecken sich, damitdreht sich der Hüftkopf im Hüftgelenk. Das Beckenkippt dadurch nach vorne und die Lendenwirbelsäulegleicht dies mit einer weiteren Krümmung nach außenaus, der so genannten Lendenlordose. Jetzt hat dieWirbelsäule ihre endgültige doppelte S-Form erreicht.Sie verändert sich danach nur noch wenig. Währendder eigentlichen Wachstumsphasen wachsen Beineund Arme sehr viel schneller als die Wirbelsäule.Hierdurch verschiebt sich der Körpermittelpunkt, derbeim Baby noch in Nabelhöhe liegt: beim Erwach-senen liegt er auf Höhe des Schambeins.
Erste Probleme mit Dreißig
Mit Mitte Dreißig treten die ersten Rückenproblemeauf. Jeder Dritte klagt in diesem Alter über Schmerzenin Kreuz oder Nacken. Meistens sind in dieser Zeit anden Knochen noch keine Veränderungen zu erkennen,der Ursprung der Beschwerden liegt eher in den Mus-keln: Durch Fehlhaltungen kommt es zu schmerzhaftenVerspannungen. Häufige Ursache solcher Fehlhaltun-gen ist mangelnde Bewegung. Die Muskeln verküm-mern und können die Wirbelsäule nicht mehr stützen.
Verschleiß mit Sechzig
Mitte Sechzig leidet bereits jeder Zweite unter Rücken-schmerzen. Bei rund 70 Prozent zeigen sich Verschleiß-erscheinungen an der Wirbelsäule. Durch die perma-nente Druckbelastung verlieren die Bandscheiben anFeuchtigkeit und damit auch an Elastizität. Sie könnenStöße nicht mehr so gut abfedern, die Beweglichkeit ist
Der Rücken: allenAnforderungen gewachsen
Die Wirbelsäule entsteht in der
sechsten Schwangerschaftswoche,
wenn das Kind 6 cm lang ist
Wenn das Kind den Kopf heben
kann und krabbelt, krümmt sich
die Halswirbelsäule
Wenn das Kind aufrecht laufen
kann, entsteht die Krümmung der
Lendenwirbelsäule
Je bequemer wir werden, desto
häufiger kneift’s im Rücken
Mangelnde Bewegung ist
eine häufige Ursache für
Rückenschmerzen
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zunehmend eingeschränkt. Zusätzlich kommt es zuArthrosen in den kleinen Gelenken zwischen den Wir-belkörpern, die die Bewegungen ebenfalls erschwe-ren. Mit zunehmendem Alter steigt nun auch dieGefahr für einen Bandscheibenvorfall.
Schmerzhaftes Schrumpfen im Alter
Im Alter schließlich geben auch die Knochen der stän-digen Belastung nach. Durch Osteoporose kommt eszu Wirbelbrüchen. Zusätzlich sind die Bandscheibenzusammengesunken. Bis zu 7 Zentimeter schrumpft einMensch auf diese Weise im Alter. Häufig entsteht einBuckel, der Rippenbogen kann in extremen Fällen bisauf den Beckenknochen herunter sinken. Bewegun-gen sind nur noch eingeschränkt möglich und häufigschmerzhaft. Der Rücken kapituliert vor der Belas-tung.
Lordose
Eine Lordose ist eine Wirbelsäulenkrümmung nachvorne, also ein Hohlkreuz. Normalerweise solltensowohl die Halswirbelsäule als auch die Lendenwir-belsäule in eine Lordose gekrümmt sein.
Osteoporose
Osteoporose oder Knochenschwund ist eine Stoff-wechselerkrankung der Knochen. Durch den Abbauvon Knochenmasse verliert der Knochen seine Stabi-lität, schmerzhafte Knochenbrüche können die Folgesein. Von der Osteoporose sind vor allem ältereMenschen betroffen.
Stararchitektur Wirbelsäule
Die Wirbellosen beherrschen die Welt
Menschen sind Tiere, genauergesagt: Wirbeltiere. Ebenso wiealle Säugetiere, Vögel, Echsen,Schlangen, Schildkröten, Kro-kodile, Amphibien und Fische.Doch mehr als 95 Prozent allerbekannten Tierarten sind wir-bellos – besitzen also keineWirbelsäule! Zu ihnen gehörenMuscheln, Schnecken, Würmer,Quallen, Tintenfische, Korallen,Krebse und Insekten.
