Post on 13-Aug-2019
transcript
„Primäre Pflege“ –
ein geeignetes Betreuungskonzept für Menschen
mit (Lern)-Behinderungen im Krankenhaus“
Dipl. Pflegewirtin Petra Ott-
Ordelheide
Prof. Dr. Doris Tacke
Pflegeforum im Rahmen des
35. Deutschen Krankenhaustages
am 15.11.2012
Einführung
In Deutschland leben 7,1 Millionen Menschen mit einer
schweren Behinderung (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011, SGB
IX, §2Abs.2)
Die Anzahl erkrankter Personen mit
Behinderung steigt (Inklusion)
Krankenhäuser sind auf die Anforderungen an die
Betreuung dieser Patienten weder fachlich noch
organisatorisch vorbereitet.
Seidel, M. und Schmidt, C. (2010) Berliner Symposium „Patientinnen und Patienten mit geistigen und
mehrfacher Behinderung im Krankenhaus“
2
Kampagne 2006-
2010
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„Bei der Aufnahme teilte man mir mit, dass ich nicht ohne
Begleitperson aufgenommen werden könnte, da ich blind
und pflegebedürftig bin.
Man könne mich auf Grund Personalmangels weder zu den
Untersuchungen bringen, nicht bei der Körperpflege, dem
Toilettengang, bei der Essenreichung usw. helfen.“
Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.
„Primäre Pflege“ –
ein geeignetes Betreuungskonzept für
behinderte Menschen im Krankenhaus“
Systematische Literaturarbeit
Ergebnisse einer empirischen
Untersuchung
mit der Begründung
für Primary Nursing
Optimierung der Pflege
behinderter Menschen
durch Primary Nursing
Fazit
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Systematische Literaturarbeit -
international
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PUBMED,
CINAHL,
Cochrane
Library
Identifikation
von 17 Studien
Englisch- und
deutschsprachige
Publikationen von
Personen mit Lern-
und
Körperbehinderung
en älter als 18
Jahren, die
stationär in einem
Krankenhaus
behandelt wurden.
Ergebnisse in Ausschnitten:
Die Rahmenbedingungen in einem Krankenhaus -
(Faktor Zeit!)
Kontinuität in der Betreuung, (häufig Diskontinuität)
die Kompetenzen der Pflegenden (Fachwissen!)
die Einstellung der Professionellen zu behinderten
Menschen
beeinflussen die Interaktionsprozesse und das Erleben der
Patienten
Clinical Nurse Specialists in Intellectual Disability Nursing
beeinflussen die Prozesse positiv !
Unzureichende Erkenntnisse über die Betreuung von
Menschen mit Lernbehinderungen im Krankenhaus in
Deutschland
Iris Dörscheln, Doris Tacke
Wie erleben Menschen mit Körper- und Lernbehinderung
ihren Aufenthalt im Krankenhaus ?
13 Interviews
15 Beobachtungen,
Vorgehensweise nach Grounded
Theory
Was sind die Erfahrungen von Pflegenden
in der Betreuung dieser Patienten?
Eigene empirische Studie, die die Situation in Deutschland in den Blick
nimmt
Wie erleben Menschen mit Körper- und Lernbehinderung ihren Aufenthalt im
Krankenhaus ?
Was sind die Erfahrungen von Pflegenden in der Betreuung dieser Patienten?
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In fremder Umgebung
orientierungslos
Erfahrene Pflegende schildert:
Die Patienten (mit Behinderungen) kommen hier in andere Räumlichkeiten, sie
kommen auf die Station und kennen sich erst mal gar nicht aus. Sie haben
andere Zimmer, hier sind andere Geräusche, andere Personen, die sind auch
noch ganz weiß angezogen und die wollen auch meistens gleich etwas von
einem und das ist meistens auch nicht angenehm. …Und dann geht’s weiter
damit: Wo ist eigentlich die Toilette? Da finden manche sich erst mal gar nicht
zurecht. Es gibt ganz oft Patienten, die zu Hause kontinent sind, da zur Toilette
gehen und dann sich im Krankenhaus, weil sie die Räumlichkeiten nicht
kennen in die Hose machen, weil sie die Toilette nicht finden oder weil sie vom
Flur dann nicht mehr wissen, wo das Zimmer ist
oder weil sie sich nicht trauen,
einfach alleine loszugehen. Int. 1/12:25
In fremder Umgebung
orientierungslos
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Erleben von Patienten mit geistiger Behinderung
im Krankenhaus
in fremder Umgebung
orientierungslos
nicht verstanden werden
und
nicht verstehen
Zitat einer Pflegenden:
„Das große Problem bei uns ist wirklich die
Kommunikation. Also wir haben viele Patienten, die sich einfach
nicht äußern können und das ist das Problem. Die können dann
einfach auch nicht sagen: „… ich möchte jetzt keinen Blutdruck
messen oder ich hab jetzt Angst oder mir tut das rechte Bein in
der Schiene so weh,“ also das können sie einfach nicht
differenziert äußern und wir müssen dann herausfinden, wo liegt
jetzt das Problem, dahinter zu kommen. Wenn man die
Patienten nicht kennt. Da ist viel Beobachtungsgabe gefragt und
das geht nicht aus der Distanz, sondern nur im direkten Kontakt,
um festzustellen, wie reagiert die Patient auf Bewegung, wann
zuckt er zurück, wo blockiert er…, dazu braucht man Zeit und
eine hohe Aufmerksamkeit, um sich einzufühlen, Zeit, die man
direkt mit dem Patienten verbringt.“
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nicht verstanden werden
und
nicht verstehen
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Erleben von Patienten mit geistiger Behinderung
im Krankenhaus
in fremder Umgebung
orientierungslos
nicht verstanden werden
und
nicht verstehen
Angst / Furcht
Patienten mit Behinderungen im Krankenhaus
haben Angst…
weil sie das, was auf sie zukommt, nicht
einschätzen können
weil sie die Informationen zu den
entsprechenden Prozeduren nicht
verstehen
vor dem Ungewissen,
vor dem weißen Kittel,
vor den fremden Personen,
vor der fremden Umgebung,
weil sie sich selbst krank fühlen und die
Schwere ihrer Krankheit nicht
einschätzen können.
