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Uwe Gellert
Exzeptionalitat und Alltaglichkeit der Veranderung von Mathematiku nterricht
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Zusammenfassung: Auf der Grundlage einer mikrosoziologischen Methodologie wird untersucht, welche Prozesse Lehrergruppen bei der Veranderung und Erneuerung ihrer Unterrichtspraxis durchlaufen. Dabei wird fokussiert, wie exzeptionell oder gewiihnlich Veranderungsprozesse fUr Mathematiklehrer sind und welche Anforderungen sie stellen. 1m Ergebnis werden zwei wesentlich voneinander verschiedene zirkulare Prozesse hergeleitet und verglichen. Als zentrale Kategorien dieser Zyklen fungieren zum einen die empfundene Arbeitsbelastung und Zufriedenheit im Unterrichtsalltag und zum anderen die in Routinen enthaltenen Deutungs- und Handlungsmuster der Mathematiklehrer.
Abstract: Based on a micro-sociological methodology, processes of innovation of mathematics teaching have been observed. The focus is on communities of mathematics teachers and, particularly, on their perception of change of classroom practice as usual or out of the ordinary as well as on the demands that change requires. Two circular change processes were identified and compared, calling on workload, satisfaction, routines and patterns of action and interpretation as chief categories.
I Problemaufriss Seit etwa 1960 stellt die zielgerichtete Veranderung von Mathematikunterricht einen institutionell abgesicherten Forschungsbereich dar. Dies ging einher mit der massiven EinfUhrung von ,New Math' in den U.S.A. und dem Bedurfnis, diese EinfUhrung zu evaluieren, urn so zu einer effektiveren, das heiBt schnelleren und wirksameren Veranderung zu gelangen. Das Richtziel solcher als Innovationsforschung bezeichneter Studien bestand auf einer Metaebene im Wesentlichen darin, Innovationsmodelle fUr die Veranderung des Schulunterrichts zu konstruieren beziehungsweise bereits vorhandene Modelle aus anderen Bereichen, wie zum Beispiel der Landwirtschaft, zu adaptieren (Miles 1964). Anfanglich entstanden so lineare Idealvorstellungen von Innovation, insbesondere der Curriculum-Entwicklung im Rahmen von ,New Math', wie etwa die verschiedenen Spielarten des Research-Development-Dissemination-Modells (RDD) (vgl. Howson, Keitel & Kilpatrick 1981, Raizen, McLeod & Rowe 1997):
"The project is the major contribution of the second half of the twentieth century to the field of curriculum development. It arose as technological society's response to the problem of making a qualitative change in the school curriculum, and it was patterned after engineering projects that had brought teams of scientists and engineers together in crash programmes to develop weapons, break codes, etc. The early curriculum development projects borrowed their strategies, consciously or not, from the procedures used by industries in developing new products." (Howson, Keitel & Kilpatrick 1981, S. 79)
Das Scheitern dieses Innovationsansatzes und der damit verbundenen Curriculumentwicklungsprojekte wird vor all em darauf zUrUckgefUhrt, dass im RDD-Modell sowohl das Verhaltnis von (Grundlagen-)Forschung und Entwicklung als auch von Entwicklung und Verbreitung simplifiziert vorIiegt. Ais Hauptfehler stell en sich die Linearitat des
(JMD 24 (2003) H. 3/4, S. 151-171)
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Modells sowie jegliche Ignoranz gegeniiber okologischen Sichtweisen von Veriinderung dar. Auf der Grundlage dieser Kritik werden, nun vor allem im europiiischen Raum, komplexere Innovationsmodelle konzipiert. Zwei voneinander in ihrer StoBrichtung verschiedene Ansiitze erlangen dabei besondere Bedeutung. Zum einen wird versucht, Curriculum-Entwicklung moglichst zirkuliir und nah an der Schul- und Unterrichtspraxis auszurichten in der Hoffnung, durch verstiirktes Feedback und durch Mitwirkung von Mathematiklehrem1 den Anschluss an existierende Konzeptionen und Praktiken zu gewiihrleisten (Instituut Ontwikkeling Wiskunde Onderwijs 1976). Zum anderen werden explizit systemische und organisationstheoretische Vorstellungen mit dem Anspruch entwickelt, moglichst alle fUr die Innovation des Unterrichts relevanten Faktoren sowie ihre Beziehungen zueinander im Innovationsmodell zu beriicksichtigen (Aregger 1976).
Die Aktualitiit dieser beiden Ansiitze fUr Unterrichtsentwicklung spiegelt sich in den Begriffen ,design science' und ,systemic reform' wider. Wiihrend ,design science' als iibergeordnete Wissenschaftskategorie einer Verschriinkung von "Entwicklung und Erforschung von theoretischen Konzepten und von produktiven Lemumgebungen" (Miiller, Steinbring & Wittmann 1997) die Tradition des Instituut Ontwikkeling Wiskunde Onderwijs fortsetzt, wird ,systemic reform' (National Science Foundation 1990, Smith & O'Day 1991) derzeit auch als mainstream U.S.-amerikanischer Innovationsversuche bezeichnet (vgl. National Science Foundation 1995, Raizen & Britton 1997).
Ohne die Erfolge dieser Konzeptionen fUr Unterrichtsentwicklung anzweifeln zu wollen, wird an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass unser diszipliniires Wissen iiber Veriinderung von Unterrichtspraxis und professionelle Entwicklung von Mathematiklehrem fragmentarisch ist (Wood 1999, S. 176). Ob ein solches Wissens yom Modell der ,systemic reform' aus generiert werden kann, ist zumindest fraglich. Mit einem solchen . makrosoziologischen Modell ist es zwar moglieh, Innovationsprozesse zu besehreiben, zu verfolgen und zu vergleichen, ohne von der Flut moglicher Beobachtungsdaten schier iiberwiiltigt zu werden. Hingegen erlaubt es nicht einzuschiitzen, was folgt, wenn Innovationen auf die Praxis stoBen, welchem Anpassungsdruck sie ausgesetzt sind, wie sie das soziale System, in das sie eindringen, strapazieren oder wie sie bewertet werden. Dies ist eine folgenschwere Beschriinkung dieses Modells, deren Bedeutung umso klarer wird, wenn man theoretische Dimensionierungen des Implementationsbegriffs zurate zieht, wie etwa die von Bauer & Rolff (1978) im Kontext von Schulentwicklung ausgearbeitete: Veriinderungen der Unterrichtspraxis manifestieren sich demnach weniger in der bloBen Verwendung neuer Materialien und Medien sowie dem Wandel der riiumlich-zeitlich-personellen Organisation, denn dies betrifft lediglich die Bedingungen fUr piidagogisches Handeln; vielmehr zeigt sich Implementation in der veriinderten Selbst- und Fremdeinschiitzung, der Veriinderung im Verstiindnis des piidagogischen Handelns sowie der Bewertung dieses Wandels (vgl. auch: Adler 2001, Black & Atkin 1996). Damit ist nicht gesagt, dass die Entwicklung des Verstiindnisses von Unterrichtsprozessen eine veriinderte Unterrichtspraxis impliziert. Sie ist aber die Grundlage, auf der Innovation wirksam werden kann (Kilpatrick & Silver 2000, Tirosh & Graeber 2003).
1 leh referiere mit mannliehen Formen wie ,Mathematiklehrer' oder ,Forseher' stets auf beide Gesehleehter. Die weibliehe Form benutze ieh, wenn die Personen, urn die es geht, mir bekannt und weiblieh sind.