Aller Anfang ist weich
Sie bevölkern nicht nur heute die Erde – die Wirbel-losen sind auch der Anfang des Lebens. Vor mehr als540 Mio. Jahren gab es auf der Erde nur wirbelloseTiere. Sie besiedelten ausschließlich das Meer, man-che waren sesshaft, etwa wie heutige Seeanemonen.Viele konnten sich aber auch schwimmend fortbe-wegen, wie zum Beispiel die heutigen Quallen. Aller-dings waren ihre Bewegungen langsam. Eine Aus-nahme sind die Kalmare (zehnköpfige Tintenfische),die auf Geschwindigkeit getrimmt sind und auch rich-tig groß werden. Doch für eine schnellere Fortbe-wegung brauchen die Muskeln ein festes Gerüst. Solegten sich einige der wirbellosen Urtiere ein Außen-skelett zu, das den Muskeln Halt gab und schnelleresFortkommen erlaubte. Wie die heutigen Krebse konn-ten sie rennen – nur hatte das Außenskelett denNachteil, dass es nicht mitwachsen konnte.
Zum Wachsen musste das Tier den schützenden Panzerabwerfen. So kam es, dass Riesenwachstum ausbliebund die seltsamen Geschöpfe der Urzeit nicht größerwurden als wenige Meter.
Leben ohne Rückgrat: Fossilien aus
der Zeit vor mehr als 540 Millionen
Jahren. Funde aus Australien zeigen,
welche Tiere es damals gab – es
waren ausschließlich Wirbellose
Osteoporose und Bandscheiben-
schwund lassen den Körper um bis
zu 7 Zentimeter schrumpfen
Im Alter kapituliert der Rücken
häufig vor der Belastung
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Grundbauplan für moderne Tiere
Vor rund 530 Mio. Jahren tauchten erstmals Geschöpfeauf, bei denen sich Merkmale der Wirbeltiere zeigten. Sieverfügten über ein Gehirn und eine Rückensäule: dieNeuralleiste. Die Neuralleiste trug zur Bildung bestimm-ter Skelettelemente bei, die für Wirbeltiere typisch sind:Kiefer, Kiemen, einige Knochen- und Knorpelelemente.Den Schädel und das Gehirn mit den Sinnesorganenkann man als Fortsetzung der Neuralleiste betrachten –damit hat die Evolution den Grundbauplan für moderne-re Tiere geliefert: Die Wirbeltiere mit der Wirbelsäule alszentraler Achse tauchten auf. Noch spielte sich das allesim Meer ab – die ersten Wirbeltiere waren Fische.
Viele Bewegungstypen sind möglich
Aus dem Grundprinzip der Wirbelsäule entstanden im-mer neue Formen eines Halt gebenden Innenskeletts.Das konnte mitwachsen und erlaubte aufwändige Bewe-gungen. Dafür brauchten die Wirbeltiere jedoch mehrEnergie. Doch das war kein Problem, denn dank ihrerSchnelligkeit waren viele von ihnen hervorragende Jägerund konnten ihren Energiebedarf durch eiweißreicheBeute stillen. Betrachtet man, wie sich Fische, Schlangenund Reptilien fortbewegen, so fällt auf, dass sie ihre Wir-belsäule hauptsächlich seitlich biegen. Das hat einenVorteil: die Schwerkraft muss nicht überwunden werden.Was im Wasser hervorragend funktionierte, sollte anLand allerdings zum Problem werden.
Bewährungsprobe an Land
Es dauerte noch fast 200 Millionen Jahre, bis die erstenTiere vor etwa 360 Millionen Jahren an Land krochen.Hier wurde die ausschließlich seitliche Bewegung derWirbelsäule zum Nachteil: Sie erlaubte nur ein schreiten-des und damit relativ langsames Vorwärtskommen. Ersteine galoppierende Bewegung mit einer Auf- und Ab-Bewegung der Wirbelsäule gestattet größere Geschwin-digkeiten.
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Meeressäuger schwimmen anders als Fische
Delphine und Wale sind Säugetiere, die ins Meer zurück-gekehrt sind. Auch sie bewegen sich daher mit den typi-schen Auf- und Ab-Bewegungen, nur eben schwimmend.So kann man übrigens leicht Delphine und Wale vonFischen unterscheiden. Wale erreichen eine gigantischeKörpergröße. Blauwale, die größten Tiere der Erde, wer-den bis zu 30 Meter lang. Diese Größe ist für die Wirbel-säule kein Problem, wird der Körper ja durch das umge-bende Wasser gestützt. An Land würde ihre Wirbelsäuleohne enormen Kraftaufwand durchhängen.
Sondermodell Dinosaurier:
Wirbelsäule mit Stützprinzip
In der Erdgeschichte gab es jedoch gigantische Tiere:die Dinosaurier. Die größten von ihnen wurden über30 Meter lang. Hätten sie die weit ausladenden Hälseund Schwänze allein mit Muskelkraft hochhalten müssen,so hätten sie dafür enorme Energie verbraucht. Die lan-gen Dornfortsätze ihrer Wirbel lösen das Problem: siesind mit Sehnen verspannt, so dass die Wirbelsäuleohne großen Kraftaufwand stabil gehalten werden kann.Außerdem gab es noch eine Reihe anderer Konstruk-tionen, die den Rücken der Dinos stabilisierten.
