Post on 05-Jul-2015
transcript
Kai van Eikels
Zeit zur Liquidierung des Geldes
1. Das zähflüssige Äquivalent
Die Umwertung der Währung
Geld lohnt nicht mehr lautete der Arbeitstitel für einen Performance-Abend am
Hamburger Schauspielhaus 2003 in der Reihe gocreateresistance™. Als die
Veranstaltung dann stattfand, hatte die starke Behauptung sich in eine bescheidenere
Frage verwandelt: Geld – wo kommt es her, wo ist es hin? Man versuchte „nochmal
nachzuvollziehen, wie Geld wirklich funktioniert und wie das unsere Gesellschaft und
unser Leben strukturiert“. Dieser plötzliche Respekt, der die Herangehensweise ins
Historische verschob, reduzierte die Einsicht über das Ende des Geldes auf ein
ironisches Bedauern darüber, daß es ebenso ungreifbar verschwindet, wie es auftaucht.
Und er führte im Schutz des Wortspiels zu jener Faszination am Geld zurück, der die
Moderne von ganz unterschiedlichen ideologischen Positionen aus immer wieder
nachgegeben hat: Faszination am reinen, leeren Zeichen, das so überaus reale
Konsequenzen im Leben von Milliarden Menschen zeitigt, dessen Macht und Ohnmacht
so dicht beieinanderliegen, daß eins ins andere umkippt, sobald man das Zeichen einem
Test unterzieht und es auf seine Referenz prüft; Faszination am Unendlichen, das in der
Form der monetären Währung eine Zählbarkeit und Zahlbarkeit angenommen hat, den
Charakter einer durchführbaren Handlung, eines Managements des Möglichen. Auch
dort, wo kein Geld mehr da ist, kehrt die Unsicherheit angesichts dieser Situation rasch
zur romantischen Frage nach dem Woher und dem Wohin, dem fehlenden Ursprung und
dem fehlenden Ziel zurück. Eine Gegenwart ohne Geld (mit zuwenig Geld) begreift sich
einmal mehr als ein Jetzt, das mitten im Unendlichen schwebt und dessen Freiheit die
der Konvertierung des realen Mangels in eine neue Fülle des Möglichen, das Auffüllen
von Herkünften und Zukünften und das Initiieren neuer Projekte ist. Die Herrschaft des
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Geldes überlebt schließlich in der Begeisterung darüber, daß man mit einem Mangel an
Geld ebenso produktiv sein kann wie mit einem Überschuß, mit seinem Verlust ebenso
wie mit seiner sparsamen Rationierung. Vielleicht sogar noch produktiver.
Hätte man dagegen die Behauptung vom Ende des Geldes, das aufgehört hat sich zu
lohnen, nicht wörtlich nehmen sollen? Man hätte besser erklärt, warum das Regiment
des Geldes, die Zeit, in der das Geld die Welt regiert, vorbei ist. Nicht: sein sollte oder
könnte, in der alten utopischen Perspektive des Traums von einer Überwindung des
materiellen Strebens, sondern vorbei ist. Und dies nicht entgegen den ‚harten’
ökonomischen Fakten, sondern gerade an dem Punkt, wo die ökonomischen Fakten am
Ende der Möglichkeiten des Geldes angelangt sind und dessen Versagen dokumentieren.
Geld lohnt nicht mehr aus einem Grund, der die traditionelle Auseinandersetzung
zwischen den Kritikern des Kapitalismus und den Stimmen seiner Selbstbehauptung in
einer unvermuteten Richtung durchkreuzt. Geld schafft genau das nicht mehr, was man
seit dem 19. Jahrhundert als seine große kulturelle Leistung gefeiert oder als kulturelle,
soziale und politische Erosion beklagt hat: es bringt nicht mehr in Bewegung,
beschleunigt die Entwicklungsprozesse nicht mehr über ihren eigenen Fortgang hinaus,
wirkt in seiner reflexiven Ablösung vom Hin und Her der Gegenstände nicht mehr
potenzierend, universalisierend, entgrenzend.
Von den vielfältigen Prozessen der Steigerung, in die sich der antike griechische
Impuls des aristeuein im Verlauf der Jahrtausende zerstreut hat, haben unterdessen viele
eine Grenze überschritten, wo es ohne Geld viel leichter weitergehen würde –
interessanterweise nicht zuletzt in der Wirtschaft, deren Begriff von Dynamik die
Problematik des Geldes heute vielleicht sogar am unmißverständlichsten deutlich
werden läßt. Geld ist nicht mehr dynamisch genug, um mit den Erwartungen
schrittzuhalten, die eine postfordistische Produktion an ihre Zukunft stellt. Es hat sich
vom Inzentiv zum Hemmer der Produktivität gewandelt. Immer mehr Projekte, ob auf
staatlicher oder privatwirtschaftlicher Ebene, scheitern an unzureichender
Finanzierbarkeit, und die Spur dieses Scheiterns zeigt keineswegs einfach nur „neue
Chancen“, mit weniger Geld etwas anderes auf die Beine zu stellen, sondern eine
heiklere und tiefgreifendere Veränderung: eine Umwertung der Währung, die Umkehr
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des Geldes selbst als dasjenige, was währt, was in einer gewissen Weise Zeit bindet und
durch diese Zeitbindung Produktivität organisiert, vom Medium des Ermöglichens und
des Verwaltens von Möglichkeiten zum medialen Tool einer Reinigung der Zirkulation,
deren Ziel schon immer Null war und die dieses Ziel mittlerweile erreicht hat.
Wir werden das womöglich nie bemerken, wenn wir weiterhin der Konjunkturkurve
folgen, die sich mittlerweile um den Globus zieht und sich als Modell einer
ökonomischen Weltgeschichte aufdrängt. Die sogenannte Globalisierung lebt davon,
daß sie immerzu Orte findet, wo sie erst noch initiiert oder um den entscheidenden
Schritt vorangetrieben werden muß. Und sie verläßt sich darauf, daß zu dem Zeitpunkt,
wo diese Entwicklungsgebiete zur Weltelite aufgeschlossen haben, dieselbe
ökonomisch-politische Dynamik andere Gebiete hinreichend ruiniert haben wird, um
mit ihnen wieder anzufangen. Der globale Kapitalismus verspricht und verschweigt eine
Art ewiger Wiederkehr von Initiative und Verwüstung. Die globale Welt wird als solche
nie vollständig sein, sondern immer nur in der Perspektive eines politischen Vorbehalts
und einer ökonomischen Anschubfinanzierung existieren. Eine entsprechende globale
Verwaltung schafft stets wieder Zonen, wo Geld gebraucht wird, und inszeniert
Übergänge, wo es für ein paar Jahre oder Jahrzehnte einen Boom auslöst. China und
Indien sind die aktuellen Beispiele, und es könnte durchaus sein, daß Deutschland zur
übernächsten Generation gehört und nach der Depression und ihren
Zwischenaufschwüngen in die ökonomische Frühmoderne eines weiteren
„Wirtschaftswunders“ zurückgeworfen wird.
Das alles verhindert vor allem, daß wir das Geld vergessen. Es zwingt auch die
einstweilen reichen Länder, das Geld stets im Gedächtnis zu behalten – oder, genauer:
die Fragen nach der Produktivität, nach Steigerung und Emergenz, Entwicklung und
Innovation stets in der Sprache des Geldes zu stellen und Antworten in Geld zu
erwarten. Selbst die Armut wird zu einer Art traumatischem Kern umfunktioniert, der
die Wohlstandsgesellschaften an das Erinnern des Geldes bindet (das Wissen um diese
Armut führt nicht zu ihrer Abschaffung, sondern zu einem Diskurs des Mahnens, der
die Wichtigkeit des Geldes bekräftigt und das Verbot, es zu vergessen, unendlich
erneuert). Bestünde aber die Verteidigung des Wohlstands, das heißt die Insistenz auf
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dem essentiellen Luxus, den eine Zivilisation wie die europäische durch ihre monetären
Epochen hindurch erarbeitet hat, nicht genau darin: das Geld anerkennend zu
vergessen? Sollten wir nicht versuchen, uns eine Ökonomie vorzustellen, die alles das,
was Geld ermöglicht hat, voraussetzen kann, ohne endlos darauf zurückkommen zu
müssen? Hätten wir nicht schließlich diese Bewegung der Rückkehr zum Geld, an der
das Geld festhält, diese innere Verwüstung des Ermöglichens für die Wiederkehr der
neuen Chance zu unterbrechen – indem wir die Zirkulation des Geldes in jene Leere
entlassen, in die sie sich selbst hineingesteigert hat?
Der übersprungene Aufschub
Die moderne Bedeutung des Geldes ist aus dem Kredit erwachsen. Indem eine Bank
oder eine Privatperson jemandem Kredit einräumt, gibt sie ihm Zeit, um etwas
anzufangen. Die mit einer Geldsumme gegebene Zeit ist die der unternehmerischen
Initiative, das heißt einer Form des Handelns, die sich vollends in die Frist eines
Aufschubs einfügt und den Zeitdruck, unter dem sie steht, für eine neue Art von
Produktivmachen nutzt. Die Entschlossenheit zum Produzieren und die
Entschlossenheit zur Steigerung der Produktion, diese entrepreneurial determination,
ohne die der Kapitalismus mit seinem alternativenlosen Bekenntnis zum Wachstum
nicht denkbar wäre, entspricht der Zeitbindung des Geldes im Kredit. Der Kredit
verkörpert den Glauben dieses Kapitalismus an sich selbst, den Glauben daran, daß das
Schaffen von Möglichkeiten ein unendlich fortzusetzender und unendlich
differenzierbarer Prozeß ist, der zu seiner Absicherung nichts weiter als einer
Verfahrensreglementierung hinsichtlich der Zumessung von Mitteln, einer gewissen
Reserve des im Realen zurückbehaltenen Möglichen bedarf. Nach dem Zusammenbruch
des Goldstandards in den 30er Jahren verständigte man sich darauf, den Wert des
Geldes ganz auf die Regulierung des Kreditvolumens zu stützen, und etablierte damit
das Regime der eingeräumten Möglichkeiten offiziell als globale Ordnung. Die in
Bretton Woods geschaffenen Institutionen, der IWF und die heutige Weltbank, scheinen
noch immer den Glauben an eine nahezu unbeschränkte Macht durch die Vergabe von
Krediten zu verkörpern: Macht zum Guten oder zum Schlechten (viele
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Globalisierungskritiker, auch solche aus den eigenen Reihen wie Joseph Stiglitz, teilen
diesen Glauben an den Kredit).
Der Aufschub des Kredites verschaffte nicht nur Chancen zur Vermehrung des
Geldes, er unterhielt damit vor allem auch eine nicht voll determinierte ‚Kreativität’.
Der quantitative Rausch der Akkumulation brachte wie von selbst neue Qualitäten
hervor – neue Produkte, neue Produktionsverfahren, neue Organisations- und
Distributionsformen, neue Typen von Arbeit. Das kapitalistische Spiel mit der Zeit des
Möglichen förderte eine Emergenz, hinsichtlich der gelungene ökonomische
Kalkulation und sinnlose Vergeudung nicht immer klar zu unterscheiden waren. Der
spekulative Kapitalismus lebte gerade von dieser Indifferenz, er erneuerte seine Kraft
und Selbstgewißheit aus einem Augenblick der Gleich-Gültigkeit von Vermehrung und
Verschwendung, von Erfolg und Scheitern, von Geniestreich und Katastrophe. Er
bewohnte diese Zeit des Möglichen wie eine Höhle im Vorläufigen, die zumindest dem
Unternehmer selbst einen eigentümlichen Schutz bot und in der eine Art neurotischer
Gelassenheit herrschte. Der Zeitdruck, den das Kapital bedeutete, brachte zugleich eine
Befreiung von der Hektik der gegenständlichen Welt, wo Dinge sofort zu vergehen
drohten, nachdem sie entstanden waren, oder ins Irreparable entglitten. Die Fälligkeit
des Kredits entfernte die Gegenwart um einen entscheidenden Schritt von der
materiellen Zeit des Verfalls, und in dieser Entfernung von der Welt konnte die
unternehmerische Entscheidung ihre Wirkung erlangen. Entscheiden hieß zu diesem
Zeitpunkt: Die Zeit arbeitet für uns, gerade weil sie nur einen Aufschub darstellt. Das
Geld ist nur da, um wieder zu verschwinden, aber es bedeutet, daß wir die Zeit haben,
um etwas zu beginnen, was mit dem Verstreichen der Frist wachsen, sich entfalten, neue
Möglichkeiten eröffnen und Zugang zu weiteren Krediten verschaffen wird. Die
Unternehmung war in der Epoche des kreditgetriebenen Kapitalismus die aktive
Wendung eines Wartens, und die große Beschleunigung, die dieses ökonomische
System der Welt mitgeteilt hat, entsprang einer Komplizenschaft mit dem Aufschub, die
sich ganz auf das Potential des im Geld zugesagten Wartens verließ.1
1 Die machtvollste Opposition gegen die Unternehmer, der Streik der Arbeitenden, artikulierte dasselbe Vertrauen: Die Zeit arbeitet für uns, wir müssen nur durchhalten! Die Allianz der Regierung Thatcher mit den Konzernen gegen den Streik der Bergarbeiter in den 80er Jahren führte
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Heute drängt dagegen das Zeitmanagement auf immer größere Beschleunigung
entgegen diesem Aufschub. Mit dem sog. Toyotismus der 1970er Jahre setzte eine
Rationalisierung innerhalb des Spekulativen selbst ein: Durch eine flexiblere und
schnellere Produktion, die sich ohne große Verzögerung den Marktentwicklungen
anpassen konnte, trat der Zukunftsentwurf, die unternehmerische „Vision“ in ihrer
Umarmung des Schicksalhaften zurück zugunsten einer fast response-Ideologie, die
mitunter an die strategischen Szenarios des nuklearen Zweitschlags erinnerte. Statt dem
in Form von Geld erhaltenen Aufschub den Namen eines Produkts zu geben, dem die
time to market helfen würde, sich zu entwickeln und jene Durchsetzungskraft zu
sammeln, die das Neue braucht, um im Verdrängungswettbewerb zu bestehen, situierte
sich die Produktion in einer time to customer, die ganz anders beschaffen war. Das neue
Produkt stellte lediglich den Reflex einer Tendenz des Marktes dar. Es war somit
weniger abolut neu als in einer bestimmten Richtung zukunftsträchtig optimiert. Es
handelte sich um das Resultat einer Reaktion, doch zielte die innere Beschleunigung der
Produktion darauf ab, diesem Reagieren den Charakter von Zeitverlust und Rückstand
zu nehmen und in der forcierten Präsenz eines „just in-time“ Reaktion und Prognose zu
einer dynamischen Synthese zu verbinden. Die Qualität des so produzierten Produktes
bestand in einem Entgegenkommen – es befand sich mit seinem Entwicklungsprozeß
auf einem Weg in die Zukunft, wo es die Wünsche seiner Käufer traf, um von dieser
virtuellen Begegnung her in die Gegenwart eines nur minimal hinter dem Aktuellen
herhinkenden Herstellens zurückzukehren.
Mit dem Übergang zur immateriellen Produktion in der Dienstleistungs- und
Beratungsgesellschaft trifft diese Refiguration der time to market durch die time to
customer offenbar auf keinerlei Hindernisse mehr. Die relative Umständlichkeit des
Herstellens weicht der Alertheit des Bereitstellens. Der Begriff „Proaktivität“, der in
zu einer ersten traumatischen Erschütterung dieses Selbstvertrauens. Seither scheint der Streik nur noch in speziellen, unter einem eher traditionellen Zeitdruck stehenden Wirtschaftszweigen (etwa bei den Hafenarbeitern oder den Lokführern) eine wirklich wirksame Waffe im Arbeitskampf darzustellen. Kritiker der postfordistischen Arbeitsstrukturen wie Paolo Virno versuchen Entwürfe zu einer neuen Theorie des Streiks als „Exodus“ zu liefern (vgl. Paolo Virno, A Grammar of the Multitude, Cambridge/Mass. und London 2004). Die Frage ist, ob sich unter den gegenwärtigen Bedingungen eine Situation herbeiführen läßt, wo das Vergehen der Zeit einen entscheidenden Vorteil darstellt.
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diesem Zusammenhang populär wurde und den man heute im Jargon von Politikern,
Friedensforschern oder Pädagogen ebenso findet wie bei Managern, bringt das zeitliche
Paradox dieses Produktionskonzeptes mit etwas unfreiwilliger Komik auf den Punkt: Es
geht nicht mehr um den Entwurf, der das Verstreichen der Zeit während der
eingeräumten Frist nutzt, um sich möglichst viel Welt anzueignen, sondern um ein
Sichselbstüberholen der Reaktion in Richtung auf die Spitze der Gegenwart, die bereits
in die Zukunft hineinragt. Das Produzieren ist ein Vorgehen, das den Aufschub
überspringt und direkt mit dem Maximum des Möglichen operiert. Es bleibt hier keine
Zeit mehr, um der Passivität des Wartens eine aktive Wendung zu geben. Alles, auch
das Reagieren, ist von vornherein ins äußerste Extrem des Aktiven gedrängt. Diese
Neukonfiguration der Zeit zum Produzieren vermag den Leistungen des Geldes nicht
mehr viel abzugewinnen. Das postfordistische Unternehmen entfernt sich in dem Maße,
wie es sich seiner strukturellen Bindungen entäußert, seine Organisation flexibilisiert
und nahezu verflüssigt, um bis ins kleinste Glied proaktiv zu agieren, von einer
traditionellen Chance/Risiko-Ratio. Es läuft weniger Gefahr, während der Zeit bis zur
Fälligkeit von Krediten von unvorhergesehenen negativen Ereignissen betroffen zu
werden, und setzt andererseits auch kaum mehr auf die Chance positiver Ereignisse. Das
Unternehmen orientiert sich an der Effizienz der eigenen Reorganisation in
Entsprechung zu den Marktbewegungen, was, trotz oder vielmehr wegen des ständigen
Wechsels, alles Offene an der Zukunft neutralisiert.
Diese freie, kaum mehr behinderte Reorganisation erzeugt eine eigene Haltlosigkeit.
Im unentwegten Bestreben, sich mit seinen Aktivitäten selbst zu überholen und heute
schon die Zukunft zu gestalten, büßt das Unternehmen nicht nur sein Gedächtnis ein,
sondern auch das klare Bewußtsein davon, was es eigentlich tut.2 So wenig verankert in
irgendeiner Geschichte es ist, fehlt diesem unablässigen Dazwischen der
2 Zeitgenössische „Unternehmensphilosophien“, in der Regel von externen Beraterfirmen erstellt, neigen dazu, das „Kerngeschäft“ als Unternehmensziel zu definieren, scheinbar ohne die offenkundige Aporie dieser Zielsetzung zu bemerken: Wenn die Steigerung der Effizienz die Identität des Unternehmens bestimmt und das „core business“, also das, was man eigentlich tut, in dieser Perspektive zum Ziel erklärt wird, initiiert das eine Art passage à l’acte de produire, eine Unwirklichkeit der Produktion als Objekt der reinen, phantasmatisch selbstbezüglichen Steigerung. Je ausschließlicher die Unternehmen sich darauf konzentrieren, ihre Handlungsfähigkeit zu steigern, desto endgültiger entfernen sie sich davon, wirklich und wissentlich etwas zu tun.