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"Studies suggest that changes in beliefs and changes in practices occur in a mutually interactive process. Teachers' thoughts influence their classroom practices. Their reflections on these activities and the outcomes of changed practice influence the teachers' beliefs about mathematics learning and teaching. Changes in attitudes and behaviours are iterative." (Tirosh & Graeber 2003, S.673)
Ein verandertes Verstandnis im Sinne von Bauer & Rolff (1978) ist makrosoziologischer Theorie kaum zuganglich. In seiner individuellen Auspragung besitzt es so feine Nuancen und ist derart kontingent, dass es von den zwangslaufig groben Maschen des makrosoziologischen Netzes nicht erfasst werden kann. Beschrankt man sich bei der Analyse von Innovationsprozessen auf die Makro-Perspektive, so nimmt man in Kauf, dass das, was ohnehin als schwierig zu erfassen gilt, namlich das Feine, Fluchtige, Unbestimmte und Noch-nicht-theoretisch-Durchdrungene, weiterhin verborgen bleibt.
Dementsprechend kann ein auf die Feinheiten zielendes Untersuchungsprogramm auch flir die Erforschung von schulischen Innovationsprozessen forrnuliert werden.
"Local choices about how (or whether) to put a policy into practice have more significance for policy outcomes than do such policy features as technology, program design, funding levels, or governance requirements. Change ultimately is a problem of the smallest unit. What actually happens as a result of a policy depends on how policy is interpreted and transformed at each point in the process, and finally on the response of the individual at the end of the line." (McLaughlin 1998, S. 72)
Empirische Forschungsarbeiten, die (im Kontext vor allem der britischen und U.S.amerikanischen Reform des Mathematikunterrichts) auf die von McLaughlin angeflihrten "kleinsten Einheiten" fokussieren, haben dazu Ergebnisse prasentiert: Fur viele einzelne Lehrer liegen prazise und detaillierte Beschreibungen ihres jeweiligen professionellen oder personlichen Wandels vor (z. B. Jaworski 1994, Manouchehri & Goodman 2000, Wilson & Goldenberg 1998).
In zunehmendem MaBe jedoch wird professionelle Entwicklung von Mathematiklehrem als ein kollektives Phanomen begriffen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass individuelle gegenuber kollektiver professioneller Entwicklung als weniger wirksam gilt:
"There is substantial research in the broader area of school reform that suggests that peer collaboration and support is a crucial prerequisite for teachers to be successful in restructuring their classrooms and their schools." (Lachance & Confrey 2003, S. 109)
Folglich erscheint es angemessen, als "kleinste Einheiten" flir die Erforschung von Veranderungsprozessen Gruppen von Lehrem zu betrachten. Solche Gruppen konnen sich beispielsweise darin unterscheiden, ob sie eher forrnell oder inforrnell organisiert sind und ob die Gruppen vorbestimmte Ziele verfolgen oder diese erst allmahlich definiert werden. Etwa schlagt Krainer (2003) folgende Benennung vor:
"I differentiate between 'teams', 'communities' and 'networks'. Teams (and project groups) are mostly selected by the management, have pre-determined goals and therefore rather tight and formal connections within the team. Communities are regarded as self-selecting, their members negotiating goals and tasks. People participate because they personally identify with the topic. Networks are loose and informal because there is no joint enterprise that holds them together. Their primary purpose is to collect and pass along information. Relationships are always shifting and changing as people have the need to connect." (Krainer 2003, S. 95)
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Forschungsarbeiten, die Aussagen iiber Gruppen von Mathematiklehrem anstreben, versuchen nun, iiber individual-psychologische Aspekte von professioneller Entwicklung und von Unterrichtsveranderung hinauszugehen, urn so in Richtung einer Mikrosoziologie von Veranderung fortzuschreiten (Boaler 1997, Lachance & Confrey 2003). Dieser Richtung folgt der vorliegende Forschungsbericht. 1m Zentrum des Untersuchungsinteresses stehen demnach die unscheinbaren, unspektakularen und nur selten artikulierten Aspekte von Prozessen kollektiver professioneller Entwicklung und Veranderung des Mathematikunterrichts. Solch klandestine Momente existieren gewiss und konnen, zumindest teilweise, auch rekonstruiert werden; sie vorab prazise thematisch zu bestimmen, ist hingegen nicht moglich, da hier im Wesentlichen Forschungs-Neuland betreten wird. Die Einschatzung von Wood (1999), dass wir bisher wenig dariiber wissen, wie Mathematiklehrer ihren Unterricht verandem, gilt umso mehr fUr Teams, Communities und Networks. Entsprechend offen mochte ich hier zwei Forschungsfragen formulieren, denen im Folgenden nachgegangen wird:
• Wie exzeptionell oder gewohnlich stellen sich Veranderungsprozesse fUr Mathematiklehrer dar?
• Welche Anforderungen stellen Emeuerungsprozesse an Lehrer? Ich untersuche dies mit Lehrergruppen, die man in der Terminologie von Krainer (2003) als Communities bezeichnen wiirde. Diese Abgrenzung begriindet sich auf der einen Seite dadurch, dass Entwicklungsprozesse von Networks vermutlich kaum rekonstruierbar sind, denn Networks sind dadurch gekennzeichnet, dass ihnen ein gemeinsames Entwicklungsprojekt fehlt. Auf der anderen Seite interessieren mich vor allem Entwicklungsprozesse von solchen Lehrergruppen, die selbst die Initiative zur Veranderung ergriffen haben, denn dies erscheint mir zurzeit zumindest in Deutschland (noch) als das Standardmodell von professioneller Entwicklung mit Bezug zum Mathematikunterricht.
II Untersuchungsmethode Der Bezug auf Gruppen von Mathematiklehrem hat fundamentale Konsequenzen fUr das Forschungsdesign, insbesondere fUr die Art der Datengewinnung und -analyse. An anderer Stelle ist dies ausfUhrlich erortert worden (Gellert 2003a, 2003b) und wird hier nur kurz zusammengefasst:
1. Mathematiklehrem ist aufgrund ihrer Ausbildung und Berufspraxis eine gewisse existenzielle und erlebnismaBige Verankerung gemein, die es erlaubt, sie als Gruppe anzusehen, etwa durch "ritualization of teaching mathematics" (Keitel 1992, S. 272) und "master-apprentice model" (Seeger & Steinbring 1992, S. 282) in der zweiten Lehrerausbildungsphase. Sie verfUgen iiber mehr oder weniger strukturidentische (das heiBt auf gleicher- oder ahnlichermaBen, aber nicht unbedingt miteinander gelebter Erfahrung basierende) sozialisationsgeschichtliche Hintergriinde. Dies ist als "kollektivbiographisch" (Loos & Schaffer 2001) beziehungsweise als "konjunktiver Erfahrungsraum" (Mannheim 1980) bezeichnet worden. Hierbei mag man zwischen Mathematiklehrem verschiedener Schulstufen unterscheiden. Der Mathematiklehrem hier zugeschriebene konjunktive Erfahrungsraum bewirkt nicht automatisch, dass Teams oder Communities gebildet werden. Er stellt aber eine Voraussetzung dafUr dar, dass dies unmittelbar moglich ist.
2. Eine Funktion der alltaglichen Berufspraxis von Mathematiklehrem besteht darin, diese kollektivbiographische Verankerung in Gesprachen unter Kollegen fortzuschreiben, indem im Austausch iiber berufliche Erlebnisse versucht wird, zu Gruppen-
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meinungen, das heiBt von den Mitgliedem der Gruppe akzeptierten und geteilten Ansichten, tiber Schule und Unterricht zu gelangen. Oft wird bezweifelt, dass Lehrer dies tatsachlich tun; diese Zweifel, so Roeder & Schtimer (1986), sttitzen sich jedoch nicht auf empirische Studien. Gruppenmeinungen stecken den kollektiven Orientierungsrahmen der jeweiligen Gruppe abo Wenn Mathematik1ehrer miteinander tiber Schulisches reden, aktualisieren sie dies en Rahmen, bestatigen oder modifizieren ihn. Mithin driickt sich dabei aus, wie Veranderungen der Berufspraxis konzipiert, wahrgenommen, bewertet und intemalisiert werden. Wenn Lehrer versuchen, ihren alltag1ichen Mathematikunterricht zu verandem, so finden sich Spuren davon in den Gesprachen wieder, die Lehrer miteinander tiber Unterrichtserlebnisse fiihren. Dies gilt schon fUr die Gruppenform des Networks, erst recht aber flir Communities von Mathematiklehrem.
