Post on 31-Aug-2020
transcript
Universität Bielefeld
Fakultät für Soziologie
Seminar: Erving Goffman
Veranstalterin: Marion Müller
WiSe 2005/2006
Peinliche Situationen bei Begrüßungen
von Sonja Schulz
Email: sonja1383@web.de
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis....................................................................................................................... 2
1. Einleitung .......................................................................................................................... 3
2. Peinlichkeit......................................................................................................................... 4
2.1. Grundlegende Konzepte ............................................................................................. 4
2.2. Bewältigung von peinlichen Situationen.................................................................... 8
3. Der Gruß und seine Bedeutung für die Interaktion .......................................................... 11
3.1. Reglementierung und Verminderung von peinlichen Situationen - der deutsche
Gruß.......................................................................................................................... 13
3.2. Verschiedene soziale Kreise – verschiedene Grüße...................................................... 15
4. Empirische Beispiele........................................................................................................ 18
1. Beispiel:............................................................................................................................ 18
2. Beispiel............................................................................................................................. 20
3. Beispiel............................................................................................................................. 22
5. Fazit ...................................................................................................................................... 23
Literatur .................................................................................................................................... 26
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1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit peinlichen Situationen beim Grüßen. In den Werken
Erving Goffmans scheint die Vermeidung von Peinlichkeit und somit die Vermeidung eines
Gesichts- und Imageverlustes ein wichtiger Bestandteil jeder Interaktion zu sein. Ebenso ist
die Begrüßung ein elementarer Bestandteil jeder Interaktion, da sie dem Beginnen eine Form
gibt und man sich nur schwer eine Begegnung vorstellen kann, die nicht durch irgendeine Art
des Grüßens begonnen wird (Allert 2005, S. 11f). In meiner Arbeit liegt der Schwerpunkt auf
den Goffmanschen Konzepten und dem, was Hans Peter Dreitzel zu peinlichen Situationen
verfasst hat. Bei den theoretischen Grundlagen zum Grüßen beziehe ich mich vor allem auf
Tilman Allert und auf das, was Goffman zu Ehrerbietung und Benehmen verfasst hat.
Zunächst werde ich einleitend darstellen, worin eine peinliche Situation besteht und was
peinliches Verhalten eigentlich ausmacht. Hierbei sollen auch die Fragen beantwortet werden,
warum sich ein Gefühl der Verlegenheit in einer peinlichen Situation auf alle Beteiligten
überträgt, auch wenn sie die peinliche Situation nicht verursacht haben und inwiefern sich die
Anforderungen an die Interaktionskompetenz von Personen mit der Zeit verändert haben. Im
Anschluss hieran werden einige Möglichkeiten beschrieben, wie peinliche Situationen
bewältigt werden können. Darauf folgen theoretische Grundlagen zum Grüßen und der
Bedeutung des Grußes für die Interaktion. Aufbauend auf dem, was im Kapitel 2 als Prozess
des Ansteigens der Interaktionskompetenz beschrieben wird, soll der Hitlergruß als eine
Möglichkeit der Interaktionsvereinfachung diskutiert werden. Hierauf folgt eine Beschreibung
der Funktion des Grußes hinsichtlich der Demonstration von Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe. Im Anschluss werden drei empirische Beispiele von peinlichen
Situationen beim Grüßen vorgestellt und anhand der theoretischen Grundlagen der
vorangegangen Kapitel analysiert. Beim ersten Beispiel handelt es sich um eine Situation, die
in einem Artikel im Spiegel-Magazin beschrieben wurde. Bei den folgenden zwei Beispielen
handelt es sich um Situationen, die ich persönlich miterlebt habe. In einem Fazit werden die
Gemeinsamkeiten und Unterschiede der empirischen Beispiele verdeutlicht und ein Vergleich
angestellt, hinsichtlich der Erklärungsleistung von Dreitzels und Goffmans Ansatz.
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2. Peinlichkeit
2.1. Grundlegende Konzepte
Charles Darwin bemerkte, dass Tiere und Menschen im Allgemeinen ihre Gefühle sehr
ähnlich ausdrücken – mit einer Ausnahme: das Gefühl der Scham kennt nur der Mensch und
es beruht auf dem, was andere vermutlich über uns, unsere Erscheinung und unser Handeln
denken. Auch Mark Twain, ein Zeitgenosse Darwins, bemerkte: „Der Mensch ist das einzige
Tier, dass sich schämt. Oder es tun sollte“ (vgl. Schudson 1984, S. 633).
Um das somit Menschlichste aller Gefühle soll es hier gehen: um das Gefühl der Verlegenheit
und Scham.
Erving Goffmans Menschenbild erweckt den Anschein, als ob der Mensch in jeder Interaktion
vor allem versucht, Peinlichkeiten zu vermeiden und seinem Gegenüber einen guten Eindruck
von sich zu vermitteln (Schudson 1984, S. 633f). Die Vermeidung von peinlichen Situationen
ist bei Goffman elementarer Bestandteil jeder Interaktion.
Für die Verlegenheit einer Person gibt es Symptome subjektiver und objektiver Art. Zu den
objektiven Symptomen von Verlegenheit zählen solche Merkmale wie Erröten, Erbleichen,
Stottern, Schwitzen, Zittern, zögernde und unschlüssige Bewegungen und nervöses Fingern
an der Kleidung. Zu den subjektiven Symptomen zählen beispielsweise ein Zusammenziehen
des Zwerchfells, ein Schwindelgefühl, das Bewusstsein angespannter oder unnatürlicher
Bewegungen, Trockenheit im Mund, Verwirrtheit und Anspannung der Muskeln (Goffman
1971, S. 106).
Bei einer peinlichen Situation muss man einige wesentliche Rollen unterscheiden. Man kann
in einer Situation unterscheiden, wer die peinliche Situation verursacht hat, wer in dieser
Situation Verlegenheit empfindet oder „peinlich berührt“ ist und wem gegenüber diese
Peinlichkeit empfunden wird. Bei den Beteiligten handelt es sich nicht notwendigerweise um
Einzelpersonen, es können auch ganze Gruppen oder Repräsentanten bestimmter Gruppen
beteiligt sein (Goffman 1971, S.108). Wenn beispielsweise eine Mutter vom Verhalten ihrer
Familie in der Gegenwart von Gästen peinlich berührt ist, so ist sie dies, obwohl sie nicht
Verursacherin der peinlichen Situation ist (auch wenn sie sich indirekt verantwortlich fühlen
kann), sondern ihre Familie. Die Peinlichkeit wird gegenüber den Gästen empfunden, also
gegenüber einer Gruppe von Menschen.
Die Ursache für die Empfindung von Peinlichkeit lässt sich mit Plessner als die künstliche,
kulturelle Durchformung der Natur des Menschen bestimmen. Die Kultur des Menschen
überlagert seine defiziente Natur. Tritt die bloße Körperlichkeit des Menschen zu Tage und
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zeigt er Schwächen in seiner kulturellen Performance, so verursacht das Erleben dieses
Makels das Gefühl von Peinlichkeit (vgl. Dreitzel 1983, S. 149). Dies ist auch der Grund,
warum Tiere das Gefühl der Peinlichkeit nicht kennen. Kurz: der Auslöser für das Gefühl von
Peinlichkeit ist die unwillkürliche Verletzung kultureller Standards und Erwartungen (Dreitzel
1983, S. 150). Wichtig hierbei ist die Unwillkürlichkeit der Handlung, denn bewusst
normverletzende Handlungen verursachen eher Schuldgefühle als Gefühle der Peinlichkeit
und regen auch nicht zur Identifikation mit demjenigen an, der in einer peinlichen Lage ist
(siehe unten).
Unwillkürliche Akte, die Peinlichkeit hervorrufen, lassen sich unterteilen in Akte, die auf das
Versagen über die Kontrolle der eigenen Körperlichkeit zurückzuführen sind, wie zum
Beispiel schlechte Kleidung, Husten im Konzertsaal oder ein umgeworfenes Glas und in
solche Akte, die auf das Versagen in Bezug auf normative und intellektuelle Kompetenzen
zurückzuführen sind, wie zum Beispiel das Vergessen eines Namens, den man kennen sollte,
oder das Verletzen von Gesprächstabus (Dreitzel 1983, S. 150).
Auch Goffman macht letztendlich die Verletzung kultureller Standards als Auslöser für
peinliche Situationen verantwortlich. Während der Interaktion wird vom Einzelnen erwartet,
dass er über bestimmte Kompetenzen, Eigenschaften und Kenntnisse verfügt. Laut Goffman
gibt es einige Voraussetzungen für gelungene Interaktion. Zu diesen gehören beispielsweise,
dass die Beteiligten
• intellektuelle und emotionale Involviertheit vermitteln,
• aufmerksam wirken,
• ihre Rolle erwartungsgemäß erfüllen,
• über Selbstkontrolle verfügen und emotionale Reaktionen unterdrücken können,
• ihren Gesichtsausdruck und ihre Stimme kontrollieren
• und von informeller Privatsphäre in den öffentlichen Raum wechseln können, ohne
verwirrt zu werden.
