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perspektive 21Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik
www.perspektive21.de Heft 17 • Dezember 2002
+ 4,6 %
SPDPDS
-4,8 %
OstdeutschlandBundestagswahl 22. September 2002
Foto: Christian Fischer/ddp
weber Hebbelstraße 39, 14469 PotsdamTel. 0331-2008722, Fax 0331-2008724, Mail: info@weber-medien.de
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Tobias Kaufmann/Manja Orlowski (Hg.)
„Ich würdemich auch wehren...“
Antisemitismus und Israel-Kritik –Bestandsaufnahme nach Möllemann
160 Seiten, Paperback, ISBN 3-936130-04-3, 12,80 €
Die Bestandsaufnahme namhafter Autoren in diesem Buch wirft Schlag-lichter auf die wichtigsten Teile der Möllemann-Debatte, sie erklärt Hin-tergründe und Zusammenhänge, ohne wissenschaftlich abstrakt zu wer-den und sie ist eine klare Meinungsäußerung gegen antisemitischenPopulismus. Spätestens nach Möllemanns Ausspruch, Israels Ministerpräsident Scharonund der jüdische Journalist Michel Friedman selbst förderten Antisemitis-mus, werden sich viele Juden in diesem Land gewünscht haben, einegrößere Zahl ihrer nicht-jüdischen Mitbürger hätte ihnen ermutigendzugerufen: „Ich würde mich auch wehren“. Dieses Buch soll nicht zuletztso ein Zuruf sein.
„Das Echo, das Möllemann mit seinen Anwürfen gegen Paul Spiegel undMichel Friedman erzeugt hat, ist nach wie vor enorm. Porzellan ist zer-schlagen worden, und zwar mutwillig und vorsätzlich. Das Vertrauenwieder herzustellen, wird deshalb nicht einfach sein.“
Julius H. Schoeps
Vorwort 3
ThemaManfred Güllner 5Die PDS ohne Zukunft?
Albrecht von Lucke 11Das Verschwinden der PDS
Thomas Falkner 15Sozialisten im Abseits?
Gero Neugebauer 29Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002
Klaus Ness 39Verrückte Welt in Potsdam?
Lars Krumrey 49„Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“
Christian Maaß 57Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche
Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest
MagazinMordechay Lewy 67Orient und Okzident: Zwischen Schuldzuweisung und Schuldbekenntnis
Klaus Faber 81Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung – europäische und
amerikanische Orientierungsprobleme gegenüber Nationalitätenkonflikten
Inhalt
Ende der Nachwendezeit.PDS am Ende?
Impressum
2
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HerausgeberSPD-Landesverband Brandenburg
RedaktionKlaus Ness (ViSdP)
Benjamin Ehlers
Klaus Faber
Klara Geywitz
Lars Krumrey
Christian Maaß
Manja Orlowski
Silke Pamme
AnschriftFriedrich-Ebert-Straße 61
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„Zwölf Jahre nach der Wiedergrün-dung des Landes Brandenburg ist dieNachwendezeit abgelaufen. Die Zeit istzu Ende, die gekennzeichnet war durchden dramatischen Umbruch des Jahres1989 und seine Folgen.“
Ein Satz aus der ersten Regierungser-klärung des brandenburgischen Mini-sterpräsidenten Matthias Platzeck ausdem November 2002, der – wenn erzutrifft – einen historischen Einschnittmarkiert. Vieles spricht dafür.Wie zu sei-ner Illustration ist einen guten Monatvorher mit der PDS die Partei nicht wie-der in den Bundestag eingezogen, diedie Probleme der Nachwendezeit arti-kulierte und aus ihnen ihre Existenzbe-rechtigung, ihren „Gebrauchswert“ fürdie Menschen in Ostdeutschland, zog.
Profitiert vom Scheitern der PDS hatim Osten – und letztlich in Gesamt-deutschland – die SPD. Rotgrün unterGerhard Schröder kann weiter regieren.Ein Ergebnis, das Beobachter noch gutzwei Monate vor dem Wahltag nicht fürmöglich gehalten haben.
