Post on 14-Aug-2019
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Medizinische Diagnostik bei Verdacht auf
Kindesmisshandlung Iliana Tzimas
Definition
Keine verbindliche Definition
Kindesmisshandlung ist eine nicht zufällige gewaltsame
körperliche und/oder seelische Schädigung, die in Familien oder Institutionen geschieht und die zu Verletzungen, Entwicklungsverzögerungen oder zum Tode des Kindes führt.
BM JFG 1979/Deutscher Bundestag, DS 10/4560 (1986)
Formen der Misshandlung
seelische Misshandlung
körperliche Misshandlung
Vernachlässigung
sexueller Missbrauch
„Opferprofil“
unmittelbare Abhängigkeit von den Eltern
Hilflosigkeit
Wehrlosigkeit
Arglosigkeit
fehlende Lebenserfahrung
eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit
eingeschränkte Reaktionsfähigkeit
vergleichsweise geringe Intensität der GE
besondere Formen der GE
besondere Reaktionen der kindlichen Gewebe/Organe auf GE
Biologische Faktoren
Schütteln!
Schlagen mit Faust, Hand 30 %
Schlagen mit Werkzeug 48 %
Treten 7 %
Schleudern gegen Wand etc. 5 %
Hungern lassen 2 %
Verbrühen 6 %
Sonstige 2 %
Epidemiologie PKS (2014): 3.649 Fälle von Kindesmisshandlung
4.233 Opfer, 57 % m, 43 %w
10 - 15 % aller Eltern wenden schwerwiegende und relativ häufige Körperstrafen an (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend, 2009).
25 % der Fälle unter 2 Jahre
10 % der Mädchen und 5 % der Jungen bis zum 16. Lebensjahr werden Opfer eines sexuellen Übergriffs
Vernachlässigung ca. 10 x häufiger als Misshandlung
Deutschland: pro Woche: zwei Kindstötungen
Dunkelziffer 1:5 bis 1:50
Münsteraner Studie: Obduktionen Säuglinge und Kleinkinder (n = 337)
Vd. auf nnT 63 (18,7%)
Vd. bestätigt 55 (87,3%)
darunter Tötungen 28 (44,4%)
Fälle mit Annahme nT 274 (81,3%)
gerichtliche Obduktionen 167
wissenschaftliche Obduktionen 107
DuChesne et al. (1997) Arch Kriminol 199: 21-26
Fälle mit Annahme nT (274)
Gerichtliche Sektionen (167)
Wissenschaftliche Sektionen (107)
Tötungen 5 3
Vorsatz 3 1
Misshandlungen 2 2
Todesursachen bei den Tötungen
TU Unfall Unklar Tötung gesamt
Vernachläs. 2 1 3
Ersticken 4 1 4 9
Intoxikation 1 1 1 3
Schütteltrauma 6 6
SHT 1 1 1 3
sonstiges 1 2 1 4
zusammen 7 7 14 28
Befragung von ca. 900 Kinderärzten 7,5% antworteten Verdacht auf Misshandlung in 12 Monaten
niemals 50%
1 – 2 mal 33%
aber in einer Praxis 50 Mal
Problemfeld der Meldung
Risiko des diagnostischen Irrtums
ökonomische Überlegungen?
Schweigepflicht (§203 StGB)
rechtfertigender Notstand
Straftat: Körperverletzung/ Tötung
(Unterlassungsdelikt)
Anamnese klinische Untersuchung
Verdacht der Kindesmisshandlung weitere Diagnostik/Konsil
Radiologie (z.B. CT, Szintigraphie)
Neurologie
Chirurgie
Ophthalmologie
Blutgerinnung
Psychiatrie
Rechtsmedizin
Diagnose: Kindesmisshandlung
Differentialdiagnosen Hämatome Gerinnungsst., häm. Diathesen, Vaskulitiden, Leukämie
Hautverfärbungen Nävi, Hämangiome
Frgl. Hitzeeinw. Ekzem, Dermatitis, Impetigo bullosa, Erythema nodosum,
Haarausreißungen Alopecia areata
Retinablutungen ak. Hypertonus, Meningitis, Sepsis, Z.n. vaginaler Geburt, Koagulopathie, Leukämie,
Frakturen Ost. imperfecta, Cu-Mangel, Rachitis, kong. Syphillis, Osteomyelitis, path. Fraktur
Empfehlungen Gespräch mit den Eltern
Meldung an das Jugendamt bei „leichten Fällen“ und
Kooperationsbereitschaft der Eltern sowie engmaschige medizinische Kontrolle unter Einbeziehung der Geschwisterkinder
Anzeige bei Polizei /StA
Keine Angst vor Verletzung der Schweigepflicht (§203 StGB) Rechtfertigender Notstand – Kind ist das höherwertige Rechtsgut !!