Wer über diese (und andere) Kompetenzen nicht verfügt, läuft Gefahr, einen Fauxpas zu
begehen (Kuzmics 1991, S.1f).
Die Kompetenzen, über die eine Person in einer Interaktion verfügen können soll, fügen sich
zu einem Selbst, dass in sich kohärent und der Situation angepasst ist (Goffman 1971, S.115).
In einer Interaktion muss jeder Teilnehmer sowohl sein eigenes Selbst, als auch das der
anderen Teilnehmer achten. Wird das Selbst eines Teilnehmers an einer Interaktion bedroht,
zum Beispiel weil er über bestimmte kulturelle Kompetenzen und Kenntnisse
erwartungswidrig doch nicht verfügt, kommt es zu einer peinlichen Situation. Sowohl der,
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dessen Selbst, eventuell durch sein eigenes situationsunangepasstes Verhalten, bedroht wurde,
als auch der, der das Selbst der anderen Person bedroht und ihn diskreditiert hat, schämen sich
in peinlichen Situationen für das, was sie gemeinsam „angerichtet“ haben (Goffman 1971,
S.116).
Goffman unterscheidet im Wesentlichen zwischen zwei Störungen in Interaktionen, die
ursächlich für peinliche Situationen sind:
• Inkonsistenzen im Charakter, dass heißt mangelhafte Ausführung der eigenen Rolle
und
• Verstößen in der Interaktion, dass heißt mangelhaftes Ausführen von Regeln und
mangelhaftes Taktgefühl (Schudson 1984, S.636).
Beide Störungen führen letztendlich zu einer Verletzung des Selbst, dass in der Situation
verwirklicht werden sollte.
Goffman nennt einige typische Ursachen für peinliche Situationen. Zu diesen zählen solche,
die aufgrund von Statusunterschieden der an der Situation Beteiligten hervorgerufen werden.
Beispiele hierfür sind, wenn jemand von einer Statusveränderung einer Person noch nicht
informiert ist und ihn entsprechend seines alten Status’ behandelt; wenn jemand ein Gespräch
beendet, obwohl dies dem Status-Höheren gebührt hätte; wenn jemand seines Status’
entsprechend zu elegant oder zu lässig gekleidet ist oder auf sonstige Weise von den
moralischen, geistigen oder physiognomischen Standards seines Status’ abweicht; wenn
Personen, deren Beziehung durch Formalität und Rangunterschiede gekennzeichnet ist, an
einem informellen Ort, wie beispielsweise einem Aufzug oder einer Cafeteria aufeinander
treffen. Ein weiterer häufiger Grund für Peinlichkeiten ist auf mangelnde Rollensegregation
zurückzuführen. Oft entstehen Verlegenheiten dann, wenn das dargestellte Selbst mit einem,
in einem anderen Kontext gültigen, in dem gegenwärtigen Kontext jedoch nicht adäquaten
Selbst, konfrontiert wird. Normalerweise schützt die Segregation des Publikums vor solchen
Rollendilemmata (Goffman 1971, S. 118f).
Je nach Dauer der peinlichen Episode, kann zwischen einem peinlichen Zwischenfall und
einer unbehaglichen Situation unterschieden werden. In letzterer Variante beginnt die
peinliche Situation mit Beginn der Interaktion und endet, wenn die Interaktion beendet wird
(Goffman 1971, S. 109). Eine peinliche Situation kann jedoch niemals allzu lange dauern.
Zum einen, weil das Gefühl der Peinlichkeit so unangenehm ist, dass es nur kurzfristig
ertragen werden kann und zum anderen, weil ein dauerhafter Kontroll- oder
Kompetenzverlust für den sozialen Zusammenhang so bedrohlich wirkt, dass er besonderer
Erklärungen oder Rollenzuschreibungen, wie zum Beispiel der Krankenrolle, bedarf (Dreitzel
1983, S. 151).
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Verlegenheit ist „ansteckend“. In der Regel ist nicht nur der Verursacher einer peinlichen
Situation verlegen, sondern die Personen, die sich mit ihm in dieser Situation befinden,
werden ebenfalls verlegen. In einer peinlichen Situation scheinen Ich-Schranken besonders
schwach zu sein (Goffman 1971, S.109).
Diese Übertragung von Verlegenheit auf alle an der Situation Beteiligten könnte daran liegen,
dass taktvolle Menschen es vermeiden, jemanden in eine peinliche Situation zu bringen
(Goffman 1971, S.112) und jede Person bedacht ist, das Image anderer Personen zu wahren
(Goffman 1971, S. 17). Personen, die Zeuge einer peinlichen Situation werden, könnten nicht
genügend Takt bewiesen haben und somit auch ihr eigenes Image von sich als einer taktvollen
Person zerstören.
Dreitzel zufolge liegt die Übertragung von Peinlichkeit auf die Umgebung daran, dass
Peinlichkeit ein Gefühl ist, dass zur Identifikation anregt, da im Grunde jeder weiß, wie leicht
man in eine peinliche Situation kommen kann und daher ebenso bemüht ist, die Routine
wiederherzustellen, wie die Person, die in die peinliche Situation gekommen ist (Dreitzel
1983, S.148). Dreitzel unterscheidet hier jedoch zwischen dem Fehlverhalten signifikanter
Anderer, dass einem ebenso peinlich sein kann wie das eigene Fehlverhalten und den
peinlichen Missgeschicken, denen man bloß als Zuschauer beiwohnt und die daher auch zu
distanzierenden und sanktionierenden Reaktionen anregen können, wie Lächeln oder Spott
(Dreitzel 1983, S.149).
Kommt es zu einer peinlichen Situation, sind alle Beteiligten verpflichtet, auf eine
Wiederherstellung der Ordnung hinzuwirken (Kuzmics 1991, S. 3).
Während Goffman nicht auf die historische Variabilität von Peinlichkeit eingeht, dürfte das
Individuum Elias zufolge in modernen Gesellschaften als Folge des Zivilisationsprozesses
einer erhöhten Gefahr ausgesetzt sein, Peinlichkeiten zu begehen, da die Anforderungen an
Benehmen, Etikette und Körper- und Affektkontrolle im Allgemeinen gestiegen sind (Dreitzel
1983, S. 152; Kuzmic 1991, S.11f). Der Spielraum unkontrollierten Verhaltens wird geringer,
die Anforderungen an die normative Kompetenz des Akteurs werden größer und damit das
Risiko, in peinliche Situationen zu gelangen (Dreitzel 1983, S. 152).
Abgesehen davon, dass die Anforderungen an das Individuum allgemein ansteigen, ist
Peinlichkeit auch historisch und sozial variabel (Dreitzel 1983, S. 149): was hier und heute
peinlich ist, kann anderswo „normal“ sein, muss nicht immer peinlich gewesen sein und kann
später völlig legitim sein.
Es findet jedoch nicht nur eine allgemeine Verminderung unkontrollierten Verhaltens,
sondern auch ein Informalisierungsprozess statt. In einigen Bereichen, wie dem Verhältnis zur
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Nacktheit, zur Sexualität, zum Essen und den zwischenmenschlichen Umgangsformen ist man
heute wieder informeller und „unzivilisierter“ (Dreitzel 1983, S. 152).
Durch diese beiden gegenläufigen Muster, zusätzlich zur sozialen und historischen
Variabilität von Verhaltenserwartungen, wird heute für das Individuum zunehmend unklarer,
welche Verhaltensstandards es in einer bestimmten Situation zugrunde legen kann und was in
einer Situation von ihm erwartet wird. Die Verhaltensunsicherheit, und damit das Risiko, ins
Fettnäpfchen zu treten, dürfte deshalb, trotz des Informalisierungsprozesses, für das einzelne
Individuum steigen, da eine stärker ausgeprägte normative Kompetenz vom Einzelnen
erwartet wird.
„Die Anforderungen an die Kompetenz- und Kontrollvoraussetzungen wachsen, gerade weil die Schambarrieren etwas niedriger, dafür aber gruppenspezifisch variabler und darum schwerer erkennbar sind“ (Dreitzel 1983, S. 154).
2.2. Bewältigung von peinlichen Situationen
Generell sind alle an einer Situation beteiligten Personen gefordert, an der Beseitigung von
Peinlichkeiten mitzuarbeiten und die Ordnung wiederherzustellen und sei es durch bloßes
Überhören, Übersehen und Übergehen (Kuzmics 1991, S. 3; Dreitzel 1983, S.149, S.151).
Dies liegt unter anderem daran, dass niemand als taktlos gelten möchte (Goffman 1971,
S.112ff). Goffman unterscheidet zwischen defensive practices, mit denen der Akteur seine
eigene Situationsdefinition schützt und protective practices, mit denen die
Situationsdefinitionen anderer Personen geschützt werden (Schudson 1984, S. 635). Es gibt
verschiedene Möglichkeiten, wie Zeugen mit einer peinlichen Situation umgehen können.