Im Schwerpunkt dieses Heftesbeschäftigen wir uns deshalb mit derFrage, ob das Ergebnis des 22. Septem-ber insbesondere im Osten Deutsch-lands auf der Linken eine Entscheidungim Parteienwettbewerb gebracht hat.Ist die PDS endgültig ein Aus-
laufmodell? Ist die SPD jetzt die einzigePartei, die im Osten strukturell mehr-heitsfähig ist? Oder kommt doch wiedereinmal alles ganz anders?
Gleich vier Autoren befassen sich ausunterschiedlicher Perspektive mit denZukunftschancen der PDS. Der Mei-nungsforscher Manfred Güllner siehtfür die PDS nur noch eine mittelfristigePerspektive als Regionalpartei auf kom-munaler und (ostdeutscher) Landes-ebene, der Publizist Albrecht von Luckegeht davon aus, dass die auf dem PDS-Parteitag in Gera unterlegenen Refor-mer auf lange Sicht ihre politische Hei-mat in der SPD finden werden. ThomasFalkner, bis zur Bundestagswahl ein-flussreicher Grundsatzreferent beimPDS-Parteivorstand, kommt in seinemdifferenzierten und anregenden Beitragzu dem Schluss, dass es in der PDSgegenwärtig eine Renaissance einesNeokommunismus gibt, der die Parteiendgültig ins Abseits bringt.
Der Politikwissenschaftler Gero Neu-gebauer, langjähriger Beobachter derPDS, knüpft an die Frage des „Ge-brauchswertes“ der Partei für die Wäh-lerinnen und Wähler an. Er geht davonaus, dass die Bedingungen, die denErfolg der PDS in der ersten Hälfte der90er Jahre begünstigt haben, erloschenund nicht rekonstruierbar sind. Der
Vorwort
3
Liebe Leserinnen und Leser der „Perspektive 21“!
4
neue Zweck der PDS ist (noch?) nichterkennbar. Abgerundet wird dieserBereich durch eine Studie über die Ver-änderung des Wahlverhaltens in derPDS-Hochburg Potsdam zwischen 1990und 2002, die einige Thesen dergenannten Beiträge illustriert.
Lars Krumrey und Christian Maaßwenden sich in ihren Beiträgen derFrage zu, was und wie die SPD im Ostenetwas aus ihren neuen Chancen nachdem Wahlfiasko der PDS machen kann.In ihren Beiträgen schimmert an ver-schiedenen Stellen die Debatte durch,was denn nun eigentlich auf die Nach-wendezeit folgt.
Ist die Zeit des Nachahmens desWestens vorbei? Folgt jetzt ein neuesostdeutsches Selbstbewusstsein? Wirdder Osten, werden die Ostdeutschen garzur Avantgarde? Zeigen sich im Ostengesellschaftliche Entwicklungen, vondenen der Westen lernen kann, ja sogarmuss?
Fragen, die provozieren und im Au-genblick auch noch sehr viele Antwor-ten, die wieder neue Fragen aufwerfen.Aber eine Debatte, die auch von einerneuen Generation Ostdeutscher zuneh-mend selbstbewusst und ohne jeglichesJammern geführt wird. Jana HenselsErfolgsbuch „Zonenkinder“, WolfgangEnglers „Die Ostdeutschen als Avant-garde“ und andere Neuerscheinungenaus diesem Jahr illustrieren eine verän-derte gesellschaftliche Sicht aus demOsten. Christian Maaß gibt dieser Gene-ration in der SPD, die diese neue ost-deutsche Sicht einfordert, einenNamen: Zonenfunktionäre.
Nun ja, nur wer trommelt wirdgehört.
Ich wünsche auch dieses Mal eineanregende und spannende Lektüre.
