Post on 05-Apr-2015
transcript
Pflegen Männer besser? Befunde aus der psychologischen Forschung zur Belastung pflegender
Angehöriger
Susanne Zank
Universität Siegen
Ringvorlesung „Das andere Geschlecht“
Lebenserwartung bei Geburt in JahrenFrauenFrauen MännerMänner
1900 44.0 40.6
1986/88 78.0 71.7
1997/99 80.5 74.4
Bevölkerungszahl und Anteil älterer und hochaltriger Menschen
über 80jährigeüber 80jährige 20002000 20202020 20502050
Anzahl in Millionen 2.9 5.1 8.0
Prozent der Bevölkerung 3.6 6.3 11.0
Vierter Altenbericht (2002)
Pflegebedürftigkeit
• 60-64jährige: 1.6%• 80-84jährige: 38.4%
• > 90jährige:• Frauen: 65.3%• Männer: 42.0%
Vierter Altenbericht (2002)
0
5
10
15
20
25
30
35
60 65 70 75 80 85 90
Alter in Jahren
Prä
vale
nz %
Demenz: Erkrankungsrisiko nach Lebensalter
Was ist Demenz? - Besonderheiten
• Demenz ist gekennzeichnet durch ein Bündel von verschiedenartigen Symptomen (betrifft Kognition, Affekt, Motivation, Sozialverhalten, Alltagskompetenz, körperliche Gesundheit).
• Demenz ist ein fortschreitendes, irreversibles, nicht heilbares Krankheitsgeschehen.
• Die Symptomatik verändert sich auch inhaltlich im Zeitverlauf.
• Für Demenzkranke ist es schwierig oder unmöglich, ihre Erkrankung zu reflektieren, mit Sinn zu versehen, psychisch zu bewältigen.
Die Pflege demenzkranker Familienangehöriger: Wer pflegt?
26,4
32,33028,6
22,1
10,5
6,4
10,2
2,85,6 6,45,3
0,71,5 0,70,8 00,40
5
10
15
20
25
30
35Toc
hter
Ehe
frau
Ehe
man
n
Schw
iege
rt.
wei
bl. V
erw
.
Sohn
Schw
este
r
Schw
.soh
n
Bru
der
OstWest
Halsig, 1998
Betreuungsaufgaben
Objektiv: Pflegeaufgaben i. e. S.; Unterstützung bei den
erweiterten Aktivitäten des täglichen Lebens;
Beaufsichtigung; Psychosoziale und
emotionale Unterstützung.
Subjektiv: Körperliche Erschöpfung,
Ekel; Überforderung, Gefühle der
Unzulänglichkeit, Schuld-gefühle;
Wahrnehmen fehlschlagender oder unerwünschter Unter-stützung.
„Ich bin 85 Jahre alt und pflege meinen Ehemann Paul, 87 Jahre, seit ca. 5-6 Jahren. Die letzten Monate sind unerträglich geworden. Von 24 Stunden täglich bin ich cirka 18-19 Stunden rund um die Uhr beschäftigt. Er ist geistig vollkommen verwirrt, ich muss ihn waschen, anziehen, füttern, er findet in der eigenen Wohnung sich nicht zurecht, wo wir schon seit 1957 wohnen, er weiß nicht, dass ich seine Frau bin, erkennt unseren Sohn nicht mehr usw. Ich bin nervlich am Ende und mache selbst schon viele Fehler…“
Krankheitsbedingte Verhaltensänderungen
Objektiv:
Verhaltensauffälligkeiten;
Kommunikationsdefizite;
Persönlichkeitsver-änderungen.
Subjektiv:
Ärger, Gereiztheit, Sorge, Angst, Verletztheit, Befremden, Unsicherheit, Überforderung, Scham;
Entfremdung, Verlust, Trauer;
Entfremdung, Verlust, Trauer, Einsamkeit.