Goffman nennt zunächst die drei Möglichkeiten den Verwirrten zu ignorieren, ihn
aufzurichten oder sich von ihm zu entfernen (Goffman 1971, S.110). Wenn man die peinliche
Handlung einer anderen Person ignoriert, tut man so „als sei nichts geschehen“. Damit hilft
man der Person, ihr Gesicht und ihre Gefühle zu wahren und wieder Fassung zu erlangen
(Goffman 1971, S.112ff). Teilweise ist eine Entschuldigung vom Urheber der Peinlichkeit in
einer solchen Situation schon zuviel, da mit ihr eine Peinlichkeit zwangsläufig thematisiert
wird1 (Dreitzel 1983, S.151). War der Verstoß jedoch so stark, dass er nicht ohne weiteres
ignoriert werden kann, so ist jede beteiligte Person gefordert, den Begeher der Peinlichkeit
wieder aufzurichten und das Ihrige dazu beizutragen, dass die Situation entschärft wird. Was
der Kern solcher Handlungen ist, kann je nach Situation unterschiedlich sein, möglich sind
1 Ein ähnlicher Sachverhalt ist, dass man Personen, die Niesen müssen, nicht mehr „Gesundheit“ wünschen soll, da damit ebenfalls der peinliche Ausrutscher des Gegenübers, das ungewollte Niesen, thematisiert wird.
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zum Beispiel Kommentare wie „das ist mir auch schon passiert“, „das macht doch nichts“
oder Hilfeleistungen (zum Beispiel helfen, Scherben wegzuräumen, wenn jemandem etwas
heruntergefallen ist).
Ab einem bestimmten kritischen Punkt kann die Verunsicherung desjenigen, der in eine
peinliche Situation geraten ist, so stark sein, dass ein emotionaler Zusammenbruch die Folge
ist. Kennzeichnend wäre zum Beispiel, dass jemand in Tränen ausbricht, einen furchtbaren
Lachanfall bekommt, in Wut gerät oder wegläuft (Goffman 1971, S.113). Dies könnte
Auslöser dafür sein, dass die anwesenden Personen sich von der Person entfernen.
Das „Nichtbeachten von Zwischenfällen“ und die „Verheimlichung von Zwischenfällen“
zählt Goffman in den „Techniken der Imagepflege“ zum Vermeidungsprozess. Das
Wiederaufrichten einer Person könnte man im korrektiven Prozess wieder finden, der nötig
wird, wenn ein Zwischenfall nicht mehr zu übersehen ist. Zum korrektiven Prozess gehören
(Goffman 1971, S. 23-29):
a. eine Herausforderung, mit der die Interaktionsteilnehmer implizit fordern, dass das
bedrohende Ereignis wieder gut gemacht werden muss,
b. ein Angebot, mit dem einem Interaktionsteilnehmer, meist dem Verursacher, die
Chance gegeben wird, Folgen wieder gut zu machen, die Ordnung wieder herzustellen
und Buße anzubieten,
c. Akzeptanz, seitens des- oder derjenigen, denen das Angebot zur Wiederherstellung der
Ordnung gemacht wurde und
d. Dank, zumeist seitens des Verursachers.
Verbal könnte der Prozess in folgender Szene dargestellt werden:
a. „Also hören Sie mal... .“
b. „Entschuldigung, das wollte ich nicht/das war nicht so gemeint.“
c. „Schon gut, kann ja mal vorkommen.“
d. „Danke.“
Das Angebot muss jedoch nicht zwangsläufig vom Verursacher gemacht werden, es kann
auch von anderen an der Interaktion beteiligten Personen stammen, die versuchen, das
Verhalten des Verursachers zu erklären und mit einer anderen Deutung zu versehen.
Außerdem kann die Umgebung der verursachenden Person die Gelegenheit bieten, der
Herausforderung durch ein Angebot zuvorzukommen (Goffman 1971, S. 28) oder sogar
taktvoll dem Angebot durch Akzeptanz zuvorkommen, um die verursachende Person nicht zu
lange in der peinlichen Situation verweilen zu lassen.
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Nicht nur die Zeugen einer peinlichen Situation sind bemüht, die Ordnung einer Situation
wieder herzustellen, sondern auch der Verursacher selbst, mittels der defensive practices.
Da Verlegenheit und Verwirrung in unserer Gesellschaft als Zeichen von Schwäche,
Inferiorität, niedrigem Status, moralischer Schuld und Niederlage gelten, haben verlegene
Personen ein Interesse daran, ihre Verlegenheit oder das verlegenheitsauslösende Moment vor
anderen Person zu verbergen (Goffman 1971, S.111). Daher dürften Personen in einer
peinlichen Situation zunächst dazu neigen, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Sollte dies
aufgrund der Offensichtlichkeit des Fehltritts nicht möglich sein, hat das Individuum ein
Interesse daran, sich von dem Bild, das es soeben in der Situation präsentiert hat, zu
distanzieren, da es sein eigenes Selbst verletzt hat. Die Person hat ein Interesse daran, zu
zeigen, dass ihr wahres Selbst durchaus in der Lage ist, den Anforderungen der Situation
gerecht zu werden. Mit einer solchen Verteidigung des eigenen Selbst beweist das
Individuum, dass es souverän ist und die Situation im Griff hat. Der Akteur hat die Aufgabe
und das Recht, klärende, korrektive Informationen zu geben (Goffman 1974, S.153). Die
Funktion einer korrektiven Handlung durch das Individuum besteht darin, die Bedeutung zu
ändern, die andernfalls einer Handlung zugesprochen werden könnte, damit die Handlung
letztendlich als etwas Akzeptierbares angesehen werden kann. Dies geschieht durch drei
Mittel: die Erklärung, die Entschuldigung und das Ersuchen (Goffman 1974, S.156f).
Im Wesentlichen gibt der Verursacher bei der Erklärung Auskunft darüber, wie es zu dem
Geschehen kam und dass er selbst es gar nicht, oder nicht absichtlich herbeigeführt hat oder
er, hätte er vorher die Folgen seines Handelns abschätzen können, anders gehandelt hätte. Er
kann auch über seine Motive, die ihn zum Handeln bewogen haben und „mildernder
Umstände“ Auskunft geben. Mit einer Entschuldigung teilt sich das Individuum sozusagen in
zwei Teile: einen Teil, der die peinliche Handlung begangen hat und einen Teil, der sich von
der Handlung distanziert, Selbstkritik übt und die Erwartungen, die an die Situation bestehen,
bestätigt. Beim Ersuchen holt sich das Individuum vorher die Erlaubnis, ausnahmsweise die
Regeln übertreten zu dürfen (Goffman 1974, S.157-166). Da eine Peinlichkeit jedoch, laut
Dreitzel, zumeist unwillkürlich geschieht, dürfte das Ersuchen als korrektive Handlung hier
vermutlich eine geringe Rolle spielen.
Ab wann jemand dazu neigt, in die Offensive zu gehen und korrektive Informationen zu
geben, um die eigene Souveränität zu beweisen, ist interindividuell und bestimmt auch
milieuspezifisch unterschiedlich.
Trotz diesen Möglichkeiten des Individuums, auf eine peinliche Situation zu reagieren, kann
dem Individuum auch schon damit gedient sein, dass das Geschehen geflissentlich
„übersehen“ und ignoriert wird, vor allem bei kleineren Peinlichkeiten.
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Eine weitere Möglichkeit, zu dem Geschehenen auf Distanz zu gehen, sind Scherze (hiermit
sind jedoch nicht Schadenfreude oder Scherze auf jemand anderes Kosten gemeint). Kleine
Scherze bieten die Möglichkeit, der Situation die Ernsthaftigkeit zu entziehen und Spannung
zu lösen. Was passiert ist, wird damit unernst und unwirklich. Spaß hilft in einer peinlichen
Situation, die Realität zu leugnen (Goffman 1971, S.122) und die Situation als eine „unernste“
und damit „nicht-schlimme“ zu definieren. Diese Scherze dürfen jedoch nicht so weit gehen,
dass derjenige in einer peinlichen Situation noch weiter erniedrigt wird. Allgemein drückt
Lachen eine Distanz zu sich selbst aus, zu der man grade im Peinlichkeitsgefühl zumeist nicht
in der Lage ist. Daher kann man meistens eher über die Missgeschicke anderer lachen, als
über die eigenen (Dreitzel 1983, S. 152). Die Distanz zum eigenen Verhalten, die mögliche
Leugnung der Realität und die Änderung der Situationsdefinition erklären jedoch, warum
viele Personen in peinlichen Situationen verlegen grinsen oder hysterisch lachen.
Eine häufige Quelle peinlicher Situationen ist das Grüßen, da es zu Beginn nahezu jeder
Situation vorkommt und bestimmte Verhaltensweisen und spezifische Kompetenzen beim
Grüßen vom Einzelnen erwartet werden. Im Folgenden werden daher einige theoretische
Grundlagen zum Grüßen und der Bedeutung des Grußes für die Interaktion eingeführt,
aufgrund derer die empirischen Situationen, in denen es in Verbindung mit dem Gruß zu
peinlichen Situationen kam, anschließend analysiert werden.