Ihr Klaus Ness
perspektive 21 im InternetDie Hefte 1-6 und 8-16 sind im Internet unter www.perspektive21.deals pdf-Datei zum Download verfügbar.
Viele Wahlforscher waren sich zu
Beginn der 90er Jahre ziemlich sicher,
dass die PDS relativ schnell aus dem
Parteiensystem des wiedervereinten
Deutschlands verschwinden würde. Sie
wurde als ostdeutsche Milieupartei
eingesschätzt, die in dem Maße ihre
Existenzgrundlage verlieren würde, wie
sich das ostdeutsche Milieu aufgelöst.
Die ersten Wahlen nach der Wende
schienen diese These zu bestätigen.
Während die PDS bei der ersten freien
Wahl in der DDR, der Volkskammerwahl
im März 1990, noch fast 1,9 Mio. Stim-
men erhielt (bei einer Wahlbeteiligung
von über 93 %!), schrumpfte dieser
Stimmenanteil bei den Landtagswah-
len in den neuen Ländern im Laufe des
Jahres 1990 und der ersten gesamt-
deutschen Wahl im Dezember 1990 auf
rund 1 Mio. Stimmen. Der Stimmen-
schwund der PDS zwischen der Volks-
kammerwahl im März und der Bundes-
tagswahl im Dezember 1990 betrug 46
Prozent; d.h. die PDS verlor während
des Wiedervereinigungsprozesses fast
die Hälfte ihrer Wähler.
Doch seit Mitte der 90er Jahre konnte
von einem schnellen Verschwinden der
PDS aus der Parteienlandschaft nicht
mehr die Rede sein. So kam die PDS
bereits bei der Bundestagswahl 1994 im
Gebiet der neuen Bundesländer
(einschließlich Ost-Berlin) auf knapp 1,7
Mio. Stimmen und erreichte damit fast
ihr Potential vom März 1990. Und bei
der Bundestagswahl 1998 erhielt die
PDS mehr Stimmen (über 2 Mio.) als bei
der Volkskammerwahl 1990 (ein Stim-
menplus von 11 Prozent).
Noch bei der Abgeordnetenhaus-
wahl in Berlin im Oktober 2001 konnte
die PDS im Ost-Teil der Stadt fast
36.000 Stimmen oder 12 Prozent mehr
gewinnen als bei der Volkskammer-
wahl 1990.
Das Abschneiden der PDS bei der
Berliner Abgeordnetenhauswahl wur-
de allerdings weithin recht oberfläch-
lich interpretiert, so als habe die Hälfte
der Wahlbürger im Ost-Teil Berlins der
PDS die Stimme gegeben. Zwar hatte
die PDS in der Tat 47,6 Prozent der
abgegebenen gültigen Stimmen er-
reicht, doch bei einer Wahlbeteiligung
von rund 64 Prozent waren dies bezo-
gen auf alle wahlberechtigten Ost-Ber-
liner nur 30,3 Prozent. D.h. 70 Prozent
5
Die PDS ohne Zukunft?von Manfred Güllner
der Ost-Berliner gaben auch im Okto-
ber 2001 ihre Stimme nicht der PDS.
Dennoch konnte die PDS noch im
Herbst 2001 darauf hoffen, dass sie ihr
durch die Volkskammerwahl 1990 bei
einer extrem hohen Wahlbeteiligung
markiertes Wählerpotential weiterhin
nicht nur ausschöpfen, sondern weiter
ausbauen könnte.
Dies aber geschah bei der Bundes-
tagswahl am 22. September 2002 nicht.
Die PDS erhielt in den neuen Ländern
(einschließlich Ost-Berlin) weniger als
1,5 Mio. Stimmen. Das waren 580.000
Stimmen weniger als bei der vorherge-
henden Bundestagswahl im September
1998. In vier Jahren ging der Stimmenan-
teil der PDS somit um 28 Prozent zurück.
