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Die Bindung eines Kindes an seine Elternoder eine andere Bezugsperson ist einer derwichtigsten Faktoren für eine gesunde seeli-sche Entwicklung. Bindung ist im Gefühl ver-ankert und verbindet das Kind mit der ande-ren Person über Raum und Zeit hinweg.Besonders Neugeborene und Säuglinge sindin hohem Maße auf Schutz und Fürsorgeangewiesen. Erfährt das Kind während desersten Lebensjahres, dass in Phasen der Un-sicherheit eine Bindungsperson verlässlichund angemessen auf das Kind eingeht, soentwickelt es eine sichere Bindungsbezie-hung zu dieser Person. Diese sichere Bindungist die Voraussetzung für ein aktives Explora-tionsverhalten des Kindes. Eine Person, zuder ein Kind eine sichere Bindung hat, bildetsomit den “sicheren Hafen”, von dem ausdas Kind seine Umgebung explorieren kann(Bowlby, 1969). Wichtig ist hierbei, dass eszwar für das Kind eine Hauptbindungspersongibt, daneben sich aber Bindungen individuellzu anderen Personen entwickeln können, d.h.Kinder können zu Mutter, Vater, Geschwi-stern oder Großeltern gleichzeitig unter-schiedliche Bindungsbeziehungen haben. Dafür die meisten Kinder die Mutter die primä-re Bindungsperson darstellt, werden wir unsim Folgenden v.a. auf die Bindung zwischenMutter und Kind beziehen.
Um das individuelle Bindungsmuster zwi-schen dem Kind und seiner Mutter zu unter-suchen, wird die so genannte Fremde Situa-tion, eine strukturierte Beobachtung, durch-geführt. Dazu werden beide in ein Zimmermit Spielzeug gebracht. Dann finden nach-einander acht Episoden statt, an denen ne-ben dem Kleinkind und der Mutter auch einefremde Spielpartnerin teilnimmt. Dabei wirdanalysiert, welches Verhalten das Kleinkindzeigt, wenn die Mutter den Raum verlässtund auf welche Weise es nach der Rückkehrder Mutter bei ihr Beruhigung sucht. DieseBeobachtungen werden verglichen mit demVerhalten des Kleinkindes gegenüber derfreundlichen Spielpartnerin in der Rolle als„Fremde“. Die “Fremde Situation” (Ains-worth et al., 1978) ist für Kleinkinder ab
einem Alter von 12 Monaten einsetzbar underlaubt auf Grund der Verhaltensbeobach-tung eine Klassifikation der Bindungsqualitätin eine von vier Kategorien (der Anteil derKinder, die der jeweiligen Kategorie zugeord-net werden, ist in Klammern angegeben).Sicher gebundene Kinder (ca. 60%) zeigeneine ausgewogene Balance zwischen Bin-dungsverhalten und Neugier. Die Mutter wirdbei Kummer aufgesucht, das Kind gewinntSicherheit aus der Nähe zur Bindungsperson.Bei genügender Sicherheit überwiegt die
Neugier und die Umgebung wird exploriert. Inder “Fremden Situation” können diese Kin-der ihre negativen Gefühle gegenüber derMutter zeigen und suchen bei der Rückkehrsofort den Körperkontakt. Sie beruhigen sichdann schnell und können wieder spielen. Un-sicher-vermeidend gebundene Kinder (ca. 30%) dagegen verbergen bzw. unterdrücken ih-re negativen Gefühle. Wenn die Mutter denRaum verlässt, reagieren sie kaum mit Beun-ruhigung. Sie scheinen daher besonders selb-ständig und wenig auf die Mutter angewie-
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Mutter-Kind-Interaktion und sozial-kognitive Entwicklung
Gisa Aschersleben und Anne HenningEntwicklungspsychologie
Die Existenz einer sicheren Bindung zwischen einem Kind und seiner Mutter oder eineranderen primären Bezugsperson ist fundamental für eine gesunde seelische Entwicklungdes Kindes. Neben dem Einfluss der Bindung auf die soziale und emotionale Entwicklungzeigt sich auch ein klarer Zusammenhang mit der kognitiven Entwicklung. Neuere Studienbelegen dies bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt, nämlich im ersten Lebensjahr. Gleich-zeitig findet sich in Längsschnitt-Studien ein Zusammenhang zwischen spezifischen sozial-kognitiven Fähigkeiten im ersten Lebensjahr und entsprechenden Kompetenzen im Vor-schulalter. Diese Befunde legen eine Kontinuität in der sozial-kognitiven Entwicklung vomSäugling bis zum Vorschulkind nahe, wobei diese Entwicklung maßgeblich durch den müt-terlichen Interaktionsstil beeinflusst wird.