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Restrukturierung andererseits die exzessive Dynamik des Entwurfs. Es folgt stattdessen
einer Logik der Selbststeigerung, die nichts Anderes mehr freisetzt, sondern das Selbe
in seiner Selbigkeit verstärkt, gerade auch durch Innovationen. Aus den ständigen und
mit großem Aufwand betriebenen Verbesserungen von Service geht keine wirklich neue
Qualität mehr hervor. Die time to customer ist ereignislos, gerade weil sie Kreativität,
Innovativität, allgemein die rhetorische Spontaneität eines erklärtermaßen
unkonventionellen Denkens prinzipiell in den Erhalt des Status quo namens
Optimierung einrechnet. Wir haben es daher zugleich mit der kreativsten und mit der
chancenlosesten Wirtschaft zu tun. Potentiale erschließen sich dem Unternehmen in
dieser Ökonomie nur noch in der Perspektive einer Selbstverkürzung des Abstands, der
es von sich selbst zu trennen scheint, einer Selbstverflüssigung des eigenen Operierens,
das flexibler als flexibel wird und kraft dieser Hyperflexibilität neue Figuren von
Bereitschaft hervorbringt.3
Für diese Verflüssigung von Produktivität ohne Zukunftsbindung des Produktes stellt
Geld kein entsprechend geschmeidiges Äquivalent mehr da. In Deep Space Nine, einer
Science Fiction-Serie aus der Star Trek-Reihe, die im 24. Jahrhundert spielt, ist die
Währung für diejenigen Völker des Universums, die überhaupt noch kapitalistischen
Handel treiben, goldgepreßtes Latinum. Dabei ist das Gold gerade der wertlose
Bestandteil (es wird nur zum Pressen verwendet, um dem Ganzen irgendeine Form zu
geben), während es sich bei dem wertvollen Latinum um eine klare farblose Flüssigkeit
handelt.4 Diese Trennung von Festem und Flüssigem veranschaulicht die Problematik
des Geldes: Ab einem gewissen Punkt läßt die Eigendynamik der Produktions- und
Transaktionsprozesse die Leistungsfähigkeit des monetären Mediums hinter sich zurück.
3 Diese Bereitschaft hat zu dem, was man mit einer neuen Gläubigkeit die Bedürfnisse der Kunden nennt, eine größere Nähe als die souveränen Marketingkonzepte der 80er Jahre, als die Unternehmen sich in der Macht wähnten, Konsumentenbedürfnisse fast nach Belieben produzieren zu können. Die Unternehmen sind nun sogar an einer dauerhaften („nachhaltigen“) Kommunikation mit den Kunden interessiert und versuchen zu diesem Zweck gerade das Materielle, das Träge, Schwerfällige und schleppend Funktionale der Produkte zu nutzen, um Anschlußkontakte herzustellen. Doch gerade eine solche Strategie der totalen Verwendung, wie sie eine Ökonomie der Bereitschaft kennzeichnet, bringt ihre eigenen Aporien hervor. Vgl. dazu unten, Teil 2, „Wie kaufen?“. 4 Vgl. die Deep Space Nine-Folge „Who Mourns for Morn?”. Als optimaler Aufbewahrungsort erweist sich dort der zusätzliche Magen des Besitzers, ein atavistisches Organ, das nicht an das Verdauungssystem angeschlossen ist.
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Was ursprünglich einmal die Quelle einer starken Abstraktion und die Antriebskraft
eines an sich eher trägen Geschehens war, erweist sich nun als zu zähflüssig für die
Selbstvermittlung einer Welt, in der Dinge, Personen und Aktionen aus ihren festen
Konturen herausgetreten und eine engere Allianz mit der Flüchtigkeit eingegangen sind,
als ein gerade noch liquides Medium sie zuläßt. Der Bezug zum Möglichen, den das
Geld stiftet, beruhte auf einer Wertschätzung des Aufschubs, die in den
postfordistischen Unternehmen nicht mehr besteht. Die Konjunktur von Begriffen wie
„enable“ oder „empower“ im Management-Diskurs sollte diesen wesentlichen
Unterschied nicht verdecken (obwohl vielleicht genau das die Aufgabe der Begriffe
oder jedenfalls der Grund für ihre Popularität ist): Die Ermöglichung, um die es hier
geht, entspricht nicht mehr dem Schaffen von Möglichkeiten als Funktion des
Aufschubs. Dieses Ermöglichen versteht sich vielmehr als Verwaltung einer
Optimierung, die das Potential und seine Aktualisierung im selben Moment einer
vorweggenommenen Zukunft miteinander verrechnet und sofort sämtliche
Konsequenzen daraus zieht. Das enabling anulliert jede temporale Differenz zwischen
Realem und Möglichem; es zielt auf eine Expansion der gegenwärtigen Performance in
die Zukunft, die mit der gegebenen Zeit des Kredits nichts mehr anzufangen weiß, da
ihr zentraler Glaubenssatz lautet: Wir können es uns unter keinen Umständen leisten zu
warten.
Der Druck der Echtzeit
Eine wichtige Rolle für die Vorbereitung dieser Umwertung des Geldes spielte der
globale Kapitalmarkt, den man zunächst als Höhepunkt und Totalisierung der
Geldherrschaft angesehen hatte. Stattdessen führte er zu einer Spaltung und internen
Konkurrenz der Instanzen, die Geld geben. Die Kapitalbeschaffung durch Ausgabe von
Aktien und eigene Spekulationen an den Börsen ersetzte zunehmend den Bankkredit,
was den Unternehmen mehr Flexibilität, aber auch andere Abhängigkeiten brachte. Je
mehr die Banken (deren Vergabevolumen an die Vorgaben der Staatsbanken gebunden
blieb) an Bedeutung für die Wirtschaft einbüßten, desto mehr schwand die staatliche
Kontrolle über Währungen und allgemein über wirtschaftliche Entwicklungen, bis
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Staaten sich schließlich als Akteure unter anderen auf den internationalen
Finanzmärkten wiederfanden. Mit dem Schritt vom Kredit zur breit gefächerten
Refinanzierung verändert sich aber auch der Zeithorizont für das, was das Unternehmen
unternimmt.5 Die Produktion muß sozusagen in einer anderen temporalen Umgebung
überleben. Der Kapitalmarkt ist der erste Markt, der quasi in Echtzeit funktioniert und
bei dem sogar die Zeitzonen der Welt unmittelbar Einfluß auf die Gewinne und Verluste
haben.6 Die sprunghafte Erhöhung der Transaktionsgeschwindigkeit, verstärkt durch
den elektronischen Handel, bedeutet nicht nur eine neue Art von Riskanz, sie verändert
das Wesen jenes Kapitals, das in Milliardenhöhe binnen Minuten oder mitunter
Sekunden weltweit hin und her springt. Wo Geld selbst zur Ware wird und man direkt
mit „Futures“ handelt, entfällt die Produktivität des Aufschubs. Die Geschäfte auf den
Finanzmärkten haben eine Produktivität entdeckt, bei der dem Geld nicht mehr die
Funktion zukommt, etwas zu ermöglichen, sondern die Spekulation sich praktisch
unmittelbar im selben Medium realisiert – also genau die zeitliche Distanz, die Geld als
Währung ausmacht, verschwindet.
Das Geld ist hier gewissermaßen schneller als es selbst, es kommt mit seinen eigenen
Möglichkeiten zur Deckung, bevor diese zur Ermöglichung von etwas führen. Und in
dem Maße, wie die globale Wirtschaft sich in den Börsen reflektiert, wie die
Unternehmen ihre Strategien vorzüglich im Hinblick auf ihren Auftritt vor Aktionären
ausrichten, erweisen die Kapitalflüsse, die in Form längerfristiger Investitionen erfolgen,
sich als zu zäh. Es gibt hier weder den klassischen Zweckoptimismus noch die Form
einer Wette, sondern ein viel direkteres Rechnen mit den Licht- und Schatteneffekten
der Euphorie. Indem die Computerprogramme der verschiedenen Börsen-Netzwerke
künftiges Geld antizipieren oder projizieren, überspringen sie jenen Aufschub, den das
Geld als gegebenes eingeräumt haben würde, und ziehen daraus einen unmittelbaren,
nicht im Umweg über ein Realisierung des Möglichen erlangten Gewinn. In diesem
Sinne handelt es sich um „virtuelle“ Märkte – denn virtuell bedeutet hier, wie auch im
5 Und es ist wohl kein Zufall, daß die Banken mittlerweile zum Problemkind der globalen Marktwirtschaft geworden sind und zunehmend staatliche Unterstützung benötigen, um Krisen zu überleben. 6 Vgl. Francois Chesnais, La mondialisation du capital, Paris 1994.
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Fall der „virtual reality“, eine Ersetzung des Möglichen, eine Anachronisierung der
Beziehung zum Möglichen. Das virtuelle Geld der Börsen- und Währungstransaktionen
emanzipiert das Risiko vom Vergehen der Zeit und etabliert eine neue Art von riskanter
Flüchtigkeit, ein Spiel der permanenten Reorganisation des Wert-Portfolios, das eine
ganz andere Art von existenzieller Beweglichkeit erfordert als der erfolgreiche Umgang
mit geliehenem Geld.
Es neutralisiert damit auch jene „Dissemination“, die Jacques Derrida als Forcierung
des Kredits, als Möglichkeit der Möglichkeit in einer Zeit des Möglichen beschrieben
hat.7 Was immer auf den Kapitalmärkten geschieht, wird sogleich die Form einer
self-fulfilling prophecy angenommen haben. Ob Boom oder Katastrophe, das Ereignis
kann hier niemals der Einbruch eines Anderen sein, da die Prognosen den Aufschub
systematisch eliminieren und das Prognostizierte (eine Art vollendeter Gegenwart eher
denn Zukunft) dem Kommendem in jedem Augenblick zuvorkommt. Die Echtzeit der
Börse, ihre unmittelbare Verrechnung von antizipierter Zukunft und gegenwärtiger
Entwicklung, bricht endgültig mit der Zeit des Möglichen. Der Wirtschaftstheoretiker
Brian Rotman spricht von einem „Xenogeld“, dessen Wertentwicklung völlig frei von
‚äußeren’, d.h. nicht unmittelbar aus den Finanzmärkten selbst hervorgehenden
Einflüssen ist: „[D]ie Trennung der Finanz vom sogenannten wirklichen Handel hat zur
Folge, daß jeder besondere zukünftige Zustand des Geldes bei seinem Eintreten nicht
etwas ‚Objektives’ sein wird, ein Referent, der einfach da ist und von einer ‚wirklichen’
Handelskraft bestimmt wird, sondern durch genau diejenige Geldmarktaktivität entsteht,
die seinen Wert vorhersagen soll.“8
Damit würde schließlich auch das Apokalyptische aus der Geschichte des Geldes
verschwinden: Geldspekulanten könnten die Angst vor einem Versiegen der Ölquellen,
dem Zusammenbruch von Regimes oder der Überhitzung von Volkswirtschaften einem
prognostischen Diskurs überlassen, für den „Katastrophe“ nur noch eine Figur unter
anderen bedeutet. Schon heute lässt sich auf Verfall und Niedergang ebenso spekulieren
wie auf Steigerung und Wachstum. Ihre wahre Freiheit erlangt die Spekulation aber erst
dann, wenn der temporale Horizont der Finanzmärkte sich von der Geschichte des 7 Vgl. Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993. 8 Brian Rotman, Signifying nothing. The semiotics of zero, London 1987, S. 96.
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Wachstums, wie sie die Produktion schreibt, radikal emanzipiert. Man sollte daher
damit rechnen, daß sich die Geschicke von Kapitaltransaktionen und Produktion rasch
vollständig trennen – daß Geld als Medium in eine neue Positivität übergeht, in der
Geld tatsächlich einfach nur noch Geld bedeutet und die Zukunftskalkulationen nicht
einmal mehr an der Möglichkeit eines wirklich Kommenden haften, während die
Produktion ihre eigene Zeitmessung entdeckt und die Zeit selbst zur neuen Währung
erklärt.
Das Zittern mit der Flexibilisierung
Die Geschichte des Geldes und seiner Wertschätzung erzählt vom Wunsch, durch
Flexibilisierung das eigene Überdauern zu sichern. Der Mensch geht eine strategische
Allianz mit dem absolut Unsicheren ein, um sich gegen die Folgen der relativen
Wechselhaftigkeit in einer zeitlichen und endlichen Welt zu wappnen. Bei Locke löst
das Geld die Verlegenheit einer Arbeit, die vornehmlich Verbrauchsgüter, also
vergängliche Dinge produziert. Man kann diese Dinge, die zur umgehenden
Konsumtion bestimmt sind, zwar überreichlich genießen und im Rahmen des
Genießbaren bis zu einem gewissen Grad anhäufen. Der wechselnde Besitzstand an
ihnen vermag jedoch niemals ein beständiges Eigentum zu bilden, das in der Form einer
rechtlich garantierten Beziehung von Eigentümer und Eigentum Identität verbürgte.
Wenn ich hingegen Geld besitze, wenn mein Reichtum primär in Geldwerten und nicht
in bestimmten Dingen besteht, verschafft mir das eine Selbständigkeit gegenüber dem
Entstehen und Verfall der Dinge – eine Selbständigkeit, in der ich meine bürgerliche
Identität als Eigentümer finde und behaupte. Eben die Flexibilisierung meines Besitzes
durch das Geld, seine Verlagerung vom Besitz der Dinge zum Eigentum an der
Möglichkeit, mir beliebige Dinge zu verschaffen, institutionalisiert mich dauerhaft als
Subjekt meines Reichtums. Geld dient hier also als zunächst Mittel gegen die Dynamik
einer Welt, in der nichts Gegenständliches Bestand hat.
Mit dem Kapitalismus verdoppelt sich die Dynamik der Bestandssicherung im Besitz
am Geld: Ich kann mein Geld nur noch als Besitz (be)halten, indem ich es vermehre, es
fortwährend wieder in die Produktion von Dingen investiere. Wenngleich diese Dinge
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als solche weitgehend gleichgültig werden (der Unternehmer nimmt irgendeine
Gelegenheit zum Produzieren wahr, er hat im Gegensatz zum Handwerker keine
privilegierte Beziehung zu einem Gegenstands- oder Herstellungsbereich), beherrschen
sie meinen Besitzstand doch dadurch, daß ihre Veräußerung wieder Geld einbringen
muß. Übereigne ich meine Existenzangst dem Kapitalismus, so ist mein Eigentum nicht
am Geld, sondern am Unternehmen seines Einsatzes als Medium des
mehrwertbildenden Tausches. Es handelt sich um ein „Eigentum an der
Aneignung“ (Arendt), in dem Geld nicht mehr der Stabilisierungsfaktor ist, der die
Flüchtigkeit und die kontingenten körperlichen Prozesse des Verbrauchs ausgleicht. Die
körperliche Instabilität des Besitzes affiziert das Geld selbst, und es potenziert diese
Instabilität, so daß sie nur mehr in der exponentiellen Steigerung zu einem Ausgleich
findet.
Das Geld ist in dieser Phase zugleich mehr und weniger als abstrakt. Seine
Leistungsfähigkeit als Äquivalent für beliebiges Konkretes bedeutet nicht mehr, daß es
selbst von dessen Unbeständigkeit völlig frei wäre. Es muß investiert werden, wie Güter
verbraucht werden müssen, und wird damit zu einer Ressource im Produktionsprozeß
unter anderen, die konjunkturbedingten Schwankungen unterliegt und über die man nur
im Rahmen gewisser Wahrscheinlichkeiten planerisch verfügen kann. Der
klassisch-moderne Kapitalismus unterscheidet daher im Grunde nicht zwischen Geld
und den Dingen, die er für die Produktion benötigt, ebensowenig wie zwischen diesen
Dingen und den arbeitenden Menschen (alle sind Kostenfaktoren). Und Geld
funktioniert als Äquivalent solange gut, wie es selbst sich in dieses Unterschied-lose
einfügt, als Konvertierungsmedium zwischen Dingen und menschlicher Arbeit
zwischen den Dingen und Arbeitsleistungen verschwindet. Es führt ein, wie Derrida
gesagt hat, gespenstisches Dasein inmitten von Phänomenen, die allesamt an der Grenze
ihrer Solidität, in einer geisterhaften Verdopplung ihrer selbst existieren.9
Diese Paradoxie bringt die Aura des modernen Geldes hervor, die besondere Aura
des unscheinbar Allgemeinen. Das Geld scheint in dieser Epoche des Kapitalismus die
größte Präsenz überhaupt zu besitzen, eine gleichsam magische Präsenz, der die ganze 9 Vgl. Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M. 1995.
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Welt verfällt, und die Selbstbeschreibungen dieser Welt präsentieren ein rauschhaftes
Spektakel des Kaufens und Verkauftbekommens. Doch im Produktionszusammenhang
bleibt das Geld unsichtbar diskret, liegt es als Posten in einer Planungstabelle wie ein
virtueller Stapel Holz zwischen anderen Ressourcen. Die gesteigerte spektakuläre
Präsenz und die strukturelle Unsichtbarkeit des Geldes sind zwei Seiten desselben
Phänomens, der Phänomenalität von Geld überhaupt. Denn nur in dieser Phase erlangt
das Geld wirklich eine phänomenale Existenz. Nur in dieser gespenstischen Disposition
zwischen Dingen, die selbst aus den Fugen des Gegenständlichen geraten, tritt es als
Kraft des Kapitals in Erscheinung, ohne mit irgendeinem materiellen Bild seiner selbst
zur Deckung zu kommen.
Das beginnt in dem Moment problematisch zu werden, wo das Geld als solches in
die Position eines Objektes gerät, mit dem man Handel treiben kann. Die Immaterialität
des Geldes an den Börsen ist selbst nur der Effekt eines spezifischen
Sichtbargewordenseins, eines Kollabierens der geisterhaften Phänomenalität des Geldes
zwischen materiellen Äquivalenten und der reinen, leeren Zeichenhaftigkeit. Aus seiner
spektakulären Zerstreuung in eine Unzahl von „Szenen des Ökonomischen“ tritt das
Geld zu einer Positivität und Endlichkeit zusammen, die frappierend, aber durchaus
suspekt ist. Die Neuigkeiten von den Börsen, die mittlerweile einen festen Bestandteil
der Nachrichtensendungen bilden, und die Ungeheuerlichkeiten, die man bisweilen von
den internationalen Finanzmärkten erfährt, wo Großspekulanten schwache Währungen
angreifen und Milliardengewinne erzielen, indem sie ganze Länder in den Ruin treiben,
lenken die Aufmerksamkeit unmittelbar auf das Geld. Zwar sieht man es auch so nicht,
doch diese Unsichtbarkeit hat jetzt etwas Kompaktes, die Bestimmtheit einer realen
Eigenschaft des Geldes: „Dieses irrsinnig dynamische Etwas“ mag irrsinnig dynamisch
sein, aber es ist nichtsdestoweniger ein Etwas. Und für mehrere Generationen stellt sich
die Frage, ob man ein langfristiges unternehmerisches Risiko eingehen soll, um
vielleicht irgendwann damit Geld zu verdienen, oder sich nicht eher direkt mit dem
Geld befaßt.10
10 Es muß hier nicht einmal mehr unbedingt ein Widerspruch sein, wenn gerade Menschen, die dem Kapitalismus als einem vom Geld (Profitgier, „trockenen“ Kalkulationen usw.) bestimmten System distanziert oder kritisch gegenüberstehen, Unternehmer werden. Die Geschäftsgründungswelle in
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Damit treten auch die Unterschiede zwischen dem Geld und den anderen Posten der
Produktion aus dem Unmerklichen ins Licht eines Kapitalismus, der, innerlich
gespalten, zugleich euphorisch und skeptisch, vom Geld selbst fasziniert und daher von
dessen Leistungen als Äquivalent zunehmend unbeeindruckt ist. Der
reflexiv-spekulative Kapitalismus der Börsenepoche läßt sich als eine Anstrengung
beschreiben, das Geld als selbstbezügliches Medium des Handelns von seiner
funktionalen Bindung als Äquivalent zu emanzipieren. Die Konsequenzen dieser
Emanzipation für die Produktion bleiben eine Weile dadurch im dunkeln, daß die
Produktion sich ihrerseits immaterialisiert, sich umstellt von der Herstellung von
Verbrauchsgütern auf die Bereitstellung von Serviceleistungen. Parallel zu einem
‚freien’ Geld entsteht offenbar eine ‚freie’ Produktion, die nicht mehr an den Umlauf
von gegenständlichen Gütern gebunden ist, sondern ihren Wert in einer Performance
einlöst, die nur noch wie beiläufig (und vorübergehend) Formen des Tausches annimmt.