Der Wählerschwund der PDS zwi-
schen 1998 und 2002 fiel dabei in den
einzelnen neuen Bundesländern
unterschiedlich aus: Den größten
Rückgang gab es in Mecklenburg-Vor-
pommern mit einem prozentualen
Verluste von 39 Prozent, den gering-
sten in Brandenburg mit 19 Prozent.
Ein Blick auf die längerfristige Entwick-
lung der PDS-Anteile zeigt ebenfalls
deutliche Unterschiede zwischen den
einzelnen neuen Ländern. So ging der
PDS-Anteil in etwas mehr als einem Jahr-
zehnt zwischen 1990 (Volkskammer-
wahl) und 2002 (Bundestagswahl) in den
neuen Bundesländern insgesamt
(einschließlich Ost-Berlin) um 20 Pro-
zent zurück. Dabei war wiederum in
Mecklenburg-Vorpommern mit einem
Rückgang von 47 Prozent der größte
Wählerschwund der PDS zu verzeichnen.
In Thüringen hingegen lag der Stimmen-
anteil der PDS 2002 entgegen dem allge-
meinen Trend sogar über dem von 1990.
Wählerschwund der PDS zwischen 1998 und 2002 *)
neue Länder insgesamt (einschließlich Ost-Berlin) - 28 %
Mecklenburg-Vorpommern - 39 %
Sachsen-Anhalt - 38 %
Thüringen - 27 %
Sachsen - 27 %
Brandenburg - 19 %
Ost-Berlin - 23 %
*) Prozentualer Rückgang der PDS-Stimmen bei der Bundestagswahl 2002 im Vergleich zur
Bundestagswahl 1998
Manfred Güllner
6
Auffällig ist, dass das Potential von
PDS-Wählern in den beiden CDU-
dominierten Ländern Sachsen und
Thüringen im letzten Jahrzehnt nur
leicht zurückgegangen ist (in Sachsen)
oder sogar zugenommen hat (in
Thüringen). Und während 1990 in
Mecklenburg-Vorpommern noch fast
doppelt so viele Wahlberechtigte der
PDS ihre Stimme gaben wie in Thürin-
gen, war der PDS-Anteil (auf der Basis
der Wahlberechtigten berechnet) 2002
in Thüringen und Sachsen größer als in
Mecklenburg-Vorpommern.
Der bei der Bundestagswahl 2002 zu
verzeichnende deutliche Rückgang des
PDS-Stimmenanteils in den neuen Län-
dern ist jedoch – wie schon der Hin-
weis auf das Ergebnis der Abgeordne-
tenhauswahl in Berlin 2001 zeigt – kein
langfristiger Trend, sondern eine erst
im Verlauf des Wahljahres 2002 zu
beobachtende Entwicklung.
Dies zeigt die folgende Übersicht der
von forsa seit Januar 2001 ermitelten
Wählerpotentiale für die PDS:
Die PDS ohne Zukunft?
7
Veränderungen der PDS-Anteile zwischen 1990 und 2002
PDS-Anteil*) bei der Wählerschwund **)
Volkskammer- Bundes- der PDS zwischen
wahl 1990 tagswahl- 1990 und 2002
2002
% % %
neue Länder insgesamt
(einschließlich Ost-Berlin) 15,2 12,1 - 20
Mecklenburg-Vorpommern 21,1 11,2 - 47
Sachsen-Anhalt 14,0 9,8 - 30
Brandenburg 17,0 12,5 - 27
Sachsen 12,7 11,7 - 8
Thüringen 10,7 12,5 + 17
Ost-Berlin 27,1 18,3 - 33
*) in Prozent aller Wahlberechtigten
**) Prozentualer Rückgang der PDS-Stimmen zwischen der Volkskammerwahl 1990 und der
Bundestagswahl 2002
PDS-Wählerpotential 2001/2002 *)in den neuen Bundesländern(einschließlich Ost-Berlin)
%
2001 Januar 14
Februar 14
März 14
April 13
Mai 13
Juni 15
Juli 15
August 16
September 15
Oktober 16
November 18
Dezember 17
2002 Januar 16
Februar 15
März 17
April 15
Mai 16
Juni 14
Juli 14
August 12
September 12
*) Basis: alle Befragten (monatlich wurden
ca. 3.000 Personen befragt)
Die PDS, die bei der Bundestagswahl
am 22. September von 12 von 100 Wahl-
berechtigten gewählt wurde, lag bis
zum Juli des Wahljahres in den Umfra-
gen zum Teil deutlich über diesem Wert.
