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Benjamin Krämer ● Julia Neubarth
Soziale Ontologien online
Die Repräsentation sozialer Strukturen im Internet und eine
Typologie von Webangeboten
Vortrag auf der 58. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und
Kommunikationswissenschaft, Mainz, 10.05.2013
Hinführung
Es „gibt“ im Internet „Gruppen“, „soziale Netzwerke“,
„Gemeinschaften“ etc. (O’Reilly, 2005; boyd, 2007)
Soziale Strukturen sind im Internet/in Code
„eingebaut“/„implementiert“. (Flanagin, Flanagin & Flanagin, 2010)
Software „as“ culture (Fuller, 2003)
„Ist“ das Internet ein „Netzwerk“, und wenn ja, wie?
In welcher Weise kann man sich das Vorliegen von Typen sozialer
Strukturen im Internet vorstellen? (Ontologie)
Woran kann man ihr Vorliegen festmachen? (Methodologie)
Wie kann man die Strukturformen mit Hilfe
gesellschaftstheoretischer Ansätze einteilen (Typologie) (jenseits
partieller Einteilungen mit wenigen Ausprägungen, z.B. Fuchs, 2010)?
# 2 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Gliederung
Die symbolische Repräsentation von Sozialstruktur im Internet
Wie sind soziale Strukturen repräsentiert?
Welche Strukturen sind gemeint und wie sind sie zu
analysieren?
Zusammenspiele von Handlung und Technologie – was
heißt Repräsentation?
Der Begriff der Ontologie – was „gibt“ es im Internet?
Typologie der Strukturformen
Sachdimension
Zeitdimension
Sozialdimension
Zusammenfassung und Ausblick
# 3 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Symbolische Repräsentationen
Die symbolische Repräsentation von Sozialstruktur im Internet
Wie sind soziale Strukturen repräsentiert?
• Algorithmen und Datenstrukturen (Wirth, 1976) unspezifisch –
zugeschriebene Bedeutungen recht spezifisch, aber selektiv
• Repräsentation abstrahiert von der Fülle sozialer Strukturen,
Datenstrukturen abstrahieren vom Repräsentierten
• Repräsentation ist also zugleich potenziell offen, vielfältig
(Harrison, 2002) und partikulär, einschränkend, standardisierend (Fuller, 2003)
# 4 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Symbolische Repräsentationen
Welche Strukturen sind gemeint und wie sind sie zu analysieren?
Struktur := Verhältnisse von Elementen und Relationen
(Einschränkungen der zugelassenen Relationen, auch bei
wechselnden Elementen) die trotz Selektionsmöglichkeiten
ausreichend stabil bleiben, dass sie erwartbar werden
(Luhmann, 1984, S. 382ff.)
# 5 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Symbolische Repräsentationen
Welche Strukturen sind gemeint und wie sind sie zu analysieren?
• Web-Angebote für das allgemeine Publikum
• nicht externe Strukturen, die das Internet und seinen Gebrauch
nur beeinflussen, aber nicht darin repräsentiert sind
• nicht latente emergente und informelle Strukturen im Web,
sofern sie nicht wiederum repräsentiert werden
• für Nutzer repräsentierte Strukturen, nicht die Organisations-
strukturen der Anbieter oder die Weiterverarbeitung von Daten
für nicht vollständig nach außen dargelegte Zwecke (vgl. Gehl,
2010; Fuchs, 2010)
• sondern institutionalisierte, zwischen Anbietern und Nutzern
ausgehandelte, idealisierte Bedeutung zu einem Zeitpunkt,
welche den für die Nutzer sichtbaren Charakter eines Angebots
ausmacht – auch weitere Horizonte und „Draufsichten“ eines
egozentrierte präsentierten Systems
# 6 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Symbolische Repräsentationen
Welche Strukturen sind gemeint und wie sind sie zu analysieren?