Der kritische Punkt einer solchen Ökonomie liegt offenkundig dort, wo auch die
Performance sich darauf zurückgeworfen findet, daß irgendwann irgendwer dafür zahlt.
Und es trifft die fortschrittlichsten Business-Ideen am stärksten, daß es sich bei dem
Geld, das Gegenstand von Zahlungen ist, nunmehr um etwas von der Wirtschaft selbst
Vernachlässigtes, eine fast abgestorbene Dimension des Monetären handelt, deren
Wiederbelebung mit teilweise halsbrecherischen Preismanövern und der Erfindung
neuer Zahlungsmethoden einem Partisanenkampf nach verlorener Schlacht gleicht.11
Deutschland Anfang/Mitte der 90er zeigte einen neuen Typ von jungen Unternehmern, die zu einem großen Teil aus „alternativen“ Szenen kamen, denen es mit ihren Projekten nicht in erster Linie ums Geld ging (weshalb die Firmen auch mehrheitlich rasch Konkurs machten), sondern eher darum, persönliche Wünsche zu realisieren, mit Freunden etwas aufzubauen, was sozialen Netzwerken einen konkreten Ort gab, oder der Verlockung des Möglichen nachzugeben, ohne sich um Risiken zu kümmern. Die Protokolle in Minusvisionen. Unternehmer ohne Geld (herausgegeben von Ingo Niermann, Frankfurt a.M. 2003) bieten eine aufschlußreiche Rekonstruktion dieser Unternehmer-Biographien. 11 Der sog. „Niedergang der Zahlungsmoral“ ist nur eine ins Ethische verschobene Oberflächenansicht dieser Abwendung des Geldes von seiner Zahlungsfunktion. Die Klage über diesen Niedergang (die üblicherweise von der Position eines Privatbürgers oder Kleinunternehmers aus artikuliert wird) stößt sich an der Einsicht, daß Nichtzahlen in einer Phase des Kapitalismus, wo es keinen gemeinsamen Horizont des produktiven Wartens mehr gibt, effizienter ist als Zahlen. So wie die Unterlassung von Investitionen (etwa im Rahmen globaler Finanzspekulationen, die ihre Profite aus dem Verfall von Währungen ziehen) besser mit dem Geist des freien selbstbezüglichen Geldes harmoniert als die investitionsbasierte Unternehmung, profitiert ein Großunternehmen direkt von seiner Größe, indem es kleinere Zulieferer oder „Partner“ einfach nicht bezahlt. Die Konsequenz
16
Der euphorische Diskurs, der technologische Neuerungen ankündigt oder ins
Gegenwärtige hineinimaginiert, täuscht darüber hinweg, welches Problem die
Immaterialisierung des Geldes in Form von elektronischen Zahlungen, Cybermoney
und Abrechnungschips zu lösen sucht. Es geht darum, das Geld wieder ins Unmerkliche
zurückzudrängen, nachdem es an einem abgesonderten Ort als solches sichtbar
geworden ist und uns mit dem störenden Nachbild einer Blendung zurückgelassen hat.
Es geht darum, seine allgegenwärtige, alles durchdringende Unsichtbarkeit
wiederherzustellen, indem das Zahlen von einer „Web-Erfahrung“ aufgenommen wird
oder mit dem Verlassen des Geschäftes automatisch die Abbuchung vom Konto erfolgt.
Das Digitale bietet eine Chance, die Ununterschiedenheit von Geld und Dingen
wiederherzustellen. Wenn man alles in binären Code auflöst und aus dieser Binarität zu
einer neuen Sinnlichkeit zusammensetzt, wenn man die Repräsentationen von
Zahlungsvorgängen und die Repräsentationen von Dingen gleichermaßen im
homogenen Raum des Digitalen verteilt, entsteht für eine Weile jener magisch
schimmernde Zustand neu, der den Kapitalismus bis in die 80er Jahre des 20.
Jahrhunderts hat funktionieren lassen. Doch die neue Unmerklichkeit des Geldes und
seine stillschweigende Verteilung zwischen den Dingen gelingt nur in einigen
Bereichen und vermag nichts daran zu ändern, daß es kein gemeinsames Maß für Geld
und Dinge mehr gibt.12 Geld läßt sich als Äquivalent nicht mehr ohne weiteres dem
kann kaum darin bestehen, das Nichtzahlen moralisch zu verteufeln, sondern wohl nur darin, es als ökonomische Handlung anzuerkennen und die Rolle des Geldes entsprechend neu zu bestimmen. 12 Ein Gegenbeispiel, das zeigt, daß die Immaterialisierung des Geldes eher eine bestimmte Verlegenheitslösung ist als die zwangsläufige Konsequenz der fortschreitenden Kommerzialisierung des Lebens, wäre Japan. Es gibt dort eine weit stärkere Durchsetzung der gesellschaftlichen und kulturellen Sphäre mit kommerziellen Strukturen als in Europa (oder sogar den USA). Die Eröffnung einer neuen Shopping-Mall stellt in einer japanischen Stadt ein kulturelles Ereignis ersten Ranges dar. Mega-Shopping-Center wie das 2003 eröffnete Roppongi-Hills in Tokyo lösen alle Unterschiede zwischen Kommerz und Kultur auf und schaffen durch gewagte architektonische und infrastrukturelle Experimente Orte eines äußerst beschleunigten kommerziellen Flows, in denen der Akt des Kaufens zur Form praktisch jeder Handlung wird. Dabei bleiben jedoch die Zahlungskonventionen andererseits überraschend traditionell, beinahe anachronistisch. Der größte Teil der finanziellen Transaktionen findet in Japan nach wie vor in Form von Bargeld statt. Kreditkarten sind zwar verbreitet, kommen aber nur bei großen Käufen oder in teuren Restaurants zum Einsatz (einige Japaner besitzen ihre Kreditkarte überhaupt nur für das Holiday-Shopping im Ausland). Die Geschäftsgepflogenheiten schenken dem Akt der Geldübergabe große Aufmerksamkeit: An jeder Kasse gibt es eine spezielle Schale, in die der Kunde das Geld legen kann, und die Annahme und Rückgabe des Wechselgelds durch den Kassierer geschieht mit der lauten und formellen Nennung der Summe, in vielen Geschäften auch mit einer speziell eintrainierten Geste,
17
hinzuzählen, wozwischen es vermittelt. Es hat eine Eigendynamik entwickelt, die sich
den Dingen nicht mehr mitteilt, die immer deutlicher und schmerzhafter ihre
Heterogenität gegenüber jenem Fließen offenbart, in dem sich die Dinge, Aktionen und
Ereignisse mittlerweile befinden. Fast zwei Jahrhunderte hat man das Geld benötigt, um
die Dinge in Bewegung zu bringen, die Arbeit, den tätigen Umgang mit den Dingen,
über das bloß Notwendige einer Sicherung des Lebens hinaus produktiv zu machen.
Nun sehen die Verwalter dieser großen Initiative sich in der Verlegenheit, schnell etwas
Besseres als Geld zu erfinden. Aus Verlegenheit hat es bislang noch den Charakter eines
besseren Geldes.
Die totale „Sozialisierung“ des Geldes
Was es am Geld jedoch zu verbessern gilt, ist sein Verhältnis zur Zeit: Wie wäre ein
Geld beschaffen, das einer ökonomischen Neutralisierung des Wartens entspricht? In
welcher Weise müßte es den Agenten einer postfordistischen Produktion zur Hand sein,
die darauf angewiesen sind, daß alles, was sie tun, sich sofort in einer Steigerung von
Effizienz verwirklicht, die sich den Aufschub nicht mehr leisten können, da es mehr als
zweifelhaft ist, ob sie selbst in Zukunft noch Bestandteil des Unternehmens sein
werden?
Und wie sollte das Geld andererseits eine Konsumtion unterstützen, nachdem Service
nicht mehr darin besteht, den Konsumenten zu beliefern und bei dieser Gelegenheit
seine Zahlung in Empfang zu nehmen, sondern das Unternehmen um fast jeden Preis
mit der das okaeshi zusammen mit dem Kassenbon überreicht wird. Während die deutschen Banken auf mitunter wenig attraktive, aber doch irgendwie konsequente Weise bemüht sind, sich bei Senkung der Personalkosten als immer attraktiverer Dienstleister zu präsentieren, gleichen die japanischen Banken eher Ämtern: Man zieht eine Nummer und wartet geduldig, bis ein Schalter frei wird. Für Überweisungen und Buchungen werden hohe Gebühren verlangt, so daß es bspw. durchaus nicht unüblich ist, die Miete am Monatsanfang persönlich dem Vermieter zu übergeben, sofern dieser im Haus oder in der Nachbarschaft wohnt. Die Banken betrachten sich eher als Verwaltungsorgane denn als Kreditinstitute, die Kunden innerhalb sinnvoller Risikogrenzen zum dynamischeren Umgang mit Geld motivieren. Und wie das unproduktive Kapital auf den Konten der japanischen Postbanken in den 90ern zeigte, agieren sie auch selbst keineswegs selbstverständlich als Inzentive des Kapitalismus. Durch das weitgehende Fehlen von Diebstahlskriminalität fallen Sicherheitsprobleme als Motiv für häufigere Bankbesuche und einen beschleunigten Rhythmus des Abhebens-Ausgebens weg. Bargeld ist in Japan nicht bedroht – man kann es beliebig lange aufbewahren und behalten und ungeschützt in aller Öffentlichkeit verwenden.
18
eine „nachhaltige“ Beziehung zum Kunden etablieren will, indem es die Lieferung, das
„Fulfilment“ möglichst endlos ausdehnt? Wenn Anbieter mittlerweile ihren
Kundendienst für den Verkauf schulen, da man Kunden, die Fragen oder Probleme mit
den erhaltenen Produkten haben, besonders leicht vom Vorteil weiterer Produkte, von
Ergänzungen, Upgrades und Zubehör überzeugen kann, zeichnet sich darin die neue
Dramaturgie einer kommerziellen Interaktivität ab, die über den einzelnen Kaufakt
hinausgeht, ja die bestrebt ist, dem Kaufen die Pointiertheit des Aktes zu nehmen und es
in etwas Weiches, Andauerndes, einen Effekt der Nachgiebigkeit oder Nachlässigkeit
des Käufers eher denn seines Entscheidens zu verwandeln. Kann eine Währung vom
Typ des Geldes ein solches Kaufen tragen, wo der Kauf nicht mehr den Abschluß einer
Transaktion darstellt, sondern sich während der andauernden Ausdifferenzierung der
kommerziellen Beziehung zwischen Unternehmen und Kunde zu vollziehen hat? Kann
Geld weiterhin den kommerziellen Verkehr regeln, obwohl die aktuellen
Unternehmensphilosophien die kommerzielle Beziehung als eine Form von
Kommunikation verstehen und die Unternehmen den Anspruch erheben, finanzielle
Transaktionen zusammen mit anderen Formen des kommunikativen Austauschs zu
behandeln? Es fällt leicht, sich über einen Business-Slang lustig zu machen, der die
scheinbar banale Sache des Kaufes (möglichst billige Ware hin, möglichst viel Geld
her) mit Vokabeln wie „individuelles Bedürfnisprofil“, „Identifikation mit dem
Kunden“, „Commitment“, „Begeisterung“ oder „Empathie-Prozeß-Matrix“ umnebelt.
Doch nimmt man all diese Begriffe und Wendungen für einen Augenblick ernst, zeigt
sich, daß sie eine alte Zweideutigkeit der Geldwährung mit neuer Radikalität zum
Ausdruck bringen: den sozialen Charakter des Geldes.
„Geld“ lautete im Jahr 1900 die Antwort von Georg Simmel auf die Frage, wie
Vorstellungen in einer Gesellschaft unabhängig von den Individuen zirkulieren können,
die sie hervorbringen. Die Zirkulation des leeren und dadurch frei besetzbaren
Geldzeichens schien das Modell par excellence für die vom individuellen Denken und
Handeln abgespaltene Realität des Sozialen zu sein – das Medium einer imaginären,
aber dennoch wirksamen und nicht abweisbaren Objektivität von Werten, an denen wir
uns als gesellschaftliche Wesen immer schon messen lassen müssen und die ungefragt
19
(und normalerweise unbewußt) zum Maß dessen werden, was wir denken, sagen und
tun. Aber eben dieser paradigmatische Status des Geldes als oberstes Symbol des
Sozialen, als ausgezeichnetes Zeichen für das, was an der Realität über das dem
individuellen Handeln direkt Erreichbare hinausgeht, muß heute fragwürdig erscheinen.
Nicht deshalb, weil uns der Glaube an das Geld zu „nichts Gutem“ geführt hat und wir
endlich die „wahren Werte“ erkennen sollten (tatsächlich hat das Geld lange Zeit sehr
effektiv dazu gedient, als Negativfolie und Unterscheidungskriterium diese „wahren
Werte“ wie Liebe, Güte, Menschlichkeit, Verantwortung usw. als anökonomisch zu
identifizieren). Sondern weil Geldtransaktionen ein sozialer Prozeß unter anderen
geworden sind und keineswegs mehr das Symbol, in dem sich das Wesen der sozialen
Prozesse reflektiert. Wie die Sprache eine zeitlang das Modell aller formalen,
semantischen und pragmatischen Beziehungen zu sein schien und die Linguistik den
Rang einer Universalwissenschaft von der Beziehung als solcher bekleidete, so haben
auch die indirekten, über temporär standardisierte Werte vermittelten Formen des
Austausches, die das Geld ermöglicht, als Modell der sozialen Beziehung überhaupt
gegolten. Doch ist es heute umgekehrt die vielfältige soziale Bestimmtheit des Geldes,
die neu ins Blickfeld rückt und einen Philosophen wie Simmel wieder ein bißchen
aktuell macht.
Denn die zentrale These der Philosophie des Geldes besagt, daß eine Währung vor
allem von ihrer Anerkennung abhängt. Es gibt keine definitive Instanz, die sie dauerhaft
autorisieren könnte – auch nicht, wie wir mittlerweile noch besser wissen als Simmel
(der sich gegen die nationalistischen wilhelminischen Ökonomen im Aufstand befand),
der Staat. Obwohl es die konkrete einzelne soziale Beziehung distanziert oder
suspendiert, bleibt das Geld seinem Wesen nach sozial. Und eben dieses soziale Wesen
des Geldes könnte sich als eine unerwartete Grenze seiner Wirkungsfähigkeit
herausstellen, wenn das Ökonomische selbst sich jeder Differenz zum Sozialen entledigt
und mit der staatlichen Autorität die letzte Bezugsgröße jenseits des gesellschaftlichen
„Es hat Erfolg, wenn es Erfolg hat“ wegfällt. Eine neoliberale Dynamik der sich selbst
überantworteten Anerkennung, der reinen Rückkopplung von Verkehrswerten an die
Suggestivität ihres Zirkulierens steuert auf die restlose Identifikation von Ökonomie und
20
Gesellschaft zu. Das bedeutet nicht nur eine Ökonomisierung des Sozialen, wie sie seit
längerem diagnostiziert und kritisiert wird, sondern im Gegenzug auch eine
„Sozialisierung“ des Ökonomischen (es ist bezeichnend, daß wir dafür kein
entsprechend furchterregendes Wort haben, außer diesen Marx’schen Begriff, der doch
eigentlich etwas Gutes versprechen soll). Und die Auswirkungen einer derart
„sozial“ gewordenen Ökonomie, deren Wertschöpfung dem assessokratischen Regime
der Begutachtung und Verteilung von Partizipationsmöglichkeiten an
Bewertungsprozessen, dem Spiel der Anerkennung und ihres Vorbehalts unterworfen ist,
lassen sich nur erst erahnen.
Die sozio-ökonomische Entwicklung, wie wir sie aus der Geschichte der Neuzeit
kennen, hat sich in einer Spannung zur souveränen Selbstbehauptung des Staates
vollzogen. Der junge Nationalstaat stärkte seine Macht dadurch, daß er sich das
Geldmonopol sicherte (Norbert Elias hat das beschrieben). Doch er eröffnete damit
zugleich eine Front gegenüber seinen Bürgern, die als Vertreter privater Interessen
gerade in der Sache des Geldes zu seinen Konkurrenten wurden. Novalis entwarf in
Glauben und Liebe einen Staat, der sich ganz und gar in ein hochproduktives
Unternehmen verwandelt hat (und nahm damit den „totalitären Staat“ des 20.
Jahrhunderts in einer Version vorweg, die dem von Marx attestierten Primat des
Ökonomischen vor dem Politischen, Sozialen und Kulturellen in einem Maße Rechnung
trägt, das die wirtschaftlich schwachen Staaten des real existierenden Sozialismus und
Kommunismus haben vergessen lassen). Genau diesen Schritt konnte und wollte der
bürgerliche, nicht-totale Staat jedoch nie gehen. Obwohl er die Kontrolle über das Geld
hatte, nutzte er sein Monopol nie aus, blieb er gegenüber den sozialen und
ökonomischen Initiativen von privater Seite stets im Rückstand. Die ehemaligen
staatlichen Betriebe Post, Telekom und Bahn, die auf dem freien Markt nur überleben,
weil sie von ihren Quasi-Monopolen zehren, wirken wie monströse Zeugnisse dieser
ungeheuren ökonomischen Nachlässigkeit eines Staates, der „der Wirtschaft“ als
Bereich des privaten Unternehmertums erst eigentlich den Vorteil verschaffte, der die
Unternehmens-Konsortien nun als Akteure auf einem staatlich nicht mehr zu
kontrollierenden Weltmarkt zu überlegenen Gegnern jedes politischen Reformprojekts
21
macht, das die neoliberalen Glaubenssätze verletzt.
Das Geld fällt dabei zunehmend jener Entpolitisierung zum Opfer, die es selbst
angestoßen und getragen hatte. Im selben Moment, wo das Geld rückhaltlos
„sozialisiert“ wird, da die Dynamik der Anerkennung sich in Gestalt von globalen
Finanzmärkten verselbständigt und die politische Gegenkraft der souveränen staatlichen
Maßnahme wegfällt13, verschwindet die Grenze, die das Geld als Symbol von anderen
Medien sozialer Kommunikation trennte. Wir haben es nicht einmal mehr mit einer
dialektischen Wechselbeziehung von „materiellem Tausch“ und „symbolischem
Tausch“ zu tun, deren Dynamik sich im Medium des Geldes austrägt.