„…Alles kostet so viel Geduld, es dauert und strapaziert meine Nerven. Stück für Stück wird nun mühsam angezogen…zuerst versuche ich die Tränen zu unterdrücken, schlucke sie runter, dann lasse ich sie ungehindert fließen. Gleich muss ich sowieso einen frischen Pulli anziehen. Ich habe mich beim Putzen und Waschen des Hinterns meines Mannes bespritzt. Das ist das Schlimmste; fast muss ich mich übergeben…..Es ist nicht zu fassen, dass das Schicksal so zugeschlagen hat. Meine vertränten Augen suchen Papas Blick. Leere! Keine Regung zu erkennen. In welcher Welt lebt er eigentlich? Leben? Vegetieren? Schon wieder zücke ich das Taschentuch, da ich meine Umwelt nur verschwommen wahrnehmen kann. Was spürt er? Was versteht er noch? Empfindet er? Denkt er? Kein Blick, keine Geste, kein Wort, kein Laut! Schweigen, Stillschwiegen. Eine 180 Pfund schwere Anziehpuppe mit biologischen Abläufen wie Essen – Schlafen – Ausscheiden. Das ist nicht mehr mein geliebter Mann. Wer treibt dieses unvorstellbare Spiel mit uns? Als er mich noch begehrte, ich liebte seinen Bauch, die Pfunde, die Augen, alles…..“
Bedürfniskonflikte
Objektiv:
Einschränkung der sozialen Partizipation;
Einschränkung der Rekreation;
Einschränkungen der Regeneration;
Materielle Einschränkungen.
Subjektiv:
Isolation, Einsamkeit;
Verzicht, Verlust, Benach-teiligung, Angebundensein, Erschöpfung;
Benachteiligung, Zukunfts-ängste.
Rollenkonflikte
Objektiv:
Berufliche Rollenkonflikte
Familiäre Rollenkonflikte
Subjektiv:
Verzicht, Verlust, Benach-teiligung, wahrgenommene Leistungsminderung, Doppelbelastung, Erschöpfung, Überforderung
Doppelbelastung, Loyalitätskonflikte, Schuldgefühle
Soziale Konflikte / Konflikte mit Dritten
Objektiv:
Konflikte mit anderen Familienmitgliedern / Verwandten;
Konflikte mit Diensten und Behörden.
Subjektiv:
Wahrnehmung mangelnden Rückhalts, mangelnder konkreter Unterstützung, Wut, Enttäuschung, Isolation.
Gesellschaftliche Bedeutsamkeit der Angehörigenarbeit
• Demenzen sind die vermutlich teuersten Erkrankungen im höheren Lebensalter
• Im Durchschnitt:• 43.770 Euro pro Patient pro Jahr• Familiäre Aufwendungen: 29.710 Euro• Pflegeversicherung: 12.960 Euro• Krankenversicherung: 1.100 Euro
(Bickel, 2001)
Geschlechterdifferenzen in der Pflege: Bisheriger Kenntnisstand
• Grad der subjektiven Belastung ist –auch unter
Berücksichtigung der objektiven Belastung - bei Frauen
insgesamt höher (Miller & Cafasso, 1992; Schulz et al., 1995).
• Pflegende Frauen weisen höhere Depressionswerte auf als
pflegende Männer (z.B. Schulz, O‘ Brien, Bookwala &
Fleissner, 1995).
• Ehefrauen leiden stärker unter affektiven Störungen und
Persönlichkeitsveränderungen des Patienten (Lutzky &
Knight, 1994). Männer nutzen mehr formale Hilfsangebote (z.B. Bischoff,
1999).
Geschlechterdifferenzen: Erklärungsansätze (1)
Männer haben – sozialisationsbedingt - eine professionelle,
weniger emotionale, Herangehensweise an die Pflege (vgl.
Bewältigungsstrategien, Inanspruchnahme von
Unterstützung), (Miller, 1990).
Frauen, die pflegen verfügen über ein geringeres Einkommen
und können sich professionelle Unterstützung weniger leisten
(Larwood & Gutek, 1997).
Frauen haben einen höheren Anspruch an die eigene Leistung
in der Pflege, da die damit verbundenen Aufgaben normativen
Geschlechtsrollenzuschreibungen entsprechen (Harris, 1993).