3. Der Gruß und seine Bedeutung für die Interaktion
Grüßen begründet Sozialität, man kann sich schwerlich eine soziale Begegnung vorstellen, die
nicht von Gruß und Abschied gerahmt ist. Den Gruß kann man als ein erstes symbolisches
Geschenk an das Gegenüber verstehen, er rückt das Gegenüber in die Sphäre der
Zugänglichkeit. Da jede Begegnung durch Begrüßung und Abschied moderiert wird, nimmt
der Gruß die Form einer erwartbaren Verhaltensregel an und beinhaltet die Verpflichtungen
für die Beteiligten, den Gruß zu geben, anzunehmen und ihn zu erwidern (Allert 2005, S. 9).
In der Form jedes Grußes, selbst im Verweigern eines Grußes, zeigen sich die Selbstbilder der
Beteiligten und die Art und Weise, wie sie ihre Beziehung wahrnehmen (Allert 2005, S.10).
Daher bergen Grußsituationen auch viele Fallen und Möglichkeiten für peinliche Situationen,
zum Beispiel, wenn man jemanden, den man kennen müsste, nicht grüßt oder einen
informellen Gruß in einer formellen Situation anbringt. „Begrüßungen und Verabschiedungen
[sind] (...) die häufigsten Anlässe kleiner Peinlichkeiten (Dreitzel 1983, S. 162).“
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Das Austauschen von Grüßen gehört zum zeremoniellen Idiom einer Gesellschaft. Laut
Goffman zählen Grüße zu den Ehrerbietungsritualen und zwar zu Zuvorkommenheitsritualen
(Goffman 1971, S.79).
Durch diese zeigt das Individuum dem Empfänger,
„was es von [ihm] hält und wie es [ihn] in der beginnenden Interaktion behandeln wird (Goffman 1971, S.79)“ und „daß er nicht eine isolierte Insel ist, sondern daß es andere gibt, die sich mit ihm und seinen persönlichen, privaten Dingen verbunden fühlen (Goffman 1971, S.81)“.
Durch Ehrerbietungsrituale, wie das Grüßen, bringt das Individuum seinem Gegenüber
Wertschätzung entgegen. Der Gruß kann auch Wertschätzung für das bedeuten, wofür der
Empfänger als Repräsentant gilt (Goffman 1971, S.64). Als Beispiel kann das „Fahne-
Grüßen“ im dritten Reich dienen.
Des Weiteren zeigt Grüßen die Bereitschaft zu einer Art Minimalkooperation an, da bei einem
Angriff normalerweise nicht gegrüßt wird (Allert 2005, S. 32).
„Das Grüßen (...) ist (...) ein Mittel, die Krise der Begegnung zu bewältigen. Appell, Drohung und Heimtücke, Usurpation und Gewalt liegen als Handlungsoptionen in unmittelbarer Nachbarschaft des Grüßens, aber auch die Bitte, der Eid und der Segen, Huldigung und Glückwunsch, das Geschenk sowie das gemeinsame Mahl (Allert 2005, S.29).“
Schon die Körperhaltung beim Gruß unterstreicht Wechselseitigkeit, in Abgrenzung zu der
Möglichkeit, anzugreifen oder Waffen einzusetzen. Die Wechselseitigkeit zwischen
Grüßenden unterstellt jedoch nicht notwendigerweise Symmetrie, so waren früher
ungleichheitsbetonende Grußgesten sehr viel verbreiteter, wie beispielsweise der Handkuss
oder der „Diener“. Trotzdem wird auch hier mit dem Gruß Friedfertigkeit kommuniziert und
die Handelnden werden in die Sphäre der Zugänglichkeit gerückt (Allert 2005, S. 29-32).
Im Gruß bestehen drei Normierungen, die einzeln oder gemeinsam in nahezu jedem Gruß
implizit vorhanden sind (Allert 2005, S.32):
1. Kommunikation der Unversehrtheit, die entweder bekundet oder gewünscht wird,
2. Kommunikation der Kooperationsbereitschaft, die im Gruß abgefragt oder signalisiert
wird,
3. Kommunikation der Friedfertigkeit, die der Gruß bahnt und zur Überprüfung
tatsächlicher Geltung freigibt.
Die Art und Weise des Grüßens zeigt die Stellung des Einzelnen in der Interaktion an, also
wie gut die Beteiligten sich kennen, wie vertraut sie sich sind, wieviel Respekt sie sich
entgegenbringen und ihre soziale Position, also ob sie sich gegenseitig über- oder
untergeordnet sind oder ob sie sich als gleichrangig betrachten. Diese Differenzierung wird
auch noch einmal durch das Wesen des Grüßens als ein Ehrerbietungsritual verdeutlicht.
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Als Kontrast zur Ehrerbietung beschreibt Goffman Benehmen als
„jenes Verhaltenselement ..., das charakteristischerweise durch Haltung, Kleidung und Verhalten ausgedrückt wird und das dazu dient, dem Gegenüber zum Ausdruck zu bringen, daß man ein Mensch mit bestimmten erwünschten oder unerwünschten Eigenschaften ist (Goffman 1971, S. 86).“
Dass heißt, bei Benehmen geht es vor allem um die Wahrung und die Pflege des eigenen
Images, bei Ehrerbietung geht es darum, seinem Gegenüber Wertschätzung entgegen zu
bringen. Goffman hat selbst erläutert, wie eng verknüpft Ehrerbietung und Benehmen in der
Praxis sind, da durch die Handlungen, mit denen man jemandem Ehrerbietung erweist,
gleichzeitig zum Ausdruck gebracht wird, dass man eine Person ist, die sich zu benehmen
weiß (Goffman 1971, S.90). Dadurch, dass man eine Person grüßt und durch die Art, wie
man sie grüßt, drückt man dieser Person gegenüber Wertschätzung aus. Gleichzeitig ist ein
Gruß jedoch auch eine erwartbare Verhaltensregel und ein Nicht- oder Falsch-Grüßen
Ausdruck von schlechtem Benehmen. Bei der Betrachtung von peinlichen Situationen beim
Grüßen geht es vor allem um Aspekte der Verletzung des eigenen Images und damit um
Fragen des Benehmens.
3.1. Reglementierung und Verminderung von peinlichen Situationen - der
deutsche Gruß
Wie bereits unter Punkt 2.1. erwähnt, kann der Informalisierungsprozess zu erhöhter
Unsicherheit darüber führen, welche Verhaltensstandards in einer gegebenen Situation
zugrunde gelegt werden müssen.
„Die Lockerung der Konventionen des guten Benehmens [verlangt] sehr viel mehr Geschicklichkeit im Einschätzen von Situationen und Beziehungen, mehr Interaktionskompetenz also, als zu Zeiten höherer Formalisierung der Anstandsregeln (Dreitzel 1983, S. 161f).“
Eine klare Reglementierung des Verhaltens verringert daher den Interpretationsspielraum,
welches Verhalten in einer Situation richtig ist und damit das Risiko, in eine peinliche
Situation zu geraten. Wenn es einen einheitlichen Gruß für alle gibt und klare Anweisungen
darüber, in welchen Situationen er zu verwenden ist, sinkt das Risiko „falsch“ zu grüßen und
in eine peinliche Situation zu gelangen. Der Hitlergruß bot möglicherweise eine solche
Interaktionsvereinfachung, da es sowohl klare Anweisungen gab, wie zu Grüßen ist (Allert
2005, S.46f), als auch, wann zu grüßen ist (Allert 2005, S.46, 54, 55) und der Hitlergruß für
alle Deutschen verpflichtend eingeführt wurde (Allert 2005, S.45).
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Vor Einführung des Hitlergrußes in Deutschland, folgten Varianten des Grußes häufig
berufsspezifischen, regional-volkskulturellen Gewohnheiten (Allert 2005, S.39). Mögliche
Beispiele hierfür sind folgende Grüße: „Grüß Gott“, „Moin, Moin“, „Servus“, „Glück auf“
und „Ahoi“.
Stark verbreitet waren auch ständische Konventionen, bei denen die Ehrerbietung gegenüber
dem Status deutlich zum Ausdruck gebracht wurde. Beispiele hierfür sind das „Servus“
(=„ich bin dein Diener“) oder Gesten wie das „Hut-Abnehmen“, der „Knicks“ oder der
„Diener“ (Allert 2005, S. 39f).
Ein Grund dafür, dass der Hitlergruß in großen Teilen Deutschlands in den ersten Jahren nach
der Machtergreifung bereitwillig aufgenommen wurde (Allert 2005, S. 45), mag daher in der
verminderten Interaktionskompetenz begründet liegen, die der Gruß, im Vergleich zu den
vorher üblichen Arten zu grüßen, erforderte.
Der Hitlergruß
• unterstellte eine symmetrische Beziehung, da alle beteiligten Akteure sich auf die
gleiche Art grüßten,
• bot Kommunikationsvereinfachung, da den Akteuren die verwirrende Entscheidung,
welches der angebrachte Gruß sein mochte, abgenommen wurde. Es war keine
Entscheidung zwischen Handkuss, Verbeugung, Hut abnehmen, Knicks, etc., mehr
nötig.