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Angst / Furcht
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Erleben von Patienten mit Lernbehinderung im
Krankenhaus
in fremder Umgebung
orientierungslos
nicht verstanden werden
und
nicht verstehen
Angst / Furcht
Unsicherheit Ungewissheit
Professionell Pflegende sind hilflos
„ dann komm ich und will nur
Blutdruck messen, dann
schlägt sie schon wieder um
sich.
Was soll ich denn da
machen, wenn ich ihr gleich
auch noch die Sonde legen
muss? “
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Foto: Veit Mette
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Erleben von Patienten mit Lernbehinderung im
Krankenhaus
in fremder Umgebung
orientierungslos
nicht verstanden werden
und
nicht verstehen
Angst / Furcht
Unsicherheit Ungewissheit
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Interventionen – was hilft?
in fremder Umgebung
orientierungslos
nicht verstanden werden
und
nicht verstehen
Angst / Furcht
Unsicherheit Ungewissheit
Interventionen – was hilft?
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Angst / Furcht
Vertrauen aufbauen
Sicherheit geben
Wie gelingt das ???
Orientierung fördern
Nähe
Pflegende S. äußerte:
Pflegende S: Ich hab auch mal für eine Frau ´ne Matte auf den
Fußboden gelegt direkt neben’s Dienstzimmer.
Int: Und warum auf den Flur?
Pflegende S: Sie wollte nicht in ihr Zimmer. Sie wollte einfach nicht in
ihr Zimmer und auch nicht ins Bett. Und hat dann immer so auf dem
Boden gesessen, in eine Decke eingewickelt, dann habe ich ihr die
Matte dahingelegt, diese Sturzmatten, und dann hat sie sich in die
Decke eingekuschelt und war zufrieden und hat geschlafen. Man muss
halt ein bisschen erfinderisch sein. Int. 2, 8: 33-38
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Sicherheit geben
Interventionen – was hilft?
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Angst / Furcht
Vertrauen aufbauen
Sicherheit geben
Wie gelingt das ???
Orientierung fördern
Verständigung ermöglichen
Eigene Belastungen außen vor lassen
Nähe
Zitat einer Pflegenden:
„Eigentlich muss ich mich
vor der Zimmertür frei
machen von allem, was
noch alles so da ist, was
ich noch alles besorgen
müsste, um dann wirklich
beim Patienten mit
meinen Gedanken zu
sein, dann geht das
wesentlich
schneller und ich habe
einen viel besseren
Kontakt.“
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Foto: Veit Mette
Interventionen – was hilft?
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Angst / Furcht
Vertrauen aufbauen
Sicherheit geben
Wie gelingt das ???
Orientierung fördern
Verständigung ermöglichen
durch Bezugspflegende
als Übersetzer/-innen, Anwälte ….
Nähe
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4 zentrale Elemente
des Primary Nursing nach Manthey (2011)
Übertragung der persönlichen Verantwortung für Patienten auf
eine Person und deren Akzeptanz durch diese Pflegekraft.
Tägliche Arbeitszuweisung nach der Fallmethode (nicht nach
Tätigkeiten oder Räumlichkeiten/Bereichen).
Direkte Kommunikation mit den beteiligten Berufsgruppen.