Geschlechterdifferenzen: Erklärungsansätze (2)
Männer erhalten deshalb mehr Anerkennung und
Unterstützung von Dritten, da die Pflegerolle für sie keine
normative ist (Miller, 1990).
Frauen fühlen sich aufgrund ihrer Sozialisation stärker
verantwortlich / sind sensitiver für (gelingende) soziale
Beziehungen (Kessler, 1997).
LEANDERLEANDER Längsschnittstudie zur Belastung Längsschnittstudie zur Belastung pflegender Angehöriger von demenziell Erkranktenpflegender Angehöriger von demenziell Erkrankten
finanziert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMfSFuJ-Nr. 68432)
Leitung PD Dr. Susanne Zank, Dr. Claudia SchackeWiss. MitarbeiterDr. Bernhard Leipold, Graduierte MitarbeiterGundula Fröhlich, Jens ThomaSilvia Meister, Rebecca Wachtel, Heike Zehle,Stud. MitarbeiterBeate Kettemann, Katharina Chwallek
Freie Universität Berlin FB Erziehungswissenschaft und Psychologie AB Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung, Arbeitsgruppe Gerontologie
1. Der Verlauf des Pflegeprozesses wird in einer Längsschnittstudie mit
fünf Erhebungszeitpunkten über insgesamt 36 Monate differenziert für
unterschiedliche Pflegepersonengruppen dokumentiert.
2. Entwicklung eines stresstheoretisch fundierten, mehrdimensionalen
Erhebungsinstruments für die Erfassung von Belastungen bei der
informellen Pflege. Das Instrument soll folgenden Kriterien genügen:
Standardisierung, Multidimensionalität und Veränderungssensitivität.
3. Verschiedene Entlastungsangebote werden mit diesem
Erhebungsinstrument evaluiert (Soziale Dienste, Tagespflege,
Angehörigengruppen).
Ziele der LEANDER Studie:Ziele der LEANDER Studie:
Objektive Belastung:Objektive Belastung:
6 Dimensionen (z.B. Pflegeaufgaben, Beaufsichtigung)6 Dimensionen (z.B. Pflegeaufgaben, Beaufsichtigung)
Subjektive Belastung durch Verhaltensänderungen des Subjektive Belastung durch Verhaltensänderungen des Demenzkranken:Demenzkranken:
6 Dimensionen (z.B. Beziehungsverlust, Spätsymptomatik)6 Dimensionen (z.B. Beziehungsverlust, Spätsymptomatik)
Bedürfnis- und Rollenkonflikte:Bedürfnis- und Rollenkonflikte:
6 Dimensionen (z.B. persönliche Einschränkungen, mangelnde 6 Dimensionen (z.B. persönliche Einschränkungen, mangelnde soziale Anerkennung) soziale Anerkennung)
*Berliner Inventar zur Angehörigenbelastung - Demenz
BIZA-D*BIZA-D*
Belastungsverläufe bei Ehemännern und Ehefrauen: Empirische Befunde der LEANDER-
Studie (N=179)
MZP1:
0 Monate
MZP2:
9 Monate
MZP3:
18 Monate
Objektive BelastungSubjektive BelastungAggressivität i. d. PflegeAllgemeines Wohlbefinden
Objektive BelastungSubjektive BelastungAggressivität i. d. PflegeAllgemeines Wohlbefinden
Objektive BelastungSubjektive BelastungAggressivität i. d. PflegeAllgemeines Wohlbefinden
Merkmale der Pflegenden und der Merkmale der Pflegenden und der Pflegebedürftigen (N=179)Pflegebedürftigen (N=179)
Ehemänner (N=67) Ehefrauen (N=112)
Merkmale Anteile Mittel Anteile Mittel
Alter d. Pflegenden 72 Jahre 65 Jahre
Betreuungsdauer 42 Mon. 43 Mon.