So wollten auf dem Höhepunkt der Dis-
kussion um eine deutsche Beteiligung
am Kampf gegen den Terror in Afghani-
stan im Herbst 2001 bis zu 18 von 100
Befragten in den neuen Ländern der PDS
ihre Stimme geben (Die damals von der
PDS mobilisierten antiamerikanischen
Ressentiments verhalfen denn auch der
PDS zu dem großen Wahlerfolg bei der
Abgeordnetenhauswahl in Berlin Ende
Oktober 2001). Der Anteil der Befragten,
der PDS wählen wollte, sank dann ab
Mai 2002 kontinuierlich von 16 auf 12
Prozent im August und September, was
dann auch dem tatsächlichen Anteil der
PDS bei der Bundestagswahl entsprach.
Zum Rückgang der PDS-Sympathien
hat offenkundig der Rückzug von Gre-
gor Gysi aus der Politik beigetragen.
Gysi war für die Menschen in Ost-
deutschland ein Sprachrohr, das ihre
Interessen artikulierte. Und auf einen
Teil der Intellektuellen in Westdeutsch-
land übte er, nicht aber die Partei, eine
gewisse Faszination aus. Ohne Gysi
verfügt die PDS nicht mehr über ein
entsprechendes personales Symbol.
Als sich im Verlaufe des Wahlkamp-
fes die politische Diskussion auf ernst-
hafte Themen (Vorschläge der Hartz-
Kommission zur Reform des Arbeits-
marktes, Folgen der Flutkatastrophe,
Krieg im Irak) und auf die Frage fokus-
sierte, ob Stoiber mit einer schwarz-
gelben Koalition die Macht in Berlin
übernehmen oder aber doch lieber
Manfred Güllner
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Schröder mit rot-grün weiterregieren
sollte, erschien die PDS ebenso inhalts-
leer und konturenlos wie die FDP.
Zwischen PDS und SPD gab es im übri-
gen weniger Wanderungen als oft ge-
mutmaßt. forsa konnte mit einem in
Europa bislang einzigartigen internet-
basierten Erhebungsverfahren (for-
sa.omninet) im Verlauf des Wahlkamp-
fes individuelle Wählerwanderungen
nachzeichnen. Danach wanderten zwi-
schen Ende Juli und der Woche vor dem
22. September knapp 10 Prozent der PDS-
Sympathisanten zur SPD. Die SPD konnte
jedoch im gleichen Zeitraum ihren
potentiellen Wähleranteil verdoppeln.
Die Zuwanderung von der PDS hatte
daran nur einen Anteil von 2 Prozent. Die
größten Wanderungsbewegungen gab
es zwischen Ende Juli und Mitte Septem-
ber zwischen dem Lager der Unent-
schlossenen und der SPD: Rund 50 Pro-
zent des SPD-Zugewinns entfiel auf
diese Wanderungsbewegung.
Nach der Bundestagswahl gab es im
übrigen trotz des nicht optimal gelun-
genen Starts der neuen rot-grünen
Koalition in Berlin keinen Zulauf zur
PDS. Der PDS-Anteil sank im Oktober
und November sogar auf einen Wert
unter 10 Prozent aller Befragten.