• ermöglichte einen scheinbar direkten, schnörkellosen Weg zum Gegenüber.
• war erstmalig ein einheitlicher Gruß für alle Deutschen und das Bedürfnis nach
nationaler Identität, sowie der Wunsch nach nationaler Einheitlichkeit waren damals
sehr stark ausgeprägt.
Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass alle Deutschen bereitwillig den Hitlergruß verwendet
hätten oder freiwillig mit dem Hitlergruß gegrüßt hätten. Es bestand eine Pflicht, den
Hitlergruß auszuführen und eine Verweigerung wurde sehr hart bestraft2. Trotzdem haben
viele Deutsche nach einem Weg gesucht, den Gruß zu vermeiden (Allert 2005, S. 17, 18, 94).
Des Weiteren wurde der auferlegte Gruß häufig nicht als „richtiges Grüßen“ empfunden, was
sich auch darin äußerte, dass in privaten Begegnungen nach dem Hitlergruß ein zweites Mal
auf andere Art gegrüßt wurde (Allert 2005, S. 73). Dass der Hitlergruß nicht als normales
Grüßen empfunden wurde, könnte daran liegen, dass ein Nicht-Grüßen sehr hart sanktioniert
wurde und eine sehr starke Verpflichtung dem Wesen des Grußes als Zuvorkommenheitsritual
widerspricht. Außerdem nahm der Hitlergruß in vielerlei Hinsicht die Sinnstruktur eines 2 Bereits 1933 wurden Personen, die den Gruß verweigerten, inhaftiert und in Konzentrationslager deportiert (Allert 2005, S. 89).
15
Schwures an (Allert 2005, S. 72), auch weil er der Versicherung der Zugehörigkeit zum
Nationalsozialismus diente, was ebenfalls im Widerspruch zur Sinnstruktur des Grußes steht.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Hitlergruß mit der Intention eingeführt wurde,
einen national einheitlichen Bekenntnisgruß zum Nationalsozialismus zu schaffen (Allert
2005, S.48), Klassenunterschiede schon in der Grußform zu nivellieren und eine Volklasse
mit einem „Wir-Gefühl“ zu schaffen. Mit dem Hitlergruß wurden in Bezug auf das Grüßen
klare Handlungsvorgaben geschaffen und die Grußsituation stark reglementiert. Diese
Reglementierung könnte zur Interaktionsvereinfachung und zur Verminderung von
Interaktionskompetenz beigetragen haben und damit zur Verringerung der Wahr-
scheinlichkeit, in eine peinliche Situation zu gelangen. Jedoch wurde der Hitlergruß nicht
überall in der deutschen Gesellschaft als Interaktionsvereinfachung empfunden, da der
Hitlergruß nicht als „richtiges Grüßen“ empfunden wurde und häufig anschließend noch ein
zweites Mal gegrüßt oder nach Wegen gesucht wurde, den Hitlergruß zu vermeiden. Dies
führt in letzter Konsequenz jedoch nicht zu einer Interaktionsvereinfachung und damit zu
einem geringeren Risiko in peinliche Situationen zu gelangen, sondern zu einer erhöhten
Unsicherheit, welche Verhaltenserwartungen in einer konkreten Interaktion erfüllt werden
sollen, und damit zu einem höheren Risiko, in peinliche, oder sogar gefährliche, Situationen
zu gelangen.
3.2. Verschiedene soziale Kreise – verschiedene Grüße
Mit einer besonderen Grußform kann die Zugehörigkeit zu einer lokalen Gemeinschaft
bekräftigt werden. Lokale Gemeinschaften können sich mittels spezieller Grüße von anderen
Gruppen abgrenzen. Der Hitlergruß beispielsweise ist explizit als Bekenntnisgruß, mit dem
die Zugehörigkeit zum Nationalsozialismus demonstriert werden sollte, eingeführt worden
(Allert 2005, S.48).
„Grußkonventionen zählen zum historisch gewachsenen Kulturgut von Gemeinschaften, sie verbleiben in (...) überschaubaren Mikrokosmen, innerhalb derer Menschen sich im Gruß der Zugehörigkeit versichern“ (Allert 2005, S.37). „Das Grüßen markiert zugleich die Mitgliedschaft in einer lokalen Gemeinschaft, die sich bewusst oder aus Tradition von Grußkonventionen mit größerer Geltungsreichweite absetzt (Allert 2005, S.38).“
Aus den beiden Zitaten Allerts geht hervor, dass Grußformen im Allgemeinen historisch
gewachsen sein sollen und über Traditionen vermittelt werden. Grußformen, mit denen die
Zugehörigkeit zu derselben Gemeinschaft demonstriert werden soll, sind beispielsweise auch
das „Grüß Gott“ der Christen, das „Salam“ der Muslime und das „Schalom“ der Juden. In
16
diesen Fällen wird sich gegenseitig die Zugehörigkeit zu derselben Religionsgemeinschaft
versichert (Allert 2005, S.31).
Nicht zuletzt durch die Globalisierung und die allgemeine Erweiterung der sozialen
Verkehrskreise treffen heutzutage vermehrt Personen aus unterschiedlichen Verkehrskreisen
aufeinander und bringen ihre Art zu grüßen mit in die Interaktion. Unterschiedliche nationale
Grußformen können zu Konfusionen zwischen Vertretern unterschiedlicher Nationen führen.
So verbeugen sich beispielsweise Chinesen traditionell zur Begrüßung, während sich
Franzosen die Wangen küssen. Treffen sich nun Vertreter verschiedener Nationen, sehen sie
sich mit erhöhten Forderungen an die eigene Interaktionskompetenz konfrontiert. Ist eine
Person in der Interaktion mit der Grußform des Gegenübers nicht vertraut, kann dies als
Kompetenzverlust angesehen werden, gleichzeitig sollte niemand den anderen durch eine
Grußform, die dieser eventuell nicht kennt, in Verlegenheit bringen.
„[Die Folge] sehr rascher Veränderungen der Verhaltensstandards im Alltag sind oft Risse in der Person, die durch widersprüchliche und unterschiedlich tief internalisierte Normen entstehen und Brüche zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die angesichts der manchmal sehr voneinander abweichenden, vielfältigen Verkehrskreise, an denen jeder einzelne heute gleichzeitig partizipiert, durch soziale Distanz nicht immer unschädlich gemacht werden können. Verlegenheitssituationen sind deshalb in dieser Gesellschaft häufig und stellen erhöhte Anforderungen an die Interaktionskompetenz (Dreitzel 1983, S.158).“
Nicht nur die Begrüßungen zwischen Vertretern unterschiedlicher Nationen unterliegen
jedoch erhöhten Anforderungen an die eigene Interaktionskompetenz. Auch die Begrüßungen
zwischen Personen, die sich noch nicht kennen und die Begrüßungen zwischen Personen, die
aus unterschiedlichem sozialem Umfeld und unterschiedlichen Freundeskreisen entstammen,
erfordern heute ein erhöhtes Maß an Interaktionskompetenz.
Vor allem das Grüßen in kleinen lokalen Primärgruppen3 scheint zunehmend unterschiedlich
zu werden, was vermutlich vor allem der Versicherung der gemeinsamen Zugehörigkeit zur
gleichen Gruppe dient und der damit verbundenen Abgrenzung zu anderen Gruppen.
Während im offiziellen Rahmen zumeist klar reglementiert ist, wie gegrüßt werden soll (in
Deutschland zumeist mit Handschlag und den Grüßen „Guten Morgen“, „Guten Tag“, „Guten
Abend“ oder einem unförmlichen „Hallo“), schafft sich ein großer Teil der informellen
Freundeskreise eigene Grußformen. Solche Grußformen können beispielsweise Wangenküsse
unterschiedlicher Anzahl (einmal, zweimal, dreimal), bei denen auch noch wahlweise die
rechte oder die linke Wange zuerst geküsst, oder das Küssen lediglich in der Luft angedeutet
wird, Umarmungen mit engem Körperkontakt, unterschiedliche Formen, Handschläge zu
machen (zum Beispiel indem die Arme wie zum Armdrücken angewinkelt werden) und
3 Diese Annahmen beziehen sich vor allem auf Beobachtungen von Begegnungen zwischen zumeist jungen Leuten im Alter von 14 bis etwa 40 Jahren.
17
andere individuelle Grußformen sein. Solche Grußformen werden dann in der jeweiligen
Primärgruppe zur reglementierten wechselseitigen Verhaltenserwartung.