Körperliche Misshandlung mit
banalen Verletzungen
gravierenden Verletzungen
Misshandlung mit Gegenständen
Frakturen
Todesfolge
Diagnostische Kriterien Lokalisation
Form
Gruppierung
Mehrzeitigkeit
verborgene Verletzungen
Schütteltrauma subdurales Hämatom
Retinablutungen
Diffuse Hirnschäden
Fehlende oder subtile äußere Verletzungen:
Griffspuren
Frakturen
Abscherung des Gehirns gegenüber der Dura mater führt zu Einrissen der Brückenvenen SDH Diffuser axonaler Schaden durch unterschiedliche Wirkung von Rotations- und Scherkräften zwischen grauer und weißer Substanz/Neuronenschichten diffuser Parenchymschaden Störung der Gefäßautoregulation und Hirndurchblutung führt zu lokalen und generalisierten Ischämie, Hypoxie und Hirnödem
Massive Gewalteinwirkung erforderlich! Immer sofortige neurologische Symptomatik!
The hinterland of child abuse. Lancet
Richard Asher 1951 Munchausen syndrome
Roy Meadow 1977 by proxy
Ebenen der Manipulation
Erfinden von Symptomen
zusätzliche Manipulation von Untersuchungsmaterial oder Fieberkurven
Herbeiführen von Symptomen
Symptome des Kindes
persistierende oder rezidivierende
Erkrankung
inadäquate Symptome
wiederholte Hospitalisierungen
exzessive und ergebnislose Diagnostik
ineffektive Behandlungen
Besserung bei Trennung von der Mutter
Häufige Symptome
Blutungen 44%
Krampfanfälle 42%
Bewusstseinstrübungen 19%
Atemstillstände 15%
Diarrhoe 11%
Erbrechen 10%
Fieber 10%
Hautveränderungen 9%
nach Rosenberg 1987, n=117
Auffälligkeiten der Mutter
auffallend geringe Besorgnis
überfürsorglich mit engem Kontakt zum
Personal
ungeklärte Todesfälle von Geschwistern
ähnliche Symptome bei anderen Personen
Vernachlässigung
Definition
Kinder erfahren die für ihr Überleben und Wohlergehen
erforderlichen Maßnahmen (Pflege, Ernährung, Bekleidung,
Gesundheitsförderung, soziale Kontakte, Schutz und Aufsicht)
durch die Sorgeberechtigten nicht oder nicht ausreichend und
können chronisch beeinträchtigt oder geschädigt werden
In Kindesmisshandlung und Vernachlässigung.
Deegener G. Körner W. (Hrsg). Hofgrefe Verlag Göttingen 2005: 37-58
Pflege, Kleidung keine adäquate Unterkunft
keine angemessene Bekleidung
Verschmutzte Haut (Genitalbereich)
Gewebeflusen in Körperfalten
ungepflegte Finger-/Zehennägel
Gebiss
unbehandelte Hauterkrankungen
Ernährung nicht altersentsprechend
nicht ausgewogen – Süßigkeiten
unkontrollierte Eßgewohnheiten
keine regelmäßigen Mahlzeiten
keine gemeinsamen Mahlzeiten
Folgen: Dystrophie, psychosoz. Minderwuchs
Gesundheitsfürsorge (prä- und perinatal)
Drogen, Alkohol, Nikotin
fehlende medizinische Vorsorge und Betreuung während Schwangerschaft
Gesundheitsfürsorge keine regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen
keine Prophylaxe/Impfung
keine medizinische Behandlung bei akuten Erkrankungen, Verletzungen
mangelnde psychomotorische Entwicklung
mangelnde Sprachentwicklung
Mangelnde Beaufsichtigung keine Sicherheit bei alltäglichen Gefahren
mangelnde Supervision und Aufsicht
ungesicherte Gefahrenquellen im Haushalt (Medikamente, Putzmittel, ..)