Abb. 1: Der CARE-Index (Crittenden, 1981) erlaubt die Analyse des mütterlichen Interak-tionsstils bereits im ersten Lebensjahr.
sen zu sein. Bei Wiedereintritt in den Raumvermeiden sie den Kontakt zur Mutter. Ge-nauere Analysen (auch physiologischer Ma-ße wie Herzfrequenz oder Kortisolspiegel)zeigen aber erhöhte Anspannung und unter-drücktes Spielen, d.h. die Kinder haben ge-lernt, ihre Gefühle zu unterdrücken. Unsi-cher-ambivalent gebundene Kinder (ca. 10%) explorieren kaum ihre Umgebung undsind damit beschäftigt, die Aufmerksamkeitder Mutter zu erlangen. Wenn die Mutter denRaum verlässt, sind sie extrem gestresst. Beider Rückkehr der Mutter zeigen diese Kinderein ambivalentes Verhalten, wollen einer-seits Körperkontakt und Tröstung, wehrensich aber gleichzeitig dagegen. Sie habenSchwierigkeiten, in dieser Situation mit Hilfeder Bindungsperson zu einer Beruhigung zufinden. Desorganisiert gebundene Kinder(< 10%) zeigen bei Wiedereintritt der Bin-dungsperson eine Reihe konfuser, sich wider-sprechender Verhaltensweisen, es sind Pha-sen der Starrheit zu beobachten sowie ste-
reotypische Verhaltensmuster. Diese Verhal-tensweisen sind Ausdruck des Dilemmas, indem sich das Kind befindet, da die Bindungs-person gleichzeitig als Quelle von Sicherheitund Gefahr (häufig als Folge von Misshand-lungen) wahrgenommen wird.
Kinder mit einer sicheren Bindung sind also inder Lage, die Balance zwischen Bindung undExploration zu finden, wohingegen bei unsi-cher gebundenen Kindern bindungsbezoge-ne Bedenken und Angst die Gedanken unddas Handeln dominieren. Entsprechend gehtman davon aus, dass diese Kinder weniger inder Lage sind, Wissen und Fähigkeiten zuentwickeln, weil sie ihre Umgebung wenigerexplorieren.
Befunde aus der Bindungsforschung
Die Existenz einer sicheren Bindung zwischendem Kind und seiner Bezugsperson ist einwichtiger Schutzfaktor gegenüber möglichen
Risiken und Gefährdungen in seiner weiterenEntwicklung bis ins Erwachsenenalter hinein.Umgekehrt hat das Fehlen einer sicheren Bin-dung Auswirkungen auf die soziale, emotio-nale, aber auch auf die kognitive Entwicklungdes Kindes. Insbesondere eine frühe hoch-unsichere Bindung führt häufig zu späterenVerhaltensproblemen wie Aggressivität oderdepressiver Symptomatik sowie schulischenProblemen. Dies gilt insbesondere dann,wenn gleichzeitig ein oder mehrere Risikofak-toren vorhanden sind. Bezüglich familiärerSituation zählen hierzu Armut, Arbeitslosig-keit oder schlechte Wohnsituation. Auf Sei-ten der Mutter sind Depressivität, Adoles-zenz oder auch Misshandlungen in der eige-nen Vorgeschichte Risikofaktoren und aufSeiten des Kindes sind dies Behinderungen,Frühgeburt oder wenn das Kind ein sogenanntes schwieriges Kind oder ein „Schrei-baby“ ist.