Der aufrechte Gang – ein Problem?
Unsere Vorfahren, die frühesten Menschenarten, began-nen vor etwa 5 Millionen Jahren aufrecht zu gehen. Dochist die Wirbelsäule auch für den aufrechten Gang geeig-net? Die Antwort für diese oft gestellte Frage liegt aufder Hand – es funktioniert ja seit der Entwicklung desaufrechten Ganges recht gut. Tatsächlich zeigen Belas-tungsmessungen, dass die Wirbelsäule des Menschennicht stärker belastet wird als bei Vierbeinern. Der auf-rechte Gang hat seinen schlechten Ruf zu Unrecht – dieoft auftretenden Verschleißerscheinungen können ganzeinfach darauf zurück geführt werden, dass wir heutesehr alt werden – und da ist Verschleiß normal.
Die Wirbelsäule eines Wals würde
an Land durchhängen
Werden die Wirbel über Kreuz mit
einem stabilen Seil verspannt so
gewinnt die Konstruktion „Wirbel-
säule“ enorm an Stabilität
Das Grundprinzip der Wirbelsäule
im Modell: Die einzelnen Bausteine
entsprechen den Wirbeln, die elas-
tischen Polster dazwischen den
Bandscheiben. Die Muskeln sind
als Gummiseile dargestellt
Ein Krokodil bewegt seine
Wirbelsäule seitlich, wie alle
Reptilien
Die kraftvolle Auf- und Ab-
Bewegung des Galopps ist mit
dem Prinzip Wirbelsäule
möglich
Die Wirbelsäulenkonstruktion
kann aufrecht stehen
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Rückenschmerzen – eineWohlstandskrankheit?
Die unheimliche Vermehrung der Rückenschmerzen
Jeder dritte Deutsche hat sie regelmäßig – das zumin-dest sagt die Statistik, denn Rückenschmerzen tretenso häufig auf, dass Fachleute sogar von einer Epidemiesprechen. Jedes zweite Schmerzgefühl im Körperkommt vom Rücken.
Auch die Krankschreibungen wegen Rückenschmerzensind in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen. Beider AOK sind sie die häufigste Ursache für Arbeits-unfähigkeit. Waren 1955 knapp 10 Prozent aller Krank-schreibungen durch Rückenschmerzen begründet, lagder Anteil der wegen Rückenleiden krankgeschriebe-nen Patienten 1990 schon bei fast 60 Prozent. Und soist das bis heute. Die meisten Frührentner haben esebenfalls im Rücken. Alles in allem kosten Rücken-leiden den Staat pro Jahr 22 Milliarden Euro. Eine enor-me finanzielle Belastung für die Gesellschaft also.Schon in den 1980er Jahren diagnostizierten Ärztefünfmal häufiger Rückenschmerzen als vorher. Nichtnur in Deutschland, sondern auch in anderen europä-ischen Ländern.
Liegt es an den Diagnosemethoden?
Experten vermuten, dass moderne Diagnosemethodenmit Schuld sind an der unheimlichen Vermehrung derRückenschmerzen. Jahrzehntelang haben Orthopädenversucht, dem Rückenleiden mit Röntgenbildern aufdie Spur zu kommen. Aber die waren zunächst nochziemlich ungenau. Der Patient hatte nur eine vageVorstellung davon, was da in seinem Rücken stattfand.Dann, in den 1980er Jahren, kam die Revolution beider Diagnose von Rückenleiden: bildgebende Verfah-ren wie die Computertomographie und die Magnet-resonanztomographie. Jetzt konnte man plötzlich nichtmehr nur die Abstände der Knochen sehen wie aufdem Röntgenbild, sondern auch einzelne Muskeln und
Die Rückenleiden der Deutschen
kosten den Staat im Jahr bis zu
22 Milliarden Euro
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die Schichten der Bandscheibe.Nicht nur der Arzt, auch derPatient selbst.
Bei manchen Betroffenen hatdie Diagnose mit solchen bild-gebenden Verfahren aber negati-ve Konsequenzen, wie folgendeStudie zeigt: Englische Forscherhaben zwischen November 1995und Januar 1999 die Wirkungvon Röntgenbildern auf Patien-ten untersucht: 203 Rückenkran-ke wurden nicht geröntgt, etwagenauso viele (199) wurden mitRöntgenbild diagnostiziert. Vonden Nichtgeröntgten gingen inden ersten drei Monaten nachder Untersuchung 60 regelmäßig zum Arzt – alsoetwa 30 Prozent. Bei den Geröntgten waren es dage-gen 106, die den Arzt aufsuchten – mit 53 Prozent alsowesentlich häufiger. Außerdem klagten die Geröntgtenüber stärkere Schmerzen. Vielleicht ist es also keinZufall, dass der Revolution der bildgebenden Verfahrenein Anstieg der Rückenleiden folgte.