„Sozialisierung“ des Geldes besagt: das Geld verliert jede Szene, auf der es als
Motivation, Resultat oder verborgener Hintergrund eines sozialen Prozesses zu dessen
Symbol werden könnte. Monetäre und andere Interaktionen stehen in direkter
Konkurrenz zueinander oder durchdringen sich bis zu einem Punkt, wo ein Medium
widerstandslos dem anderen stattgibt.
Für ein Medium sozialer Kommunikation geht es nicht so sehr um geschmeidige
Äquivalenz und gehaltvollen Aufschub als vielmehr um effiziente Präsentation. Es gibt
keine Trennung von Zeichen und Gegenständen mehr, die dem Geld einen besonderen
Status garantierte. Der Übergang von der materiellen zur immateriellen Produktion, von
der herstellenden Arbeit zur bereitstellenden Verwaltung von Service bedeutet, daß die
symbolische Abspaltung von der Realität sich in die Realität der Produktion verlagert.
Eine Dienstleistung erlangt ihre Wirklichkeit als Produkt wesentlich dadurch, daß sie
sich selbst als solche präsentiert, die Zeichen für das, was in ihrem Namen vorstellbar
ist, auf eine Weise organisiert, die auf den Adressaten hinreichend suggestiv wirkt und
ihn so davon überzeugt, wirklich eine wertvolle Leistung in Anspruch genommen zu
haben. Die gegenständliche Spezifizierung einer Dienstleistung bleibt dabei oft ebenso
unklar wie ihr sachlicher Umfang, der Zeitpunkt ihrer vollständigen Lieferung usw.
(wie prekär derlei Spezifizierungen sind, zeigt sich in den zahlreichen Fällen, wo die
13 Auch das Führen von Kriegen, das in einer Phase, wo der Nationalstaat ums Überleben in einer globalen Ordnung kämpft, wie ein letztes Aufbäumen der staatlichen Souveränität wirkt, droht selbst den Haushalt der Weltmacht USA zu ruinieren und erhöht die Abhängigkeit des Staates von der privatwirtschaftlichen Unterstützung – vom Outsourcing der Logistik aus Kostengründen bis zu Wiederaufbau-Deals.
22
Suggestivität der Selbstauszeichnung nicht hinreichend war und der Kunde bemerkt,
daß die Dienstleistung vollkommen verzichtbar ist). Hier steht nicht mehr Ware gegen
Geld, sondern es treten Zeichen, deren Verweise das Profil einer Leistung modellieren
und diese präsent machen sollen, neben Geldzeichen, „qualitative“ neben
„quantitative“ Zeichen. Die Organisation dieser Zeichenarrangements ist weitaus
komplexer als eine Herrschaft des Geldes über die Dinge oder Dienstbarkeit des Geldes
für deren Verkehr. Das Geld trifft in seiner zeichenhaften Selbstbezüglichkeit in der
Warenwelt der Dienstleistungsökonomie auf eine Vielzahl anderer Zeichen, die
möglicherweise ebenso ‚leer’ sind und ebenso darauf angelegt sind, ihre eigene Realität
zu erzeugen, indem sie zirkulieren und als Beweis für die Wirklichkeit ihres eigenen
Funktionierens ihre bezeichnende Wirkung selbst unentwegt bekräftigen.
Geld gerät damit unter einen Präsenzdruck. Es muß sich in einem Kampf um
Gegenwärtigkeit behaupten, für den es niemals gedacht war. Hannah Arendt stellte
bereits in den 60er Jahren fest, daß im Vergleich zur Flüchtigkeit von Aufmerksamkeit
und Anerkennung im modernen sozialen Verkehr das Geld als etwas Dauerhaftes und
„Wirkliches“ erscheine.14 Je dichter ökonomische und soziale Prozesse einander
durchdringen, je mehr sich Verkaufen ebenso wie Arbeit als Kommunikation oder
Organisation von Kommunikation zu verstehen hat, so daß die kommerzielle
professionelle Tätigkeit und das soziale Leben konvergieren, desto stärker beschleunigt
sich die Wertschöpfung gegenüber jenen Transaktionen, in denen Geld die maßgebliche
Rolle spielt. Das treffendste „Symbol“ (tatsächlich eine Metonymie) für den aktuellen
Zustand des Kapitalismus sind die Praktikanten, die praktisch ohne Einkommen für die
Arbeit selbst arbeiten. Nur sie haben definitionsgemäß die Energie, das Engagement
und die Flexibilität, um den Idealen des Postfordismus zu entsprechen.15 Wer für seine
14 Hannah Arendt, Vita Activa. Vom tätigen Leben, München 2002 (1967), S. 71. 15 Platon sah die „lohndienerische Kunst“, d.h. die Kunst, Geld zu verdienen, als eine technische Fähigkeit unter anderen – keineswegs als Teil oder gar Beweggrund der Arbeit, sondern gerade als das Mittel, um nicht arbeiten zu müssen und die Freiheit zum (künstlerischen) Herstellen oder zum (politischen) Handeln oder schließlich zur Philosophie zu haben (Vgl. Politeia, 346c-e). Es scheint, als habe sich eine solche Trennung nunmehr im Arbeitsleben etabliert, als wäre das Geld-für-Arbeit-Prinzip in der postfordistischen Produktion sowohl von der Seite des Geldes als auch von der Seite der Arbeit her in Frage gestellt. Auf der einen Seite muß der im Management oder als Freelancer Beschäftigte stets selbst den Beweis führen, daß das, was er tut, als Arbeit zu zählen verdient, daß die Entscheidung, die der trifft, es wert ist, bezahlt zu werden, daß eine solche
23
Tätigkeit fest bezahlt wird, verfällt schon einer strukturellen Trägheit, die auf alle seine
Anstrengungen eine lähmende Wirkung ausübt. Demgegenüber bezeugt das
Gehaltsniveau im Spitzenmanagement, daß das Geld an irgendeiner Stelle vernichtet
werden muß, da im Grunde zuviel davon da ist und da es die eigentliche ökonomische
Aktivität nur noch stört. Der Vorwurf einer „Absahnermentalität“ und „skrupelloser
Bereicherung“ von moralisch besonders verkommenen Individuen, die es dummerweise
weit gebracht haben, reicht kaum aus, um die Bereitschaft zu ihrer Überbezahlung zu
erklären. Die Wahrheit scheint eher zu lauten, daß Geld träge macht und daß Mitarbeiter
dieser Trägheit erliegen, wenn man ihnen gute und verläßliche Gehälter zahlt. Die
Top-Manager sind die bösen Helden dieses Kapitalismus im Übergang zu einer
postmonetären Epoche, weil sie als einzige die Geldmengen verkraften können, ohne
dadurch nachzulassen. Ihre Schlüsselqualifikation besteht darin, daß ihre
Entschlossenheit von den Millionen, die man auf ihre Konten überweist, nicht gedämpft,
sondern weiter stimuliert wird. Es ist, mit einem altmodischen Wort, ihre unersättliche
Gier – doch bekommt diese Gier, die jedes Kosten-Nutzen-Kalkül überbordet und der
Investitionslogik hohnspricht, nun die quasi ökologische Dignität einer Entsorgung des
schlechten Geldes. Der überbezahlte Spitzenmanager ist ein Reflexionspol, der die
schlechte Endlichkeit der Geldsummen in die gute Unendlichkeit der unvergleichlichen
Leistung einer ‚Entscheidung, die die Effizienz erhöht’ zurückspiegelt. Der größte
ökonomische Fehler in einem solchen System wäre es, jemandem Geld zu geben, der
damit zufrieden ist. Und diese Gefahr besteht bei Geld immer.
Geld als Gegenwert für Arbeit ist also in dem Augenblick überholt, wo die Arbeit
eine den Tausch übersteigende Mobilisierung von Aktivität verlangt, wo sich die
Zahlung eine Investition und keine Ausgabe darstellt. Auf der anderen Seite wird in immer stärkerem Maße erwartet oder einfach vorausgesetzt, daß der Arbeitende einen Teil seiner Zeit und Kraft dafür aufbringt, für die Arbeit zu arbeiten, damit er den verbleibenden Rest (die von ihm ‚gewonnene’ Zeit) für sich selbst, für seine eigene Selbstverwirklichung arbeiten kann. Wenn der Künstler, der mehrere Jobs hat, um seine Arbeit als Künstler zu finanzieren, für die er kaum oder gar kein Honorar bekommt, zum Modell der Ich-AG avanciert, erweist sich die Kunst, Geld zu verdienen, als ein separater Bereich des Arbeitslebens, der zu all dem, was in der Moderne die Identität von Arbeit ausgemacht hatte – ein zusammenhängender Komplex von Wissen und Fertigkeiten, ein bestimmtes Zeitgerüst (der „Werktag“), eine in ihrer Höhe jeweils aushandelbare, aber als solche feststehende Beziehung von Arbeitsleistung pro Stunde und Geldwert usw. – die Verbindung verliert
24
Prinzipien der Produktion von den Gesetzen des Tausches emanzipieren. Innerhalb der
Ökonomie des Tausches gab es stets die Perspektive einer eigenen Übersteigerung,
einer riskanten „chrematistischen“ Spekulation, die zu einer unverhältnismäßigen
Vermehrung des Wohlstands oder zu seinem Verlust führte.16 Der klassisch-moderne
Kapitalismus konnte diese Perspektive nutzen, um den Tausch zu forcieren, die Einsätze
zu erhöhen und entsprechend exponentiell höhere Erträge zu erwirtschaften. Doch mit
der postfordistischen Neubewertung von Produktivität gilt es die chrematistische
Dimension von der Ökonomie der Produktion abzukoppeln: Die paar obersten
Entscheider an der Spitze, die als Unternehmer reich werden oder als Top-Manager
Millionen verdienen, haben nicht mehr die Rolle von Beispielen, von treibenden
Kräften, die ein Vorbild für das Ganze abgeben. Sie stehen eher für eine heikle, aber
notwendige Katharsis, eine Exteriorisierung des Geldes, die das Produktionssystem
braucht, um sich zu reinigen und seine selbstbezügliche Produktivität ungebremst
weiterzuentwickeln.
Zählen – Geld oder Zeit?
Die Zeit, nicht mehr das Geld, ist heute das Brot jener „innerweltlichen Askese“, von
der Max Weber hinsichtlich des modernen Kapitalismus sprach. Geld zu akkumulieren
und es dann nicht für Genuß oder Besitz auszugeben, sondern ohne Umschweife wieder
zu investieren – diese Haltung hat offenkundig die Bestimmungsmacht über die
ökonomischen Aktivitäten der Gegenwart verloren. Stattdessen realisiert sich das, was
früher die Reinvestition des Mehrwerts war, heute direkter und vollständiger im
Medium der Zeit in Form der Entscheidung. Das Entscheiden ist jener „asketische“ Akt,
der alles, was es an Zeit gibt, augenblicklich in Maßnahmen zum Erreichen eines neuen
organisatorischen Niveaus investiert. Das Entscheiden verbraucht Zeit nur, um Zeit zu
gewinnen. Ein gutes Zeitmanagement affirmiert sogar die Müßigkeit zu dem Zweck,
das Verhältnis von Produktivität und Zeit weiter zu steigern.17
16 Die begriffliche Entgegensetzung von Ökonomie und Chrematistik stammt von Aristoteles (Politik, 1257b, 1258a). Vgl. dazu auch Derrida, Falschgeld. 17 Ich habe die Paradoxien des Zeitmanagements ausführlicher untersucht in: Kai van Eikels, Poetik der Zeitkürzung. Zur temporalen Organisation im postindustriellen Management, http://t-rich.prognosen-in-bewegung.de/de/was-weiss-t-rich/texte/kai-van-eikels-poetik-der-zeitk-rzu
25
So sehr sich Management-Ratgeber und die Statements der Betreffenden bemühen,
das Entscheiden als den harten, realistischen Kern der Arbeit für das Unternehmen zu
präsentieren, sucht eine fast religiöse Emphase den Begriff der Entscheidung heim. Als
eine Art originärer zeitigender Akt kommt der Entscheidung des Managers mehr Macht
zu als die Perspektivierung einer spezifischen günstigen Zukunft (d.h. einer
Einschränkung der Unwahrscheinlichkeit ihres Eintretens). Der Akt der Entscheidung
redeterminiert vor allem auch die Zeit, in der die Entscheidung getroffen wird, und übt
dadurch einen Einfluß auf die Temporalität der Prozesse aus, die mit dieser
Entscheidung in Zusammenhang stehen. Jede Entscheidung im Management stellt eine
Selbstermächtigung über die Zeit des eigenen Handelns dar, einen Versuch, die Zeit
selbst als solche in die Hand zu nehmen – und die Logik dieser Ermächtigung ist im
Grunde eine poetische: „Mit jeder Berührung entsteht eine Substanz, deren Wirckung so
lange, als die Berührung dauert“, schreibt Novalis in einer seiner fragmentarischen
Skizzen einer magischen Chemie der Zeit. Die quasi alchimistische Substanz einer
solchen Berührung der Zeit spielt für die manageriale Organisation eine immer
maßgeblichere Rolle. In ihr lokalisiert sich etwas, was man als den magischen Kern der
zeitgenössischen Vorstellung von Arbeit ansehen müßte: eine unendlich kostbare
Kernsubstanz von Arbeitslebenszeit, die das Potential hat (oder ist), sich selbst zu
intensivieren, durch unendliche Verwandlung ihrer eigenen Struktur eine Verdichtung
zu erreichen. Die Verdichtung erlaubt es nicht einfach bloß, in kürzerer Zeit mehr zu
produzieren, sie wirkt sich unmittelbar auf die Qualität des Produkts aus. Hegel hatte
postuliert, daß eine quantitative Steigerung irgendwann in eine neue Qualität umschlägt.
Er formulierte damit die Maxime einer industriellen Ökonomie, die sich zunächst auf
das quantitative Mehr konzentrierte und die Emergenz des Neuen dem unaufhaltsamen
Fortschritt überließ. Die strukturelle Ungeduld des Postfordismus ist dagegen
vollkommen unfähig, auf den Moment eines solchen Umschlags von Quantität in
Qualität zu warten. Sie ruft bereits im Ansatz der Produktion, in der managerialen
Initiative, einen Kurzschluß zwischen quantitativer und qualitativer Steigerung hervor –
und hat daher kaum Verwendung für ein Medium, das Werte in quantitativen Einheiten
ng/.
26
speichert, um unterschiedliche Qualitäten zu repräsentieren, und von Fall zu Fall eine
Rückübersetzung ins Qualitative verlangt. Der unhinterfragbare Letztbegriff der
Effizienz steht hier für eine Ablösung der Steigerung von der Dialektik des
Quantitativen und Qualitativen. Er bezeichnet den unentwegten Kurzschluß dieser
Dimensionen in einem Augenblick, da die Gegenwart dazu angehalten ist, alle
Konsequenzen aus sich selbst zu ziehen: ein Mehr, das als Mehr zählt, ohne daß man
Zeit damit verlieren müßte, es nachzuzählen; ein Mehr-Werden, das sich ganz dem
Gegenwärtigen hingibt und die widerspenstige Form einer ungewissen Zukunft hinter
sich läßt.
Die Magie der Effizienz, die Zauberkraft eines unmittelbaren Umgangs mit der Zeit,
die sich von jeder mechanischen Äußerlichkeit befreit, läßt den magischen Glanz des
Geldes verblassen. Die Epoche des Geldes endet dort, wo die Zeit selbst jene Medialität
der freien Steigerbarkeit, eines nicht determinierten Enhancements übernimmt. Es
entfällt die Konvertierung der Steigerung in eine symbolische Ordnung des Mehr. Statt
ihn zu symbolisieren, um das Symbol auf ein Konto des unternehmerischen
Geleistet-Habens zu transferieren, verwendet man den Gewinn im Medium der Zeit
direkt – für eine weitere Entscheidung, die alles noch effizienter gemacht haben wird.
Gewinnen wird so ein Vorgang, der sich vollends ins Reale einläßt, ohne Umweg über
die Repräsentation der Differenz in einem symbolischen Code addierbarer Werte. Das
Arbeitsleben als eine Weise, in der Zeit zu sein, reorganisiert sich selbst als Technik des
Zählens – das heißt, Zählen stellt keine symbolische Operation mehr dar, die Arbeit
abbildbar und kalkulierbar macht, sondern es ist die elementare Funktion des Arbeitens:
ein märchenhaft anmutendes Er-zählen, ein unablässiges Sichpräsentieren, bei dem der
Arbeitende die Präsenz seiner eigenen Performance selbst generiert.
In einer Ökonomie, die nicht mehr primär durch das Produzieren, das
„Sich-selbst-Produzieren“ des Menschen bestimmt ist, sondern durch eine total soziale
Arbeit, die auch das Produzieren in Arbeit verwandelt, braucht man eine direktere
Konvertierung als die symbolische Äquivalenz des Geldes. Geld war, wie man im
Industriekapitalismus entdecken konnte, als leeres Zeichen des möglichen Mehr das
genuine Medium des Produzierens. Es unterbrach die Produktion und erlaubte es ihr,
27
sich mit Produktivität anzureichern, dabei aber auch als Wertschöpfung Produzieren zu
bleiben. Das Medium für die total soziale Arbeit ist jedoch die Zeit ohne symbolische
Beziehung ihrer Einheit zu einem diskreten Ort im Zentrum des Tausches – die
Äquisistenz statt der Äquivalenz.
Der fragliche Wert des Messens
Doch welchen Wert hat diese Präsenz von Arbeit, dieses „intangible capital“, wenn das
Geld als Maßstab versagt? Und welchen Wert haben die Produkte, die ein
postfordistisches Management von Produktivität über selbst immer flüchtigere Märkte
verstreut? Wie erfassen wir Werte, die sich von der Effizienz herleiten, bei denen es
sich um Figuren der Ununterscheidbarkeit von Qualität und Quantität handelt?