Treffen nun Personen, die noch nicht mit den individuellen Grußformen der anderen Gruppe
vertraut sind, aufeinander, muss sich eine Person der Grußform der anderen Person oder
Gruppe anpassen, oder eine eigene, neutrale Grußform muss verwendet werden. Der Gruß
dient gleichzeitig als Versicherung der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und als Abgrenzung
nach außen. Eine Person, die nicht zur Gruppe gehört, darf die Grußform der Gruppe zunächst
nicht verwenden. Tritt eine Person an eine Gruppe heran, in der auf eine spezielle Art gegrüßt
wird, so hat sie, wenn sie eine Beziehung zu den Gruppenmitgliedern anstrebt, die durch
Ebenbürtigkeit und Nähe gekennzeichnet ist, ein Interesse, auch die Grußform der Anderen zu
übernehmen, da mit dieser speziellen Grußform der Person Gruppenmitgliedschaft oder
allgemein Ebenbürtigkeit und Nähe angetragen wird. Will eine Gruppe einer Person
Ebenbürtigkeit und Nähe vermitteln, so wird sie der Person auch die bei ihr übliche Art zu
grüßen antragen. Möchten die Gruppenmitglieder sich von der fremden Person abgrenzen,
oder die Person keine Beziehung, die durch große Ähnlichkeit und Ebenbürtigkeit
charakterisiert ist, so werden sie vermutlich auf eine neutrale Art zu grüßen ausweichen. Man
muss dieses Verhalten jedoch auch als Prozess betrachten: wenn auch zunächst auf eine
neutrale Art zu grüßen ausgewichen wird, so kann, bei häufiger Interaktion und Entwicklung
einer engeren Beziehung, eine Person nach und nach in den Kreis der Personen aufgenommen
werden, die auf eine bestimmte Art grüßen.
Solche Situationen, wenn Unbekannte aufeinander treffen, bieten aufgrund der
unterschiedlichen Rollen- und Situationserwartungen eine Fülle an Möglichkeiten für
peinliche Situationen, da Fehltritte und Kompetenz- und Kontrollschwierigkeiten nahe liegen.
Im Folgenden werden nun drei empirische Situationen, in denen es im Hinblick auf
Begrüßungen zu Peinlichkeiten kam, beschrieben und mittels der theoretischen Grundlagen,
die zuvor eingeführt wurden, analysiert.
Untersuchungsfragen sind hierbei:
• was an der jeweiligen Situation das Peinliche war,
• wer der Verursacher der peinlichen Situation war,
• wer peinlich berührt war,
• wem gegenüber die Verlegenheit empfunden wurde und
• wie die jeweilige peinliche Situation bewältigt wurde.
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4. Empirische Beispiele
1. Beispiel:
Quelle: Der Spiegel. Nr.4 / 23.01.2006. Hamburg: Rudolf Augstein. S. 177.
Die in der Situationsbeschreibung dargestellte Episode verdeutlicht, dass unterschiedliche
soziale Verkehrskreise eigene Begrüßungsformen pflegen und ein „falscher Gruß“ als
peinlicher Verlust kultureller Kenntnisse gewertet werden kann.
Dieses Beispiel zeigt sehr klar, dass der Verursacher der Peinlichkeit, derjenige, der
Peinlichkeit empfindet und derjenige, demgegenüber die Peinlichkeit empfunden wird, nicht
dieselbe Person sein müssen (Goffman 1971, S.108). Urherber der genannten peinlichen
Situation war der Bürgermeister des Staates New York, Michael Bloomberg, der Gäste zu
einem offiziellen Anlass auf unübliche Art gegrüßt hat und damit gegen das zeremonielle
Idiom seiner Gesellschaft verstoßen hat. Auch, dass er den Gästen die unamerikanische Art zu
grüßen aufnötigte, wurde als Kompetenzverlust bei offiziellen Empfängen gesehen. Sein
Verhalten muss als Verletzung kultureller Standards und als Kompetenzverlust in der
gegebenen Situation gewertet werden. Ob er sein Verhalten selbst als peinlich empfunden hat,
geht aus der Situationsbeschreibung nicht hervor. Da er jedoch mehrere Frauen auf die
genannte Art begrüßt hat und zumindest in der Situation selbst nicht auf sein verlegenheits-
auslösendes Verhalten aufmerksam gemacht wurde, ist dies nicht zu vermuten. Vermutlich
hat er seine Art zu grüßen sehr bewusst ausgeführt, um ein bestimmtes Image von sich zu
vermitteln, vor allem da es sich um eine in seinem Land unübliche Begrüßungsform handelte.
Dieses bewusste Handeln stellt zunächst in Frage, ob es sich bei dieser Situation um eine
peinliche Situation handelt, auch wenn das offensichtliche „Aus-der-Rolle-Fallen“ und die
augenscheinliche Verletzung kultureller Standards dies nahe legt. Ein peinliches Verhalten ist,
laut Dreitzel, jedoch zumeist unwillkürlich, bewusstes Verhalten gilt als schuldhaft (Dreitzel
19
1983, S. 150). Dafür, dass diese Situation als peinlich zu bewerten ist, spricht, dass
Bloomberg seine Rolle mangelhaft ausgeführt hat (Kuzmics 1991, S.1f, Schudson 1984,
S.636) und durch dieses „Aus-der-Rolle-Fallen“ sein Selbst verletzt hat (Goffman 1971,
S.115).
Die Rathauskorrespondentin und die Bewunderer des Bürgermeisters waren vermutlich
peinlich berührt. Dies geht aus der Situationsbeschreibung hervor, da die Bewunderer des
Bürgermeisters „erschüttert“ waren und die Rathauskorrespondentin „in Panik geriet“. Ob die
anderen an der Situation Beteiligten ebenfalls peinlich berührt waren, geht aus der Textstelle
nicht deutlich hervor. Es ist jedoch zu vermuten, dass andere beteiligte Personen, wie die
oberste Richterin des Staates New York, die auf die gleiche unübliche Weise begrüßt wurden
und Personen, die Zeuge dieser Episode waren und sich Bürgermeister Bloomberg verbunden
fühlen („Signifikante Andere“ vgl. Dreitzel 1983, S.149) in dieser Situation ebenfalls peinlich
berührt waren. Personen, die einer Situation bloß als Zuschauer beiwohnen, fühlen sich dem
Verursacher der peinlichen Situation nicht so stark verbunden und sind daher auch zu
distanzierenden und sanktionierenden Reaktionen in der Lage, wie Belächeln oder Spott
(Dreitzel 1983, S.149). Dies ist vermutlich für das New-York-Magazin der Fall, das
Bloombergs Verhalten als „unverhohlene Zurschaustellung europäischer Begrüßungs-
gewohnheiten“ bezeichnete und für den Zeugen der Zeremonie, der Bloombergs Verhalten
„elitär“ nannte.
Da Bloomberg oberster Repräsentant des Staates New York ist, wird das Gefühl der Personen,
die von seinem Verhalten peinlich berührt sind, vermutlich gegenüber allen Personen
empfunden, denen sich der Staat New York in zeitlicher Nähe der Episode präsentiert.
Die Gäste des Neujahrsempfangs haben sich augenscheinlich nicht gegen die Küsse
Bloombergs gewehrt, sondern sie erwidert. Dieses Verhalten kann man als Über-Gehen und
Nicht-Beachten von Bloombergs Ausrutscher werten. Die Gäste bewältigen die peinliche
Situation, indem sie so tun, als wäre nichts geschehen, um Bloombergs Verhalten nicht zu
thematisieren und damit seinen Fauxpas zu verdeutlichen (vgl. Goffman 1971, S.112ff).
Vermutlich wollten sich Bloombergs Gäste auch nicht durch Nicht-Erwiderung seiner Art zu
Grüßen von ihm abgrenzen, da die gemeinsame Art zu Grüßen ein Gemeinschaft stiftendes
Verhalten ist.
Die Personen, denen der ungewohnte Gruß angetragen wurde (z.B. die
Rathauskorrespondentin), fühlten sich jedoch nicht nur wegen Bloombergs peinlichem
Verhalten verunsichert, sondern auch, weil sie nicht wussten, was Bloomberg in dieser
Situation von ihnen erwartet (wie oft soll welche Wange geküsst werden?).
20
Am Beispiel der Rathauskorrespondentin zeigt sich ein nicht unübliches Verhaltensmuster:
häufig übergehen an einer peinlichen Situation beteiligte Personen das peinliche Verhalten
einer anderen Person in der konkreten Situation, berichten jedoch weiteren Personen hinterher
über ihr Unwohlsein, vermutlich da sie nach bestätigenden Reaktionen ihrer Umgebung
streben und sich von dem in der Situation präsentierten Selbst distanzieren wollen.
Die Frage, ob diese Situation tatsächlich als peinlich zu werten ist, muss offen bleiben. Da
Bloomberg sein Verhalten vermutlich bewusst ausgeführt hat, was vom New-Yorker-Magazin
und dem Zeugen der Zeremonie auch so gesehen wurde, ist es Dreitzels Definition von
peinlichem Verhalten zufolge als schuldhaft und nicht als peinlich anzusehen. Andererseits
treffen einige Punkte, die laut Goffman für peinliche Situationen kennzeichnend sind, auf
diese Situation zu, wie beispielsweise Verletzung zeremonieller Anforderungen und
Beschädigung des Selbst durch situationsunangepasstes und regelnonkonformes Verhalten.