Sind wir alle Hypochonder?
Es gibt einen weiteren Erklärungsversuch für den An-stieg der Rückenschmerzen: Sozialmediziner sprechenvom „sekundären Krankheitsgewinn“. Gemeint ist:Krank sein wird dann angenehmer, wenn man davonprofitiert – zum Beispiel mit arbeitsfreien Tagen. DieArbeitsunfähigkeit aufgrund von Krankheit hat imgesellschaftlichen System eigentlich eine sinnvolleFunktion. Der Staat geht davon aus, dass diese Maß-nahme die Genesung fördert. Immer häufiger scheint
Bekommt ein Rückenpatient sein eigenes Röntgenbild zu
Gesicht, kann das die Krankheit tatsächlich verschlimmern
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sich aber ein gegenteiliger Effekt einzustellen: Beisozialer Belohnung durch freie Tage dauert dieKrankheit bei manchen Patienten länger. Dahinter ver-birgt sich sicherlich nicht immer ein bewusstesAusnützen der Situation. Ärzte vermuten, dass es sichin den meisten Fällen um ein schwer zu greifendes,psychologisches Problem handelt und der Patient tat-sächlich reale Schmerzen empfindet.
Aber es ist schon absurd: Je mehr Hilfe das Gesund-heitssystem den Rückenleidenden anbietet, destomehr breitet sich die Krankheit aus.
Ein Beispiel: In Schweden trat1978 ein Gesetz in Kraft, nachdem Schwangere sich wegenRückenschmerzen arbeitsunfä-hig schreiben lassen konnten.Damals, 1978, klagten von 1.524Schwangeren 152 Frauen, also10 Prozent, über Rückenproble-me. Acht Jahre nach Einführungdes neuen Gesetzes waren esvon 1688 Schwangeren 506Frauen, also 30 Prozent unddamit dreimal so viele. EinZusammenhang mit der Geset-zesänderung drängt sich auf.
Eine Sache der Einstellung
Anscheinend gibt es auch kulturelle Unterschiede beimUmgang mit Rückenleiden. In den USA und in Japanstellten Mediziner zwischen 1995 und 1998 bei unge-fähr gleich vielen Menschen Rückenprobleme fest. Ver-gleicht man aber die arbeitsfreien Tage, die aufgrundvon Rückenproblemen in Anspruch genommen wurden,
Eine Studie aus Schweden zeigt, dass Rückenleiden zuneh-
men, wenn sie vom Gesundheitssystem registriert werden
entdeckt man einen Unterschied.In Japan meldete sich von 10.000Arbeitnehmern gerade mal einRückenpatient pro Jahr arbeits-unfähig. In den USA waren es 60mal mehr Arbeitnehmer, die die-sen finanziellen Ausgleich inAnspruch nahmen. Sind Rücken-patienten in den USA Hypo-chonder? Und auch hierzulande?
Ob die soziale Belohnung dasProblem verschlimmert oder ver-bessert, hängt vermutlich in vie-len Fällen auch mit der Ein-stellung des Patienten zusam-men. Mittlerweile belegen zahl-reiche Studien, dass der Anstiegder Rückenschmerzen mehr auf den medizinischen Um-gang mit der Krankheit durch Ärzte und Patientenzurückzuführen ist als auf das eigentliche Leiden. Sicherist unsere Gesellschaft auch bequemer geworden,wenig Bewegung und eine rückenfeindliche Lebens-weise lässt sich in den Industrieländern zunehmendfeststellen. Man erkennt aber heute auch immer deut-licher den Zusammenhang zur Psyche: Der Rücken-schmerz ist in 40 - 50 % der Fälle nicht auf einen ein-deutig feststellbaren rein körperlichen Befund zurück-zuführen. Und Stress und Depressionen stehen alsAuslöser für Rückenschmerzen hoch im Kurs...
In den USA meldeten sich 60 mal mehr Rückenkranke
arbeitsunfähig als in Japan
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Bandscheibenoperationen: nur ein Schmerzspiel?
Im Kernspintomographen
lassen sich Bandscheiben-
vorfall oder -vorwölbung
schnell feststellen
Der Vorfall und der Sündenbock
Kaum gibt es Probleme mit dem Rücken, sind dieBandscheiben schnell als Hauptschuldige ausgemacht.Besonders in der Halswirbelsäule und im Bereich derLendenwirbel sind die Bandscheiben extremen Belas-tungen ausgesetzt, die sie mit der Zeit zerstören. Inihrem Innern haben die Bandscheiben einen Kern auseiner gallertartigen Masse, der sozusagen als Stoß-dämpfer die Kräfte auffängt, die auf die Wirbelsäulewirken. Wird der Druck zu groß, kann es zur Vorwöl-bung oder zum gefürchteten Bandscheibenvorfall kom-men. Dabei drückt das austretende Material auf dieNerven, die in einer Art Kanal an der Wirbelsäule ent-lang laufen. Hier entstehen die oft unerträglichenSchmerzen, die Vorwölbung und Vorfall auslösen kön-nen.
