Post on 19-Mar-2016
description
transcript
125
F e s s le m i c h!
O l iv e r J a h n
Journalist und Chefredakteur von AD
JO
126
E r hat sie alle flachgelegt. So um die
8 000. Und das ist nur ein Teil seiner
Liebhabersammlung. Oliver Jahn,
Chefredakteur der Architektur- und
Kunstzeitschrift AD Architectural Digest,
lebt und arbeitet für die Schönheit. Er reist für ein groß-
artiges Haus ohne Zögern nach Feuerland, sieht auf den
wichtigsten Kunstausstellungen der Welt nach, ob sie
wirklich so wichtig sind, er kann die revolutionäre Form
eines Stahlrohrmöbels oder die marmorne Weichheit
eines Betonkubus’ bis ins Detail beschreiben. Sein tiefes
„Ich“ ist aber nicht der Jetsetter im Dienst der guten
Form, sondern das des Bücherliebhabers. Jahn besitzt
rund 15 000 Bände, und da er gerade in eine neue Woh-
nung gezogen ist, steht ein großer Teil seiner Bücher
nicht mit dem Rücken zum Betrachter im Regal, sondern
liegt auf der Seite und gibt den Blick auf die nackten
Schnitte frei. „Ich warte auf die neuen Regale des Schrei-
ners und das ist immer noch eine Zwischenlösung. Aber
sie gefällt mir gut und vielleicht lasse ich es so“, sagt der
41-Jährige. „Die meisten Bücher erkenne ich auch ohne
Einband. Und ich mache gerade lauter Ausgrabungen,
wie ein Archäologe.“
Jahn hat dieses intensive Körpergedächtnis für
Bücher, das bei vielen Bibliomanen so ausgeprägt ist.
Bücher sind in ihn eingeschrieben, in sein Denken, sein
Wesen, in seinen Körper. Literatur war in seiner Familie
immer Teil des Lebens, auf unangestrengte Weise, nicht
mit bildungsbürgerlichem Habitus. Die Mutter arbeitete
als Buchhändlerin, der Großvater als Schriftsetzer. Bei
den Großeltern lernte Oliver die Bände der Büchergilde
Gutenberg mit ihren Künstler-Illustrationen kennen. „Ich
war immer ein richtiger Bücher-Nerd, und während meine
Schulkameraden im Badischen an ihren Mofas rum-
schraubten, habe ich mich für Literatur und Design inter-
essiert. Auf dem Land musste man das eher geheim hal-
ten“, sagt er. An sein erstes Buch erinnert er sich sichtbar
wohlig: „Ich hatte die große Ausgabe von Eric Carles Die
Raupe Nimmersatt und fand es faszinierend, die Finger
in die Löcher der dicken Pappseiten zu stecken. Ich be-
kam das Buch jeden Tag vorgelesen, konnte alles aus-
wendig, las mit und schlug die Seiten im Takt um.“ Als er
schließlich selbst lesen konnte, holten er und seine bei-
den jüngeren Brüder wäschekorbweise Bücher aus der
Leihbibliothek, und bald hatte Oliver ein eigenes Bücher-
bord. Die erste eigene Leseinsel, von der aus das mani-
sche Sammeln begann: Er gab als Schüler sein ganzes
Taschengeld für Bücher aus, ackerte die zwölfbändige
Ich habe eIn
starkes physIsches
VerhältnIs zu
büchern. Ich mag es
nIcht, wenn man
Ihnen den rücken
brIcht.
„
„
Oliver Jahn
Rechts: Wohnzimmer eines Sammlers von
Mid-century-Objekten. Um den Tisch der
Architektin Katja Buchholz Stühle von
Charles Eames. Auf dem Sideboard aus den
1960ern zwei Collagen des Schriftstellers
Ror Wolf und das Coverplakat zum ersten
Tintin-Comic von Hergé von 1930.
127
128
129
Oliver Jahn
links: Auf dem Schreibtisch aus den
1950er Jahren zwei Bauhaus-Lampen, da-
vor ein Stahlrohrsessel der Firma Mauser.
Das gerahmte Foto zeigt den Dichter Arno
Schmidt in den 60ern auf dem Sprungturm
eines Freibads.
unten: Auf dem Rollen-Beistelltisch aus
den 1950ern liegen Exemplare aus Jahns
Sammlung der Zeitschrift Gebrauchsgra-
phik aus den 1920er Jahren.
Ganz unten: Bücherhimmel für jeden
Designliebhaber. Vor dem Regal zum The-
ma Mode ein Exemplar des Sessels Vostra
von Jens Risom mit original Vinylbezug.
130
Oliver Jahn
Meine Mutter
schlug drei Kreuze,
als ich zuhause
auszog. ich habe
in ihrer buch-
handlung auf das
MitarbeiterKonto
jahrelang an-
schreiben lassen.