• idealtypische Erfassung der oft nur diffus verbalisiert oder
praktisch vorliegenden Bedeutungen durch Analogie zur Offline-
Welt gemäß klassischer Gesellschaftstheorie
• konservative und sparsame Analyse (an bestehenden sozialen
Strukturen und an menschlicher Handlungsfähigkeit orientiert);
erst dann stellt sich die Frage nach neuen Strukturen und der
Auflösung der Mensch-Technik-Unterscheidung (Latour, 2005)
• im Anschluss z.B. höherstufige Verallgemeinerungen (Internet als
„individualistisch“, „kapitalistisch“, „demokratisch“ etc., vgl. z.B. Langlois et al.,
2009; Flanagin, Flanagin & Flanagin, 2010) und Typologie als Explanans
und Explanandum
# 7 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Symbolische Repräsentationen
Zusammenspiele von Handlung und Technologie – was heißt
Repräsentation?
• symbolische Repräsentation – mehr als Darstellung
(Abbildungsverhältnis) oder Reduktion („nur“-Verhältnis): Stellvertretung
• das Symbol (die Datenstruktur) ändern, heißt auch, die soziale Realität
ändern, auf sozial typisierte Weise handeln (analog zur Sprechakttheorie:
Austin, 1962; Searle, 1969) – ein „indem“-Verhältnis (andeutungsweise Fuller,
2003)
• Manipulation von Datenstrukturen durch Nutzer und Algorithmen (bzw. in
Verkettungen derselben) – in verschiedenem Ausmaße funktional
äquivalent und leistungsfähig, aber jeweils in sozial strukturierten
(erwartbar typisierten) „Akten“ (vgl. verschiedene Ansätze in der
Techniksoziologie: Pinch & Bijker, 1984; Latour, 1991)
• methodische Vorgehensweise: potenzielle Elemente von Strukturen
(einschließlich Akttypen) sammeln und diejenige Struktur identifizieren,
zu der sie definitorisch gehören (eventuell mit Toleranz gegenüber dem
Maschinenunmöglichen)
# 8 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Symbolische Repräsentationen
Der Begriff der Ontologie – was „gibt“ es im Internet?
• Ontologie als Antwort auf die Frage „what there is“ – welche
„ontological commitments“ geht man in seinen Äußerungen ein? (Quine, 1948)
• Auf welche soziale Ontologie legt man sich bei bestimmten
Webangeboten fest?
• soziale Sachverhalte als eigener ontologischer Bereich werden
(u.a.) durch performative Akte geschaffen (Searle, 1995; ansatzweise
zum Internet Nissenbaum, 2004)
• daneben impliziert das Internet andere Sachverhalte, die nach
verschiedenen „Ontologien“ (im kulturellen Sinne: Srinivasan, 2012; oder
im Sinne der Informatik: Gruber, 1995; Smith, 2003) geordnet werden
können
# 9 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Typologie der Strukturformen
Typologie der Strukturformen
Sach-, Zeit- und Sozialdimension (Luhmann 1984, S. 114ff.):
• Je nach Plattform werden die einzelnen Dimensionen
unterschiedlich repräsentiert
• Sachdimension (Gegenstand oder Thema der Kommunikation)
• Zeitdimension (Umgang mit (Ir-)Reversibilität, Kontinuität und
Punktualität; Unerreichbarkeit und die Bezugsmöglichkeit darauf)
• Sozialdimension (eigene und fremde Sinnhorizonte und ihre
gegenseitige Beziehung bzw. Bezüglichkeit)
# 10 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Typologie der Strukturformen
# 11 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Dimension Kategorie beispielhafte Strukturen Beispiele für Applikationen
Sachdimension Deskriptive Formen Objekt-/Person-Eigenschaft Xing-Profilseite
Relationale Formen
(gegenstandsbezogen)
Objekt zu Objekt „ähnliche Künstler“ bei last.fm
Person zu Person Facebook-Freundschaft
Person zu Objekt Musiksammlung
Relationale Formen
(dimensionsbezogen)
Sequenz Facebook-Chronik
Positionen im Raum Musicovery
Relationale Formen
(strukturbezogen)
Graph (z.B. Baum) Social Graph (Facebook App)
Rankings, Ratings, Ranglisten Sueddeutsche.de (Leser
empfehlen), Dt. Blogcharts
Listen (Auswahl, Kataloge) Social Bookmarking,