Der Bandscheibenvorfall
Ein Bandscheibenvorfall (medizinisch: PROLAPS) liegtvor, wenn der Bandscheibenkern sich durch Risse imFaserring nach außen drückt und ihn mitsamt demangrenzenden Längsband durchbricht.
Eine Vorstufe davon ist die Bandscheibenvorwölbung(medizinisch: PROTRUSION). Der äußere Faserring istdann an einigen Stellen schwach und verschiebt sich.Er versucht so, dem Druck des Bandscheibenkernsauszuweichen und wölbt sich dabei über den Wirbelhinaus. Bei dieser Vorwölbung bleibt der Faserringaber im Gegensatz zum Bandscheibenvorfall intakt.
Ein Bandscheibenvorfall liegt meist im Lendenwirbel-bereich zwischen dem vierten und fünften Lendenwir-bel oder dem fünften Lendenwirbel und dem Kreuz-bein (auch Sakralwirbel genannt: unterster Teil desRückens, endet mit dem Steißbein). Kein Wunder,denn diese Stelle des Rückens hat das meiste Körper-gewicht zu tragen. Im Alter zwischen 30 und 50 scheint
Der Bandscheibenkern
drückt den Faserring
nach außen
(Prolaps)...
...und durchbricht
den Faserring.
Schließlich können
sich Teile des
Bandscheibenkerns
ablösen.
Verlauf eines Bandscheibenvorfalls
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4
Die Degeneration
der Bandscheibe
führt zur Vorwölbung
(Protrusion)
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man besonders anfällig zu sein, denn dann setzt dasAlter ein, und der Bandscheibenkern verliert Wasserund Elastizität.
Arzt zufrieden – Patient krank?
Mit bildgebenden Verfahren wie Röntgen oder mitKernspinaufnahmen können Mediziner heute sehrschnell feststellen, ob ein Vorfall oder eine Vorwöl-bung der Bandscheiben vorliegt. Nach dieser Diagno-se greifen sie oft zum Messer. 60.000 Operationen ander Bandscheibe werden allein in Deutschland jedesJahr vorgenommen. Lange galt die Operation als derKönigsweg in der Therapie – und es wurden und wer-den immer neue Operationsmethoden entwickelt.Doch Untersuchungen aus den 1980er und 1990erJahren zeigten, dass es hier einige Mängel gibt, vorallem, was den Erfolg des Eingriffs angeht. Währenddie Ärzte den Erfolg von Operationen sehr hoch ein-schätzten, sie waren in 90 Prozent aller Fälle zufrieden,betrachteten ihre Patienten – je nach OP-Methode –nur etwa 40 bis maximal 80 Prozent der Operationenals gelungen. Denn oft genug kommen die Schmerzennach der Operation wieder. Zudem berichten Betrof-fene über Infektionen, die Verlagerung der Schmerzenauf andere Gelenke und eine überschießende Narben-bildung.
Das Schmerzspiel
1998 veröffentlichte der schottische OrthopädeGordon Waddell sein Buch „The Back Pain Revo-lution/Die Rückenschmerzen-Revolution“, in dem ergleich mit mehreren Mythen der angeblich so erfolg-reichen Rückenoperationen aufräumte und ein Um-denken der Fachkollegen forderte. Waddell konntenicht nur zeigen, dass die Bandscheiben nur in denwestlichen Ländern zur Spielwiese der Chirurgie wur-den. Er wies auch nach, dass etwa 90 Prozent der Ein-
griffe auf einer mehr als unsicheren Diagnose basier-ten und eine Operation gar nicht angezeigt war. In denFokus seiner Kritik setzte er aber auch das Zusam-menspiel von Arzt und Patient – für ihn spielen sie einSchmerzspiel: Patient und Arzt werfen sich dabeigegenseitig die Bälle zu. Der Patient verlangt dieschnelle Heilung von den unerträglichen Schmerzen,der Arzt antwortet mit der breiten Auswahl der OP-Methoden und Möglichkeiten. Beide starren gebanntauf die Kernspinbilder, die eine kaputte Bandscheibezeigen. So ist der Schuldige – in diesem Fall dieBandscheibe – schnell gefunden und eine Operationerscheint unvermeidlich.