Die Bindungsforschung hat gezeigt, dass Kin-der, die im Alter von einem Jahr eine sichereBindung zur Mutter hatten, später im Vor-schulalter anderen Menschen gegenüber so-zial offener und in der Interaktion kompeten-ter sind. In der Regel haben diese Kinderauch ein besseres Selbstwertgefühl, mehrSelbstvertrauen und können ihre Gefühlszu-stände besser regulieren. Darüber hinaus be-einflusst die Sicherheit in einer frühen Bin-dung die Fähigkeit von Vorschulkindern, em-pathisch auf das Leid anderer Personen zureagieren. In so genannten Theory-of-Mind-Aufgaben, Aufgaben also, die das Wissenvon Kindern über mentale Zustände andererPersonen prüfen, zeigen sicher gebundeneKinder bessere Leistungen. Hier scheint esinsbesondere wichtig zu sein, dass die Müt-ter bereits ihre Säuglinge als Individuen mitmentalen Zuständen wie z.B. Intentionenund Wünschen behandeln.
In kognitiven Anforderungssituationen erwei-sen sich sicher gebundene Kinder als emo-tional und motivational stabiler: sie sind an-deren Personen gegenüber kooperativer undkönnen sich besser konzentrieren. Darüberhinaus zeigen diese Kinder mehr Frustrati-onstoleranz und Ausdauer bei neuen Aufga-ben. Während die Qualität der Bindung in kei-nem Zusammenhang zur Intelligenz der Kin-der zu stehen scheint, konnte in einer Reihevon Studien gezeigt werden, dass sicher ge-bundene Kinder sprachlich kompetenter sindals unsicher gebundene Kinder. Im Alter vonzwei bis drei Jahren haben sicher gebundeneKinder ein größeres Vokabular und auch einbesseres Sprachverständnis. Gleichzeitig pro-duzieren sie längere Wortsequenzen und zei-
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Gisa Aschersleben (links) studierte Diplom-Psychologie an den Universitäten Bielefeld undBraunschweig und promovierte (1993) an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wosie sich 1999 im Fach Psychologie habilitierte. Von 1991 bis 2006 war sie am Max-Planck-Institut für psychologische Forschung (später MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften)tätig, zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin, ab 2000 leitete sie dort die Forschungs-gruppe Entwicklung von Kognition und Handlung. Seit 2006 hat sie den Lehrstuhl für Ent-wicklungspsychologie an der Universität des Saarlandes inne. Ihre Forschungsschwerpunk-te liegen im Bereich der kognitiven Grundlagen der frühkindlichen Entwicklung sowie derRolle der frühen Eltern-Kind-Beziehung für die kognitive Entwicklung. Außerdem interessiertsie sich für die Entwicklung einer Theory of Mind und die kognitive Entwicklung im Alter.
Anne Henning studierte Diplom-Psychologie an der Universität Turin, Italien, und promo-vierte (2006) an der Universität Leipzig. Die Forschungsarbeiten für ihre Dissertation zumThema Frühe Intersubjektivität und Interaktion im Säuglingsalter führte sie von 2003 bis 2005am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in der Nachwuchsgruppe für Kulturel-le Ontogenese durch. Seit 2006 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl fürEntwicklungspsychologie an der Universität des Saarlandes tätig. Ihre Forschungsschwer-punkte liegen im Bereich der Methoden zur Messung der Qualität der frühen Eltern-Kind-Interaktion sowie der Rolle der frühen Eltern-Kind-Beziehung für die (sozial-)kognitive Ent-wicklung des Kindes.
gen damit eine komplexere Struktur in ihrerSprachproduktion. Insgesamt werden alsodie emotionale, die soziale und auch diekognitive Entwicklung im Kontext einer siche-ren Bindungsbeziehung stimuliert (für einenÜberblick siehe Aschersleben, 2008).