Linklisten
Gruppierungen/
Kategorisierungen/Taxonomien
Hashtags, Wikipedias
Themenkategorien
Typologie der Strukturformen
# 12 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Dimension Kategorie Erläuterung Beispiele für
Applikationen
Zeitdimension dynamisch Kleinste Änderungen bewirken
Veränderungen des gesamten
Angebots/Restrukturierung
Empfehlungssystem
e (last FM, Amazon-
Vorschläge)
statisch Änderungen bewirken kaum/geringe
Veränderungen des
Angebots/Ergänzung
Diskussionsforen,
Blogs
synchron Eine direkte Reaktion anderer
Benutzer wird erwartet
Chats
asynchron Nutzer können mit beliebiger
Verzögerung agieren
Blogs
reversibel Veränderungen können rückgängig
gemacht werden bzw. sind als
vorläufig markiert
Facebook-Unlike
irreversibel Veränderungen können nicht ohne
Weiteres rückgängig gemacht
werden
Online-
Abstimmungen,
Tweets(Twittersuche)
Geschichtlichkeit Arten und Möglichkeiten des Zugriffs
auf frühere Sachverhalte
Wikipedia-
Versionsgeschichte
Typologie der Strukturformen
# 13 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Dimension Kategorie Erläuterung beispielhafte Strukturen Beispiele für
Applikationen
Sozial-
dimension
Makro-
ebene
Sozialform/
Gesamt-
struktur
Allform/nicht hierarchische,
akteursbezogene Inklusionsform:
Netzwerk
Facebook (soziale
Netzwerke)
segmentäre Differenzierung Gilden in Online-Spielen
zw. segmentär & stratifikatorisch:
Zentrum-Peripherie (Luhmann, 1998,
S. 663ff.)
stratifikatorisch: Klassen und Stände
(Weber, 1922), sozialer Raum
(Bourdieu, 1979)
Online-Spiele,
Wikipedia
funktional & stratifikatorisch: Feld (Bourdieu, 1980)
Online-Spiele
funktional: Diskurs (Foucault, 1971) Diskussionsforen
funktional: auf Steuerungsmedien
basierendes formales System
(Habermas, 1987) z.B. Markt,
Ebay, Doodle
funktional: Apparat
Typologie der Strukturformen
# 14 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Dimension Kategorie Erläuterung beispielhafte Strukturen Beispiele für
Applikationen
Sozial-
dimension
Mesoebene Teilbereiche
einer Struktur
Gruppen (Simmel, 1992;
Mead 1934)
Facebook-Gruppen
Teilorganisationen Wikipedia-
Qualitätssicherung
Teildiskurs Diskussionsthread
Teilmärkte einzelne Ebay-Auktionen
einzelne Abstimmung einzelne Administrator-
Kandidatur bei Wikipedia
Rolle (Dahrendorf, 1968;
Goffman 1959)
IPs/Autoren/
Administratoren (z.B.
Wikipedia)
Regeln, Normen Zugriffs-/Schreibrecht,
Sperr-Algorithmen
Typologie der Strukturformen
# 15 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Dimension Kategorie Erläuterung beispielhafte Strukturen Beispiele für
Applikationen
Sozial-
dimension
Mikroebene Handlungs-/
Interaktions-
formen
Tausch, Gabe (Mauss, 2007) Tauschfunktion bei
Swapy.de
Kooperation - Konkurrenz Zusammenschluss in
Gilden bei Online-Spielen
Konsens - Konflikt Liken auf Facebook,
Retweets
Vergleichs-,
Auswahlprozesse
Amazon-Empfehlung, Liken
auf Facebook
Beziehung Facebook-Friend
Dialog, Multilog (Teilnehmerbegrenzung)
(Gruppen-)Chats
Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassung und Ausblick
• Einzelangebote näher analysieren
• Eine definierte Grundgesamtheit an Plattformen/Angeboten in
Bezug auf bestimmte Strukturtypen hin untersuchen
• methodische Schlussfolgerungen für zukünftige Studien ziehen
• Raumdimension
• Generalisierungen in Bezug auf „das Internet“/Trends, z.B.:
• differenzierte Zeitstruktur entgegen der „Schnelllebigkeit“
und „(Nicht-)Vergesslichkeit“ des Internets
• Zentrum-Peripherie-Strukturen, starke Ungleichheit sowie
Strukturen eines bürokratischen Apparates sind nur selten
in den Angeboten repräsentiert
• Integration bisheriger Forschungsansätze
# 16 10.05.2013 Soziale Ontologien online
Zusammenfassung und Ausblick
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# 17 10.05.2013 Soziale Ontologien online