Ein buntes Angebot: Operations-Techniken
für die Bandscheibe
Operation mit Erhalt oder Festigung der Bandscheibe
Chemonukleose
In die Bandscheibe wird ein Enzym aus der tropischenFrucht Papaya gespritzt (Chymopapain). Es löst denBandscheibenkern auf, die Flüssigkeit wird abgesaugt.Jetzt drückt nicht mehr so viel Masse über denFaserring nach außen auf den Nerv, die Schmerzen las-sen nach. Diese Methode kann nur einmal und nur beiintaktem Faserring angewendet werden.
Epidurale Kathetertechnik
Über einen Zugang am unteren Ende der Wirbelsäulewird ein dünner Schlauch bis zur geschädigten Band-scheibe geschoben. Dann injiziert der Arzt eine hoch-prozentige Salzlösung in den Wirbel, die die Band-scheibe buchstäblich auslaugt. Gleichzeitig verabreich-te Enzyme lassen das Gewebe noch mehr abschwel-len. Das Verfahren ist eine reine Schmerztherapie, dieselten länger als ein Jahr anhält. Der Schlauch bringtaber auch das Risiko von Entzündungen mit sich, denner liegt bis zu drei Tagen im Rücken.
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Endoskopische Verfahren/Minimal-Invasive Operation
Der Eingriff erfolgt über das Zwischenwirbelloch, dasdie Rückenmarksnerven aus dem Wirbelkörper austre-ten lässt. Dann räumt der Chirurg das Vorfall-Gewebeaus, dazu gibt es verschiedenen Methoden.
Hydrojetnukleotomie
Der Arzt führt eine Hohlnadel in den Wirbel ein undwäscht unter Druck (40bar) Material aus dem Band-scheibenkern aus. Den Eingriff beobachtet er am Bild-schirm (mit einem Computertomographen).
Mikrolaser
Mit dem Laserlicht kann man Vorfallgewebe schrump-fen lassen, Schmerznerven ausschalten und kleinereEinrisse im Faserring verschließen. Bei der Nukleo-pastie werden zwei Laser in die Bandscheibe geführt:der erste verdunstet das Gewebe, der zweite schließtbeim Zurückziehen das Loch. Der Laser kann nur ein-gesetzt werden, wenn der Faserrring intakt ist.
Mikrochirurgie
Unter Vollnarkose und unter einem OP-Mikroskop wirddie eingeengte Nervenwurzel befreit, Vorfallgewebeund verschlissene Bandscheibenanteile werden ent-fernt.
Versteifungsoperation
Schmerzende Bandscheiben und Wirbel werden mitkörpereigenem Material und/oder mit Schrauben,Platten oder Käfigen fixiert. Diese Operation ist sozu-sagen der letzte Ausweg und mit heftigen Nachteilenverbunden: angrenzende Wirbel werden verstärkt be-lastet und lösen Folgebeschwerden aus, die Beweg-lichkeit ist eingeschränkt, dazu drohen Nerv- undGefäßverletzungen bei der Operation.
Ersatz der Bandscheibe oder Bandscheibenprothetik
Bandscheibenprothesen aus Titan oder Kunststoff
Die Implantate werden erst seit etwa 2002 eingesetzt,Langzeitstudien über ihre Verträglichkeit gibt es nochnicht. Ebenfalls aus Kunststoff oder Titan sind Prothe-sen, die über zwei Wirbel eingesetzt werden können.
Gel-Kissen als Bandscheibenprothese
(PDN – Prothetic-Disc-Nucleus)
Ein genau berechnetes Gelkissen wird mit minimalenSchnitten oder per Endoskop zwischen die Wirbelgesetzt. Die Wirbelgelenke dürfen dabei noch nichtgeschädigt sein. Langzeiterfahrungen fehlen auch hier,im schlimmsten Fall kann sich das Implantat verschie-ben.
Bandscheiben aus körpereigenem Material
Diese Technik gilt heute als „historisch“ und wird nurnoch selten angewandt: Die Bandscheibe wird ausge-räumt und mit aus dem Beckenkamm entnommenenBeckenknochenspan ausgefüllt. (wird auch mit Kno-chenzement gemacht). Der Wirbel ist dann versteift.Diese Methode bringt einige Komplikationen mit sich:Bewegungseinschränkung, Nichtanheilen und/oderVerschieben der eingelagerten Knochenspäne.
Ein Ende der Schmerzen – ganz spontan
Dass in der Vergangenheit viel zu schnell und viel zuoft operiert wurde, sagt auch der Chirurg Dr. HorstDekkers, der sich an der Münchner Alpha Klinik aufOperationen an Bandscheibe und Wirbelsäule speziali-siert hat. „Höchstens 10 Prozent aller Rückenpatientenmüssen operiert werden“, sagt er im WDR-Interview,„und auch nur dann, wenn die Diagnose eindeutig undalle anderen Ursachen ausgeschlossen sind.” Schließ-lich verschwinden bei 90 Prozent aller Patienten dieSchmerzen nach spätestens 6 Wochen ganz von selbst– ohne Operation.