Nach der Enttäuschung an der „New Economy“ zum Ende des Jahrtausends beeilte
man sich, eine „Real Economy“ auszurufen, um das selbstbezüglich gewordene
Unternehmen wieder auf eine feste Basis zu stellen. Zu den Folgen dieser Wende, die
bis heute merkbar sind, gehört eine fetischistisch anmutende Fixierung auf die
Meßbarkeit von Erfolg. Techniken wie „Benchmarking“, ein minutiöser Vergleich der
eigenen Leistungen mit denen des Marktführers, Abteilung für Abteilung und Prozeß
für Prozeß, sollen Fiktionen abbauen und das Management auf Zahlen und Fakten
zurückbeziehen. Für fast alle Arbeitsabläufe etabliert man Meßmethoden, so daß jede
einzelne Leistung eines Mitarbeiters sich in irgendwelchen Meßergebnissen
niederschlägt und separat zur Beurteilung steht. Die Vervielfältigung von Messungen
und die Schaffung neuer Meßsysteme liefert dabei, fast unfreiwillig, einen weiteren
Beweis dafür, daß das klassische Maß aller Dinge in der Wirtschaft viel von seiner
Signifikanz eingebüßt hat. Die „Zahlen“ des Unternehmens haben mittlerweile einen
begrenzten Erklärungswert. Die Unternehmen präsentieren ihre positiven Bilanzen zwar
nach wie vor als starke Aussagen, aber eben weil sie vornehmlich für den Auftritt an der
Börse als Statement formuliert werden, sinkt ihr interner Wert. Die Orientierung auf den
shareholder value motiviert zu einer Vielzahl von Manipulationen, die auch die eigene
Unternehmensführung häufig kaum mehr durchschaut: „They can stretch out payments
by classifying them as capital expenditures to be amortized over years rather than
28
expensed all at once, treat debt as capital, book income before they have received it and
set up partnerships for transactions designed to hide liabilities or boost income
artificially. The possibilities of self-serving manipulation are endless, as Enron and
others have demonstrated.”18
Solche Bilanzen verraten den Managern eher wenig über die Arbeit, die sie in ihrem
Unternehmen organisieren. Deshalb tritt eine Vielzahl von Zeit- und
Effizienzmessungen hinzu, um das innere Schweigen der nach außen lautstark
verkündeten Zahlen zu interpretieren, und diese Messungen erschaffen ihre eigene
Wirklichkeit, eine Evaluationswirklichkeit, deren Kriterien sich gegenüber dem, was
Geld zu sagen vermag, zu einer anderen Sprache verschließen. Es gibt eine Stummheit
des Geldes, die den zahlreichen überlieferten Redensarten zu antworten scheint, mit
denen unsere Kultur sich der Bedeutung der monetären Währung zu versichern pflegte.
Zeit ist Geld? Nein: Zeit ist Zeit. Wir werden lernen müssen, die ökonomischen
Bewegungen in dieser Gleichung zu entziffern, ohne auf Geldzeichen zu treffen.
Kapitalistische Zeitmessung
Wenn ich hier die Dysfunktionalitäten der Geldes in der gegenwärtigen Phase des
Kapitalismus aufzähle, anstatt Ungerechtigkeiten anzuprangern oder Umverteilungen zu
fordern, so aus zwei Gründen: Erstens, weil es ein Fehlschluß wäre, aus der
unbestreitbaren Armut, die auf der Welt und mittlerweile auch wieder in Deutschland
herrscht, einen neuen ‚Ernst des Geldes’ zu machen. Die Verwalter des Reichtums und
die Opfer der Armut sind sich gerade in diesem Ernst fatal einig, der im einen
Augenblick die Form eines „Wir brauchen und haben Anspruch“, im nächsten die eines
„Wir können es uns nicht mehr leisten“ annehmen kann und die Einheit und Rationalität
einer Haushaltsführung vorspiegelt, die beide Haltungen miteinander vermitteln könnte.
Der korrekte Hinweis darauf, daß viele Menschen zu wenig Geld haben, sollte uns nicht
in den Glauben an die Macht des Geldes, ob zum Guten oder zum Schlechten,
zurücktreiben. (Eine Politik der Entschuldung, wie sie zurecht gefordert wird, hätte
gerade endgültig mit der Kreditherrschaft zu brechen, indem sie die Verpflichtungen auf 18 Robert Guttmann, Cybercash. The Coming Era of Electronic Money, Basingstroke/New York 2003, S. 32.
29
Null bringt; sie müßte die Unmöglichkeit einer Politik des Geldes dadurch anerkennen,
daß sie die überkommene Zeitbindung durch gegebenes Geld irreversibel annulliert).
Zweitens geht es mir darum, auf einen Bereich der Steuerung, der Kontrolle und
Manipulation des Lebens hinzuweisen, der bislang eher im Schatten einer Kritik des
Postfordismus stand und selbst in den Analysen der Entdifferenzierung von Leben und
Arbeit eine eher marginale Rolle spielt: die Etablierung einer kapitalistischen
Zeitmessung, deren Wirkung weit über die Auflösung fester Arbeitszeiten und eine
allgemeine Ökonomisierung hinausgeht, die am Ende einer Ära des Geldes vielmehr die
Aufgabe bekommt, Maße dafür zu implementieren, was zählt, was einen Wert darstellt,
was Anerkennung findet, was in einer restlos kommunikativen Realität das Niveau des
Existierenden erreicht – und was nicht. Da die Zeit der Bindung durch das Geld
entgleitet, wird sie selbst zum Medium, in dem sich Gewinne und Verluste ohne
Umweg über eine symbolische Repräsentation realisieren. Und die
Existenzbedingungen in einer solchen Realität der unmittelbaren Realisierung sind
weniger von Gegensätzen wie Haben und Nichthaben bestimmt als von den Differenzen
in der Fähigkeit, sich mit bestimmten Anerkennungs- und Bewertungsprozessen zu
synchronisieren, die eigenen Leistungen innerhalb dieser Prozesse präsent zu machen
und von dieser Präsenz für das eigene Dasein zu profitieren. Geld lohnt nicht mehr, weil
etwas anderes mittlerweile zum privilegierten Objekt einer systematischen
Verknappung und eines prinzipiellen Vorbehalts geworden ist. Die aktuellen Szenen des
Mangels und des Überflusses sind Augenblicke, in denen wir es uns „nicht mehr leisten
können zu warten“ oder in denen die Freiheit die Gestalt eines Entlassenwordenseins
angenommen hat. Augenblicke verminderter oder verstärkter Anwesenheit an der
Schwelle zur Partizipation. Wie verhält man sich in so einer Zeit?
Der leere, stets nur zeichenhafte Wert des Geldes hielt, indem er ihn scheinbar
vollkommen zu vernachlässigen gestattete, immer noch jenen absoluten Wert in der
Gegenwart, der „weder zweckgerichtet noch sich selbst äquivalent ist“.19 Wenn die
Selbstbezüglichkeit des Geldes, das „die Welt regiert“, das Menschliche ersetzen konnte,
so indem das Geld präzise an die Stelle der Menschheit trat, um das Menschen-Werk
19 Jean-Luc Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Zürich/Berlin 2003, S. 25.
30
vom unmenschlichen Druck seiner Totalität zu entlasten, ihm mehr Zeit zu verschaffen
(mehr vor allem auch im Verhältnis zur Geschichte) und unterdessen, zur Zeit der
Suspendierung des Menschen-Werkes, vieles zum Funktionieren zu bringen. Das
Geldzeichen hielt dabei den Platz dieses Menschen-Werkes, den Platz des absoluten
Wertes offen, und gerade dort, wo es sich allein auf sich selbst bezog, wahrte und
bewahrte es die Möglichkeit einer revolutionären Umkehr des Kapitalismus in eine
Epoche der Menschheitsgeschichte – die Möglichkeit einer Umkehr, mit der sich
herausstellen würde, daß das alles doch zu etwas gut gewesen war, daß es im Sinne des
Projekts Menschheit sinnvoll gewesen war, die Sache auch durch ihre kritischen Phasen
hindurch weiterlaufen zu lassen. Wer immer sagte, daß es „nur ums Geld“ gehe, brachte
mit diesem Vorwurf noch einmal die Hoffnung zur Sprache, die Entleerung der Welt
durch die Herrschaft des Geldes erhalte die Welt doch als Horizont einer denkbaren
Umkehr. Der Kapitalismus, der die Weltherrschaft beanspruchte oder sie sich zumindest
vorwerfen ließ, erneuerte indirekt sein Versprechen, daß sein eigentliches Ziel seine
Aufhebung sei. Ein Kapitalismus ohne Geld ist dagegen ein Kapitalismus ohne ein
solches Versprechen, ja vielleicht überhaupt ohne Versprechen.
31
2. Aporien des Kaufens
Zahlungserinnerungen
Die deutsche Politik der Nachwendezeit hat sich auf die Verwaltung von Problemen
konzentriert, die „strukturell“, d.h. in den gegenwärtigen Strukturen unlösbar sind:
Arbeitslosigkeit, Krise des Renten- und Gesundheitssystems, schlechte Leistungen der
Schulen... Die Maßnahmen der Regierung erhielten daher regelmäßig den Titel
„Strukturreform“. Ihr Status relativierte sich aber schon in dem Moment, wo das
Finanzierungskonzept vorgestellt wurde, das sie ermöglichen sollte. Was sich in den
Programmen und Erklärungen als radikale Erneuerung präsentierte (deren Radikalität
man auch mit negativen Attributen wie „schmerzhafte Einschnitte“, „Heulen und
Zähneklappern“, „Opfer bringen“ usw. zu unterstreichen suchte), erschien in der
Haushaltsplanung als ein Hin- und Herschieben von Positionen, deren Gesamtumfang
kaum verrückbar war, ein paar minimale Änderungen im Verhältnis von
Schuldensummen und erwarteten Einnahmen. Zum einen durchkreuzte diese fade
buchhalterische Kreativität des Verschiebens die Dramaturgie des Neuanfangs und
lieferte die vollmundige Sprache der Innovation einem kleinbürgerlichen Mißtrauen aus
(gab es einen deutlicheren Beweis für die Machtlosigkeit „der da oben“ als ihr
klägliches Hoffen auf rettende Mehreinnahmen bei irgendeiner Steuer? – und bewies
nicht andererseits das Tricksen und Schieben bei der Finanzierung, daß das alles
„irgendwie nicht sauber“ war und von der Parteispende bis zur Rentenreform im
Grunde „ein einziger Sumpf“ herrschte?). Zum anderen erhielt der Haushalt eine
repräsentative Funktion von nie dagewesener Prominenz: Stellvertretend für politische
Selbstbestimmungen des Staates schienen seine Zahlen die (meist bittere, mal etwas
freundlichere) Wahrheit des Ganzen zu sagen. Die Haushaltsbilanz avancierte zur
höchsten und bald einzigen Instanz der Selbstbeobachtung und Selbstprüfung – und
damit implizit zur letzten wirksamen Unterstellung einer Einheit, für die es weder eine
politische noch eine soziale oder kulturelle Bestätigung gab. Auf die Frage eines
Außerirdischen, was der Staat sei, müßte man zu Beginn des 21. Jahrhunderts
32
antworten: die Verbindlichkeit eines Haushalts für die Finanzierung von Maßnahmen,
die ein paar Millionen Menschen betreffen.
Das heißt, die Zahlen des Geldes haben wie nie zuvor den Sinn des Ganzen zu tragen.
Sie büßen gerade den Vorteil ihrer Abstraktheit ein, angesichts der appellativen und
suggestiven Konkretheit inhaltlicher politischer Bestimmungen zu verblassen und
zwischenzeitlich vergessen zu werden. Geld ist nicht mehr das Medium des Vergessens,
das verlockende Ausbreiten einer Zwischenzeit, die dem Handelnden eine gewisse
Rücksichtslosigkeit und Unvorsichtigkeit ermöglicht, da sie ihn für eine Weile von den
Erinnerungen an das Nichtbeglichene befreit. Die Sprache der Zahlen überläßt die
Dinge nicht mehr der entschlossen zupackenden Hand des Unbedachten. Sie bringt
selbst einen neuen Diskurs des Mahnens hervor, eine Rede, die sich und allen
Adressaten jedes Vergessen, jede Befreiung durch einen Augenblick des Vergessens im
Handeln versagt. Wie keiner seiner Vorgänger personifizierte der deutsche
Finanzminister Eichel während der konjunkturell schwachen Jahre der
Schröder-Regierung dieses Regime der unnachgiebigen Zahlungserinnerung: jemand,
der stets mit der Geste des Mahnenden auftrat, während er selbst als von der EU
Gemahnter mit der Miene eines verstockten Schülers vor die Kameras trat.20
Zu den „Schlüsselkompetenzen“ des international konkurrenzfähigen jungen
Menschen, wie ihn die Post-Pisa-Pädagogik vorsieht, gehört ein Wissen, das zum
Umgang mit der Mahnung befähigt. Von heute aus betrachtet wirkt es wie ein
exotisches Versäumnis, daß man noch meiner Generation in der Schule so gut wie
nichts über Wirtschaft beigebracht hat. Das wenige, was wir im Abiturjahrgang 1989
erfuhren, kam im Erdkunde-Unterricht zur Sprache. Das Bildungssystem ordnete
Ökonomie in das Wissen um die Erde ein – ein Wissen, das eine dem Menschen
grundsätzlich vertraute, quasi-natürliche Umgebung betraf, die tellurische
Zuverlässigkeit des Nutzens und Nährens, und das jeder historischen Dynamik
entbehrte (in Geschichte spielte Wirtschaftspolitik eine auf die Schicksalsattribute
„günstig“ oder „ungünstig“ reduzierte Rolle, und ein Geschichtsmodell wie das
Marxsche, das politische Vorgänge auf die ökonomische Basis zurückführte, wurde 20 Peer Steinbrück hat dagegen Erfolg mit einer ins Fröhliche gewendeten Mahnergeste und bietet gewissermaßen die komplementäre Miene zur selben Botschaft.
33
kaum mehr als erwähnt). Heute stellen Bildungsreformer das Fach Wirtschaft neben
Englisch und Mathematik, um seine Wichtigkeit hervorzuheben. Es scheint in dieser
Trias auch inhaltlich richtig plaziert, denn neben die Weltsprache für die internationale
Kommunikation und die künstliche Sprache der Berechnungsformeln zur Verwaltung
und zum Reengineering derselben Welt tritt das Ökonomische als eine dritte Sprache,
die es zu lernen gilt.
Die fremde Sprache der Zahlen
Geld gleicht zunehmend einem schwierigen Diskurs, den ich mir erarbeiten und in dem
ich eine stammelnde und stotternde Selbstbehauptung formulieren muß. Die Rede vom
„finanziellen Analphabetismus“ kommt auf in einer Situation, wo der Staat seine Bürger
in die finanzielle Selbständigkeit entläßt und die Diskussion um Rentenfonds und
Eigenbeiträge (oder andererseits Schuldenverjährung und Möglichkeit der Insolvenz als
Privatperson) das Tagesgespräch durchzieht. Die Verwirrung, die bei diesen im
einzelnen durchaus nachvollziehbaren Schritten entsteht, geht darauf zurück, daß die
monetäre Währung heute nicht mehr das ausgezeichnete Symbol sozialer Beziehungen
ist, sondern nur ein Typ von zirkulierenden Zeichen unter vielen anderen, und wir
dennoch weiterhin glauben, daß die Zahlen uns das Wesentliche sagen werden. Die
Institutionen unserer Gesellschaft halten das Geld in seiner symbolischen Funktion
zurück. Geldsummen, so legt man uns nahe, bedeuten etwas – doch es ist zunehmend
unklar, was. Was früher als Weg vom Mehrdeutigen zum Eindeutigen erschien, die
Rückführung eines komplexen Bedeutungszusammenhangs auf Zahlenwerte, stellt sich
nun umgekehrt als Ursprung einer anderen Mehrdeutigkeit heraus: Soll ich die Aktien
eines Unternehmens kaufen, das mit einer positiven Bilanz aufwartet, um die
Perspektiven für meine Altersversorgung zu verbessern? Vielleicht, aber selbst wenn
die Bilanz stimmt (das heißt, ‚wahr’ und nicht bloß ‚stimmig’ manipuliert ist), reicht das
noch lange nicht, um eine aussichtsreiche Prognose über die weitere Entwicklung zu
stellen. Hat es im Unternehmen in jüngerer Zeit eine umfassende Reform der
Geschäftsprozesse gegeben? Hat es nachhaltiges Innovationspotential? Haben andere
Unternehmen im selben Markt vergleichbare Erfolge erzielt, und gibt es dafür ähnliche
34
oder unterschiedliche Ursachen? Diverse 3-, 5-, 7- oder 20-Punkte-Programme
versuchen den Analphabeten in der Sprache des selbstbezüglichen Geldes zu
unterrichten, aber diese Crash-Kurse verstärken ihrerseits den Eindruck, daß es sich
dabei um eine fremde Sprache handelt, daß ich von mir aus nicht verstehe, was eine
Zahl besagt.
Der griechische Ausdruck „ta mathemata“ meinte ursprünglich das Bekannte, das,
was von einer Sache selbst bekannt ist, unabhängig davon, ob ich einzelne
Eigenschaften daran wahrgenommen habe oder nicht: das Körperliche des Körpers, das
Pflanzenhafte der Pflanzen usw. Die Zahlen und ihre Projektion in den geometrischen
Raum wurden bereits für die Griechen rasch zum exklusiven Inbegriff dieser Art von
Evidenz, und ihre Lernbarkeit („Mathematik“ bezeichnete dann allgemein das
Lernbare) reinitiierte das menschliche Dasein in der Welt an einem neuen
Ausgangspunkt und mit einer neuen Perspektive. Das rationalistische Abenteuer einer
analytisch immer tiefer durchdrungenen und dabei immer fremder und unverständlicher
werdenden Welt, in der die Klarheit der Zahl den einzigen festen Anhaltspunkt darstellt,
setzt sich bis in unsere naturwissenschaftlich-technologisch geprägte Gegenwart fort
(wobei der Glaube an die Wiedererinnerung überzeitlicher Wahrheiten mittlerweile
einem Zweckvertrauen in die reine Operativität des Berechnens gewichen ist). Während
sich die Mathematik als wissenschaftliche Disziplin vom Alltagswissen entfernte, blieb
der Glaube an die Klarheit der Zahlen Teil des „common sense“. Das bürgerliche
Ressentiment zieht heute zwar nach Belieben Statistiken in Zweifel (wenn sie etwa
besagen, daß die Zahl der sexuellen Gewaltverbrechen zurückgegangen ist). Die
eigentliche Erschütterung dieses Lebens in einer von der Zuverlässigkeit der Zahl
geschützten Umgebung erfolgt jedoch in der Sache des Geldes, denn hier geht es nicht
bloß um einen Vorbehalt gegen die Korrektheit einzelner Darstellungen, sondern um
eine existenzielle Verunsicherung: Ich verstehe nicht, was diese oder jene Rechnung
bedeutet, obwohl man mir klar macht, daß sie mein Leben betrifft. Das Nennen eines
Geldbetrags trifft immer seltener auf jene Evidenz der Zahlen, die der Entscheidung
vorarbeitet und sie von der Last ihrer eigenen Willkür erleichtert. Die Zahlen haben
aufgehört, die Sprache des Bekannten zu sprechen; sie deuten nur an, daß es etwas gibt,
35
was man kennen müßte, um sie zu verstehen.21
Und wer immer Zahlen veröffentlicht, steht im Verdacht, unsere mangelnde
Kenntnis auszunutzen. Die seltsame Verwirrung vieler Bürger hierzulande damals bei
der Euro-Einführung wäre wohl in diesem Zusammenhang zu sehen. Die
Währungsumstellung wurde indirekt zum Schauplatz der allgemeinen Verwirrung durch
die Umwertung des Geldes. Rein arithmetisch erklärt es sich kaum, warum in
Deutschland, wo der Umrechungskurs von Mark in Euro fast genau 2 zu 1 war, der
Wechsel ein solches emotionales Chaos anrichten konnte. Es scheint, als ob diese
plötzliche symbolische Schwäche, diese Phase der Labilität auf der Zeichenebene nur
die Gelegenheit gab, um die Ängste und Aggressionen aus der Verunsicherung über den
Wert des Geldes überhaupt auf die neue Währung zu projizieren. Der Euro mißriet zum
Exempel eines Geldes, dessen Zahlen nicht das sagten, was sie sagen sollten, eines
Geldes, das an sich schon eine Lüge war. Egal, wie oft die Vertreter des Handels den
Verbraucherverbänden vorrechneten, daß es sich bei den neuen Preisen mehrheitlich um
exakte oder nach unten gerundete Entsprechungen zu den alten handelte – ein innerer
Widerstand gegen diese Währung hatte sich bereits organisiert.