3. Zu solchen Unterhaltungen haben Forscher in Deutschland (und auch anderswo) in der Regel keinen Zugang, denn sie finden meist spontan, informell und in einem geschiitzten, eventuell privaten Kreis statt. Hingegen wird im institutionalisierten Rahmen von schulischen Lehrer- und Fachkonferenzen auBerst selten iiber Unterricht reflektiert (Erazo Jimenez 2001). Dass dies kulturell bedingt ist, zeigt das Beispiel Japans.
Mit der Untersuchungsmethode der Gruppendiskussion (Bohnsack 1993, Loos & Schaffer 2001) wurde in der vorliegenden Studie versucht, in Gruppen von Grundschullehrem, die Mathematik unterrichten, "fremdinitiiert Kommunikationsprozesse an[zu]stoBen, die sich in ihrem Ablauf und der Struktur zumindest phasenweise einem ,normalen' Gesprach annahem" (Loos & Schaffer 2001, S. 13). Dazu wurden acht Lehrerinnengruppen aus verschiedenen Berliner Grundschulen gefunden, die jeweils etwa eineinhalb Stunden lang tiber den Mathematikunterricht und die Komplexitat seiner Veranderung sprachen. Ais Diskussionsfokus und Anlass zum Gesprach hatten sich die Gruppen und der Diskussionsleiter darauf verstandigt, tiber Erlebnisse, Probleme und Erfolge mit dem in Berlin erst etwa zwei Jahre vorher zugelassenen Schulbuch "Das Zahlenbuch" (Berger et al. 1993, 1994) zu reden. Das aktiv-entdeckende Lemen und produktive Uben der SchUler stellte fUr diese Grundschullehrerinnen die selbst gewahlte gemeinsame Aufgabe, das miteinander geteilte Ziel dar, auf das sie sich informell verpflichtet hatten.
4. Die Gruppendiskussionen wurden per Tonband aufgenommen, selektiert und ausschnittweise transkribiert (s. Gellert 2003a, 2003b), bevor in einem dreischrittigen Verfahren sukzessiv Interpretationen erarbeitet werden konnten. Dieses Vorgehen, insbesondere die aufwandige Dokumentation des Analyseprozesses, bezweckt, kontrolliert und nachvollziehbar (Bohnsack 1993, Reichertz & Soeffner 1994) zu Interpretationen zu gelangen, indem
• zuerst aus der Sprache der Diskussionsteilnehmer paraphrasierend in die des Forschers tibersetzt und das jeweilige Transkript in Interpretationseinheiten aufgebrochen wird,
• diese dann vor dem Hintergrund interaktionistischer und diskursanalytischer Zugange zu Texten analysiert und reflektiert und
• anschlieBend der Bezug zum Untersuchungsfokus hergestellt wird. Wie sich dies im Einzelnen darstellt, expliziert Gellert (2003a) an einem kurzen Beispiel. 1m vorliegenden Beitrag wird mit ausgewahlten Transkriptfragmenten und bereits fokussierten Interpretationen gearbeitet. Dies beschleunigt die Lekttire des Vergleichs der interpretierten Textpassagen wesentlich und beriicksichtigt das Publikationsformat.
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Ausflihrliche schrittweise Interpretationen der Textpassagen finden sich in Gellert (2003b).
5. Fundamental filr die Herstellung des theoretischen Gewinns der Untersuchung ist der Prozess der Komparation von interpretierten Textstellen (Beck & Jungwirth 1999, Brandt & Krummheuer 2000, Kelle & Kluge 1999, Strauss & Corbin 1990). Er zielt zum einen darauf, die zur Einschatzung von Aussagen notwendigen Vergleichshorizonte des Interpretierenden sukzessiv in den Daten zu fundieren. Zum anderen bezweckt dieser Vorgang, die Erkenntnis von den spezifischen Textstellen zu lOsen und sie als Idealisierung in Form einer mehr oder weniger ausgearbeiteten Typologie zu fixieren.
Die folgenden Untersuchungsergebnisse werden als verkilrzte Version dieses vielschichtigen Prozesses der Datenanalyse prasentiert. Antworten auf die oben notierten Untersuchungsfragen ergeben sich allmahlich und werden am Ende des Beitrags nochmals, dann in komprimierter Form, zusammengetragen. Filr weitere Ergebnisse siehe Gellert (2003c).
III Ergebnisse der empirischen Untersuchung Ais Hauptergebnis der Untersuchung werden zwei unterschiedliche zyklische Prozesse der Veranderung von Mathematikunterricht konstruiert: Der Zyklus des Schwankens von ZuJriedenheit und Arbeitsaufwand im Berufsalltag und der Zyklus sich entwickelnder Routinen. Dazu wird auf Pas sagen aus Diskussionstranskripten zweier Lehrerinnengruppen rekurriert. Die Gruppe STW, bestehend aus den Lehrerinnen Frau Sare, Frau Till und Frau Wosch (alle Namen von Personen sind Pseudonyme), unterrichtet an einer gewohnlichen Berliner Grundschule. Wahrend sich Frau Sare erst im fiinften Dienstjahr befindet, blicken die beiden anderen Lehrerinnen auf etwas mehr als zehn Jahre Unterrichtserfahrung zuriick. Seit eineinhalb Schuljahren unterrichten die Lehrerinnen mit dem "Zahlenbuch"; Frau Till und Frau Wosch leiten gemeinsam eine Klasse. Die Gruppendiskussion, aus der die Pas sagen stammen, fand im Klassenraum von Frau Till und Frau Wosch an einem Nachmittag nach der Unterrichtszeit statt. Die zweite Gruppe DEM wird von den Lehrerinnen Frau Deich, Frau Eike und Frau Morl gebildet. Alle drei befinden sich zwischen dem zehnten und zwanzigsten Dienstjahr und unterrichten schon seit einigen Jahren an einer anderen gewohnlichen Berliner Schule, in der die Gruppendiskussion aufgenommen wurde. Auch diese Lehrerinnen nutzen das "Zahlenbuch" seit etwa eineinhalb Schuljahren. Der Ort der Aufnahme ist das Klassenzimmer von Frau Eike.
111.1 Zyklus des Schwankens von Zufriedenheit und Arbeitsaufwand
Prinzipiell korinen Idealvorstellungen von Unterricht in der Praxis nur ansatzweise, nie aber vollstandig realisiert werden. Allerdings gibt es im Unterrichtsalltag immer wieder Momente, in denen dieser Zusammenhang Anlass zur Artikulation von Unzufriedenheit gibt. Altemativ bietet es sich dann an, entweder die Unzufriedenheit zu ertragen oder aber zu versuchen, deren Ursachen zu bestimmen, urn eine Veranderung der Unterrichtspraxis zu ermoglichen. Dabei mag es sich wie in der folgenden Passage 1 (eine Transkriptionslegende findet sich im Anhang) zeigen, dass Lehrer ihre professionellen Idealbilder weiterentwickeln, aber ihre Unterrichtspraxis im Gewohnten verhaftet bleibt, also eine Diskrepanz zwischen Vorstellungen und Realitiit entsteht.