Endoskopische Bandscheiben-
operation an der Alpha Klinik
München. Dr. Dekkers versucht
mit dieser Methode den Nerven-
strang in der Wirbelsäule
möglichst schonend zu umge-
hen
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Rückenschmerzen: sanfteMethoden
Den Rücken als Ganzes sehen
Eine bittere Pille für die Ärzte: Bei Rückenschmerzenhaben die meisten der bisher angebotenen Opera-tions- und Therapiemethoden wenig Aussicht aufdauerhaften Erfolg. Einige Mediziner denken deshalbum – die schnelle Operation der Bandscheibe ist aneinigen Rücken-Zentren heute verpönt. Die Chirurgenund Orthopäden versuchen, das menschliche Rückgratals Ganzes zu verstehen und den verengten Blick aufden chirurgischen Eingriff abzulegen.
„Wir operieren keine Bilder“, sagen Mediziner wieDietrich Grönemeyer, Radiologe und Chef des Institutsfür Mikrotherapie der Universität Witten/Herdecke. Inden OP-Sälen an Grönemeyers Institut kommt mo-dernste Technik zum Einsatz. Mit winzigen chirurgischenInstrumenten – daher die Bezeichnung Mikrotherapie –werden die Eingriffe weitgehend schmerzlos durchge-führt, die kleinen Schnitte lassen kaum Blut fließen.
Die Patienten müssen auch Verantwortung
übernehmen
Doch die Operation liegt für Grönemeyer längst nichtmehr im Zentrum einer umfassenden Therapie. Er for-dert seine Patienten zur aktiven Mithilfe auf: Bewe-gung, Rückentraining, Stressabbau und die Suche nachseelischem Gleichgewicht gelten als unabdingbareEigenleistungen der Patienten, wenn sie gesund wer-den wollen. Mit dem neuen medizinischen Blick aufden Rücken haben sich an einigen Rückenzentren auchdie Therapieformen verändert. Immer öfter werdenPsychologen und Psychotherapeuten zur Behandlungder Ursachen hinzugezogen weil Rückenschmerzen oftpsychisch bedingt sind. Auch die so genannte manuel-le Medizin wird immer öfter angeboten. Neben derChiropraktik ist das vor allem die Osteopathie.
Prof. Dietrich Grönemeyer
kombiniert an seinem Institut
für Mikrotherapie die
High-Tech Medizin mit
Naturheilkunde
Bei der Mikrotherapie arbeiten
die Ärzte mit winzigen Instru-
menten und unter dauernder
Kontrolle durch einen Compu-
tertomographen
Knochen mit den Händen heilen
Die Osteopathie ist eine Form der manuellen Medizin,die in jüngster Zeit verstärkt zur Schmerzbehandlungeingesetzt wird. Begründet wurde sie von dem ameri-kanischen Arzt Andrew Taylor Still (1828-1917). Er hatbei seinen Patienten festgestellt, dass bereits kleinsteVeränderungen an Knochen, Gelenken oder Muskelnden gesamten Organismus beeinflussen können. ImNormalfall – davon war Still überzeugt – könnenSelbstheilungskräfte des Körpers mit den Störungenfertig werden. Wenn das aber nicht mehr gelingt, kannnach Still ein geschulter Mediziner durch einen geziel-ten Reiz von außen diese Selbstheilungskräfte wiederin Gang setzen. Die Osteopathie arbeitet ähnlich wiedie Chiropraktik – allerdings werden die Druck- undHebelwirkungen sanfter und vorsichtiger eingesetzt.