Die Unsicherheit hinsichtlich des Geldwerts betrifft diesmal nicht schwankende
Umtauschkurse (der Euro hat sich ja als äußerst stabil erwiesen) oder eine hohe
Inflation, wahrscheinlich noch nicht einmal den realen Verlust von Kaufkraft. Sie
betrifft die Orientierungsfunktion des Zählens. Die Verbindung zwischen Zahl und Wert
scheint durchtrennt – und der „quiet, rational way“ des Geldes, den Adam Smith pries,
damit an einem Punkt angelangt, wo das Zählen, die scheinbar regulärste und
verläßlichste Tätigkeit, die der Mensch vermag, einer unerwarteten eigenen Kontingenz
begegnet: Daß ich die Zahlen kenne, bedeutet noch lange nicht, daß ich ihre Botschaft
vernehme. Falls andere anders zählen, ist meine eigene Kalkulation nichts mehr wert.
Ich werde einen großen Teil meiner Lebenszeit darauf verwenden müssen, um die
Kalküle letzter Hand zu erfahren, nach denen die anderen zählen.
Und die Netzwerke des Zählens finden sich nicht mehr zu einer großen
21 „Leben Sie – alles andere machen wir“, lautete der Werbeslogan einer Bank, die darauf reagierte. Doch gerade den Banken traut man die Kompetenz im Diskurs des Geldes nicht mehr zu. Ihre Mitarbeiter können korrekt Geldnoten zählen, aber als Anlageberater gehören sie zu den Versagern.
36
Gemeinschaft zusammen, die im Katastrophenfall ein New Deal wieder konsolidiert.
Die Katastrophen in diesem deregulierten Spiel mit Zahlen werden, unabhängig davon,
welches verheerende Ausmaß ihre Schäden erreichen mögen, niemals die starke
Wir-Form einer „Weltwirtschaftskrise“ annehmen. Sie sind und bleiben persönliche
Katastrophen, private Ausfälle, Idiosynkrasien in der glokalen monetären
Kommunikation. Einzelpersonen, Interessengemeinschaften, KMU und große
multinationale Konzerne, NGOs und Regierungsorganisationen, Staaten und
Staatenverbände – die Größe der Akteure entscheidet zwar weiterhin maßgeblich über
ihren Einfluß und ihre Macht, doch die sozialen Determinationslinien des Zählens
ziehen sich quer durch diese Hierarchie hindurch. Es gibt kein allgemeines und
besonderes Zählen. Die Konsequenz dieser Resistenz der Zahl gegen die hierarchische
Ordnung heißt nicht Chancengleichheit, sondern gleichmäßige Instabilität (und damit
das Verschwinden einzelner fester Punkte, von denen her die Ordnung verständlich
wird, und einzelner labiler Punkte, an denen sie umkehrbar wird).
Szenen der Bewertung
In keiner Phase des monetären Kapitalismus hat der Geldwert die verschiedenen
Wertzuschreibungen, die eine Ware auf sich zieht, jemals vollständig repräsentieren
können. Das war auch nicht seine Aufgabe. Vielmehr interagierte der Geldwert mit den
anderen Bewertungen, brachte die Dynamik der Wertschätzung, der Ent- und
Neubewertung immerzu wieder in Gang: Ist eine Ware wirklich das wert, was wir dafür
bezahlt haben? Hat jemand anderes etwas ähnliches für deutlich weniger bekommen?
Übersteigt der persönliche Wert, den ein Gerät mit den Jahren zuverlässigen
Funktionierens in meinem Hauhalt für mich bekommen hat, das, was ich dafür bezahlt
habe, so daß ich kein neues kaufen will, selbst wenn leistungsfähigere Geräte heute viel
billiger sind? Der Geldwert kann diese belebende Kraft in der Sphäre des Wertes dann
entfalten, wenn es eine Szene der Bewertung gibt, eine vom Kommerziellen
durchzogene Öffentlichkeit, in der Wertvorstellungen sichtbar aufeinandertreffen, sich
vergleichen, kollidieren, einander bekräftigen oder modifizieren. Der kommerzielle
Erfolg von Produkten hängt zu einem erheblichen Teil davon ab, ob es gelingt,
37
zusammen mit ihrer Einführung solche Szenen zu schaffen bzw. die vorhandenen zu
besetzen.
Die Dynamik der Bewertung läßt sich auch in Zeiten schleppender Konjunktur und
sinkenden Wohlstands steigern. Die Explosion von Tarifsystemen, etwa der
Tarifdschungel, den wir in Deutschland mittlerweile bei Mobilfunk-, Telefon- und
Internet-Providern haben, zeugt vom Erfolg solcher Strategien und vielleicht auch schon
von ihren Grenzen. In einer Situation, wo das Verhältnis von Preis und Wert nicht nur
von immer mehr Faktoren abhängt, da die Leistung sich durch Zusatzdienste,
Service-Mixes und technologisch bedingte Neuerungen und Verbesserungen
diversifiziert, sondern fast täglich neue Tarife dazukommen und die Verhältnisse
umstürzen, entstehen ein eigener „Handy-Diskurs“, ein „DSL-Diskurs“ usw. Diese
Diskurse bündeln für eine Weile die Aufmerksamkeit auf die Produkte und nehmen die
entsprechenden Produktbereiche von der allgemeinen kommerziellen Flaute aus. Man
kann sich jedoch fragen, was mit dem Geld passiert, wenn es als Position innerhalb
einer Strategie der Verlebendigung von Bewertung um jeden Preis fungiert, und wie
diese dramatische Dynamisierung auf seine Funktion als Währung zurückwirkt.
Obgleich sie sich dieser traditionellen Form bedienen, gehen derartige Strategien weit
über die temporäre Unterbrechung von Preis-Leistungs-Kurven durch Rabatte und
Dumping-Preise hinaus. Sie reduzieren das Geld auf ein Mittel zur unablässigen
Wiedererweckung des sterbenden Interesses an Produkten.
Das hat den Effekt, daß das gekaufte Produkt dem Risiko einer sofortigen
Entwertung unterliegt. Der Anbieter wird das Handy, das ich heute für 200 Euro gekauft
habe, möglicherweise morgen für 0 Euro zusammen mit einem Vertrag verschenken.
Wäre es also nicht in jedem Fall besser, mit dem Kauf abzuwarten, bis der Wert bei
Null ist? Ist Null nicht der einzige zuverlässige Orientierungspunkt und alles über Null
tendenziell unbefriedigend? Auch wenn das ein Extrembeispiel sein mag – der
rückhaltlos dynamisierte Bewertungsdiskurs ruiniert letztlich den Kaufakt. Souverän in
diesem Spiel fast ohne Regeln ist derjenige Kunde, der unbegrenzt abwarten kann,
während der Käufer, selbst dort, wo er auf ein Sonderangebot reagiert, immer riskiert,
sich in der Position des Verlierers wiederzufinden wie der Kleinaktionär, der aus
38
Feigheit zu früh abgestoßen hat, ehe der Titel explodierte.22
Während sie in ihrem Alltagsleben immer mehr Zeit auf Szenen der Bewertung
verbringen und dabei starke kommerzielle Interessen entwickeln, lernen die Menschen
zugleich, daß Nichtkaufen tendenziell dem Kaufen überlegen ist. Das Gekaufthaben im
Sinne des Sicheistenkönnens tritt als Selbstbehauptungsgeste hinter das Wissen um den
neuesten Stand der Wertverschiebungen zurück. Man kauft quasi nur noch aus Notwehr,
weil es sich irgendwann nicht mehr vermeiden läßt. Und es kann durchaus sein, daß die
Kunden zukünftig noch wesentlich besser im Vermeiden des Kaufens werden, daß sich
die Logik der Bewertungsdiskurse umkehrt und die dynamische Preisgestaltung sich
von einem Stimulans zur kommerziellen Katastrophe wandelt.23
Wenngleich die Kulturpessimisten recht haben mögen und unser Leben tatsächlich
immer stärker von kommerziellen Strukturen durchdrungen ist, schwächt die gesteigerte
Kompetenz der potentiellen Käufer im sozialen Prozeß der Wertermittlung die
Bestimmungsmacht des Geldes in diesem Prozeß. Stellte die Größe des Geldes in der
sog. Konsumgesellschaft stets einen dominanten und daher sozial heiklen Faktor dar
(man denke an die alte Weisheit, Freundschaft und Geld getrennt zu halten, um die
Freundschaft nicht zu gefährden), wird das Geld in der Bewertungsgesellschaft von der
Dynamik der sozialen Interaktionen erfaßt und aus der Reserve seiner monetären
Distanz gerissen, wird die Dignität der Zahl im sozialen Zeichentausch bis zu einem
Zustand persifliert, wo nur noch die Null einen Rest von Autorität über die Beliebigkeit
22 Am ausgeprägtesten sind die Bewertungsdiskurse unter den Angehörigen finanziell schwacher Schichten. Es würde zu kurz greifen, wollte man einfach unterstellen, daß diejenigen, die sie sich am wenigsten leisten können, am stärksten von materiellen Gütern fasziniert sind. In einem Zustand vor dem Kauf bildet sich hier eine eigene soziale Dynamik mit eigenen Kompetenzprofilen heraus. Es genießt nicht der das größte soziale Prestige, der dem Kauf am nächsten ist, sondern derjenige, der sein Wissen über das neueste kommerzielle Objekt am coolsten und überzeugendsten so präsentiert, daß er zugleich mit seiner Expertise seine Unabhängigkeit vom Haben beweist. Man sollte diese Diskurse als eine Rekonstruktion, vielleicht auch bloß Simulation jenes Gefühls des „Die Zeit arbeitet für uns!“ analysieren, das früher die Arbeiter im Streik einte. 23 Nebenbei droht dieses angeheizte Spiel der Bewertung andere Bewertungsdynamiken zu vernichten. Für diejenigen Anbieter, die z.B. mit einer langfristigen Stabilität von Preisen argumentieren und dies als Ausdruck einer besonderen Dignität, eines „bleibenden Wertes“ der Ware präsentieren wollen, erweist sich diese Entwicklung der kommerziellen Öffentlichkeit als fatal. Wenn es immer weniger „Qualitätsarbeit“ gibt, dann vielleicht nicht einmal primär deshalb, weil die Menschen in unserer „kurzlebigen Zeit“ das Interesse an der Güte von Produkten verloren hätten, sondern weil das Geld, das sie für diese Produkte ausgeben, die Stabilität, die es braucht, um einen bleibenden Wert in der Vorstellung des Käufers zu erzeugen, kaum mehr zu garantieren vermag.
39
bewahrt.
Die qualitative Relation zwischen Angebot und Nachfrage, die klassische
ökonomische Berechnungsformeln in Wechselwirkung mit dem Preis sehen – einem
Preis, der die souveräne Abstraktheit der Zahl hat und von dorther ins Konkrete
zurückwirkt –, findet sich heute mit einer umstandlosen Konvertierung des
Quantitativen und Qualitativen in der sozialen Performanz der Bewertung konfrontiert.
Bislang sind Absatzsstrategien erfolgreich, die mit der Steigerung dieser Performanz
kooperieren. Aber diese Kooperation verstärkt die soziale Abhängigkeit der
ökonomischen Strukturen. Wenn Jugendliche nur noch über Handys zu reden scheinen
und Angestellte einen wachsenden Anteil ihrer Freizeit (oder Arbeitszeit) damit
verbringen, im Internet nach günstigen Tarifen zu surfen, haben wir es keineswegs nur
mit der oft beklagten Kommerzialisierung des sozialen Lebens zu tun. Umgekehrt wird
man ebenso die Redeterminierung der kommerziellen Strukturen durch die sozialen
Prozesse zu beobachten haben, denen sie sich anvertrauen, wenn sie Szenen der
Bewertung zu eröffnen oder zu aktivieren versuchen. Wir haben uns daran gewöhnt, das
Soziale als „gut“, das Ökonomische, insbesondere wenn es „nur ums Geld geht“, als
„schlecht“ anzusehen, und noch die jüngeren Anstrengungen, die Wirtschaft zur
Leitdisziplin und zur conditio sine qua non aller Wohltaten zu erklären, halten an der
Fiktion des Sozialen als Endzweck der ökonomischen Steigerung fest. Diese Sichtweise
verkennt zwangsläufig, in welchem Maße das Soziale immer schon Teil des
Ökonomischen ist und wie weitgehend die Wirtschaft unserer Zeit sich den
Kontingenzen vielfältig beeinflußter sozialer Prozesse öffnen muß, um ihren Produkten
überhaupt Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die Wendung „Ökonomie der
Aufmerksamkeit“, die durch Georg Franck populär wurde, ist im Grunde die verlegene
Umschreibung eines einzigen Wortes, das es in unserer Sprache bisher nicht gibt:
Aufmerksamkeit (genauer: das Moment der Anerkennung, das ein bloßes Aufmerken
bereits impliziert) bezeichnet eine durchgängige Verbindung des Ökonomischen mit
dem Sozialen. Geld hat lange Zeit dazu gedient, dieses ökonomische Moment sozialer
Prozesse zu stärken, und so die Illusion ihrer Steuerbarkeit kultiviert. Doch gegenwärtig
gerät es eher in die Position eines Spielballs der sozialen Dynamik von Bewertung. Der
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Akt des Kaufens, mit dem das Geld die Kontrolle übernimmt, büßt auf den Szenen der
Bewertung seine versammelnde Kraft ein. Die Zeit des Bewertens kommt immer besser
ohne einen Augenblick des Kaufens aus.
Wie kaufen?
Apologeten des Geldes (etwa Norbert Bolz in seinem Konsumistischen Manifest) loben
ausführlich, wie es Distanz schafft, wie es die penetrante Komplexität wechselseitiger
sozialer Beziehungen durch einen einfachen Bezahlungsvorgang ersetzt. Ich muß den
anderen nicht überzeugen oder überreden, mir etwas zu geben oder etwas für mich zu
tun. Ich muß keine Gemeinsamkeiten zwischen uns konstruieren oder deren
Unterstellung erdulden. Ich muß ihn nicht in mich verliebt machen oder seinen Haß auf
mich besänftigen. Es reicht, daß ich ihn bezahle. So sieht ein großer zivilisatorischer
Fortschritt aus.
Hat das Geld diese Leistung aber wirklich jemals erbracht? In der europäischen
Literatur, die ab dem späten 18. Jahrhundert eine gewisse Aufmerksamkeit für die
Szenen des Kaufens entwickelt, finden sich hier und da nachdrückliche Zweifel.
Rousseau klagt in seinen Confessions darüber, es habe ihn nie glücklich gemacht, Geld
zu besitzen, weil es für jemanden wie ihn unmöglich gewesen sei, sich etwas Gutes
dafür zu kaufen. Nur wer mit dem Händler verwandt, befreundet oder in seinem Metier
bewandert sei und zu feilschen verstehe, habe eine Chance, nicht betrogen und
gedemütigt zu werden. Geld schützt mich nicht zuverlässig vor dem Gewaltpotential der
persönlichen Begegnung mit dem anderen. Es verlagert das Psychodrama nur ins Innere
eines Gesprächs, dessen expliziter Teil sich auf eine Frage, ein paar Informationen über
Dinge, Preise, Serviceleistungen und Garantien, ein Zögern und sanftes Drängen und
einen raschen informellen Vertrag beschränkt – um jede dieser Aussagen mit einer Flut
von herrischen und knechtischen Gesten zu überschwemmen.24
Kritische Geister haben immer wieder behauptet, daß Kaufen in unserer modernen
Gesellschaft die einzige Handlungsmöglichkeit sei, die dem Menschen verbleibe. Wenn
24 Vgl. dazu ausführlicher: Kai van Eikels, Das Denken der Hand. Japan-Affirmationen als Entwürfe einer nichtperformativen Pragmatik, in: Zeitschrift für Germanistik 3/2002, hrsg. von Inge Stephan, Verlag Peter Lang, Bern u.a. 2002, S. 488-497.
41
dem so ist, verblüfft es, wie wenig Aufmerksamkeit man den Komplikationen des
Kaufens als Handlung schenkt. Denn tatsächlich gelingt es heute ebensowenig wie zur
Zeit Rousseaus, die Beziehung zwischen mir und einem Verkäufer durch den Kaufakt
zu definieren. Seit Aristide Boucicaut 1852 in Paris sein Geschäft in einem ehemaligen
Leprakrankenhaus eröffnete und den Prototyp des Kaufhauses schuf, treffen wir bei
unseren Besorgungen auf die Figur des Verkäufers, eines lohnabhängig Beschäftigten,
der weder produziert noch handelt, sondern allein mit dem Tausch von Ware gegen
Geld und der Kommunikation betraut ist, die ihn ermöglicht, vorbereitet, begleitet und
zum Abschluß bringt. Dieser Agent des Verkaufens personifiziert zugleich das
Versprechen auf eine Dynamik des kommerziellen Ereignisses, die den Kunden von
jeder Aktivität befreit. Der perfekte Verkäufer wäre einer, der alles für den Kunden
erledigt, gerade auch den Teil der Kommunikation, der dem Kunden selbst obliegt. Man
erinnert sich vielleicht an einen altmodischen Typ von Verkäufer (oder Vertreter, die
Steigerung des Verkäufers), der während des Beratungs- und Verkaufsgesprächs
praktisch mit sich selbst zu reden schien wie ein Arzt und einem das Gefühl vermittelte,
die Sache laufe automatisch ab. Die Bereitwilligkeit, sich etwas von ihm verkaufen zu
lassen, entsprang nicht zum mindesten einem Glück über diesen glatten, geschmeidigen
Ablauf des Vorgangs. Es war eine glückselige Erfahrung vollkommener Passivität, die
dem Wesen des Geldes entsprach, das einem damit „aus der Tasche gezogen“ wurde.25
Geld eignete sich in der Tat viel besser dazu, dem Besitzer abgenommen zu werden, als
zum aktiven Ausgeben, dem stets ein letzter Skrupel hinsichtlich seines Verbleibs
anhing. Seine Abstraktheit wartete geradezu auf eine Chance zum Vergessen, und diese
Wonne des Vergessens stellte in einer Gesellschaft, die sich dem Geld hingab, die
initiale Sünde dar. Der Kauf und nicht der Ver- oder Gebrauch der gekauften Ware
verschaffte die eigentliche Lust. Im Augenblick des Kaufens verschmolz das Gefühl
von Allmacht mit der Überwältigung durch die Passivität.26 25 Die Lust daran, beraubt zu werden (man denke an das Hotelabenteuer von Felix Krull), ist sicherlich eine der elementaren Formen von „Interpassivität“, wie Slavoj Žižek diesen Begriff verwendet hat: Der andere gibt das Geld für mich aus, er erspart mir die Mühe, es selbst loszuwerden, und verschafft mir damit einen Genuß, der dem Genießen des eigenen Einkaufens zumindest gleichwertig, wenn nicht überlegen ist. Diesen Effekt bringt vielleicht auch der Witz „Das Geld ist nicht weg, es gehört jetzt nur jemand anderem“ zur Sprache. 26 Von daher versteht es sich, daß die Haltung des reichen Käufers zum Inbegriff der
42
Doch man braucht nicht in Berlin zu leben, um zu wissen, daß dieser Typ des
Verkäufers der Vergangenheit angehört – und vielleicht überhaupt in der Geschichte des
Kapitalismus eine Ausnahmeerscheinung war, ein Virtuose des Vergessenmachens,
dessen Zeit enden mußte, sobald das Geld aus dem spektakulär Unmerklichen in die
Positivität von etwas hinaustrat, um das es geht, ob ich daran denken will oder nicht.