Mütterliche Sensitivität und kindliche Entwicklung
Das Bindungsmuster, das ein Kind zu der pri-mären Betreuungsperson entwickelt, ent-wickelt sich in den ersten 6 Lebensmonatenund manifestiert sich dann in der zweitenHälfte des ersten Lebensjahres. Auch wennBindung damit erst ab dem 12. Lebensmonatmessbar ist, so liegen die Wurzeln doch inder Eltern-Kind-Interaktion, die das Kind imersten Lebensjahr erfährt, wobei insbeson-dere die mütterliche Sensitivität einen wichti-gen Faktor bei der Entwicklung einer sicherenBindung darstellt. Mütterliche Feinfühligkeitist definiert als die Genauigkeit der Mutter inder Wahrnehmung und Interpretation derkindlichen Botschaften, die sich im kindli-chen Verhalten äußern sowie in der Fähig-keit, angemessen, kontingent und promptdarauf zu reagieren. Bezugspersonen, diesensitiv auf die Aktivitäten ihrer Kinder rea-gieren, geben ihnen ein Gefühl der Selbstsi-cherheit, Motivation und Sicherheit der Bin-dung. Sie ermöglichen dem Kind eine gemein-same Sichtweise der Welt, was den Kindernwiederum hilft, die Handlungen der Eltern zuverstehen, zu interpretieren und ihnen Sinnzu geben. Dies wird dadurch ermöglicht, dassKinder von sensitiven Müttern emotionalgleichzeitig bei sich selbst und dem Gegenü-ber verweilen können bzw. dürfen, da sie sichweder nur an die Vorstellungen der Mutteranpassen müssen, noch von ihr in ihrem eige-nen Erleben allein gelassen werden. Auchmütterliche Feinfühligkeit steht mit einer Rei-he von kindlichen Fähigkeiten im Zusammen-hang. Eine sensitive Mutter-Kind-Beziehungim Säuglings- und Kleinkindalter beeinflusstpositiv die kognitive Entwicklung des Kindesz.B. bzgl. der späteren Schulleistungen undder Sprachentwicklung. Darüber hinaus gehtein höheres Ausmaß an mütterlicher Sensiti-vität im ersten Lebensjahr einher mit einerbesseren Fähigkeit, die Wünsche, Gefühle,Absichten und Gedanken anderer Personen(Theory of Mind) im Vorschulalter zu verste-hen. Mütterliche Sensitivität liefert alsoeinen positiven Kontext für die kindliche so-ziale, emotionale und kognitive Entwicklung.