Schmerzen kommen manchmal ganz woanders her
Die Aktivierung der körpereigenen Selbstheilungskräfteist aber nur ein Teil der osteopathischen Behandlung.Nicht nur Knochen und Gelenke werden behandelt,sondern auch das Bindegewebe sowie die Funktions-kreisläufe von Organen. Dabei kommen die Osteo-pathen manchmal zu verblüffenden Erkenntnissen,wenn sie die Ursache für Rückenschmerzen nicht ander Wirbelsäule oder den Bandscheiben sondern ganzwoanders finden. Vor einer Behandlung wird bei derOsteopathie eine eingehende Schmerzanalyse durch-geführt. Einziges Diagnose-Instrument sind die Hände.Er könne mit seinen Händen zwar nicht feststellen,woran ein erkranktes Organ, wie etwa die Niere, leidet,sagt der Osteopath Robert Vanderborcht im WDR-Interview, „ich kann aber feststellen, dass eine Stö-rung vorliegt, die sich dann an ganz anderer Stelle amRücken bemerkbar macht.“
Bei der Osteopathie werden zur
Diagnose und zur Therapie aus-
schließlich die Hände eingesetzt
Die Osteopathie kommt manchmal
zu verblüffenden Ergebnissen –
wenn sie die Ursache für Rücken-
schmerzen in anderen Organen
wie den Nieren findet
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Sanfter Druck aktiviert Nerven und
Selbstheilungskräfte
Der Osteopath versucht nach seiner Diagnose, mitDruck von außen Bewegungsreize zu setzen, Gelenkeund Kapseln beweglich zu machen, die Muskeln zuaktivieren und Verspannungen zu lösen. Die Osteo-pathie wirkt, wie die gesamte manuelle Medizin – sodie Theorie – auf die körpereigenen Systeme derSchmerzlinderung: So gibt es zum Beispiel bestimm-te Nerven, die die Aktivität anderer Nerven koordi-nieren können, so genannte Interneurone. Sie könnenmit Massagen, Bewegungstherapie und einem großenTeil der osteopathischen Techniken dazu gebrachtwerden, schmerzstillend auf die anderen Nerven ein-zuwirken. Dazu produziert der Körper verschiedenechemische Botenstoffe, die in ihrer WirkungRauschmitteln gleichen und Schmerz dämpfen. Siesollen durch Akupunktur, Kältereize und Ausdauer-training beeinflusst werden. Einen weiteren schmerz-lindernden Effekt hat eine Art von Nerven, die denBotenstoff Serotonin abgeben. Serotonin kann eben-falls den Schmerz abklingen lassen. Diese Nervensollen bei einfacher Berührung aktiv werden. Dassder Osteopath aber nicht nur die körperlichenStörungen als Ursache für Schmerzen an der Wirbel-säule in Betracht zu ziehen hat, steht für RobertVanderborcht fest. Schließlich haben auch sozialeFaktoren, Stress und Misserfolge Einfluss auf die kör-pereigene Schmerzlinderung. Eine Therapie derRückenschmerzen muss für ihn deshalb fast immerauch Beruf und soziales Umfeld einbeziehen.
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In diesem Lehrbuch werden sämtliche Strukturen desBewegungsapparates genau erklärt, ihre Funktion undauch die kindliche Entwicklung dargestellt. Das ganzeist mit fantastischen Zeichnungen von anatomischenPräparaten im Detail und in der Übersicht bebildert.Allerdings liegt hier der Fokus auf dem „gesunden“Rücken, krankhafte Veränderungen werden allenfallsangerissen. Leider sehr sehr medizinisch und auchnicht gerade billig.
Sehr nett, weil einfach beschrieben
Ein gut verständliches allgemeines Biologiebuch, unteranderem mit Informationen zur Entwicklung derWirbelsäule.
Der Evolutionsbiologe Carsten Niemitz beschreibt ver-ständlich und unterhaltsam die Entstehung des auf-rechten Ganges.
Die Autoren animieren Rückenpatienten zur aktivenMithilfe: Bewegung, Rückentraining, Stressabbauund die Suche nach seelischem Gleichgewichtgelten als unabdingbare Eigenleistungen, umgesund zu werden.
Gordon Waddell räumt in seinem Buch gleich mitmehreren Mythen der angeblich so erfolgreichenRückenoperationen auf und fordert ein Umdenkender Fachkollegen.
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ken Lehrbuch „Anatomie des Menschen –
Bewegungsapparat (Teil 1)“
Autor: Rauber und KopschVerlagsangaben: Thieme-Verlag, ISBN 3-13-503301-5
Das Rückenbuch
Autor: P. NilgesVerlagsangaben: DRK-Schmerz-Zentrum Mainz, 2000,ISBN 3-9807132-2-9Sonstiges: ca. 2,00 EuroBezugsadresse:DRK-Schmerz-Zentrum MainzAuf der Steig 14-1655131 Mainz
Biologie
Autor: Neil A. Campbell, Jane B. ReeceVerlagsangaben: ISBN 3131099011, erschienen 1994Sonstiges: 29,95 Euro, 421 Seiten
Das Geheimnis des aufrechten Ganges
Autor: Carsten NiemitzVerlagsangaben: C.H.Beck, ISBN 3-40651606-8Sonstiges: 256 Seiten, Preis 22,90 Euro
Mein Rückenbuch - Das sanfte Programm zwischen
High Tech und Naturheilkunde
Autoren: Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, Dr. PetraThorbrietzVerlagsangaben: Zabert Sandmann, München 2004,ISBN 3-89883-101-9Sonstiges: Preis 19,95 Euro
The Back Pain Revolution
Autor: Gordon WaddellVerlagsangaben: Churchill Livingstone, März 2004,ISBN: 0443072272Sonstiges: 475 Seiten, Preis: 77,50 Euro, Sprache:Englisch, gebundene Ausgabe
Lesetipps
Weitergehende Informationen zu diesem
Thema, finden Sie auf unserer Homepage:
www.quarks.de
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