Der Verkäufer von heute leiht eher meinem Zweifel, ob ich wirklich etwas kaufen sollte,
Körper und Stimme. Er ist selbst so offensichtlich schlecht bezahlt, daß mir die bloße
Entschlossenheit zur Verschwendung bereits peinlich zu werden beginnt, wenn ich
meine Frage nach dem gewünschten Gegenstand an ihn richte. Das Geld verteilt ihn und
mich nicht mehr auf zwei Seiten eines Aktes; es bekräftigt ungewollt eine
Gemeinsamkeit zwischen uns, denn keiner von uns hat die Freiheit, ein Vergessen zu
geben oder in Anspruch zu nehmen, und er ist nur derjenige, der mich darüber aufklären
wird. Die nach eigenen Gesetzen optimierte Unnachgiebigkeit von
Kommunikationsstrukturen, die das Unternehmen vorgesehen hat (und die keine
virtuose Steigerung auf Seiten des Angestellten erlauben), vereitelt von vornherein
jeden Versuch, die Abstraktion des Geldes für irgendeine Art von grundsätzlicher
Erleichterung zu nutzen. Er und ich sind gleichermaßen in die festgelegte Dramaturgie
einer kommerziellen Beziehung gezwungen, in der Geld nichts ermöglicht, nichts
verkürzt, von nichts befreit.
Obgleich ich nie zu den Großverdienern gehört habe, verfolgte ich früher die
Strategie, bewußt mehr zu zahlen, damit man mich mit Registrierungen und den
strapaziöseren Formen des Verkaufsgespräches verschonte. Ich leistete mir den Luxus,
nicht in verschiedenen Läden nachzufragen, Preise zu vergleichen, die Tarifsysteme
verschiedener Anbieter auf ihre Vor- und Nachteile hin zu überprüfen, nicht über
Rabatte oder Zusatzleistungen zu verhandeln, nicht durch eine vorweg geäußerte
Verantwortungslosigkeit werden konnte – was heute, wo jemand, der kaufen will, mehr als alle anderen Grund hat, sich zu sorgen, eigentlich kaum mehr nachvollziehbar sein dürfte. Die Verwendung des Geldes bedeutete in dieser Epoche Vergessen. Wie sehr die Selbstverständlichkeit des Vergessens das Image des Geldes bestimmte, zeigt ein schockierendes Gegenbeispiel: eine Erzählung von Borges über ein Geldstück, das seinem Besitzer in Erinnerung bleibt, nachdem er es ausgegeben hat, und ihn in den Wahnsinn treibt, da er unfähig ist, es zu vergessen. Vgl. Jorge Luis Borges, Der Zahir, in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 6: Das Aleph. Erzählungen 1944-1952, Frankfurt a.M. 1992, S. 95-104.
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Beschwerde dafür zu sorgen, daß das bestellte Produkt auch wirklich funktionstüchtig
geliefert wurde, sondern ich entrichtete kommentarlos den höheren Preis und die
unweigerlich anfallenden Extrakosten. Der einzige wahre Luxus (die Verbindung von
Wahrheit und Luxus ist essentiell) bestand für mich darin, über die Bedingungen des
Kaufes nicht nachdenken zu müssen. Doch erweist sich dies nun als immer schwieriger,
denn die Unternehmen sind auch für mehr Geld nicht mehr bereit, mich von einem
Engagement als Verbraucher zu entbinden und mir lange Unterhaltungen mit ihrer
Service-Abteilung zu ersparen. Diese Option ist strukturell nicht mehr vorgesehen: Ein
Versuch, das DSL bei T-online fertig installiert und die Verbindung auf allen Rechnern
so weit eingerichtet zu bekommen, daß man nur noch den Browser zu öffnen brauchte,
um im Internet zu sein, scheiterte beim Umzug nach Berlin auf ganzer Linie. Ich konnte
noch so oft betonen, daß es mir egal sei, was es koste – die Dame am Telefon hatte in
der Auftragsmaske auf ihrem Bildschirm für „Kunde will alles einfach nur erledigt
haben“ kein Feld. Meine verzweifelte Weigerung, bei Problemen die Hotline anzurufen,
löste bei ihr nichts als verständnisloses Erstaunen aus. Auf einen Kunden, der nicht
kommunizieren wollte und der Geld fürs Schweigendürfen bot, hatte sie niemand
vorbereitet.
Wie nicht verkaufen?
Unser Kaufverhalten ist, wie die Epoche der Shopping-Exzesse am deutlichsten machte,
eine ins Passive abgesunkene Verkaufsbereitschaft. Andy Warhol definierte die
amerikanische Kultur in den 70ern durch den Willen zum Kaufen und dessen Ablösung
vom Interesse am Verkaufen: „In Europa und im Orient handeln die Leute gern –
kaufen und verkaufen, verkaufen und kaufen –, im Grunde ihres Herzens sind sie alle
Händler. Anders die Amerikaner. Sie wollen überhaupt nicht verkaufen, sie werfen ihre
Sachen lieber weg, als daß sie etwas verkaufen. Eines machen sie allerdings wirklich
gern, nämlich kaufen! Leute, Geld, Länder.“27 Diese einfache Unterscheidung
bezeichnet auf ihre Art durchaus präzise den Übergang zwischen zwei Typen von
Kapitalismus: Einerseits eine Gesellschaft des Tausches, in dem die Transaktion durch 27 Andy Warhol, Die Philosophie des Andy Warhol. Von A nach B und zurück, München 1991, S. 235.
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die Szene einer symmetrischen Begegnung konfiguriert ist. Hier geht es darum,
Gelegenheiten zum Kaufen/Verkaufen zu schaffen, Orte einzurichten, an denen sich die
kommerzielle Aktivität, die durch alle Einwohner hindurchfließt, manifestieren und eine
dramatische Form annehmen kann. Andererseits eine Gesellschaft des Konsums, in der
die Transaktion eine radikale Trennung von Kaufen und Verkaufen bekräftig. Hier
konzentriert sich alles darauf, Kunden zu schaffen, d.h. den Menschen Lust daran zu
machen, etwas zu kaufen, statt es selber herzustellen, zusammenzubasteln oder
einzuhandeln. Man entwickelt Waren, die durch ihren genuin kommerziellen Charakter
bestechen, da man sie nur kaufen kann, nicht auf anderem Wege bekommen oder zu
Hause herstellen (die Erniedrigung des selbstgenähten Kleides aus der Modezeitschrift,
das ein unerschwingliches Designer-Modell kopiert, wie sie bis in die 1980er Jahre zum
kleinbürgerlichen Lebensstil gehörte). In beiden Ökonomien funktioniert Geld, aber die
Funktion ist jeweils eine andere: In der europäisch/orientalischen Ökonomie des
Handelns bleibt das Geld der Schauplatz einer Begegnung, wo alle Beteiligten in der
Rolle des möglichen Käufers und des möglichen Verkäufers auftreten. Die Neutralität
des Geldes hat die Aufgabe, die Passage zwischen diesen Rollen offen zu halten. Geld
wirkt als Inzentiv, weil es die Übergänge beschleunigt, das Spiel der merkantilen
Selbstinszenierung flexibilisiert, seine Rhetorik bereichert. In der amerikanischen
Ökonomie des consumerism dient das Geld dagegen zur Beendigung des Handels, zur
definitiven Etablierung der Asymmetrie zwischen Käufer und Verkäufer. Ich bin
Konsument dadurch, dass ich nichts als Geld habe (eine Scheckkarte ist daher stärker
als Münzen oder Papiergeld, da sie diese Nacktheit des „nichts als“ besser verkörpert).
Die Zahlung symbolisiert bereits im Augenblick, da ich die Ware empfange, daß diese
nur in meine Hände wechselt, um dort zu verschwinden. Ich werde sie restlos
verbrauchen oder wegwerfen, und das Wegwerfen bestimmt dabei letztlich das
Verbrauchen. Warhol schlug vor, daß alle Artikel ein Haltbarkeitsdatum haben sollten,
denn das Datum signalisiert mir, wieviel Zeit mir bleibt, die Sache zu verbrauchen,
bevor ich sie wegwerfen muß (das „Best before...“ ist in diesem Sinne zu verstehen:
eine Ware ist nur vor dem Wegwerfen, als Antizipation des Wegwerfens wirklich auf
der Höhe ihrer Qualität).
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Nun scheint es, als habe sich in Europa eine schleichende, aber endgültige
Abspaltung von dem vollzogen, was Warhol mit der ihm eigenen Ironie als
orientalische Wurzeln unserer Ökonomie anspricht. Es fehlt, nach einem eher
halbherzigen Trend in den 70er Jahren, nach wie vor der positive Bezug zum
Wegwerfen, die souveräne Wendung des Kaufakts als Geste des Beendens der
Transaktion. Vielmehr steht der Kauf heute mehr denn je im Zeichen des Restes, den
man sich damit einhandelt, im Zeichen des Produkts, das aufbewahrt, gepflegt, gewartet,
upgedatet, aufgerüstet und schließlich recycelt werden muß. Bei viele führt dies
offenbar dazu, daß die wieder zur leidenschaftlichen Verkäufern werden, ja dies selbst
ohne große Gewinnmargen quasi als Hobby betreiben: Die Popularität von eBay scheint
darauf hinzudeuten, daß der Händlergeist nur schläft und wieder geweckt werden kann.
Was jedoch widerfährt denen, die diesen Weg zurück in den Tausch nicht mitgehen
wollen? Ich selbst habe eigentlich keine Lust, etwas zu verkaufen, selbst wenn ich es
nicht mehr brauche und selbst wenn eine realistische Chance besteht, dafür Geld zu
bekommen. Ich kaufe zögerlich, da ich nicht mit der feurigen Skepsis eines potentiellen
Händlers kaufe, sondern mit der trägen, defensiven Haltung eines Endverbrauchers, der
mit dem Gekauften dann dasitzt und leben muß. Meine Position am Ende der
Handelskette ist nicht souverän, so lächerlich ich mich im Laden auch als König
aufzuspielen versuche (und so sehr mir das Unternehmen signalisiert, daß ich noch
immer das Recht dazu habe). Das Geld, das ich auszugeben habe, bedeutet nicht die
Stärke eines Konsumenten, der mit dem Kauf von nützlichen-oder-nutzlosen Dingen die
Kraft des Vergessens beweist; es verrät eher die Schwäche eines überforderten
Archivars von Alltagsgegenständen, der wahrscheinlich mit etwas Unpassendem,
Stillosem, Dysfunktionalem und Folgekostenintensivem nach Hause gehen wird.
Überhaupt ist es diese Bewegung des Nach-Hause-Gehens, die hierzulande die
ökonomische Transaktion oft beschließt und ihr ein unentschlossen besorgtes statt
triumphal passives Ende bereitet. Geld hat in unserem Kulturkreis nie den Charakter
von etwas erreicht, was sich ganz im Öffentlichen abspielt. Das Ausgeben bedeutet ein
Sich-aus-dem-Haus-Begeben, einen eher schüchternen Schritt vor die Tür, der dem
Verbrauch der Ware zwangsläufig den Charakter eines Rückzugs verleiht. Diese
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traditionelle Determination des Ökonomischen durch das Haus setzt dem Konsum im
starken, warholschen Sinne enge Grenzen. Während die Mobiltechnologie-Branche uns
mit Bildern des fröhlichen Nomaden traktiert, für den auch die eigene Familie nur ein
weiteres Netzwerk ist, bleibt der Akt des Kaufens selbst in ein immobiles Verhältnis
zum häuslichen oikos eingelassen. Der Kaufakt findet kaum je wirklich unterwegs, auf
der Fährte eines Weges statt, der nicht sogleich nach Hause zurückkehrte. Und egal wie
viele Service-Stationen in der städtischen Infrastruktur auftauchen, die einem das
Abheben vom Konto gestatten, wirkt das Geld immer noch wie etwas von zu Hause
Mitgebrachtes, das es außerhalb des schützenden Heims selbst im Moment des
Ausgebens zu verteidigen gilt – zu verteidigen bis zuletzt gegen die feindliche
Besetzung der Privatsphäre durch eine Ware, die ihre eigenen Gesetze gegen die Regeln
des häuslichen Lebens durchzusetzen droht.
Die leicht und federnd daherkommenden Diskurse, mit denen man versucht, den
Kunden einen Lifestyle des unbeschwerten Konsumierens zu vermitteln, sind
kompromittiert durch ein diplomatisches Gespräch, das Werbung und Verkauf
durchzieht und am ehesten dort Chancen freisetzt, wo es die Sorgen der Hausbewohner
zu mobilisieren vermag. Auch die Betonung des Sparens als Kaufanreiz hat in diesem
Kontext einen anderen Sinn als beim amerikanischen Typ des Discounts, dessen Modell
das „Buy 2, get 1 free“, die Lust am überreichlichen Noch-mehr ist. Die Bewerbung des
Sparens verbündet sich gerade in Deutschland mit der Scham des Kunden. An die Stelle
von Aussagen, die eine Solidität und Zuverlässigkeit von Zeit und Geld adressierten
(wie die alte Wüstenrot-Reklame, wo die wertbildende Stetigkeit des Bausparens mit
einem Termin, dem „Wüstenrot-Tag“, verknüpft wurde), treten nun quasi therapeutische
Reize zur Konvertierung der Existenzängste und Geldsorgen in die hemmungslose Lust
am Geiz. Der Slogan „Geiz ist geil!“ brachte das vielleicht am besten auf den Punkt:
Geld verschafft am ehesten dort noch Zugang zu einem freien Genießen, wo die
Befreiung in einer gewaltsamen Inversion der Zwänge besteht, die das monetäre
Medium den Menschen auferlegt. Lustvoll ist nicht mehr das Vergessen, sondern nur
noch die kollektive Bejahung des zwanghaften Erinnern-Müssens. Diese neuen Szenen
des Kaufens ähneln den Swinger-Clubs, wo die sexuelle Aktivität nicht durch eine
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Überschreitung bürgerlicher Normen, sondern durch eine exzessive Spießigkeit, eine
rauschhafte Feier der eigenen Unfähigkeit zur Überschreitung in der endlosen
Ausdehnung und Vervielfältigung der familiären Beziehung Auftrieb erhält.
Wann zahlen?
In der postfordistischen Produktion löst sich die time to customer zusehends von der
time to market, die selbst in ihrer toyotistischen Verkürzung immer noch für einen
zeitlichen Abstand, eine uneinholbare Verzögerung der Produktion gegenüber der
Vermarktung stand. In einer durch „proaktives“ Produzieren bestimmten Zeit findet der
Augenblick des Kaufens keine dramaturgisch sinnvolle Stelle mehr: Die Unternehmen
nötigen die Kunden, sich mit ihrer unablässigen Restrukturierung und
Selbstoptimierung zu synchronisieren, in einer andauernd offenen kommerziellen
Beziehung zu verbleiben. Sie entziehen ihnen jenen Augenblick, in dem der Kauf
vollendet ist und die Güte des Produkts seinen Hersteller oder Bereitsteller gleichgültig
werden läßt. Aber wann, wo und wie kann in dieser Dramaturgie einer
„B2C“-Kommunikation überhaupt so etwas wie Kaufen stattfinden? Und vor allem:
wann, wo und wie soll „C“ dafür zahlen? Wie verhindert man, daß der weiter und
weiter gestreckte Akt des Erwerbens seine Beziehung zum Bezahlungsvorgang gänzlich
verliert?
Der einzige Ausweg scheint darin zu bestehen, daß das Bezahlen sich in dieselbe
strukturelle Vorzeitigkeit einfügt wie das bereitstellende Produzieren. Der Akt des
Zahlens müßte sich selbst von der Reaktion auf eine entgegengenommene Ware in eine
auslösende, produktive, „kreative“ Handlung verwandeln. Statt der bloßen Pflicht, den
Kaufvertrag einzuhalten (ist es nicht immer lustvoller, einen Vertrag zu brechen als ihn
einzuhalten?), müßte der Käufer das Gefühl haben, mit dem, was er an Zahlung leistet,
ein Projekt zu finanzieren, das ohne ihn so nie zustandegekommen wäre. Je früher der
Kunde zahlt, je weniger das Zahlen dem Begleichen einer Rechnung ähnelt, je weiter es
an den Anfang der Wertschöpfungskette rückt und die kommerziellen Aktivitäten
initiiert, statt sie abzuschließen, desto eher gibt es eine Chance für postfordistische
Unternehmen, etwas zu verdienen.
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Ein interessantes Beispiel für diese Wandlung des Bezahlens ist die Kampagne, die
eine Web-Agentur 2004 für Mazda in Großbritannien durchführte. Marktforschung über
die Mazda UK-Website hatte gezeigt, daß das Interesse der Kunden an einem neuen
Pkw-Modell am größten ist, bevor das Modell auf den Markt kommt. Die Agentur
erweiterte daher die Vorankündigungs-Präsentation des neuen Mazda RX-8 um eine
Möglichkeit, online eine Voranzahlung von 1000 Pfund zu leisten – mit dem Erfolg,
daß über 1.700 Kunden binnen kurzer Zeit die erste Rate für ein Auto zahlten, das sie
weder real gesehen noch probegefahren hatten. Bei einer kostspieligen
Langzeitanschaffung, bei der man mit „kritischen“ Verbrauchern rechnen würde,
überrascht diese Resonanz (vergleichbare Aktionen gab es vorher nur bei kleinen
Mode-Labels oder Musikbands). Doch das Konzept spiegelt sehr gut die Anforderungen
wider, die an eine neue Dynamik des Zahlens gestellt werden: Der Unterschied
zwischen Herstellung, Marketing und Verkauf war hier tendenziell aufgehoben. Die
virtuelle Präsentation des Wagens schuf selbst ein ‚wertvolles’ Ereignis. Die Kunden
zeigten sich bereit, für die Stimulation und Steuerung ihrer eigenen Erwartungen zu
bezahlen. Sie demonstrierten, daß diese Bereitschaft mehr oder etwas anderes ist als ein
gebrochener Widerstand.
Dafür spielte es sicherlich auch eine wichtige Rolle, daß die Zahlung direkt online,
als eine Bewegung innerhalb des Navigierens durch die Präsentation machbar war und
nicht erst im Umweg über eine Überweisung oder einen Besuch beim lokalen
Mazda-Händler. Der Autokauf glich hier eher dem Abonnement eines Internet-Service
wie bei Porno-Diensten als einem traditionellen Tausch von Ware gegen Geld. Die
vorzeitige Zahlung profitierte von der Unmerklichkeit des Geldes, das per Kreditkarte
übermittelt wurde, aber die entscheidende Pointe liegt in der Umkehrung der Bedeutung
(des, wenn man so will, zeitlichen Sinnes) der Zahlung: Der Kunde erhält hier selbst die
Aufgabe, eine primäre Differenz, ein initiales Zuviel zu erzeugen. Er generiert mit
seiner Anzahlung einen Überschuß, den er selbst unmittelbar verbraucht, wenn er sich
seiner Erwartungsfreude hingibt, etwas genießt, was es noch nicht gibt und was
dennoch schon ein Stück weit sein ist. Die Rate signalisiert hier nicht eine
Verantwortung, eine Bindung der eigenen Zeit durch ein Zahlungsversprechen, das
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einem abgenommen wurde, sondern die Freiheit, sich an einem Produktionsvorgang zu
beteiligen. Demgegenüber rückt die spätere Lieferung des Autos in die Position, die
klassischerweise das Zahlen hatte: Das Unternehmen braucht lediglich die Rechnung zu
begleichen.