Um die Qualität der Mutter-Kind-Interaktionbereits im ersten Lebensjahr analysieren zu
können, wurde von Patricia M. Crittenden(1981) ein Instrument entwickelt, das es er-laubt, die mütterliche Feinfühligkeit in derInteraktion mit dem Kind sowie dyaden-spe-zifische Informationen zu kodieren und zuklassifizieren (Child-Adult RelationshipExperimental Index; CARE-Index). BeimCARE-Index wird eine ca. 5-minütige Interak-tionssequenz zwischen Mutter und Kind aufVideo aufgenommen und später detailliertausgewertet. Die Mutter ist dabei instruiert,mit dem Kind zu spielen. Die Vorteile dieserMethode sind, dass sie bereits bei Neugebo-renen anwendbar ist und dass die Interakti-on in einer natürlichen Spielsituation beob-achtet wird. Damit ist das Verfahren sehr ein-fach in der Anwendung. In der Auswertungdes CARE-Indexes wird das Verhalten vonMutter und Kind in der Interaktion hinsicht-lich sieben Ausdruckskanälen beurteilt: Ge-sichtsausdruck, verbaler/vokaler Ausdruck,Position und Körperkontakt, Affekt, Interak-tionswechsel, Kontrolle sowie Aktivität. Aus-druck und Verhalten der Mutter werden hin-sichtlich der Verhaltenskategorien feinfüh-
lig, kontrollierend und nicht-responsiv be-wertet, Ausdruck und Verhalten des Kindesbzgl. der Verhaltenskategorien kooperativ,bemüht-angepasst, schwierig und passiv.Entscheidend bei der Beurteilung des Aus-drucks und des Verhaltens ist deren Funktionfür die Interaktion, nicht ihre „Morphologie“.So kann ein Lächeln der Mutter Ausdruck ih-rer Feinfühligkeit sein, wenn es kongruent mitder Situation und dem Affekt des Kindes ist;es kann aber auch Ausdruck ihrer Kontrollesein, wenn es nicht kongruent ist, sonderndem Empfinden des Kindes entgegengesetztist. Das Verhalten wird also im Spiegel derWahrnehmung des jeweils anderen beurteilt:Was bewirkt das mütterliche Verhalten beimKind und was bewirkt das Verhalten des Kin-des bei der Mutter? Mit zunehmendem Alterverändern sich die Entwicklungsbedürfnissedes Kindes und damit auch die Ansprüche andie mütterliche Feinfühligkeit. MütterlicheFeinfühligkeit wächst mit den Bedürfnissendes Kindes mit und ermöglicht ihm, die Ent-wicklungsaufgaben in jeder Altersstufe zumeistern.
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Abb. 2: Versuchsanordnung in einer Studie zur Handlungswahrnehmung bei Kleinkindern.
Untersuchungen belegen, dass ein sensitiverund responsiver Interaktionsstil förderlich fürdie generelle kognitive Entwicklung ist, unddies auch bereits im ersten Lebensjahr. Inweiteren Studien wurde die Annahme unter-sucht, dass die frühe Mutter-Kind-Interaktioneinen Einfluss auf die Entwicklung der sozia-len Kognition, insbesondere des Verstehensvon menschlichen Handlungen hat. WennErwachsene mit Säuglingen interagieren,modifizieren sie ihre Bewegungen in einerArt und Weise, die die kindliche Aufmerk-samkeit auf Handlungen lenkt und wichtigeEinheiten im Bewegungsfluss betont. DieseAnpassung der Handlungen (motionese) hilftdem Kind beim Lernen und Verstehen kom-plexer intentionaler Handlungen. Daher istanzunehmen, dass der mütterliche Interakti-onsstil einen Einfluss auf das frühkindlicheVerständnis menschlicher Handlungen hat.
