Post on 28-Jul-2018
transcript
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 1
Vorlesung „Philosophische Anthropologie“: WS 2009/10 – PD Dr. Dirk Solies
Begleitendes Thesenpapier – nur für Studierende gedacht!
Georg Simmel – Biographie (Quelle: http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/SimmelGeorg/index.html - gekürzt)
1858: Georg Simmel wird in Berlin als jüngstes von sieben Kindern des Fabrikanten Edward Simmel und dessen Frau Flora (geb. Bodenstein) geboren. Edward Simmel stammt aus einer jüdischen Familie und ist zum Katholizismus konvertiert. Flora Bodensteins Familie ist vom Judentum zum Protestantismus übergetreten. Georg Simmel wird evangelisch getauft. Simmels erste Promotionsschrift "Psychologisch-ethnologische Studien über die Anfänge der Musik" abgelehnt. Stattdessen mit "Darstellung und Beurteilungen von Kants verschiedenen Ansichten über das Wesen der Materie" promoviert 1885 Habilitation, Privatdozent in Berlin
1894: "Das Problem der Soziologie": Programm der Soziologie als selbständiger Wissenschaft. 1898: Der Antrag auf Erteilung eines Extraordinariats scheitert (Antisemitismus, Außenseiterposition)
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 2
1900: Der zweite Antrag auf Erteilung eines Extraordinariats angenommen. "Philosophie des Geldes". 1903 "Die Großstädte und das Geistesleben" 1908: Die Philosophische Fakultät der Heidelberger Universität will eine vakante Professur mit Simmel besetzen. Auch Max Weber setzt sich für ihn ein. Die Regierung in Karlsruhe lehnt jedoch ab, nachdem der im Alldeutschen Verband engagierte Berliner Historiker Dietrich Schäfer (1845-1929) in einem Gutachten Simmel als "Israelit durch und durch" verunglimpft und der Soziologie den Rang als Wissenschaft bestreitet. "Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung": Mikrosoziologie 1911: Die Fakultät für Staatswissenschaften der Freiburger Universität verleiht Simmel die Ehrendoktorwürde. 1914: Simmel erhält einen Lehrstuhl an der Straßburger Universität (heute: Strasbourg, Frankreich). Im I. WK nähert er sich nationalistischen Positionen an und verleiht einem weitverbreiteten Unbehagen an der Kultur Ausdruck. Simmel hofft, der Krieg werde "die Anbetung des Geldes und des Geldwertes der Dinge" überwinden und die "Einheit und Ganzheit" des Volkes festigen. 1918: 26. September: Georg Simmel stirbt in Straßburg. „Lebensanschauung“
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 3
Simmels Werk: Grobperiodisierung (1) 18791 bis 1900 Geschichts- und Moralwissenschaft:
a. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892) b. Einleitung in die Moralwissenschaft (1892-93). c. Aber: 1905 und 1907 völlig überarbeitete Neuaufl. der Geschichtsphilosophie, d. Fragen der Moralwissenschaft auch nach 1900 relevant.2
(2) 1894 – 1908 soziologischer Schwerpunkt a. Das Problem der Soziologie, GSG 5 b. Soziologie, GSG 11 c. Auch nach 1908 noch Aufsätze mit explizit mikrosoziologischer Themenstellung: Die
Soziologie der Mahlzeit und die Soziologie der Geselligkeit (beide 1910) und Über Takt; Soziologie der Geselligkeit (1912, alle GSG 12).
d. Soziologische Fragestellung der Frühzeit sukzessive durch das Projekt einer Philosophie der Kultur auf der Basis des Lebensbegriffes abgelöst.
(3) Lebensbegriff nach 1908, z. T. auch in ästhetischen Einzelanalysen a. Über den Schauspieler; Aus einer ‚Philosophie der Kunst’ (1909) und Michelangelo;
Ein Kapitel zu einer Metaphysik der Kultur (1910),
1 Bereits 1879 erscheinen erste Rezensionen von Simmel (in: GSG 1). 2 Vgl. Ü b e r G o e t h e s u n d K a n t s m o r a l i s c h e W e l t a n s c h a u u n g (1908), in: GSG 8, sowie N i e t z s c h e s M o r a l (1911), in: GSG 12.