Exsikkose Hämatokrit Kreatinin
Kwashiorkor Proteinmangel Ödeme Pigmentstörungen Leberschäden Osteoporose Muskelatrophie Hypokalz. Tetanie Hypoglykämie Eisenmangel Elektrolytstörungen
Mögliche Ursachen für Gedeihstörungen qualitative/quantitative Fehlernährung
vermehrte Verluste durch Erbrechen
Kalorienverluste (Zöliakie, chr. entz. Darmer krankungen, Mukoviszidose, Kohlenhydratmalabs., chron. Lebererkrankungen, parasit. Infektionen)
erhöhter Umsatz (metabolische , endokrine, onkologische Erkrankungen)
Indikatoren im sozialen Bereich schlechte Finanz- und Wohnverhältnisse
sehr junge Eltern
Alleinerziehender Elternteil
Probleme in Erziehung und Partnerschaft
psychosozialer Stress
sozial verarmte Nachbarschaft
eigene problematische Kindheit
mangelnde Kooperationsbereitschaft
Erkrankungen der Eltern
Checkliste Verletzung - Misshandlung? Beweissicherung
Dokumentation der Anamnese
Fotodokumentation der Befunde Wohl des Kindes! Klinikeinweisung sinnvoll? keine Meldepflicht aber Möglichkeit Jugendamt/Kinderschutzambulanz? Vd. bei Leichenschau meldepflichtig!
Zuerst akut notwendige medizinische Maßnahmen
Familiensituation erfragen und bewerten
Hinzuziehung eines Rechtsmediziners zur rechtsmedizinischen Konsiliaruntersuchung
• Bundeskinderschutzgesetz vom 1. Januar 2012 • Mehrstufiges Verfahren
Mit Kind oder Jugendlichem reden
Kein Erfolg/Schutz des Kindes gefährdet: Beratung durch Fachkraft des
Jugendamtes
• Ergebnis nach Beratung: „Kindeswohl gefährdet“
Einschalten des Jugendamtes, erforderliche Daten dürfen übermittelt
werden
Eltern müssen nicht informiert werden
• Keine explizite Meldepflicht für Behandelnde
Verhalten und Vorgehen des Arztes
Risikobewertung Jetzt Kontakt zum Sozialdienst?
Akute Gefährdung des Kindes?
Sofortige Maßnahmen nötig?
Warum fällt das Kind in den „Brunnen“? auch bei schweren Befunden wird nicht an
Misshandlung/Vernachlässigung gedacht
es wird daran gedacht aber nicht konsequent gehandelt (Meldung)
Jugendamt, Vormundschaftsgericht, StA, Polizei oder Gutachter „versagen“
„Mit den Eltern wurde ... über die nicht-akzidentelle Genese dieser
Verletzungen gesprochen. Sie wirkten sehr bestürzt und besorgt und konnten
kein Ereignis als Ursache nennen. Auch die ältere Schwester ... Käme als
Verursacher nicht in Frage. Insgesamt wirkten die Eltern ... sehr fürsorglich ...,
so dass ich von einer Information des Jugendamtes sowie einer Anzeige
Abstand nahm.“
Artikel II, Abs. 2 des Grundgesetzes Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Geltungsbereich: u.a für Ärzte, Psychologen, Apotheker, …
Umfasst jegliche patientenbezogenen Informationen
Gilt über den Tod des Patienten hinaus
Bei Verletzung: Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe
§ 203 StGB Verletzung von Privatgeheimnissen
§ 34 StGB Rechtfertigender Notstand
Bei Vorliegen einer Gefahr für ein höherwertiges Rechtsgut darf ein anderes Rechtsgut verletzt werden, um diese abzuwenden
Gefahr für die psychische/physische Entwicklung des Kindes/Jugendlichen rechtfertigt Bruch der Schweigepflicht
Das rechtsgutverletzende Verhalten des Arztes wird so geschützt
§225 StGB Misshandlung von Schutzbefohlenen Wer eine Person unter 18 Jahren … die seiner Fürsorge oder Obhut untersteht, seinem Hausstand angehört, von dem Fürsorgepflichtigen seiner Gewalt überlassen wurde oder ihm im Rahmen eines Dienstverhältnisses untergeordnet ist, quält oder roh misshandelt, oder wer durch böswillige Vernachlässigung … sie an der Gesundheit schädigt, wird … bestraft.
§1666 BGB – Gefährdung des Kinderwohls Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl … durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern … gefährdet, so hat das Familiengericht … die Gefahr abzuwenden …
§ 171 StGB Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht §1631 BGB Inhalt des Personensorgerechts, Einschränkung von Erziehungsmaßnahmen § 1627 BGB Ausübung der Elterlichen Sorge zum Wohle des Kindes
Meldung/Anzeige Keine Meldepflicht (§ 138 StGB)
Schweigepflicht (§ 203 StGB)
Melderecht (§ 34 StGB) Rechtfertigender Notstand