Alter des Patienten 72 Jahre 78 Jahre
Schwere d. Erkrankung (ICD-10)
leicht 4,5% 8,9%
mittel 44,8% 54,5%
schwer 50,7% 36,6%
Die Relevanz des Themas: Prävalenz von Depressivität und Aggressivität in der
Längsschnittstichprobe (1. MZP)
• 43 % der pflegenden Ehepartner in der Stichprobe leiden unter klinisch relevanter Depressivität (CES-D > 23).
• Bei den Frauen beträgt der Anteil 51,8%.• Bei den Männern 28,4%.
• 91% (95,7 % Frauen; 88,1% Männer) der Ehepartner geben an, während der letzten zwei Wochen vor der Befragung einmal oder öfter aggressiv gewesen zu sein.
(Beispielitem: Ich fasse meinen Angehörigen bei der Pflege schon mal härter an.)
MZP 1 MZP 2 MZP 3
Pfl
eg
es
tufe
FrauenMänner
0
3
Objektive Veränderungen: Pflegestufe im Zeitverlauf (N=179)
MZP 1 MZP 2 MZP 3
Ehefrauen
Ehemänner
Nie 0
Immer 4
Subjektive Belastung durch kognitive Defizite des Patienten im Zeitverlauf (N=179)
2
MZP 1 MZP 2 MZP 3
Ehefrauen
Ehemänner
Nie 0
Oft 3
Aggressivität gegenüber dem Patienten im Zeitverlauf (N=179)
1,5
MZP 1 MZP 2 MZP 3
Ehefrauen
Ehemänner
Nie 0
Immer 4
Belastung durch Beziehungsverlust im Zeitverlauf (N=179)
2
MZP 1 MZP 2 MZP 3
Ehefrauen
Ehemänner
0
40
Depressivität (CES-D) im Zeitverlauf (N=179)
23
MZP 1 MZP 2 MZP 3
An
zah
l Un
ters
tütz
un
gs
an
ge
bo
te
Ehefrauen
Ehemänner
0
3
Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten im Zeitverlauf
(N=179)
Variable Signifikanzniveau je Faktor
Gruppe Zeit Zeit X Gruppe
Pflegestufe P=.003 F- P=.000 P=.614
Belastung durch kognitive Defizite des Patienten
P=.002 F+ P=.000 P=.611
Aggressivität gegenüber dem Patienten
P=.351 P=.001 P=.082
Beziehungsverlust P=.215 P=.197 P=.754
Depressivität des Pflegenden
P=.000 F+ P=.549 P=.537
Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten
P=.676 P=.000 P=.023
Zusammenfassung: Ergebnisse aus Varianzanalysen mit Messwiederholung
Fazit
• Die Pflege demenzkranker Angehöriger stellt ein hohes Risiko für das psychische Wohlbefinden der Pflegenden dar.
• Je nach Dimension lassen sich sowohl Stabilität als auch Zu- oder Abnahme der Belastung im Zeitverlauf nachweisen.
• Trotz objektiv höherer Beeinträchtigung der pflegebedürftigen Ehefrauen empfinden die pflegenden Ehemänner ihre Belastung als geringer.
• Dies gilt für einige, nicht für alle Belastungsdimensionen und lässt sich nicht auf eine intensivere Inanspruchnahme von Unterstützung zurückführen.
• Das Geschlecht hat für die hier untersuchten Dimensionen keine Bedeutung auf den Belastungsverlauf.
Fazit: Bezug zu bestehenden Befunden
• Grad der subjektiven Belastung ist –auch unter Berücksichtigung der objektiven Belastung - bei Frauen insgesamt höher (Schulz et al., 1995).
• Pflegende Frauen weisen höhere Depressionswerte auf als pflegende Männer (z.B. Schulz, O‘ Brien, Bookwala & Fleissner, 1995).
• Ehefrauen leiden stärker unter affektiven Störungen und Persönlichkeitsveränderungen des Patienten (Lutzky & Knight, 1994).
Männer nutzen mehr formale Hilfsangebote (z.B. Bischoff, 1999)
√
√
√
---