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 4
b. Rembrandt; ein kunstphilosophischer Versuch (1916): innerer Zusammenhang von Ästhetik und Lebensphilosophie. ‚Leben’ als idealer Fluchtpunkt, in dem alle die kulturellen Gegensätze und Antinomien in ihrer Tragik vermittelt erscheinen.
c. Lebensanschauung ► Frage nach Simmel als Lebensphilosophie: Notwendigkeit, das simmelsche Werk „von hinten“ zu lesen
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 5
VB. Zur methodischen Rolle der Ästhetik
Das Wesen der ästhetischen Betrachtung liegt für uns darin, daß in dem Einzelnen der Typus, in dem
Zufälligen das Gesetz, in dem Aeußerlichen und Flüchtigen das Wesen und die Bedeutung der Dinge
hervortreten [...] In das Gleichgiltigste [sic], das uns in seiner isolirten Erscheinung banal oder
abstoßend ist, brauchen wir uns nur tief und liebevoll genug zu versenken, um auch Dies als Strahl
und Wort der letzten Einheit der Dinge zu empfinden, aus der ihnen Schönheit und Sinn quillt. [...]
Wenn wir diese Möglichkeit ästhetischer Vertiefung zu Ende denken, so giebt es in den
Schönheitswerten der Dinge keine Unterschiede mehr. Die Weltanschauung wird ästhetischer
Pantheismus.3
Nicht welt- und realitätsflüchtiger Ästhetizismus,4 sondern philosophische Prinzipialisierung:
Simmels ästhetische Detailanalysen5 als Lebensweltanalysen:
moderne Mensch steht im Zentrum
philosophische, genauer gesagt metaphysische Theorie der Kultur in der Krise
Simmels Anthropologie sieht den Menschen innherhalb dieser Kultur, in einem ambivalent-
kritischen Kulturverhältnis: Chance und Risiko
3 GSG 5, 198f. 4 Z. B. Hübner-Funk (1982) und Lieber (1974). Zur kritischen Diskussion dieses Ästhetizismus-Vorwurfes vgl. Solies (1998: 186-192). 5 Vgl. seine Aufsätze D e r H e n k e l ; e i n ä s t h e t i s c h e r V e r s u c h (1905, GSG 7) sowie B r ü c k e u n d T ü r (1909), GSG 12.
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 6
Grenzbestimmtheit des Lebens:
Von dem Sonnenspektrum ist uns, was jenseits des Rot und des Violett liegt, optisch
überhaupt nicht zugänglich usw. Unser Vorstellen und primäres Erkennen schneidet
eben aus der unendlichen Fülle des Wirklichen und seinen unendlichen
Auffassungsmöglichkeiten Bezirke heraus, wahrscheinlich so, daß die damit umgrenzte
Größe als Grundlage unserer praktischen Verhaltungsweisen ausreicht.6
Wahrnehmungsfenster menschlicher Existenz durch pragmatisch-existentielle
Verweisungszusammenhänge charakterisiert
Entgrenzung: Durch Mikroskop und Teleskop Überwindung großer Distanzen zwischen
Mensch und Welt: „aber sie [die Distanzen, D. S.] sind doch für das Bewußtsein erst in
dem Augenblick entstanden, in dem es sie auch überwand“.7
6 L e b e n s a n s c h a u u n g . V i e r m e t a p h y s i s c h e K a p i t e l (GSG 16, 4). 7 GSG 6, 662.
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 7
Begrenztheit (naturwissenschaftlich) als Grundbestimmung des Lebendigen
Unser konkretes, unmittelbares Leben setzt einen Bezirk, der zwischen einer oberen und
einer unteren Grenze liegt; das Bewußtsein aber, die Rechenschaft hierüber, hängt
daran, daß das Leben, zu einem abstrakten, weitergreifenden werdend, die Grenze
hinausrückt oder überfliegt und sie damit als Grenze konstatiert.8
„Grenzscharakter unserer Existenz“:9
Wahrnehmungsfenster
Schachspieler-Beispiel
Grenze wird durch Erkenntnis festgestellt, d.h. konstatiert und transzendiert
8 L e b e n s a n s c h a u u n g , GSG 16, 214f. 9 L e b e n s a n s c h a u u n g , GSG 16, 213.
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 8
Leben als
„Mehr-Leben“ und zugleich
„Mehr-als-Leben“
Wie das Leben auf seiner physiologischen Stufe ein fortwährendes Erzeugen ist, so daß,
mit komprimiertem Ausdruck, Leben immer Mehr-Leben ist –, so erzeugt es auf der Stufe
des Geistes etwas, das Mehr-als-Leben ist: das Objektive, das Gebilde, das in sich
Bedeutsame und Gültige.10
Umschlag von der reinen Dynamik (Mehr-Leben) zur Transzendenz (Mehr-als-Leben)
„Darstellungszwang“ des Lebens:
L. genügt sich nicht in der reinen Dynamik des Mehr, es muss sich selbst auf die Weise
der Transzendenz darstellen
Keine akzidentelle, sondern substantielle Bestimmung geistigen Lebens
10 L e b e n s a n s c h a u u n g , GSG 16, 295.
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 9
Simmels Baumbeispiel:11
Baum Gartenobstbaum: Kultivierung
Baum Segelmast: Zweckarbeit, Kultivierung
Kultur als Kultivierungsvollzug
„Entwicklung zu einer Erscheinung hin [...], die in den Keimkräften einer
Persönlichkeit angelegt [...] ist.“
11 Simmel, BTK 197
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 10
Fragmentarität der (modernen) Existenz:
Wir wandeln in uns selbst als die einzige Wirklichkeit in einem Schattenreiche
unerlöster Möglichkeiten unser selbst, die nur nicht zu Worte gekommen, aber
keineswegs nichts sind.12
Kultur realisiert Möglichkeiten
Notwendigkeit dieser Realisierung: Selbstausdruck der Idee
Ambivalenz: Objektivierung – Entfremdung:
Sobald unser Werk dasteht, hat es nicht nur eine objektive Existenz und ein Eigenleben,
die sich von uns gelöst haben, sondern es enthält in diesem Selbstsein - wie von Gnaden
des objektiven Geistes - Stärken und Schwächen, Bestandteile und Bedeutsamkeiten, an
denen wir ganz unschuldig sind und von denen wir selbst oft überrascht werden.13
Entfremdung bereits im Kulturprozess angelegt: „Tragödie“ der Kultur
objektiver Geist entfremdet
12 Leb 117 13 BTK 213
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 11
Fragmentarität des Kulturprozesses:
Kein einziger, in die Formulierbarkeit des Bewußtseins aufgestiegener Inhalt nimmt den
seelischen Prozeß ganz in sich auf; ein jeder läßt einen Rest Leben hinter sich, der
gleichsam an die von jenem abgeschlossene Tür klopft.14
Unvollständigkeit der modernen Existenz
als Motor der Kultur!
Mode als Hunger nach Gegenwart:
Das Wesen der Mode besteht darin, daß immer nur ein Teil der Gruppe sie übt, die
Gesamtheit aber sich erst auf dem Wege zu ihr befindet.15
► Typen:
o Modenarr
o Avantgardist
o Modeverweigerer
o Sprachmoden
Der Wechsel der Moden zeigt das Maß der Abstumpfbarkeit der Nervenreize an; je
nervöser ein Zeitalter ist, desto rascher werden seine Moden wechseln [...]16 14 Leb 116 15 Mode 16 16 Mode 15f.
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 12
Intellekt und Geld – eine Strukturanalogie
Der Intellekt, seinem reinen Begriff nach, ist absolut charakterlos, nicht im Sinne des
Mangels einer eigentlich erforderlichen Qualität, sondern weil er ganz jenseits der
auswählenden Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht. Eben dies ist ersichtlich auch
die Charakterlosigkeit des Geldes.17
17 PHG 595; vgl. auch PHG 273 - Diese Charakterlosigkeit läßt sich wertungsfreier als Indifferenz ausdrücken: vgl. dazu Müller, L. (1988: 22).
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 13
Mode und moderne „Nervosität“:
Der Wechsel der Moden zeigt das Maß der Abstumpfbarkeit der Nervenreize an; je
nervöser ein Zeitalter ist, desto rascher werden seine Moden wechseln, weil das
Bedürfnis nach Unterschiedsreizen, einer der wesentlichsten Träger aller Mode, mit
der Erschlaffung der Nervenenergien Hand in Hand geht.18
Psychologische Erklärung der Mode, metaphysisch gewendet und vertieft:
„Nervosität“ als kulturphilosophische Diagnose
Mode aus Aufmerksamkeitsdefizit erklärt
18 Mode 15f.
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 14
Siglen der Moderne als Kompensationsformen:
Ich glaube, daß diese heimliche Unruhe, dies ratlose Drängen unter der Schwelle des
Bewußtseins [...] nicht nur der äußeren Hast und Aufgeregtheit des modernen Lebens
entstammt, sondern daß umgekehrt diese vielfach der Ausdruck, die Erscheinung, die
Entladung jenes innersten Zustandes ist. Der Mangel an Definitivem im Zentrum der
Seele treibt dazu, in immer neuen Anregungen, Sensationen, äußeren Aktivitäten eine
momentane Befriedigung zu suchen; so verstrickt uns dieser erst seinerseits in die
wirre Halt- und Rastlosigkeit, die sich bald als Tumult der Großstadt, bald als
Reisemanie, bald als die wilde Jagd der Konkurrenz, bald als die spezifisch moderne
Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen, der
Beziehungen offenbart.19
19 PHG 675
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 15
Wahrnehmung und Kompensation:
Es ist von einer noch gar nicht genug beachteten Bedeutung für die soziale Kultur, daß
mit der sich verfeinernden Zivilisation offenbar die eigentliche Wahrnehmungsschärfe
aller Sinne sinkt, dagegen ihre Lust- und Unlustbetonung steigt. [...] Der moderne
Mensch wird von Unzähligem chokiert, Unzähliges erscheint ihm sinnlich
unaushaltbar, was undifferenziertere, robustere, Empfindungsweisen ohne irgend
eine Reaktion dieser Art hinnehmen.20
Neurasthenie und Schockdiskurs21
Wiederaufnahme bei Benjamin in Anschl. an Baudelaire
Suche nach Schock als Signum der Moderne
20 SozSin 290 21 Damit greift er einen Begriff des amerikanischen Neurologen George Miller Beard auf. Durch Beards Aufsatz von 1869, „Neurasthenia or nervous exhaustion“, wurde der Begriff
erstmals in die Diskussion eingeführt21. Bekannt wurde dieser aber erst durch die Monographie „A practical treatise on nervous exhaustion (neurasthenia)“, die 1880
herausgegeben wurde und ab 1881 in deutscher Übersetzung vorlag.
Hieran schloß sich eine lebhafte Diskussion über Symptome und Ursachen dieses neuen Krankheitsbildes an, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Wesentlich für die
Verwendung des Begriffs bei Simmel ist hier nur, daß im Verlauf der psychiatrischen Diskussion (Binswanger, Krafft-Ebing) der Begriff Neurasthenie im Verhältnis zur Nervosität so
gefaßt wurde, daß man im folgenden unter konstitutioneller Nervosität die auf krankhafter nervöser Anlage beruhenden Krankheiten unterschied und unter Neurasthenie im
eigentlichen Sinne die „erworbenen, auf (chronischer) Erschöpfung beruhenden Formen gefaßt werden“21.
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 16
Die modernen Ambivalenzen der Distanzierung:
Die Verhältnisse des modernen Menschen zu seinen Umgebungen entwickeln sich im
ganzen so, daß er seinen nächsten Kreisen ferner rückt, um sich den ferneren mehr zu
nähern. Die wachsende Lockerung des Familienzusammenhanges, das Gefühl
unerträglicher Enge im Gebundensein an den nächsten Kreis, dem gegenüber Hingebung
oft ebenso tragisch verläuft wie Befreiung, die steigende Betonung der Individualität,
die sich gerade von der unmittelbaren Umgebung am schärfsten abhebt - diese ganze
Distanzierung geht Hand in Hand mit der Knüpfung von Beziehungen zu dem Fernsten,
mit dem Interessiert-sein für weit Entlegenes, mit der Gedankengemeinschaft mit
Kreisen, deren Verbindung alle räumliche Nähe ersetzt. Das Gesamtbild aus alledem
bedeutet doch ein Distanznehmen in den eigentlich innerlichen Beziehungen, ein
Distanzverringern in den mehr äußerlichen.22
Entfremdung und Annäherung
Nähe unerträglich
Unerfülltheit der modernen Existenz
22 PHG 663
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 17
Großstadt und „Neurasthenie“:
Im allgemeinen wird mit steigender Kultur die Fernwirkung der Sinne schwächer, ihre
Nahwirkung stärker, wir werden nicht nur kurzsichtig, sondern überhaupt kurzsinnig; aber
auf diese kürzeren Distanzen hin werden wir um so sensibler.23
► Wahrnehmungsschärfe aller Sinne sinkt, Lust- und Unlustbetonung steigt
23 SozSin 290f. [Hervorhebung hinzugefügt]
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 18
Blasiertheit und der moderne Hunger nach Gegenwart
Wie ein maßloses Genußleben blasiert macht, weil es die Nerven so lange zu ihren
stärksten Reaktionen aufregt, bis sie schließlich überhaupt keine Reaktion mehr hergeben
- so zwingen ihnen auch harmlosere Eindrücke durch die Raschheit und Gegensätzlichkeit
ihres Wechsels so gewaltsame Antworten ab, reißen sie so brutal hin und her, daß sie ihre