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Fr. Wosch
y Fr. Wosch
Fr. Till Fr. Wosch
Fr. Till
Fr. Wosch <Fr. Till <Fr. Wosch Fr. Wosch
Passage I / Gruppe STW (Fr. Sare, Fr. Till, Fr. Wosch)
nee was bei uns zu der - iih - Neuerung gefiihrt hat war ebend eigentlich so unsere eigene Unzufriedenheit - iih mit der Situation des Unterrichts nich / dass wir so gemerkt haben wir werden nich allen - langst nich allen Kindem gerecht und - dass dass wir dadurch - iih Unruhe im Grunde seIber produzieren provozieren -mhm und deshalb ham wir gesagt wir wollen das mal ganz neu ausprobieren jaja in der Hoffnung / dann / dass dass - also dass sich sone iih eigene \ inn ere Leistungsdifferenzierung ergibt und iih die Kinder im Grunde genommen zufriedener lemen und - auch im einzelnen mehrlemen (2 sec.) wobei man dann eben schon auch immer wieder Zweifel hat ob sie mehrlemen lacht lacht ein bisschen oder ob einfach das Chaos vergroBert wird /
jawohl mm
Fr. Wosch fiihrt zwei kausal miteinander verknupfte Punkte an, die ihre Unzufriedenheit bewirkten. Zum einen formuliert sie den Anspruch, alle Schuler individuell optimal zu fOrdem. Dies erkennt sie zwar als prinzipielle Unmoglichkeit, hiilt aber eine graduelle Anniiherung an dieses Ideal fiir einen notwendigen Bestandteil professionellen Unterrichtens. Zum anderen konstatiert Fr. W osch ihrem ehemaligen Mathematikunterricht einen Mangel an konzentrierter Arbeitsatmosphare, der sich bei individueller F6rderung einstellen wiirde. Diese Reflexion fiihrt die Lehrerinnen dazu, ihren Unterricht mit dem Ziel zu organisieren, dass die SchUler ihre Lemprozesse stiirker selbst steuern und dadurch zufriedener und letztendlich mehr lernen. Dass dies fUr die Lehrerinnen mit einem Wagnis verbunden ist, wird aus der AuBerung "wir wollen das mal ganz neu ausprobieren" deutlich.
Lost man diese Interpretationen von der konkreten Gruppendiskussion, so Hisst sich flir den Prozess der Veranderung folgender Dreischritt festhalten:
Diffuse Unzufriedenheit mit dem Unterrichtsalltag
=> Klarung der Ursachen der
Unzufriedenheit =>
Veranderung der Unterrichtspraxis
(Wagnis!)
Nach einer kurzen Gesprachspause von zwei Sekunden Dauer evaluiert Fr. Till diese Veranderung kritisch. Sie fokussiert die Lemleistungen und wird dabei von Fr. Woschs Lachen bestatigt. Danach steigert sie den anscheinend komischen Effekt ihrer AuBerung, indem sie in Form einer Disjunktion darauf hinweist, die Klasse sei nun unruhiger als zuvor. Diese Unruhe nennt sie "Chaos" und stellt damit infrage, ob die veranderte
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Unterrichtspraxis tatsachlich eine verbesserte Arbeitsatmosphare bewirkt habe. Da sich die beiden Lehrerinnen in diesem Diskussionsausschnitt gegenseitig erganzen und validieren, kann von einem diesbeziiglich bereits versicherten Orientierungsrahmen ausgegangen werden. Dies fiigt dem Emeuerungsprozess einen vierten Schritt zu:
Diffuse Unzufriedenheit mit dem Unterrichtsalltag
=> Klarung der
Ursachen der Unzufriedenheit
=> Veranderung der Unterrichtspraxis
(Wagnis!)
u
Zweifel am Nutzen der Veranderung der
Unterrichtspraxis
Zum Zeitpunkt der Gruppendiskussion war noch nicht klar, zu welchen Konsequenzen die Zweifel an der Wirksamkeit der Unterrichtsveranderung fiihren wiirden. In einer spateren Stelle im Transkript diskutieren die Lehrerinnen jedoch, welche Folgerungen moglich bzw. iiblich sind:
Fr. Till
<Fr. Till <Fr. Wosch Fr. Till
y Fr. Till Fr. Wosch Fr. Till Fr. Wosch <Fr. Till
<Fr. Wosch
Passage 2 / Gruppe STW (Fr. Sare, Fr. Till, Fr. W osch)
also ich denk . auch gerade vorhin in der Pause ham wir eben auch gerade dadriiber gesprochen so was einzelne von uns tun um irgendwie so - Druck auch abzubauen oder so . man kommt immer wieder dazu sich auch zu iiberlegen wieviel das eigentlich bringt \ ob . diese - Materialschlachten des - freieren - Unterrichtens mit Auswahlaufgaben und so (3 sec.) und (unverstandlich) iiberlegt eben auch wieder. sagt eben auch
ob das wirklich effektiver iss. hmm nee also . da hat se eben immer bis um zwOlf gesessen mit Vorbereiten und jetzt macht se einfach mal norrnalen Unterricht seit es ihr schlecht ging und . sie merkt och ja tacht Idas geht ja auchl und sie hat nich - weiB nich mal ob sie wirklich weniger lemen ne / mm also es immer so . mhm tacht ein bisschen ja dann iss man wieder unzufrieden und buttert unheimlich rein und macht ganz viel . und merkt -
ja mir gehts dann auch d - so dass ich sehe inner Parallelklasse sind die eigentlich schon weiter als - ah - ich
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jetzt mit denen bin - und dann hab ichs Gefiihl die ham auch das was sie gemacht haben das konnen die eigentlich auch viel besser als die Kinder mit denen ich arbeite wo ich aber denke - es iss eigentlich offener und so sollte es sein und so weiter und so fort da denk ich dann auch nee wozu machst du das eigentlich \
In dem Pausengesprach, auf das Fr. Till verweist, haben sich die Beteiligten dariiber verstandigt, es sei stets zu bedenken, in welchem Verhaltnis der Vorbereitungsaufwand fur den geOffneten, schulerorientierten Unterricht zu dessen Vorteilen stehe. Fr. Till verwendet hier die Metapher der "Materialschlachten" und bezweifelt deren Effizienz. In "Materialschlachten" (dies suggeriert die Metapher) "bombardiert" der Lehrer seine SchUler mit einer Vielfalt vorgefertigter strukturierter Lernhilfen und mit unterschiedlichen Aufgabenformaten. Zum einen riskieren Lehrer durch "Materialschlachten", dass ihre "Ressourcen" verbraucht werden und ihre empfundene Berufsbelastung erheblich steigt, zum anderen scheint nicht geklart, ob mit dem "Einsatz" der "Widerstand" der Schuler gegen das Lemen tatsachlich "gebrochen" werden kann. Fr. Till ftihrt das Beispiel einer Kollegin an, die in einer schwierigen Phase den Vorbereitungsaufwand drastisch senkte und zu "normalem" Unterricht zuriickkehrte und diesen dann als durchaus praktikable Alternative zu innovativem Unterricht erlebte. Dies reflektierend generalisiert Fr. Till wie folgt: Zuerst erschOpft man sich in den Vorbereitungen eines Unterrichts, der mit den (individuellen oder kollektiven) padagogischen Ambitionen in Einklang steht, dann ist man gezwungen, zum "normal en" (lehrerzentrierten) Mathematikunterricht zuruckzukehren, erfahrt diesen zur Uberraschung eine Zeit lang als effektiv, bevor sich langsam wieder Unzufriedenheit breit macht und aIs FoIge der Vorbereitungsaufwand erheblich steigt: "iss man wieder unzufrieden und buttert unheimlich rein". Fr. Wosch erganzt, die Zweifel am Sinn der so empfundenen erhohten Arbeitsbelastung wiirden durch Leistungsvergleiche mit "normal" unterrichteten Schulklassen noch verstarkt. In dieser Passage wird deutlich, wie aus Reflexionen einzelner Lehrerinnen und einem Bericht tiber die Erlebnisse einer Kollegin diskursiv eine koIIektive Orientierung in W orte gefasst wird.