„
„
oben: Ausgesuchte Abendlektüre, griff-
bereit auf der grünen tschechischen Stahl-
rohrgarderobe aus den 1930ern. Die
Vintage-Lampe stammt aus den 50ern.
links: Spielarten der Bücherliebe: Jahn
besitzt rund 1 000 Bände zu Themen wie
Bibliotheken, Büchersammler, die Ge-
schichte des Papiers, lesende Helden und
Bibliomane.
131
Shakespeare-Ausgabe durch, fuhr auf die Buchmessen
nach Frankfurt und Leipzig, besuchte Antiquariate und
kaufte Werkausgaben wie Wein – nach schönen Etiket-
ten. Heinrich von Kleist wurde in diesen Jahren zu sei-
nem Hausheiligen. „Kleists Prosatexte und die Zeitungs-
beiträge für die Berliner Abendblätter haben mich sehr
geprägt. Ich habe mich bis zum Uni-Examen viel mit ihm
beschäftigt.“
Jahn studierte Germanistik, Philosophie und
Sprachwissenschaft in Saarbrücken und Kiel. Zu seinem
großen Glück wurde er als Hilfskraft seines Kieler Philo-
sophieprofessors Chef der philosophischen Seminarbib-
oben: Vor dem Billy-Regal ein Ausstel-
lungsplakat des Designers Carlo Mollino,
den Jahn als Mann mit hoher Geschwindig-
keit und zugespitzter Eleganz in allen
Lebenslagen bewundert.
links: Rimini blu: Vier Keramikobjekte aus
der Kollektion von Aldo Londi.
132
liothek. „Ich konnte jeden Tag die Büchersammlung mit
50 000 Bänden aufschließen, es war fantastisch, so et-
was wie die schweinslederne Augustinus-Ausgabe aus
dem 16. Jahrhundert rauszuholen. Mit einem Freund ha-
be ich dort wie in einer Lesehöhle gelebt, wir hatten mit
einem Bibliothekar so eine Art ‚Club der toten Dichter‘,
haben Cordhosen und dicke Pullover getragen und uns
unsere Schätze gezeigt“, sagt er. Er kaufte pro Tag zwei,
drei neue Bücher, trug jeden Titel mit laufender Nummer
in ein Kassenbuch ein, führte außerdem ein Lesetage-
buch. Diese Gesten belächelt er heute. „Dieser heilige
Ernst ist mir fremd geworden. Aber die Lust ist immer
noch dieselbe wie früher.“ Seinen Namen schreibt er bis
heute mit einem feinen Bleistift in jeden Band. „Ich wollte
in Büchern immer meine Spur hinterlassen. Das Anver-
wandeln, Einverleiben, ein Ritual, die Inkorporation in den
Bibliothekskörper – das war und ist mir wichtig.“
Während des Studiums begann er Literaturkritiken
für die Kieler Nachrichten zu schreiben, wurde später
Feuilletonmitarbeiter der SZ und der Literarischen Welt.
2002 ging er als Arno-Schmidt-Spezialist zum Suhrkamp
Verlag, wechselte danach zur Kunstzeitschrift Monopol in
Berlin und entwickelte ein großes Faible für Möbel- und
Objektdesign des 20. Jahrhunderts; von dort wurde er
zu AD Architectural Digest abgeworben, seit 2011 ist er
Chef der Zeitschrift. „In der Redaktion lachen sie über
mich, weil ich meine Bücher hüte wie meine Augäpfel. Ich
setze Himmel und Hölle in Bewegung, wenn ich einen
vergriffenen Katalog oder ein seltenes Buch brauche. Ich
bin ein knallharter Jäger, rufe Kuratoren oder Direktoren
an“, gibt er zu. „Manchmal nehme ich mir lauter Bücher,
lege sie auf den Boden, setze mich zu ihnen und schaue
sie mir einfach an. Das ist eine selige Zeit. So wie früher
das Spielen mit meinen Matchbox-Autos.“
Oliver Jahn
133
Jahn sieht die schönsten Häuser der Welt. Wie wür-
den denn seine Bücher wohnen, wenn er ihnen ein Zu-
hause bauen könnte? „Das weiß ich genau“, sagt er und
man spürt, dass er schon oft darüber nachgedacht hat.
„Ich träume von einem Haus aus grauem, poliertem
Sichtbeton. Einer sechs Meter hohen Wohnhalle mit einer
Glaswand mit Blick in eine Berglandschaft wie auf den
Bildern von Claude Lorrain. Bunte skandinavische Teppi-
che, Fläz-Sofas und rötliche Teakholzmöbel. Und an drei
Seiten eine Bibliothek, in der meine 15 000 Bücher ste-
hen. Alle in bischofslila Leinen gebunden, Titel und Auto-
ren in silberner Prägung.“ Er sieht diese Bücherhalle als
moderne Nachfolgerin der traditionellen Fürstenbiblio-
thek. „Früher bekamen die Fürsten nur den Buchblock,
ließen alle Bücher in eigene Gewänder binden und versa-
hen sie mit ihren Wappen. Es war eine Art sich die Bü-
cher anzueignen. Das würde ich auch gerne tun.“
linke seite: Geometrische Farbkompositi-
on beim Blick vom Flur in die Küche.