Die Währung der kommerziellen Synchronisierung von Kunde und Unternehmen –
denn so muß man diesen Kauf nennen – ist hier noch das immaterialisierte Geld der
Kreditkartennummer. Aber das Geld erhält eine neue Funktion: Es taucht nicht als
Symbol eines Wertes auf (es ging bspw. nicht um Preisnachlässe, überhaupt nicht um
Preise), sondern wirkt, indem es eine Partizipationsmöglichkeit eröffnet. Der
kommerzielle Vorgang nimmt die Form eines sozialen Prozesses an („Wir bringen ein
neues Auto heraus“), an dem man von Anfang an teilhaben, den man mit initiieren, in
den man sich ein-kaufen kann. Es wäre nur ein weiterer Schritt, den Kunden tatsächlich
am neuen Auto mitbauen zu lassen. Die Zahlung hat hier nicht mehr die Aufgabe, diese
Teilnahme an der Produktion zu ersetzen. Sie bietet sich selbst wie ein partizipativer
Vorgang dar. Ihre monetäre Indirektheit in der Form „Ware gegen Geld“ gibt einem
direkteren Austausch im Medium der Zeit statt: Ich gebe vorweg mein Geld für das
neue Auto, aber ebenso wie das Geld wäre ich im Grunde bereit, mein Wissen und
meine Arbeitsleistung zu geben (meine Freizeit sowieso). Die Konsequenzen dieser
Gleichung reichen vielleicht weiter als eine clevere Werbekampagne.
Die Zeit als Währung
In den Entwürfen für Alternativen zur neoliberalen Arbeitslosengesellschaft, etwa bei
André Gorz, spielen Tauschringe eine prominente Rolle.28 Gorz betont, daß diese
Organisationen zwar kein Geld, sehr wohl aber eine Währung kennen – nämlich die
Arbeitszeit, die zum Erbringen einer Dienstleistung aufgewandt wird. Drückt man sie in
Arbeitsstunden aus, sind ganz verschiedene Tätigkeiten miteinander vergleichbar und
gegeneinander tauschbar, wobei der Tausch nicht gegenwärtig eins zu eins, sondern
vermittels eines Zeitkontos erfolgt, auf dem die Gemeinschaft meine Leistungen für
andere als Haben, die von mir in Anspruch genommenen Leistungen anderer als Soll
28 Vgl. André Gorz, Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt a.M. 2000, S. 147-156.
50
verbucht.
So sehr Gorz die Tauschringe als Vorbild für eine idyllische Gesellschaft von
glücklich sozialen Dienstleistern idealisiert, gibt es dabei eine interessante
währungspolitische Pointe: Die Abschaffung des Geldes zugunsten eines Zählens der
Zeit soll die Vorteile einer neutralen Währung ohne deren Nachteile bringen. Man kann
Zeit nicht in derselben Weise dem Investitionskreislauf entziehen wie Geld. Der Geiz,
der, wie Marx nach Plinius zitierte, seinen Ursprung im Geld hat, findet in einer
Ökonomie der Zeitmessung ebensowenig einen Anhaltspunkt wie die
„Absahnermentalität“ einer über das eigene Konsumvermögen hinausgehenden Gier.
Da es kein Außerhalb des Tauschsystems gibt, wo die gewonnenen Stunden irgendeinen
Wert hätten, muß der Teilnehmende sein Guthaben verbrauchen.
Das packt die Urangst des Besitzenden sozusagen bei der Wurzel: Die Umstellung
von der Geld- auf die Zeitwährung läßt die ganze strategische Architektur der
Besitzssicherung durch Flexibilisierung an einem Punkt zusammenbrechen, wo eine
andere Art von Gewißheit an die Stelle der hochriskanten Sicherungsmaßnahmen tritt –
die Gewißeit und vorbehaltlose Anerkennung unserer Endlichkeit. Der neuzeitliche
Bürger, wie ihn Locke beschrieb, verwandelte sein materielles Hab und Gut möglichst
weitgehend in Geld, in das Eigentum an der Möglichkeit, sich zu einem beliebigen
Zeitpunkt beliebige Dinge zu kaufen, weil der Geldwert dauerhafter und
zukunftssicherer schien als die vergänglichen Dinge. Dieses Dauern des Wertes im
Zustand des Geldes entfaltete nach und nach in der Moderne seine eigene Dynamik; es
setzte neue Chancen und Risiken frei und veränderte das Wesen der Ökonomie bis hin
zu einer Gegenwart oder nahen Zukunft von „Xenogeld“ einerseits und
postfordistischer Produktion andererseits, in der die Zirkulation des Geldes und die der
Güter und Arbeitsleistungen kaum mehr miteinander in Einklang zu bringen sind. Die
Zeitwährung rechnet nicht damit, dieser Geschichte des Geldes eine weitere Wendung
abzugewinnen (sie behandelt die Zeit nicht wie Geld). Es geht hier um einen neuen,
wörtlicheren Begriff von Währung im Sinne des Zeitwortes währen, das Heidegger
einmal als ein Bleiben im Einvernehmen mit dem Vergehen der Zeit bestimmt hat: Die
Zeitwährung fängt die Geschichte der Währung noch einmal neu an, in einem
51
Augenblick, da es unmöglich ist, etwas als Besitz zu verteidigen. Diese Währung löst
sich von dem jahrhundertealten Aufstand gegen das Vergehen der Zeit und den
forcierten Anstrengungen, dem Vergehen einen anderen Sinn abzutrotzen als den des
bloßen Vergehens. Sie mißt ein Eigentum, das nicht unter der Herrschaft des Besitzes
gegen seine Endlichkeit aufbegehrt – ein Eigentum, das nicht in der Aneignung von
Möglichkeiten besteht, sondern in jenem Zeit-Haben, das jedes eigene Handeln
auszeichnet, ohne das dieses Handeln kein eigenes wäre. Eine Ökonomie, in der die Zeit
zählt, ohne daß das Zählen länger an Geldzahlen haftet, steht durchaus im Zeichen des
Habens. Aber sie versteht das Haben vom Zeit-Haben her, also gerade von jenem Haben,
das eine Ökonomie des verselbständigten Geldes (und einer dem Geld nacheifernden
selbstbezüglichen Produktivität) chronisch vernachlässigen muß.
Die Zeitwährung bildet nicht dadurch Wert, daß sie sich vom bloßen Vergehen der
Zeit abspaltet, es im Modus des Möglichen verdoppelt, potenziert und die Potenzierung
in den Zeitablauf als Mehrwert wiedereinzuführen sucht. Sie beziffert lediglich das
Vergehen der Zeit als solches – man könnte sagen, sie trägt eine Ökonomie der
Genügsamkeit statt der spekulativen Ökonomie der Potenzierung, eine Ökonomie der
„perfect continence“ (eine Wendung von George Spencer Brown) statt der
Erwirtschaftung von Überschüssen aus dem Geist des Mangels. Doch eben dank dieser
Orientierung an einer primären Genügsamkeit gelingt es der Zeitwährung, einem
Umstand Rechnung zu tragen, den die Geldwährung strukturell leugnen muß: der
Tatsache, daß es zwar niemals genug, aber bereits mehr als genug gibt und daß wir mit
diesem „mehr als genug“ bereits endgültig über jede Erwartung einer Zukunft hinaus
sein sollten, die uns einen paradiesischen Zustand des allgemeinen Wohlstands bringt.
Das Genügen hat nicht den Charakter einer Zufriedenheit vom Typ des Faustschen
Augenblicks, in dem der Begehrende schließlich verweilt. Es verdankt sich einem
Überdruß, der dahin gelangt, sich selbst als Zeugnis des Überflusses anzuerkennen: Es
lohnt sich schon längst nicht mehr, für eine solche Zukunft zu arbeiten, unabhängig
davon, ob sie eintreten wird oder nicht. Und was immer uns zu unserem Glück fehlt (in
einer solchen Perspektive haben wir nie genug, bleiben wir auf ewig einen Schritt
davor), wir können von diesem „Es lohnt nicht mehr“ ausgehen, statt dort
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stehenzubleiben. Die Frage, mit der wir zur Ökonomie der Genügsamkeit übergehen,
lautet: Was tut man, wenn sich das Arbeiten zur Auffüllung des Mangels nicht mehr
lohnt?
Georges Bataille hat erklärt, warum eine Ökonomie des Nutzens, der Mehrung, des
sparsam rationalen Einsatzes der Mittel, des Wachstums und der Steigerung von
Wachstumsraten niemals für sich allein bestehen kann. Sie bedarf stets einer
komplementären Ökonomie der Verschwendung, um den Überreichtum, den sie
hervorbringt, wieder zu vernichten und zur Dynamik des Mangels zurückzukehren.29
Das Geld steht für diese Verbindung von Nutzen und Verschwendung: Es verschafft
einen Vorschuß zum Produzieren und hält die erzielten Gewinne für die Reinvestition in
den Ausbau der Produktion zur Verfügung, und es erlaubt, alle Quellen des Verlustes zu
identifizieren, um sie zu beseitigen. Aber es gestattet ebenso, das erreichte Mehr der
Produktion zu entwenden – entweder in einem spektakulären Akt der Verausgabung
(„Luxus, Trauerzeremonien, Kriege, Kulte, die Errichtung von Prachtbauten, Spiele,
Theater, Künste, die perverse [...] Sexualität“30) oder in einem kleinlich egoistischen
Beiseiteschaffen der Erträge. Bataille warf dem bürgerlichen Kapitalismus vor, sich
allein der zweiten Alternative verschrieben zu haben. Das prosperierende Bürgertum
drückte sich vor seiner sozialen Verantwortung gegenüber der Verschwendung. Es
benutzte das Geld nur zur privaten Abzweigung, nicht zum öffentlichen Verbrennen.
Das hatte den Niedergang des Öffentlichen als einer Sphäre der gemeinschaftlichen
Verschwendung zur Folge, eine egoistische Rationalisierung gerade auch des Exzesses.
Die Zeitwährung schafft eine neue Öffentlichkeit, einen Raum des Tausches, der
weder der bürgerlichen Zone einer gemäßigten Geselligkeit noch der (im Batailleschen
Sinne) antibürgerlichen Stätte der Verausgabung entspricht. Diese Währung, die Zeit
statt Geld zählt, sozialisiert die Früchte der Produktion auf eine ganz direkte Weise: Sie
macht das egoistische Horten des Reichtums unmöglich, indem sie zugleich die
Möglichkeit der Verschwendung beseitigt. Sie beendet ein für allemal die janusköpfige
29 Vgl. für eine kurze Zusammenfassung den frühen Text Der Begriff der Verausgabung, in: Georges Bataille, Das theoretische Werk in Einzelbänden, hrsg. Von Gerd Bergfleth, Bd. 1: Die Aufhebung der Ökonomie, München 1985, S. 7-31. 30 Ebd., S. 12.
53
moderne Geschichte des Zuviel, die Geschichte seiner Rückkehr in den
Produktionskreislauf oder seines skandalösen Verschwindens. Sie beendet diese
Geschichte, da sie das Zuviel zur organisatorischen Voraussetzung des Produzierens
macht. Produzieren in einer Welt, wo die Zeit selbst die Währung darstellt, ist ein
Produzieren auf der Grundlage von Überproduktion. Es handelt sich hier keineswegs
um eine Rückkehr zu vorkapitalistischen Tauschbeziehungen, die durch eine basale
Arbeitsteilung das Überleben sichern, sondern um die Reorganisation des Kapitalismus
in dem Moment, wo die Überproduktion zur verläßlichen Tatsache geworden ist und wo
jene Forcierung des Versprechens ungeahnter Möglichkeiten, die Geld darstellt, keine
wirksame Motivation mehr bietet. Es geht nicht um eine Umverteilung, um eine
Gerechtigkeit des Ausgleichs, der „natürlichen“ Balance – sondern um eine
Überführung des gesamten ökonomischen Systems mitsamt allen Differenzen, die es
hervorgebracht hat und weiter hervorbringt, in die Selbstverständlichkeit des Zuviel.
Um das Ende des Mehr, das nur dazu dient, die Herrschaft des Mangels zu verschärfen.
Um ein anderes, allgemein bekanntes, selbstverständlich vorauszusetzendes – und in
diesem Sinne: eine zivilisatorische Errungenschaft darstellendes – Mehr.
Struktureller Leichtsinn: Die Genügsamkeit des Mehr
In einer Umgebung, die noch weitgehend von den Vorstellungen des monetären
Kapitalismus besetzt ist, erscheinen Tauschringe bislang als exotisches, nach ihrer
kurzen Popularität in den 90ern schon fast wieder vergessenes Randphänomen,
bestenfalls als ein gesellschaftliches Experiment unter anderen. Zudem stoßen sie auch
auf immanente Probleme wie die Bewertung von Arbeitszeit hinsichtlich Intensität und
Niveau der Leistung (es entsteht aus praktischen Gründen vorerst die Notwendigkeit,
einzelne Leistungen wie ärztliche Versorgung oder juristische Beratung höher
einzustufen, und generell bleibt das Problem des Verzichts auf die Kategorien
„qualitativ“ und „quantitativ“ bei der Messung von Zeit). Als soziale Bewegung dürften
die Tauschringe kaum besondere Erfolgsaussichten haben, schon gar nicht unter diesem
Namen. Es steht zu befürchten, daß ihre Organisation im Rahmen einer community
policy verbleibt und sie entweder ein Teil der gouvernementalen Sozialarchitektur
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werden oder verschwinden.
Was jedoch festzuhalten bleibt, ist die ökonomische Pointe, die Zeit unmittelbar zur
Währung zu erklären. Sie liefert uns den vielleicht wertvollsten Hinweis für eine
Aporetik des Geldes. Die ökonomische Vernunft, die sich in diesen Tauschringen
artikuliert, sagt mehr über den gegenwärtigen Status von kommerziellen Transaktionen
in unserer Gesellschaft als der Gebrauch des Wortes „Markt“ in den neoliberalen
Diskursen. Denn es steht heute gerade in Folge der Deregulierung die Eigenständigkeit
einer Dimension des Wirtschaftlichen, wie sie der Begriff „Markt“ suggeriert, in Frage.
Man wird anfangen müssen, den Markt statt von der monetären Transaktion ausgehend
von sozialen Vorgängen und Beziehungen zu denken – nicht um ein romantisches
Soziales gegen den hartherzigen Realismus der Wirtschaft zu schützen, sondern weil die
Aktionen des Kaufens und Verkaufens sich aus einer eigenen Dynamik heraus sozial
redeterminieren. Geld könnte durchaus in nicht gar so ferner Zukunft aufhören, die
Identität des Systems Wirtschaft zu symbolisieren. Wenn es nicht mehr das Medium zur
Selbstreinigung des Marktes ist, sondern sich auf seinen eigenen Markt zurückgezogen
hat, erlangt der kommerzielle Akt, das Handeln im doppelten Sinne des Wortes, die
Freiheit, sich als Akt neu zu bestimmen. Die Frage, welche Währung an die Stelle des
Geldes tritt, welches Medium diesen Akt trägt und ihm gestattet, sich zuzutragen,
antizipiert diesen Moment einer Neubestimmung.
Eine Währung braucht eine gewisse Neutralität gegenüber dem, was sie vermittelt.
Wenn wir über das Funktionieren ökonomischer Systeme nachdenken, sollten wir indes
aufmerksam dafür werden, daß es verschiedene Verhältnisse und Verhältnismäßigkeiten
des Neutralen gibt. Die Neutralität der Zeit gegenüber dem, was in ihr, mit ihrem
Vergehen geschieht, ist eine andere als die Neutralität des Geldes gegenüber dem, was
man damit bezahlt und dafür übergibt. Die Zeit als Währung bringt nicht die
distanzierende Neutralisierung des monetären Zeichens, eine Neutralisierung, die die
Anwesenheit des Gegenstands ausstreicht (um in dieser Abwesenheit den Überschuß
oder den Mangel zu lokalisieren, sie als Über-Präsenz oder Mangel an Präsenz
interpretierbar zu machen). Die Zeitwährung verbleibt in Unkenntnis der
Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert sowie aller Konsequenzen, die ein
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bestimmter Kapitalismus aus der Verselbständigung des Tauschwerts gezogen hat.
Diese Währung läßt die Unterscheidung zwischen dem Gegenstand als Nahrung, Zeug
oder Objekt und dem Gegenstand als Ware fallen für eine andere Differenzierung: eine
neue Differenz in der Handlung, die nicht zwischen ihrer sozialen und ihrer
ökonomischen Dimension verläuft, sondern in einer durchgängig sozialen Ökonomie
die Operationen des Gebens und Nehmens als Werte des Vergehens ermittelt. Das
Leben selbst, die mir gegebene Zeit, die ich mit dem, was ich tue oder lasse, ausgebe,
avanciert zum ökonomischen Wert in einer Bio- oder Zooökonomie.
Bataille imaginierte eine Befreiung der Verschwendung von ihrer Instrumentalisierung
durch die Ökonomie des Mangels. Er sehnte die proletarische Revolution als einen Akt
der totalen Verausgabung herbei, der die Ressourcen des bürgerlichen Lebens
vernichten würde, und er feierte eine dunkle, sterile und erschöpfende, dem Tod
zugewandte Sexualität als subversive Kraft gegen die Allianz von Mehrung und Mangel.
Anstelle dieser Erlösung, die der Verschwendung nie zuteil geworden ist, kündigt sich
mit dem Übergang von der Geld- zur Zeitwährung eine ganz andere Umwertung an:
eine Umwertung des Mehr, die es von der Dialektik des Exzesses in die
Selbstverständlichkeit, den strukturellen Leichtsinn der Überproduktion birgt. Das
verlangt, etwas zu denken, dessen erstes Gesicht vielleicht noch entsetzlicher, noch
beklemmender und am Ende noch erleichternder ist als das Paradies des
Kommunismus: eine originäre Genügsamkeit des Mehr.
„Für den halben Luxus leg ich mich nicht krumm“, lautet eine charmante Formulierung,
mit der man einen gut bezahlten Job ausschlagen oder aus einem Projekt aussteigen
kann, wenn es sich auszuzahlen beginnt und absehbar wird, was man noch an Arbeit
hineinstecken muß, damit es sich wirklich auszahlt. Ich empfehle, diesen Satz noch
mehrmals zu lesen. Bislang ist es so, daß wir uns die erste Hälfte des Luxus gern
verdienen und kapitulieren, wenn wir feststellen, daß sich die zweite nach demselben
Muster entzieht. Dabei befindet sich die zweite Hälfte bereits in unserm Besitz, und es
ginge eher darum, nicht mehr auf die erste zu warten. Das ist, zugegeben, eine sehr
vereinfachte Lektüre. Es sollten noch weitere folgen.