Das folgende Schaubild fasst dies zusammen:
Diffu" unzufriU Klarung der Erhohung des denheit mit dem =:> Ursachen der =:> Arbeitsaufwands UnterrichtsaIItag Unzufriedenheit
ft ~
Zufriedenheit durch Reduzierung des Ar- Zweifel am Nutzen Ausbleiben von beitsaufwands und der Veranderung der Misserfolgen bei Ruckkehr zu einer Unterrichtspraxis vergleichsweise ¢= yorher als Unzufrie- ¢=
wenig Einsatz denheit auslosend bezeichneten
Unterrichtspraxis
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Die Veranderung der Unterrichtspraxis stellt sich idealisiert (und damit von der konkreten Diskussionsgruppe gelost) als Kreisprozess dar, in dem dariiber hinaus expliziert ist, dass sich der Wandel fUr Lehrer vor all em auch als erhOhte Arbeitsbelastung ausdriickt. In diesem Zyklus des Schwankens von ZuJriedenheit und ArbeitsauJwand im Berufsalltag wird das "Zubuttern", der erhOhte Arbeitsaufwand, als Strategie beschrieben, den veranderten Einsichten iiber und Anforderungen an Mathematikunterricht zu geniigen. Unklar bleibt an dieser Stelle, ob "Zubuttern" die einzige Moglichkeit darstellt, eine Verbesserung des Unterrichts zu bewirken. "Zubuttern" scheint sich eher auf die Zunahme der Arbeitsbelastung zu beziehen, als auf ErhOhung der Unterrichtsqualitat. Zudem "reagiert" der Lernzuwachs der SchUler scheinbar zu langsam, urn die Miihen zu rechtfertigen.
Zum Zweck des Vergleichs, das heiBt vor allem auch, urn die Konturen dieses Kreisprozesses zu verdeutlichen und spater fallkontrastierend argumentieren zu konnen, wird nun der Blick auf eine zweite Untersuchungsgruppe gerichtet.
111.2 Zyklus sich entwickelnder Routinen
Das, was in der Passage 1 der Diskussionsgruppe STW als Ursache fUr Unzufriedenheit mit der Praxis des Mathematikunterrichts formuliert wurde, taucht auch im folgenden Transkriptfragment der Lehrerinnengruppe DEM auf: SchUler sollten wegen ihrer individuellen Kenntnisse, Lerngewohnheiten und -bediirfnisse nicht (mehr) im Gleichschritt unterrichtet werden, stattdessen gilt es, einen die unterschiedlichen Lernformen und das jeweilige Lerntempo beriicksichtigenden Unterricht zu gestalten. 1m Unterschied zur Gruppe STW thematisiert die Gruppe DEM dies en Punkt nicht im Kontext von Unzufriedenheit, sondern als eine prinzipielle Problematik des Grundschulunterrichts:
Fr. Eike
y Fr. Eike y Fr. Eike
Fr. Mod
Fr. Deich Fr. Eike Fr. Deich
Passage 3 / Gruppe DEM (Fr. Deich, Fr. Eike, Fr. Mor!)
also ich finde zum Beispiel die Schwierigkeit grundsatzlich jetzt in der Grundschule - dass diese Schere so weit !luseinanderklafft \ dass die Kinder immer unterschiedlicher in ihren Lernvoraussetzungen sind \ ne / ja \ das - das finde ich - drei Jahre kann manja manchmal sagen \ ne / hmm\ dass also manche Kinder dann eben schon so weit sind / die konnt ich glatt in die zweite Klasse stecken \ und andere Kinder die -(8 sec. lang reden Fr. Deich, Fr. Eike und Fr. Marl gleichzeitig) Janina war da ganz dankbar wenn sie das nochmal in Ruhe machen konnte \ ja \ ja \ muss en wir auch wirklich machen \ (unverstiindlich)
Anders als die Gruppe STW rekonstruiert die Gruppe DEM eine Entwicklung beziiglich der Lernvoraussetzungen der SchUler. Ihr Anlass fUr die Veranderung der Unterrichtspraxis wird damit sHirker als Reaktion auf sich verandernde Bedingungen denn als Ausbruch aus einer durch Unzufriedenheit charakterisierten Situation beschrieben. Zwar
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mag auch bei der Gruppe DEM Unzufriedenheit eine Rolle spielen, diese erscheint in der Passage 3 dann jedoch bereits reflektiert und der Diskurs erscheint de-emotionalisiert. 1m direkten Anschluss an diese Passage fahrt Fr. Eike fort, zu berichten, wie die Lehrerinnengruppe mit der Problematik umgeht. Dies geschieht weiterhin in einer reflektierten Art und Weise, die nahelegt, dass sich die Lehrerinnen hierzu bereits ihres kollektiven Orientierungsrahmens versichert haben.
Fr. Eike
y Fr. Eike
Fr. Marl
Fr. Marl Fr. Eike
Fr. Eike
Fr. Marl Fr. Eike
Passage 4 / Gruppe DEM (Fr. Deich, Fr. Eike, Fr. Marl)
und ich finde - das find ich auch interessant jetzt \ man - vieles find ich ja auch schrecklich / und stressig / und fiirchterlich / aber da jetzt einfach wei I es noch kein richtiges Konzept gibt / auch neue Sachen auszuprobieren \ hmm\ und nicht immer zu denken \ das muss alles jetzt schon sofort hinhauen \ beim ersten Mal / ich denke zum Beispiel als ich das erste Mal in dieser Klasse / letztes Jahr diesen Mathelehrgang gemacht hab \ . lih war das sicherlich noch nicht so ausgefeilt \ wiird ich jetzt mal vorsichtig ausdrUcken \ weil erstmal waren die ganzen Rahmenbedingungen in der Klasse liuBerst schlecht / und auch die organisatorischen Voraussetzungen mit slimtlichem Unterrichtsausfall \ und all em / und ich denke aber auch ich habe ihn (unverstandlich) noch nicht zu Hause gefiihlt \ . wusst ich nicht \ lih \ das ist ja auch sehr anders \ (2 sec.) man muss das ja-und - lih jetzt fiihl ich mich schon wesentlich sicherer \ jetzt beim zweiten Durchgang \ ne / (5 sec.) erstmal dies en Mut zu haben zum Beispiel ich hab friiher immer bis sechs gerechnet / so weit der Wiirfel ging \ ne / da hab ich so ganz viele Arbeitsbogen gehabt - weil das so anschaulich war \ und dann bis zur zehn \ dann als (unverstlindlich) \ dann hab ich erst den Zahlraum erweitert \ ist doch eigentlich auch (unverstandlich) Methode \ so - jetzt plotzlich schon bis zur zwanzig zu gehen \ da muss man selbst auch ne ganze Menge loslassen erstmal \ ehe man soweit ist \
Neue Konzeptionen aufzugreifen, das wird in diesem Ausschnitt deutlich, erfordert Mut und Selbstvertrauen. Die Bereitschaft, loszulassen, Prinzipien der Unterrichtsgestaltung zur Disposition zu stellen, gewohntes Handwerkzeug "aus der Hand zu lassen", scheint eine Voraussetzung dafiir zu sein, dass Neuerungen eine Chance gegeben wird, ihr Potenzial fUr die Verbesserung der Unterrichtspraxis unter Beweis zu stellen. Der Unterricht wird dann erst fur Verlinderung geOff net. Aber dies erfordert Mut, denn im derart geOffneten Unterricht werden Handlungsmuster von Schiilern und Lehrern
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bewusst suspendiert. Dies kann zur Folge haben, dass Unterrichtsablaufe sperriger werden. Die im Unterricht Handelnden, Lehrer wie SchUler, benotigen Zeit, sich an die veranderte Praxis anzupassen sowie neue Handlungsmuster zu generieren und zu etablieren. Das bedeutet auch, dass konzeptionelle Neuerungen nicht sofort zu einer Verbesserung der Unterrichtspraxis fUhren, da sie erst langsam in diese eingepasst beziehungsweise "ausgefeilt" werden. Gewohnte Handlungsmuster sind geschliffen, Veranderungen zunachst sperrig. Ob beim Ausfeilen starker die neue Unterrichtskonzeption verandert wird oder der Unterricht, scheint vom Mut der Praktiker abzuhangen, sich von der gewohnten Praxis zu distanzieren: "loszulassen". Denn Einpassung erfolgt auch dann, wenn Neuerungen nur oberflachlich integriert werden, ohne wesentliche Aspekte der Handlungspraktiken von Schiilem und Lehrem zu verandem. Vermutlich muss man sich mit Veranderungen zuerst "nicht zu Hause" fUhlen, weil sonst die Gefahr droht, dass die wesentlich neuen Momente nicht deutlich und Handlungsmuster nicht modifiziert werden.