2. Beispiel
In dem engeren Freundeskreis einer mir bekannten Studentin ist es üblich, sich zu privaten
Anlässen mit einer Umarmung zu begrüßen. Diese Grußform wird von Frauen untereinander
und bei der Begrüßung zwischen Frauen und Männern ausgeführt. Im Freundeskreis ihres
Partners ist es üblich, dass sich Frauen untereinander und Männer bei der Begrüßung von
Frauen mit zwei in der Luft angedeuteten Küssen auf die Wangen begrüßen. Traf meine
Bekannte die ersten Male auf den Freundeskreis ihres Partners, so kam es zu Irritationen. So
wollte sie beispielsweise zu einer Umarmung ansetzen, während die Mitglieder des anderen
Freundeskreises sie an der Schulter auf Abstand hielten, weil sonst ein Kuss an der Wange
nicht möglich gewesen wäre. Bei anderen Gelegenheiten wollte jene Studentin die Mitglieder
des anderen Freundeskreises mit den dort üblichen Küssen begrüßen, küsste jedoch die
falsche Wange zuerst, so dass die Köpfe aneinander stießen, oder sie machte die falsche
Anzahl von Küssen. Diese Fehler wurden jedoch übergangen und nicht thematisiert. Stießen
die Köpfe aneinander, war die Reaktion beider Seiten ein Lächeln.
Dieses Beispiel ist der ersten Episode recht ähnlich, da sich das peinlichkeitsauslösende
Moment auch hier auf das Grüßen in unterschiedlichen sozialen Verkehrskreisen bezieht. An
diesem Beispiel wird anschaulich illustriert, dass heutzutage verstärkt Anforderungen an die
Interaktionskompetenz einer Person gestellt werden, da die Verhaltenserwartungen in
unterschiedlichen Verkehrskreisen immer diffuser werden und die soziale Distanz zwischen
unterschiedlichen Verkehrskreisen kleiner (Dreitzel 1983, S. 154, 158). Meine Bekannte hatte
ein Interesse daran, sich der Grußform im neuen Freundeskreis anzupassen, da der Gruß
Zugehörigkeit markiert (Allert 2005, S.38) und sie Interesse an einer Beziehung hatte, die
21
durch Ebenbürtigkeit und Nähe gekennzeichnet ist. Wurde sie von dem Freundeskreis ihres
Partners auf die dort übliche Art begrüßt, sollte ihr vermutlich Zugehörigkeit zu dieser
Gruppe vermittelt werden.
Verursacherin der peinlichen Situation war meine Bekannte, da sie nicht über die in der
Situation nötigen Kenntnisse der Begrüßungsformen verfügte und da sie die peinlichen
Situationen nicht bewusst, sondern stets unwillkürlich herbeigeführt hat, weil sie mit den
Begrüßungsformen in dem fremdem Freundeskreis nicht vertraut war. Verlegenheit
empfunden, hat die Studentin selbst, da sie sich in den Begegnungen mit dem fremden
Freundeskreis als mit den dort üblichen Verhaltenserwartungen nicht vertraut und als unfähig,
den dortigen Verhaltensanforderungen gerecht zu werden, erleben musste, was eine
Verletzung des Selbst, welches sie in diesen Situationen verwirklichen wollte, nach sich zieht.
Ob die anderen an der Situation beteiligten Personen peinlich berührt waren, ist nicht bekannt.
Es ist jedoch zu vermuten, da jede Person bedacht sein sollte, das Image anderer Personen zu
wahren (Goffman 1971, S. 17) und taktvolle Personen es vermeiden, jemanden in eine
peinliche Situation zu bringen (Goffman 1971, S.112). Dadurch, dass die Personen die
Studentin in eine für sie peinliche Situation gebracht haben, zerstören sie ihr Image von sich
als taktvollen Personen und waren daher wahrscheinlich peinlich berührt.
Die Peinlichkeit empfindet hier jeder gegenüber dem Anderen und nicht gegenüber einer
dritten Person.
„Sowohl der, dessen Selbst bedroht wurde (...), wie auch der, der ihn bedroht hat, schämen sich in solchen Augenblicken gemeinsam über das, was sie zusammen angerichtet haben (Goffman 1971, S.116).“
Kommt es zu einer peinlichen Situation, sind alle Beteiligten verpflichtet, auf eine
Wiederherstellung der Ordnung hinzuwirken (Kuzmics 1991, S. 3). Dies geschieht in diesem
Beispiel dadurch, dass alle das Geschehene übergehen und so tun, als wäre nichts passiert. Sie
leiten also das ein, was Goffman einen Vermeidungsprozess nennt (Goffman 1971, S. 23-29).
Wenn die Köpfe aneinander stießen, war das Ereignis schwer zu ignorieren. In diesem Fall
haben die Beteiligten gelächelt. Kleine Scherze, Lachen und auch Lächeln sind eine
Möglichkeit zu dem Geschehenen auf Distanz zu gehen und der Situation die Ernsthaftigkeit
zu entziehen. Was passiert ist, wird damit unwirklich (Goffman 1971, S.122) und damit nicht
zu einer Bedrohung der Situationsdefinition.
22
3. Beispiel
In einem Club wendet sich eine mir bekannte Studentin beim Verlassen des Toilettenraums
nach ihrer Freundin um. Da bemerkt sie, dass überraschenderweise eine ihrer Dozentinnen
unter den Besuchern dieser Lokalität ist und dass sie beim Verlassen des Raums an ihr
vorbeigegangen ist, ohne sie zu bemerken und zu grüßen. Da die Dozentin sie nicht anschaut
und unklar ist, ob die Dozentin sie überhaupt bemerkt hat, entschuldigt sie sich nicht und
verlässt sofort den Raum.
Eine Person nicht zu begrüßen, die man kennt, ist ein klarer normativer Verstoß.
„Bekanntschaft verlangt von jedem Einzelnen sich kontaktfreudig zu zeigen, und sei es nur in Form eines winzigen Lächelns (Goffman 1971a, S. 115).“
An jemandem vorbeizugehen, ohne ihn zu grüßen, kann einer Person leicht als „offenes
Schneiden“ ausgelegt werden und damit als eklatanten Bruch von Höflichkeitsregeln
(Goffman 1971a, S. 114). Jeder hat daher das Interesse, solche Situationen zu vermeiden und
jeder bekannten Person, der man begegnet, ein Zeichen des Erkennens zukommen zu lassen.
In der Universität hätte die Begrüßung, als Ehrerbietungsritual, asymmetrisch vom
Untergebenen gegenüber dem Höhergestellten erfolgen müssen, also hätte die Studentin
zuerst die Dozentin grüßen müssen. In Ehrerbietungsritualen spiegeln sich häufig andere
Arten der sozialen Distanz wieder (vgl. Goffman 1971, S. 72). In der gegebenen Situation
herrschte vermutlich Unsicherheit darüber, wer zuerst hätte grüßen müssen, da die Regeln des
Unialltags nicht ohne weiteres auf eine Abendveranstaltung in der Freizeit übertragen werden
können. Wahrscheinlich hätte die Studentin zuerst grüßen müssen, weil dieses
Interaktionsmuster zum Verhaltensrepertoire bei Begegnungen zwischen Studenten und
Dozenten gehört und Personen häufig dazu neigen, in neuen Situationen auf altbekannte
Muster zurückzugreifen. Die Studentin selbst jedenfalls hatte das Gefühl, eine Regel
übertreten zu haben und eine Kompetenzschwäche gezeigt zu haben. Dass die Studentin
normativen Ansprüchen nicht gerecht werden konnte, war Auslöser ihrer Verlegenheit. Eine
peinliche Situation war es, da sie unbewusst gehandelt hat und in dieser Situation ihr Selbst
verletzt hat.
Dieses Beispiel steht im Gegensatz zum ersten Beispiel, da in jenem Beispiel vermutlich nur
dem Verursacher der peinlichen Situation diese nicht bewusst war, in diesem Beispiel ist die
peinliche Situation jedoch vermutlich, falls die Dozentin ihre Studentin nicht bemerkt hat, nur
der Verursacherin der Peinlichkeit bewusst. Die Studentin wusste in dieser Situation nicht, ob
ihr Fauxpas bemerkt worden war, daher empfand sie die Peinlichkeit und das Gefühl der
Scham zunächst gegenüber sich selbst. Beim Gedanken daran, dass die Dozentin das
Verhalten bemerkt haben könnte, wurde die Verlegenheit auch ihr gegenüber empfunden.
23
Sollte der Dozentin ihre Studentin aufgefallen sein, könnte sie auch peinlich berührt gewesen
sein, die Studentin in eine Verlegenheitssituation gebracht zu haben. In dem genannten
Beispiel wird deutlich, wie durch mangelnde Rollen- beziehungsweise Publikumssegregation
(vgl. Goffman 1971, S. 118f) und mangelhafte situationelle Distanz zwischen Personen,
zwischen denen soziale Distanz besteht (vgl. Goffman 1971, S. 120f), peinliche Situationen
entstehen können. Das Selbst, welches die Studentin in der Universität verkörpert, wird
konfrontiert mit dem Selbst, das die Studentin in ihrer Freizeit verkörpert und durch diesen
Rollenkonflikt werden beide Verkörperungen des Selbst der Studentin in Frage gestellt und
diskreditiert. Des Weiteren führt eine Begegnung an einem Ort, der durch Gleichheit nahezu
aller Anwesenden gekennzeichnet ist, wie dem Club im gegenwärtigen Beispiel, zwischen
Personen, deren Beziehung durch Hierarchieunterschiede gekennzeichnet ist, zu einem
unbehaglichen Gefühl der beteiligten Personen, da nicht klar ist, welche Verhaltensstandards
in einer solchen Situation zugrunde gelegt werden sollten.