Neben der Tür ein Regal mit der Reihe
Bibliothek Suhrkamp, in der legendären
Einbandgestaltung von Willy Fleckhaus.
oben: Teile von Jahns Sammlung von
Fifties-Geschirr aus der Melitta-Kollektion
Minden von Jupp Ernst auf einem Beistell-
tisch. Dahinter ein Schulstuhl von Karl
Nothelfer, beides aus den 50ern.
134
—Mein schönster erster satz: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegan-
gen.“ Aus Marcel Prousts Auf der Suche
nach der verlorenen Zeit.
Grandios ist auch der Satz: „Jakob ist
immer quer über die Gleise gegangen.“
Das ist aus Mutmaßungen über Jakob
von Uwe Johnson. Ich bin ein totaler Fan
von ersten Sätzen.
—Mein schönster letzter satz:Es ist der Schluss von Arno Schmidts
wunderbarer Sommer- und Liebesge-
schichte Seelandschaft mit Pocahontas,
die in den 1950er Jahren spielt. Nach
einigen glücklichen Ferientagen am
Dümmer verabschiedet sich die Frau
von dem Helden, mit dem sie ein paar
romantische Tage am See verbracht hat,
und steigt in den Bus, er bleibt zurück.
Und dann der Schlusssatz: „Mein Kopf
hing noch voll von ihren Kleidern und ich
antwortete nicht.“ So schön und so trau-
rig. Lesen Sie mal die Erzählung.
—ein Buch, das Mein leBen verändert hat: Wahrscheinlich die
Romane von Arno Schmidt. Ich habe sie
mit 17, 18 Jahren entdeckt. Sie sind vol-
ler Humor, mit einem starken Vibrato
und scharfzüngig. Sie sind recht kurz,
aber diese Gewalt! Diese präzise, bildrei-
che, anspielungsreiche Sprache geht in
den Händen los wie ein Feuerwerkskör-
per. Er gibt einem kleine Rätsel auf, die
man nicht immer entschlüsselt.
—ein Buch, das Mich einMal gerettet hat: Diese Idee ist für mich
zu weit gegriffen. Es gibt aber wichtige
Autoren, die mich lange begleiten wie
Heimito von Doderer und Marcel Proust.
Ich habe Auf der Suche nach der verlo-
renen Zeit dreimal gelesen, es hat mich
alle drei Male nicht gerettet, aber sie
sind ein Vademecum und in ihnen fühle
ich mich zuhause. Aber ich bin kein Es-
kapist, ich lebe sehr diesseitig, mag auch
Skifahren und Schuhe kaufen.
—ein Buch für stunden der MelanchOlie: In Stunden der Melan-
cholie lese ich keine Literatur, da schaue
ich mir meistens Kunstbücher an. Am
liebsten Claude Lorrain und Schweizer
Landschaftsmaler des 18. Jahrhunderts.
Da geht es entweder um die Idylle oder
die landschaftliche Überwältigung des
Menschen. Das beruhigt mich.
JO
Oliver Jahn
135
—ein KlassiKer, der Mich zu tOde langweilt: Ha! Der Nachsom-
mer von Adalbert Stifter. Ich habe vier-
mal versucht ihn zu lesen. Viele tote und
lebende Gewährsleute haben dieses
Buch geschätzt wegen seiner Land-
schaftsbeschreibungen. Also dachte ich,
da muss wirklich was dran sein. Aber ich
kann es nicht. Den letzten Anlauf habe
ich vor zwei Jahren gemacht, weil ein
Freund eine Doktorarbeit über die Archi-
tektur des Rosenhofs in dem Roman
schrieb. Ich habe 200 Seiten geschafft
und dann sind meine Augenlider wieder
runtergeklappt. Unmöglich.
—dieses Buch hätte ich gerne geschrieBen: Die Strudlhofstiege
von Heimito von Doderer. Ich habe ein
Faible für große panoramische Gesell-
schaftsromane und die untergehende
k.u.k.-Welt. Es ist toll, wie er die Treppen-
anlage zum Symbol der Zeitgeschichte
macht und wie der erste Satz die Ge-
schichte eröffnet.
—auf MeineM nachttisch liegt:Immer nur ein Buch. Ich lese nie mehre-
re Bücher gleichzeitig. Aber ich lese
dasselbe Buch oft mehrmals. Gerade
ist es Ein letzter Sommer von Steve
Tesich. Es geht um den Abschied von
der Jugend eines jungen Mannes, des-
sen Vater im Sterben liegt und der seine
erste Liebe erlebt. Eine typische Co-
ming-of-Age-Geschichte. Hinreißend!
links: Zeitgenossen: Das Lesesofa von
Oliver Jahn ist ein Vintage-Stück aus den
1950ern mit original taubenblauem Samt-
bezug. Dahinter eine alte Arztlampe der
Firma Baisch.