Die Lehrerinnengruppe DEM diskutiert das Thema der Veranderung und Veranderbarkeit des Mathematikunterrichts unter dem Gesichtspunkt des Wandels von Routinen. Fiir sie stehen Neuerungen und Routinen in einem antagonistischen Verhaltnis. Dieses stellt sich so dar, dass Veranderung zwangslaufig die Aufgabe bestimmter Routinen erfordert. 1edoch benotigen Lehrer Mut zur Neuerung, denn sie verlassen den Bereich der gewohnten Handlungsmuster - auch, wenn sie weiterhin auf der Grundlage eines Schulbuchs unterrichten. Konnen Schiiler und Lehrer nicht mehr auf der Basis von gemeinsam als giiltig akzeptierten Normen und gegenseitigem, unausgesprochenem Einverstandnis interagieren, so entstehen zwangslaufig Deutungsdivergenzen, die zu Konflikten ftihren konnen. Diese Divergenzen sind fUr Lehrer umso bedrohlicher, als sie sich selbst auf der Suche nach neuen Handlungsmustem sehen. Der Unterricht wird in solchen Momenten als sperrig geschildert, da Routinen, die sonst dafUr sorgen, dass potenziell Neues als Bekanntes subsumiert wird (Soeffner 1989), fehlen. Das Sperrige bleibt als solches vorerst bestehen. Erst langsam, im vorliegenden Fall vom einen zum anderen Schuljahr, werden neue Routinen ausgebildet, die die alten ersetzen. Dies deckt sich mit Ergebnissen von Paul & Yolk (2002), die, zehn 1ahre Lehrerfortbildung in der Umweltbildung auswertend, eine Zeitspanne von zwei bis drei 1ahren als notwendig fUr die Ausbildung neuer Routinen ansehen.
Dieser Prozess der Weiterentwicklung professioneller Routinen kann ebenfalls in der Form eines Kreisschemas zusammengefasst werden, das im Folgenden als Zyklus sich entwickelnder Routinen bezeichnet wird:
Von Routinen bestimmte Unterrichtspraxis
~
Allmahliche Ausbildung neuer Routinen / Allmahlich sich einstellende Zufriedenheit
=>
¢=
Aufgabe bestimmter Routinen / Einlassen auf Neues
~
Erfahrung sperrigen Unterrichts / Partielle Unzufriedenheit mit der
U nterrichtspraxis
Exzeptionalitat und Alltaglichkeit 163
Die Phase des Zyklus, in der allmiihlich Routinen ausgebildet werden und in der sich langsam Zufriedenheit mit der veriinderten Unterrichtspraxis einstellt, kann als die Zeitspanne interpretiert werden, die Lehrer zu einer Bewertung der Neuerung benotigen und in der sie diese Neubewertung der Praxis internalisieren. Die Allmiihlichkeit dieses Vorgangs verweist darauf, dass solche Bewertungen als vergleichsweise stabile Konstrukte zu betrachten sind.
111.3 Vergleich der heiden Zyklen
Vergleicht man den Zyklus des Schwankens von ZuJriedenheit und Arbeitsaufwand mit dem Zyklus sich entwickelnder Routinen, so kann festgestellt werden, dass im zweiten Zyklus ein Prozess dargestellt ist, der zu einer wirksamen Erneuerung des Mathematikunterrichts fiihrt, wiihrend dies fiir den ersten Kreisprozess zweifelhaft erscheint. Bedeutsam scheint zu sein, mit welchen Worten, in welchen Kategorien die jeweiligen Diskussionsgruppen die Veriinderung der mathematischen Unterrichtspraxis beschreiben. Fiir die Gruppe STW stellen Unterschiede in der Zufriedenheit mit dem Unterrichtsalltag sowie der Arbeitsbelastung die herausragenden Aspekte dar. Fiir die Lehrerinnen DEM hingegen sind die Verfiigbarkeit von Routinen und die daraus resultierende Unsicherheit bzw. Sicherheit zentral. Sie akzeptieren somit, dass der Mathematikunterricht alternierend als "sperrig" und "ausgefeilt" empfunden wird. Es gibt letztendlich keinen optimalen Unterricht, keine "best practice", sondern eine moglichst kontinuierliche Weiterentwicklung, und es wird immer wieder notig sein, Zeiten der Unsicherheit und Fragilitiit zu ertragen. 1m Gegensatz dazu scheint aus dem Zyklus des Schwankens von ZuJriedenheit und Arbeitsaufwand zu folgen, dass guter Unterricht lediglich eine Frage des Arbeitsaufwands ist: Wenn nur iiber geniigend Vor- und Nachbereitungszeit pro SchUler verfiigt wiirde, lieBe sich ein optimierter Mathematikunterricht realisieren.
111.4 Weitere Analysen Welche Anforderungen stellen Erneuerungsprozesse an Lehrergruppen, die die Praxis ihres Mathematikunterrichts veriindern mochten? Welche (kognitiven, sozialen und psychischen) Bedingungen sind fiir erfolgreiche Erneuerung giinstig? Moglicherweise benotigen Mathematiklehrer auch in der Grundschule vor aHem ein solides fachliches und stoffdidaktisches Wissen, urn neuartige Unterrichtskonzeptionen einschiitzen und sinngemiiB umsetzen zu konnen. Forschungsliteratur zum professionellen Wissen von Lehrern legt diese Vermutung nahe (Bromme 1994, Marks 1990, Shulman 1986) und auch die kollektiven V orstellungen der diskutierenden Lehrerinnen weisen in dieselbe Richtung:
Fr. Wosch
y Fr. Wosch
Passage 5 / Gruppe STW (Fr. Sare. Fr. Till. Fr. Wosch)
wobei ich aber auch da denke dass es bei vielen - n Problem iss dass die seIber in er Mathematik iih nich firm sind also nichjetzt ebend Beweise konnen oder so aber so den logischen Aufbau der Mathematik seiber nich beherrschen \ mhm. und dass von daher auch ne Unsicherheit iss was - was iss jetzt eigentlich in den unteren Klassen wichtig
164 Uwe Gellert
Fr. Wosch, stelIvertretend ftir die Lehrerinnengruppe STW, umreiBt, tiber welche Wissensbausteine Lehrer verfiigen sollten, urn neue Unterrichtskonzeptionen einschatzen zu konnen. Dazu gehoren fachwissenschaftliche Kenntnisse tiber den Aufbau der Mathematik, die fachdidaktische Konsequenzen besitzen. Ohne diese frilIt es schwer, das Wagnis der Emeuerung einzugehen. Dies scheint umso mehr zu geiten, als, wie aus der nachsten Passage ersichtlich, Freude an Mathematik und Erfolg im Mathematikunterricht eng verkntipft werden:
Fr. Wosch
Fr. Till <Fr. Wosch <Fr. Sare Fr. Wosch Fr. Till
Fr. Wosch Fr. Till Fr. Wosch Fr. Till Fr. Sare <Fr. Till <Fr. Wosch
Passage 6 I Gruppe STW (Fr. Sare, Fr. Till, Fr. Wosch)
und das iss ebend auch eher so wie du sagst du mochtest Mathe nie und im Rechnen - haste immer Probleme gehabt \ da . denk ich wenn die Lehrer seIber keinen Sp - SpaB dran haben hm so und an solchen \ Denkschulaufgaben und so dann funktioniert
ich finde das iss auch schwierig das im Unterricht nich aber die nehmen auch nich son Buch \ die ham da vie I zu viel Schiss vor \ Leute die Mathe unterrichten I unverstandlicher Laut naja. werden die dann wieder Schulbuch X nehmen \ naja bloB. wenn se damit tacht Ibesser klarkommen II naja bloB naja (unverstandlich) Schulbuch-X-Diskussion lacht tach!