In der Hoffnung, dass ihr Fehlverhalten nicht bemerkt wurde, verließ die Studentin den Raum
und zeigte damit einen Vermeidungsprozess, da sie verhindern wollte, mittels eines
korrektiven Prozesses, zum Beispiel durch eine Entschuldigung oder ein nachträgliches
Grüßen, auf ihren normativen Verstoß aufmerksam zu machen.
5. Fazit
Es wurden drei empirische Situationen, in denen es bei Begrüßungen zu Peinlichkeiten kam,
mittels der theoretischen Grundlagen, die zuvor eingeführt wurden, analysiert.
Untersuchungsfragen waren hierbei, was an der jeweiligen Situation das Peinliche war, wer
der Verursacher der peinlichen Situation, wer peinlich berührt war, wem gegenüber die
Verlegenheit empfunden wurde und wie die jeweilige peinliche Situation bewältigt wurde.
Hierbei zeigte sich, dass alle drei Situationen durch Ignorieren des Geschehens bewältigt
wurden. Lediglich im zweiten Beispiel wurde durch ein Lächeln, wenn die Köpfe bei der
Begrüßung aneinander stießen und der peinliche Zwischenfall schwer zu übersehen war,
zugleich zu dem Geschehenen auf Distanz gegangen und der Situation die Ernsthaftigkeit
entzogen. Im ersten Beispiel distanzierte sich eine beteiligte Person, die nicht Verursacherin
der peinlichen Situation war, hinterher von dem Geschehen und dem in der Situation
präsentierten Selbst, indem sie über ihr Unwohlsein in der Situation berichtete und vermutlich
nach bestätigenden Reaktionen der Zuhörer strebte.
In den drei Beispielen bestanden starke Unterschiede im Hinblick darauf, wer und wie viele
Personen verlegen und peinlich berührt waren. In der ersten Situation war der Verursacher der
24
peinlichen Situation vermutlich nicht verlegen, in der dritten Situation war vermutlich nur die
Verursacherin der peinlichen Situation verlegen. In der ersten und zweiten Situation gab es
Personen, die als „Nicht-Verursacher“ der peinlichen Situation peinlich berührt waren, in der
dritten Situation war dies vermutlich nicht der Fall. In der ersten Situation war der
Verursacher der peinlichen Situation ein Repräsentant des Staates New York zu einem
offiziellen Anlass – die Peinlichkeit wurde also gegenüber einer recht großen Zahl von
Personen empfunden. In der zweiten Situation wurde die Peinlichkeit jeweils gegenüber dem
Interaktionspartner empfunden und in der dritten Situation empfand die Verursacherin der
peinlichen Situation die Peinlichkeit gegenüber sich selbst und nur falls die Dozentin ihr
Verhalten bemerkt haben sollte, auch ihr gegenüber.
Problematisch bleibt, inwiefern ein peinliches Verhalten unbewusst und unwillkürlich sein
muss, um als peinlich und nicht als schuldhaft zu gelten. Dreitzel zufolge ist die
Unwillkürlichkeit ein elementarer Bestandteil peinlicher Situationen und die Grenze zwischen
schuldhaften und schamauslösenden Akten haarfein, weil jedem unwillkürlichen
Kontrollverlust und jeder unwillkürlichen Kompetenzschwäche auch ein Teil Fahrlässigkeit
anhaftet (Dreitzel 1983, S. 150).
Diese Sichtweise erfasst jedoch nur einen Teil peinlicher Situationen. Es gibt viele
Handlungen, die bewusst ausgeführt werden, in ihrem Resultat jedoch zu Peinlichkeit führen,
da mit ihnen Erwartungen, die an situationsangepasstes Verhalten bestehen, verletzt werden.
Dies geschieht zumeist in Nicht-Kenntnis dessen, was als situationsangepasstes Verhalten in
einer Situation gilt. Das peinliche Verhalten kann jedoch auch ausgeführt werden, obwohl die
Verhaltenserwartungen eigentlich bekannt sind: Personen können bewusst Peinlichkeiten in
Kauf nehmen, da sie an anderen Zielen, die nur auf diesem Wege zu verwirklichen sind,
interessiert sind. Auch in solchen Situationen empfinden die beteiligten Personen das
Verhalten des Verursachers vor allem als peinlich, auch wenn es eigentlich als schuldhaft
gelten müsste. Dies verschiebt jedoch den Fokus vom inneren Erleben des Handelnden
(kannte er die Anforderungen in der Situation und handelte er in bewusster oder unbewusster
Verletzung dieser Anforderungen?) und von Interpretationsprozessen seitens der Beobachter,
ob der Fehltritt des Akteurs als absichtsvoll, fahrlässig oder unwillkürlich zu werten ist, zu
dem was eigentlich passiert: eine Handlung ist peinlich, unabhängig von den Gründen, aus
denen sie ausgeführt wird.
Diese Handlung ist laut Goffman eine Verletzung des Selbst. In seiner Terminologie sind
bewusste Selbstverletzungen nicht ausgeschlossen (vgl. Goffman 1971, S.99). Da jeder sein
eigenes Selbst und das der anderen Teilnehmer einer Interaktion schützen soll, wird das
25
Übergreifen eines Verlegenheitsgefühls auf alle an einer Situation beteiligten Personen
erklärt.
Das Problem, ob ein peinlichkeitsauslösender Akt unwillkürlich sein muss, wird deutlich am
ersten Beispiel: Michael Bloomberg hat die ungewöhnliche Begrüßung vermutlich in
bewusster Verletzung üblicher Verhaltenserwartungen ausgeführt. Sein Verhalten führte
trotzdem zu Verlegenheitsgefühlen der beteiligten Personen, die mit seinem Verhalten
konfrontiert waren, da er kein kohärentes, situationsangepasstes Selbst präsentieren konnte.
Ein Punkt, der noch erwähnt werden sollte, ist die Schadenfreude. Mit den, in dieser Arbeit
genannten, theoretischen Grundlagen konnte das Phänomen der Schadenfreude nicht erklärt
werden. Häufig, wenn eine Person in eine peinliche Situation geraten, oder sprichwörtlich
„ins Fettnäpfchen getreten“ ist, kommt es zu Schadenfreude. Dieses Gefühl ist nicht nur auf
Beobachter der Situation beschränkt, sondern kann auch von engen Freunden oder
Verwandten gefühlt und geäußert werden. Mit den bisherigen Begriffen kann man die
Schadenfreude jedoch nicht erklären, weil sie nicht zur Übertragung von
Verlegenheitsgefühlen auf alle an der Situation beteiligten Personen und zum Schutz des
Images anderer Personen passt. Die Einbeziehung von Schadenfreude in die Untersuchung
von peinlichen Situationen, vor allem im Hinblick darauf, wann und unter welchen
Voraussetzungen sie auftritt, könnte daher viel versprechend sein.
26
Literatur
Allert, Tilman 2005: Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste. Frankfurt,
Main: Eichborn.
Dreitzel, Hans Peter 1983: Peinliche Situationen. In: Baethge, Martin; Essbach, Wolfgang
(Hg.): Soziologie: Entdeckungen im Alltäglichen. Hans Paul Bahrdt. Festschrift zu
seinem 65. Geburtstag. Frankfurt, Main und New York: Campus. S. 148 – 173.
Goffman, Erving 1971: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation.
Frankfurt, Main: Suhrkamp.
Hieraus:
- Techniken der Imagepflege. Eine Analyse ritueller Elemente in sozialer Interaktion.
S.10 – 53.
- Über Ehrerbietung und Benehmen. S. 54 – 105.
- Verlegenheit und soziale Organisation. S. 106 – 123.
Goffman, Erving 1971a: Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der
Interaktion im öffentlichen Raum. Gütersloh: Bertelsmann.
Goffman, Erving 1974: Der korrektive Austausch. In: Das Individuum im öffentlichen
Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt, Main: Suhrkamp. S.
138 – 254.
Kuzmics, Helmut 1991: Embarrassment and Civilisation: On Some Similarities and
Differences in the Work of Goffman and Elias. In: Theory, Culture and Society,
vol. 8 no. 2. S. 1 – 30.
Schudson, Michael 1984: Embarrassment and Erving Goffman’s Idea of Human Nature. In:
Theory and Society, vol. 13 no. 5. S. 633 – 648.
Der Spiegel. Nr.4 / 23.01.2006. Hamburg: Rudolf Augstein. S. 177.