letzte Kraftreserve hergeben und, in dem gleichen Milieu verbleibend, keine Zeit haben,
eine neue zu sammeln. 24
► Zyniker: Lust an der Abwertung aller positiven Werte
► Blasierter:
o Mangel an „Lebensreizen“
o Verlust von Erlebnisfähigkeit
24 GG 232
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 19
Das Aneinander-Gedrängtsein und das bunte Durcheinander des großstädtischen Verkehrs wären ohne jene psychologische Distanzierung einfach unerträglich. Daß man sich mit einer so ungeheuren Zahl von Menschen so nahe auf den Leib rückt, [...] würde den modernen, sensiblen und nervösen Menschen völlig verzweifeln lassen, wenn nicht jene Objektivierung des Verkehrscharakters eine innere Grenze und Reserve mit sich brächte.25 Objektivierung als Distanzierung: Selbstschutz des modernen Individuums Großstadterleben als „Nahfremdheit“: …
25 PHG 665
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 20
Großstadterleben als „Nahfremdheit“:
Die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, daß der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, daß der Ferne nah ist. Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform; die Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremd - dies wenigstens nicht in dem soziologisch in Betracht kommenden Sinne des Wortes -, sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie stehen jenseits von Fern und Nah.26
Ambivalenzen der Distanzierung „Exkurs über den Fremden“ (Soziologie)
26 Soz 765
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 21
Porträt (bes. Rembrandts):
Darstellung der „transphänomenale[n] Wesensintuition“27 der Erscheinung des Menschen
► Der Andere als „Totalexistenz“:
► Das Du zugleich näher und ferner als „Bäume und Wolken“: „Kurz, das Du ist
wahrscheinlich eine ganz primäre, nicht weiter zurückführbare, nur unmittelbar zu
erlebende Kategorie“.28
► Phänomen des Schauspielers
„Wie es das Wesen des Lebens ist, in jedem Augenblick ganz da zu sein, [...] so ist es das
Wesen der Rembrandtschen Ausdrucksbewegung, das ganze Nacheinander ihrer Momente
in der Einmaligkeit eines einzelnen fühlen zu lassen [...].“29
27 Rem 35 28 Rem 26 29 Rem 3
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 22
„Zwei Erfassungen des Lebens“
► Psychologisch:
o Kenntnis aus Begriffen, die ich bereits mitbringe
o Typik
► Der Andere als Individualität:
Von diesem unmittelbaren Wissen ist das erste Stadium schon in dem Augenblick
gewonnen, in dem - kurz ausgedrückt - der Mensch ins Zimmer tritt. Wir wissen in diesem
ersten Augenblick nicht dies und das, keine jener angedeuteten Kategorien von ihm, aber
doch unendlich viel mehr, sein Unverwechselbares. Die körperliche Unverwechselbarkeit, an
diese erste Gegenwart geheftet, ist davon ein Symbol und vielleicht mehr als ein Symbol.30
30 Rem 84 - aus demselben Grund verwirft Simmel auch den Psychologismus als hermeneutische Methode der Textinterpretation, wie er in der
Einleitung seines „Kant“-Buches ausführt.
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 23
► Simmels ästhetische Kritik an der kategorialen Trennung Leib-Seele:
Es ist wohl eine durchgehende Erfahrung, daß je tiefer wir die Individualität eines Menschen
erfassen, sein Äußeres und Inneres um so unscheidbarer für uns zusammengehen, um so
weniger auseinandergedacht werden können.31
► Das Gesicht als Ort der Erkenntnis
► Ästhetische Bedeutung des Gesichts:
Das Gesicht, als Ausdrucksorgan betrachtet, ist sozusagen ganz theoretischen Wesens, es
handelt nicht, wie die Hand, wie der Fuß, wie der ganze Körper; es trägt nicht das innerliche
oder praktische Verhalten des Menschen, sondern es erzählt nur von ihm.32
31 Rem 39 32 Soz 485
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 24
Das Gefüge des Gesichts macht solche Zentrifugalität, d. h. Entgeistigung, von vornherein
fast unmöglich. Wo sie einigermaßen stattfindet, beim Aufsperren des Mundes und dem
Aufreißen der Augen, ist sie nicht nur ganz besonders unästhetisch, sondern gerade diese
beiden Bewegungen sind, wie nun begreiflich ist, der Ausdruck des „Entgeistertseins“, der
seelischen Lähmung, des momentanen Verlustes der geistigen Herrschaft über uns selbst.33
► Die Erfassung des Anderen als Ausdruck einer Lebensgeschichte – diesem Ausdruck
genügt das Punktuelle des Moments:
Hier aber ist es, als wenn ein Mensch einen tiefsten Affekt, der ihn ganz durchschüttert,
aussprechen will: er braucht gar nicht den ganzen Satz zu sagen, der den Inhalt seiner
Bewegtheit logisch ausbreitet, da doch schon am ersten Worte der Stimmklang alles
offenbart.34
33 ÄBedGes 155 34 Rem 4