Diese Passage istdurch eine besonders hohe interaktive Dichte charakterisiert. Dementsprechend kann ihre Kemaussage nur per Synthese unterschiedlicher Redebeitrage rekonstruiert werden, sinngemaB: "Wenn Lehrer selbst keinen SpaB an Mathematik haben, werden sie das neue Schulbuch nicht verwenden, denn dazu haben sie zuviel Schiss." Hier mischt sich anscheinend die Angst vor der Aufgabe gewohnter Handlungspraktiken mit der Befiirchtung, nicht tiber ausreichende mathematische und mathematikdidaktische Kenntnisse zu verfiigen. Die Akzeptanz des neuen Schulbuchs wird demnach schon dadurch verhindert, dass es einen Teil der Lehrer nach deren Einschatzung tiberfordert (zumindest Fr. Sare und Fr. Wosch gehoren nicht dazu) und nicht angemessen an die Handlungspraktiken erfahrener Lehrer anschlieBt.
Dies ist als ein generelles Problem von Neuerungen erkannt; hier wird damber hinaus ein Dilemma deutlich: Wie kann iiberhaupt eine interaktive An- und Einpassung der Neuerung an und in die Handlungspraxis evaluiert werden, wenn es einem GroBteil der Praktiker moglich ist, sich der neuen Unterrichtskonzeption vollkommen zu verschlieBen (zumal hier nicht Arroganz, sondem unterschwellige Angst, nicht ausreichend qualifiziert zu sein, im Spiel ist)? Stellt der Ablauf "kein besonderer Schulerfolg im Mathematikunterricht - kein SpaB an Mathematik - kein Mut, Mathematik anders zu unterrichten - Verharren bei gewohnten Handlungspraktiken" eine Zwangslaufigkeit dar? Anscheinend erlaubt sich nur derjenige die latente diffuse Unzufriedenheit mit dem
Exzeptionalitat und Alltaglichkeit 165
alltaglichen Mathematikunterricht einer Kliirung zu unterziehen, der aufgrund mathematischer Kenntnisse geniigend Selbstvertrauen dazu besitzt.
Dieser vermeintlichen Zwangsliiufigkeit kann mit der Interpretation zweier Pas sagen aus der Diskussion der Lehrerinnengruppe DEM begegnet werden, bei der deutlich wird, dass der Riickzug auf gute mathematische Kenntnisse als conditio-sine-qua-non fUr professionelle Entwicklung ungerechtfertigt ist.
Fr. Eike Fr. Morl Fr. Deich <Fr. Eike
<Fr. Deich
Fr. Eike Fr. Deich <Fr. Eike <? Fr. Eike
Passage 7 / Gruppe DEM (Fr. Deich, Fr. Eike, Fr. Morl)
belustigt lich kann auch kein Mathe I aber -ich hatte auch immer ne fiinf\ ich war auch nicht gut in Mathe' lacht aber jetzt lem ichs langsam 'jetzt machts mir SpaB 'aber (unverstiindlich) jetzt hab ich endlich iih irgendwie son Zugang zu gekriegt , aber ich hatte die falschen Lehrer anscheinend , wahrscheinlich , ich auch , wahrscheinlich , es gibt ja nur - wer schon Mathe studiert' (unverstiindlich) .
(unverstiindlich) die Miidchen - die meisten Miidchen fanden Mathe blod , oder die die Mathe gut fanden . waren doch die letzten Liesen , oder / inner Klasse' Geliichter
Und, an anderer Stelle:
Fr. Eike
Fr. Morl Fr. Eike
Passage 8 / Gruppe DEM (Fr. Deich, Fr. Eike, Fr. Morl)
an sich ja hat Mathematik immer eher - auch fiir mich als Schiilerin son negativen Anstrich , und fiir meine Tochter ja iihnlich , . iih lacht (unverstiindlich) ich hab jetzt auchjetzt richtig Lust' dieser dieses Mathebuch macht mir richtig Lust und SpaB , mich damit zu beschiiftigen , und ich denke wenn mir das SpaB macht dann - kann ich das ja auch weitertragen , ne /
Es ist demnach moglich, Mathematikunterricht in der eigenen Schulze it als freudlos und Mathematik als uninteressant und trocken empfunden zu haben, aber dennoch geniigend Selbstvertrauen und Engagement zu entwickeln, urn eigenstiindig zu einer Veriinderung der Unterrichtspraxis zu gelangen. Letzteres bewirkt, dass Mathematik und Mathematikunterricht aus einem neuen Blickwinkel wahrgenommen werden. Dabei veriindert sich nicht nur die Unterrichtspraxis positiv, vielmehr iindert sich auch das Verhiiltnis zu Mathematik, es wird neu bewertet. Vermutlich wirkt diese Neubewertung wiederum auf die Art, Unterricht zu gestalten, zuruck.
166 Uwe Gellert
Dies deutet darauf hin, dass die verschiedenen Zyklen, die bei Prozessen der gezielten Veranderung des Mathematikunterrichts durchlaufen werden k6nnen, nicht schon von Erfolgs- und MisserfoIgserlebnissen der Lehrer aus ihrer Zeit als Schiiler entschieden werden. Stattdessen kann an dieser Stelle die Hypothese formuliert werden, die unterschiedliche Bereitschaft, sich aus der sicheren Welt der Routinen ein Stuck weit herauszuwagen, und vor aHem auch die Einsicht in eine so1che Notwendigkeit, seien richtungsweisend dafiir, in we1chem MaB innovativ die Unterrichtspraxis letztendlich verandert wird. Denn nur dann, wenn die Oberflache des Unterrichts durchstoBen wird und vertraute Handlungsmuster bewusst zur Disposition gestellt werden, kann eine Weiterentwickiung von Routinen und somit eine Vergr6Berung des Handlungs- und Deutungsspieiraums stattfinden.
IV Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse Zusammenfassend werden die Ergebnisse explizit auf die beiden eingangs gestellten Fragen bezogen:
Wie exzeptionell oder gewohnlich stellen sich Veriinderungsprozesse for Mathematiklehrer dar?
Yom mikrosoziologischen Standpunkt aus werden Exzeptionalitat und Gewohnlichkeit ais Qualitaten von Veranderungsprozessen konfiguriert, die von den Protagonisten dieser Prozesse selbst verliehen werden. Solche Qualitatszuschreibungen konnen hochstens mittel bar von Innovationsplanem beeinflusst werden. 1m Schulalltag sind es vor allem Lehrer, die entscheiden, ob Veranderungsprozesse einen eher gewohnten oder exzeptionell en Charakter annehmen. Aus den beiden als Zyklen idealisierten Veranderungsprozessen foIgt dazu Unterschiedliehes, das im Wesentliehen von der Art und Weise abhangt, wie Mathematiklehrer ihren Unterrieht neu zu gestalten versuehen.
1m Zyklus des Schwankens von Zufriedenheit und Arbeitsaufivand ist die Veranderung der Praxis des Mathematikunterriehts gleichzeitig ein alltagliches und ein exzeptionelles Phanomen. Einerseits ist die Klarung der Ursachen von Unzufriedenheit exzeptionell, andererseits scheint der Gesamtzyklus routiniert durchlaufen zu werden. Es gehort eben zum Berufsalltag, mal "zuzubuttem" und sich dann wieder "zuriiekzuziehen". Der Zyklus sich entwickelnder Routinen hingegen kann als Typus charakterisiert werden, in dem das Exzeptionelle langsam zur Gewohnheit wird. In ihm wird langerfristig auf berufliche Routinen verzichtet und erst allmahlich werden neue ausgebildet. Damit werden def Unterricht und das Lehrerhandein voriaufig als defizitar in Kauf genommen. In einem Veranderungsprozess zu steeken, erhiilt gleichsam den Status eines alltaglichen Phanomens. Es gehOrt dann zum Lehreralltag, einen bestimmten Teil der Berufspraxis innovativ umzugestalten. Da dies jedoch vermutlieh jeweils nur in einem begrenzten Bereich moglich ist, etwa im Mathematikunterricht, bleibt die Exzeptionalitat erhalten.