Bereits im Alter von etwa 6 Monaten sindKinder in der Lage, Handlungen anderer Per-sonen als zielgerichtet zu interpretieren. Ineiner typischen Studie zum Handlungsver-ständnis wird den Kindern wiederholt ge-zeigt, wie eine Hand mit einem von zweiObjekten eine Handlung ausführt, z.B. nacheiner Spielzeugente greift oder sie verschiebt(siehe Abbildung 2). Wenn die Kinder andiese Handlung habituiert sind (d.h. siehaben das Interesse verloren und schauenweg), werden die Positionen der beiden Ob-jekte (Ente und Turm) vertauscht. Die Handgreift nun entweder wieder nach der Ente,muss aufgrund des Positionswechsels derEnte aber eine andere Bewegung ausführen,oder die Hand macht dieselbe Bewegung wiezu Beginn, greift dann aber nach dem ande-ren Objekt, nämlich dem Turm. Die Kindersind überraschter, d.h. sie sehen deutlich län-ger hin, wenn sich das Ziel der Handlungändert, die Hand also nun nach dem Turmstatt nach der Ente greift. Das zeigt, dassKinder einfache Handlungen wie beispiels-weise das Greifen nach oder das Verschiebenvon Objekten bereits sehr früh als auf ein Zielgerichtet interpretieren (Jovanovic et al.,2008). Um zu prüfen, ob sich ein Zusammen-hang zwischen dem mütterlichen Interakti-onsstil und dem frühen Handlungsverständ-nis nachweisen lässt, wurden Kinder mit die-sem Paradigma zum Verstehen zielgerichte-ter Handlungen untersucht und es wurdenaußerdem kurze Spielsequenzen von Mutterund Kind aufgenommen, die dann mit Hilfe
des oben dargestellten CARE-Indexes hin-sichtlich des mütterlichen Interaktionsstilsanalysiert wurden (Hofer et al., 2008). ErsteErgebnisse zeigen, dass die Kinder sensitiverMütter bereits im Alter von 10 Monateneinen Vorsprung gegenüber den Kindern vonMüttern mit einem nicht-responsiven oderkontrollierenden Interaktionsstil aufweisen(Karmiloff-Smith et al., 2008)
Gleichzeitig lässt sich ein Zusammenhangzwischen dem Verständnis für Handlungenanderer Personen im ersten Lebensjahr undden sozial-kognitiven Kompetenzen im Vor-schulalter nachweisen. Im Alter von etwa vierJahren entwickeln Kinder die Fähigkeit, ande-ren Personen mentale Zustände wie Über-zeugungen, Wünsche oder Gefühle zuzu-schreiben (Theory of Mind). Ab diesem Altersind Kinder in der Lage zu erkennen, dassPersonen Überzeugungen haben können, dienicht mit der Realität oder mit ihren eigenenÜberzeugungen übereinstimmen. Um die Hy-pothese einer Kontinuität in der sozial-kogni-tiven Entwicklung zu prüfen, wurden Kinder,die im ersten Lebensjahr bzgl. ihres Verste-hens menschlicher Handlungen untersuchtworden waren, im Alter von vier Jahren hin-sichtlich ihrer Fähigkeiten, mentale Zuständeanderer Personen zu verstehen, getestet(Aschersleben et al., im Druck). Dabei zeigtesich ein klarer Zusammenhang zwischen derfrühkindlichen Aufmerksamkeit in der Aufga-be zum Handlungsverständnis und der Fähig-keit, im Alter von vier Jahren Aufgaben zumVerständnis divergenter Überzeugungen zulösen. Die Fähigkeit, anderen Personen men-tale Zustände zuzuschreiben, scheint alsoihren Ursprung bereits im Kleinkindalter zuhaben. Da Ergebnisse der Bindungsforschungzeigen, dass sicher gebundene Kinder besse-re Leistungen in Theory-of-Mind-Fähigkeitenzeigen, ist anzunehmen, dass die Entwick-lung sozial-kognitiver Kompetenzen durchden mütterlichen Interaktionsstil maßgeblichmitbestimmt wird.
Ausblick
Die Qualität der Bindung zwischen Mutterund Kind und insbesondere die Feinfühligkeitder Mutter im ersten Lebensjahr hat alsoeinen maßgeblichen Einfluss auf die weitereEntwicklung des Kindes, nicht nur im sozialenund emotionalen Bereich, sondern auch aufseine kognitive Entwicklung. Des Weiteren
zeigen erste Befunde, dass die frühen sozial-kognitiven Fähigkeiten der Kinder wichtigeVorläuferfunktionen für das spätere Verste-hen von Intentionen anderer Personen unddas Sich-Hineinversetzen in die mentalen Zu-stände anderer Personen darstellen. InLängsschnitt-Studien wird die Annahme zuprüfen sein, dass diese sozial-kognitive Ent-wicklung vom Säugling bis zum Vorschulkindganz maßgeblich moderiert wird durch dieQualität der Mutter-Kind-Interaktion, sowohlim ersten Lebensjahr als auch in den näch-sten Jahren.
Literatur
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