Übernahme der Verantwortung für die Qualität der am Patienten
erbrachten Pflege für die gesamte Aufenthaltsdauer auf der
Station durch die Pflegekraft – 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der
Woche. Manthey, M. (3. überarb. Aufl.2011). Primary Nursing. Ein
personenbezogenes Pflegesystem. Huber Verlag, Göttingen
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Kontinuität
Primäre Pflegende arbeitet in der
Kernarbeitszeit
Sie ist für mehrere Wochen für die
selben Patienten zuständig
Alle relevanten Prozesse liegen in der
Kernarbeitszeit
resultiert aus der Erkenntnis:
Behinderte Menschen brauchen
kontinuierliche Ansprechpartner, nur
diese können ihre besonderen
Bedürfnisse kennen: Aggressionen
können vermindert werden,
Potenziale bspw. im Rahmen von
Mobilisation können besser
ausgeschöpft werden
Foto: Veit Mette
Primäre Pflege im in der
Betreuung von Menschen mit Behinderungen
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Verantwortung
Verantwortung für den Pflegeprozess, die Durchführung der
Pflege, Qualität der Pflege; das bedeutet aber nicht:
dass die Primäre Pflegekraft alle Maßnahmen selbst
durchführt
Akzeptanz der Übernahme durch die Primär Pflegenden
Akzeptanz im mono- und interdisziplinären Team
„ als bei einer meiner Patienten ein Fehler auftrat, habe ich die Verantwortung so richtig gespürt“
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Fallbezogene Zuteilung (Manthey)
beschreibt eine
Arbeitszuteilung nach
Patient und nicht nach
Tätigkeiten.
„Es macht einen großen
Unterschied, ob ich jetzt sage: Das ist ein Patient - oder das
ist mein Patient, den ich betreue“
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Pflegeplanende(r) ist Pflegedurchführende(r) Die Primär Pflegende
führt die Pflegeanamnese durch und erstellt den Pflegeplan
führt den medizinisch- therapeutischen und pflegerischen Behandlungsplan zusammen mit anderen Pflegenden durch
koordiniert / terminiert therapeutische und diagnostische Leistungen
evaluiert / überprüft den Pflegeplan
Dabei
führt sie Pflegemaßnahmen - wann immer möglich - selber aus
arbeitet bei allen Schritten des Pflegeprozesses mit dem Patienten zusammen
informiert den Patienten über alle Schritte
Fazit
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Foto: Veit Mette
Fazit
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Primäre Pflege ist ein wichtiges Konzept für
Menschen mit Behinderungen
Das Konzept verbessert sowohl die Situation
von Mitarbeitern als auch die von Patienten
Insbesondere Menschen mit kognitiven
Problemen profitieren von dem Aspekt der
Kontinuität
Zeitliche Ressourcen werden optimal genutzt
Stärkt Verantwortungsübernahme stärkt die
Kompetenz der Pflegenden
Orientierung der Patienten wird durch Primäre
Pflege verbessert, Angst, Furcht, Ungewissheit
vermindert.
Foto: Veit Mette
„ Hier wird jeder so angenommen, wie er ist und
erhält dennoch alles was er medizinisch braucht:
Primäre Pflege ist ein Weg zu mehr Teilhabe von
Menschen mit Behinderung im
Gesundheitssystem“
Krankenschwester,
55J.
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Dipl. Pflegewirtin Petra Ott-Ordelheide Krankenhaus Mara gGmbH, Maraweg 17, 33617 Bielefeld,
petra.ott-ordelheide@mara.de
Prof. Dr. Doris Tacke, FH der Diakonie, Grete Reich Weg 9, 33617 Bielefeld,
doris.tacke@fhdd.de
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Literatur
Brown, M., MacArthur, K, (2006). A new research agenda: improving health care in general hospitals. Journal of Clinical Nursing
(15): 1362-70
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Cumella, S, Martin, D. (2004) Secondary healthcare and learning disability: Journal of Learning Disabilities. 30 (8): 30-40
Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V. (ForseA). Kampagne 2006 -2010. Ich muss ins Krankenhaus …
und nun? http://www.forsea.de
Dörscheln, I. Pflegerische Interventionen bei körperlichen und / oder geistig beeinträchtigten Menschen im Krankenhaus. Noch
unveröffentlichte Bachelorarbeit an der Fachhochschule der Diakonie. Grete-Reich-Weg 9, 33617 Bielefeld
Gibbs, S.M., Brown M.J. Muir, W.J. (2008). The experience of adults with intellectual disabilities and their carers in general
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Harenski, K. (2007) Geistig behinderte Menschen im Krankenhaus: Alles andere als Wunschpatienten. Deutsches Ärzteblatt. 104
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Hunt et al. (2004). Access to secondary care for people with learning disabilities. Nursing times 100 (3):34-35
Iacono, T. Davis, R. (2003) The experience of people with developmental disability in Emergency Departments and hospital
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Lachetta, R., Tacke, D., Dörscheln, I. Schulz, M. (2011). Erleben von Menschen mit einer geistigen Behinderung während eines
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Reymond, M. et al. (in Press): Der behinderte chirurgische Patient im DRG-Zeitalter. Zentralblatt der Chirurgie.
Richter, K., Borgmann, H. (2008) Interdisziplinäre Kommunikation und Kooperation. Ein Beitrag zur Sicherung pflegerischer
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Seidel, M. (2010) Die Situation von Patientinnen und Patienten mit geistiger und mehrfacher Behinderung im Krankenhaus – ein
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Sowney, M. und Barr, GO (2006): Caring for adults with intellectual disabilities: perceived challenges for nurses in accident and
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