Welche Anforderungen s,teUen Erneuerungsprozesse an Lehrer?
Ein wesentliches Ergebnis dieser Studie besteht darin, dass die These von der Zwangslaufigkeit sich perpetuierender schlechter Erfahrungen mit Mathematikunterricht relativiert wurde: MisserfoIgserlebnisse von Lehrem aus ihrer Zeit als Schuler verhindem anscheinend keine selbstandige professioneHe Entwicklung. Ais bedeutsamer erscheinen
ExzeptionaliUit und Alltaglichkeit 167
die Einsicht in die Notwendigkeit von Veranderung sowie die Bereitschaft, Routinen infrage zu stellen, da es im Kern darum geht, ob Routinen aktualisiert oder konserviert werden.
In den Gruppendiskussionen wurde vor allem geauBert, man brauche Mut und eine gehorige Portion Selbstvertrauen. 1m Kontext von Schule und professioneller Lehrertatigkeit steht dies in einem essentiellen Zusammenhang mit dem Begriff der Autonomie: Urn den professionellen Alltag autonom gestalten, also selbsUindig die ihn leitenden Handlungsmuster regulieren zu konnen und nicht vor Selbstregulierung zuriickzuschrecken, sind Mut und Selbstvertrauen notig. Abrantes (2001) spricht in diesem Zusammenhang von einem Spannungsverhaltnis, in dem Autonomie und Handlungssicherheit gesehen werden miissten. Diesem kame stets dann eine besondere Bedeutung zu, wenn die Handlungsprozesse von Lehrern Veranderung unterworfen wiirden.
Autonomie von Lehrern kann so gefasst werden, dass Lehrer Deutungs- und Handlungsalternativen wahrnehmen und selbstandig zu Bewertungen dieser Alternativen kommen konnen, und zwar vor allem auch im gemeinsamen Austausch mit der ,community of teachers', zu der sie sich verpflichtet flihlen. Dies ist freilich nur moglich, wenn das jeweilige Schulsystem Autonomie von Lehrern und Lehrergruppen (hier aber nicht unbedingt von Schulen) fOrdert. Derart mit Autonomie versehene Lehrer konnen ihre Routinen kontrollieren. Sie treffen bewusst Entscheidungen iiber Kooperation mit Kollegen und gehen so wechselseitige Biindnisse - Communities - ein, die ihnen helfen konnen, Distanz zu den eigenen Routinen zu halten, und die gleichzeitig auch Handlungssicherheit schaffen konnen. Ergebnis solch kooperativer kollegialer Beziehungen sind stets gemeinsam geteilte Orientierungen, die gleichzeitig AnstoB flir Veranderung und Riickhalt in Veranderungsprozessen darstellen.
Daraus lasst sich auch folgern, dass die Bereitschaft, sich kollektiv mit dem Mathematikunterricht auseinander zu setzen, das heiBt eine Gruppe zu bilden, die als gemeinsames Bezugsthema den Mathematikunterricht festiegt, von erheblicher Bedeutung ist (vgl. Lachance & Confrey 2003, S. 132f.). Dies gilt insbesondere dann, wenn es nicht nur urn individuelle professionelle Entwicklung, sondem urn die an einer Schule vorherrschende Kultur von Mathematikunterricht geht.
Folgerungen
In der Gegeniiberstellung der beiden Entwicklungsprozesse dieser Studie spiegeln sich Unterschiede im begrifflichen Verstandnis von Innovation wider. Wo "best practice" als Leitvorstellung maBgebend ist, geht es tendenziell darum, durch Innovation und/oder Intervention eine als "defizitar" bewertete Praxis moglichst schnell durch eine Idealvorstellung von ihr zu ersetzen. Innovation von mathematischer Unterrichtspraxis wird dabei als statisch verstanden, da Veranderung in diesem Fall stets eine zeitlich begrenzte MaBnahme bleibt. Wo hingegen professionelle Entwicklung als ein kontinuierlicher Vorgang gedacht wird, liegt ein dynamisches Verstandnis von Innovation vor.
Es erscheint dann problematisch, sollte in Innovationsprojekten oder mit organisatorischen MaBnahmen der Eindruck vermittelt werden, Mathematiklehrer miissten sich lediglich der neuesten Mittel und Konzeptionen bedienen und damit leicht und in Kiirze eine Verbesserung der Unterrichtspraxis erreichen. Denn dies iibersieht, dass wirkliche Erneuerung, wie im Zyklus sich entwickelnder Routinen realisiert, stets mit der zeitweisen partiellen Abgabe von Handlungssicherheit verbunden ist. Auf der individuellen
168 Uwe Gellert
psychologischen Seite erfordert dies Selbstvertrauen und Mut. Dies sind be ides Kategorien, die im Rahmen von Lehrerbildung und Schulentwicklung Stiitzung erfahren k6nnen: Erstens griindet sich berufliches Selbstvertrauen nicht zuletzt auf die durch die professionelle Ausbildung erworbene und durch den Berufsstatus abgesicherte Autonomie. Dazu kann gehOren, Mathematiklehrer schon wahrend ihrer Studienzeit verstarkt darauf vorzubereiten, dass kontinuierliche berufliche Fortbildung einen Teil dieser Autonomie und der alltaglichen Berufspraxis darstellt. Zweitens sollten sich Forrnen der Zusammenarbeit und gemeinsamen systematischen und (selbst-)kritischen Reflexion von Lehrern (Altrichter & Krainer 1996), auch gemeinsam mit angehenden Lehrern und ihren Ausbildnern (Jaworski & Gellert 2003), finden lassen, die die Suspendierung von Handlungssicherheit und die darin enthaltene Exzeptionalitat und Bedrohung auffangen. Diese Erkenntnis geht iiber die von Clarke, Clarke & Sullivan (1996) formulierte Einsicht hinaus, erfolgreiche Innovationsprojekte zeichneten sich dadurch aus, dass den beteiligten Lehrern geniigend Zeit gelassen werde. Aus der mikrosoziologischen Perspektive der vorliegenden Studie wird der Schluss gezogen, dass vor allem die Zeit, die sich Lehrer nehmen, fUr Veranderung wichtig ist und nicht nur die, die ihnen von Innovationsplanern zugestanden wird.
Dank Fur wertvolle konstruktive Kritik an einer friiheren Version dieses Beitrags bedanke ich mich bei Konrad Krainer. Dank gebuhrt nicht zuletzt auch der Alexander von HumboldtStiftung, die mir mit der Verleihung eines Feodor-Lynen-Forschungsstipendiums einen einjiihrigen Aufenthalt in Santiago de Chile errn6glichte, eine Zeit, in der die Rohfassung dieses Beitrags entstand.
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Anhang: Transkriptionslegende I. SpaJte:
2. Spalte:
Hier sind die (geanderten) Namen der aktiv an der Diskussion Beteiligten verzeichnet (Y ist der Diskussionsleiter). Bei einer Redeiiberschneidung der Aul3erungen ahnelt die Schreibweise der von Partituren in der Musik; die parallel zu lesenden Zeilen sind vor den Namen durch spitze Klammern «) gekennzeichnet.
Sie enthalt die verbalen Aul3erungen und die paraverbalen Informationen. Folgende paralinguistische Sonderzeichen finden Verwendung:
Exzeptionalitat und Alltaglichkeit
/ \
(unverstiindlich)
Heben der Stimme Senken der Stimme Stimme bleibt in der Schwebe Passage kann nicht rekonstruiert werden Pause von einer Sekunde Liinge Pause mit Angabe der Dauer
171
(3 sec.) tacht I I
fett paraverbale Information mit Angabe von Beginn und Ende lauter
Anschrift des Autors Uwe Gellert Freie Universitiit Berlin FB Erziehungswissenschaft und Psychologie AB Grundschulpiidagogik Habelschwerdter Allee 45 14195 Berlin e-mail: ugellert@zedat.fu-berlin.de