Noch ist nicht sicher auszuschließen,
dass sich die PDS von dem schlechten
Abschneiden bei der Bundestagswahl
noch einmal erholen kann. Doch vieles
spricht dafür, dass nunmehr mit ent-
sprechender zeitlicher Verzögerung
eintritt, was die Wahlforscher unmit-
telbar nach der Wiedervereinigung
erwartet hatten, nämlich dass sich die
PDS allmählich aus dem Parteiensy-
stem verabschiedet. Sie wird sich ver-
mutlich auf lokaler und Landesebene
noch eine gewisse Zeit als Regional-
Partei halten können, bundespolitisch
aber dürfte sie ihre Bedeutung schon
verloren haben.
Die PDS ohne Zukunft?
9
Manfred Güllner ist Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts forsa.
11
War da was? Fast konnte man den
Eindruck haben, eine Partei verabschie-
det sich aus dem Bundestag und kei-
ner der sonst so interessierten Beob-
achter nimmt es auch nur mit dem
Anschein von Interesse, geschweige
denn mit einer Spur des Bedauerns zur
Kenntnis. Kaum war die PDS aus dem
Bundestag entschwunden, interes-
sierte nur eine Frage: wie verteilen sich
ihre Wähler zukünftig auf Sozialdemo-
kratie und Union?
Sicher, bereits 1990 und 1994 lag die
PDS klar unterhalb der 5 %-Hürde. Auf-
grund der einheitsbedingten Sonder-
regelung von 1990 und ihrer vier
Direktmandate von 1994 blieb sie den-
noch im Bundestag sichtbar vertreten,
zunächst als Gruppe, ab 1998 als Frak-
tion, und mit ihrem Vorsitzenden Gysi
auch im eigentlichen Polit-Geschäft,
sprich: auf den bequemen Stühlen von
Sabine Christiansen. Heute ist die
Situation eine gänzlich andere. Die
beiden verbliebenen Direktmandatier-
ten, Gesine Lötzsch und Petra Pau,
müssen sich in die kurzfristig aufge-
stellte allerletzte Reihe des Reichsta-
ges drücken.
Zunächst war nicht einmal ein Tisch
für die neuen Hintersassen der Sozial-
demokratie vorhanden. Ein Novum in
der Bundestagsgeschichte: Zwei Abge-
ordneten ist förmlich die Partei abhan-
den gekommen. Und das mehr als im
sinnbildlichen Sinne. Denn für wen
sprechen in Zukunft Pau und Lötzsch?
Nachdem für die Reformer desaströsen
Ausgang des Geraer Parteitages jeden-
falls keineswegs für die siegreiche Frak-
tion um Gabi Zimmer. Also Bundestags-
mandate als innere Emigration?
Vieles spricht dafür, dass es sich bei
der PDS definitiv um ein Auslaufmo-
dell handelt. Und dennoch: keinerlei
Anteilnahme, eher klammheimliche
Schadenfreude in den Medien. Ganz
anders die Szenerie, als 1990 die West-
grünen aus dem hohen Hause flogen
und fortan nur noch mit ihrer Ostfrak-
tion vertreten waren. Der anschlie-
ßende Aufschrei medialen Bedauerns
war unüberhörbar. Hohe Stimmenge-
winne bei den nächsten Landtagswah-
len folgten. Nur vordergründig liegen
die unterschiedlichen Reaktionen
darin begründet, dass die Grünen
damals mehr als überraschend aus
Das Verschwinden der PDSvon Albrecht von Lucke
12
dem Bundestag flogen, mit dem Schei-
tern der PDS hingegen zu rechnen war.
Die fehlende Resonanz belegt primär
eines: Die PDS ist bis heute nicht im
Westen angekommen – weder in der
Medienlandschaft noch mit ihrem Per-
sonal. Mit Gregor Gysi besaß die Partei
eine einzige Figur, die sich west- und
medienkompatibel zeigte. Was hätte
das Scheitern an der Westausdehnung
stärker zum Ausdruck bringen können,
als jenes Bild der geschlagenen Vierer-
bande Zimmer, Bartsch, Claus und Pau
am Abend der Wahl? Bis heute ist die
PDS ein originäres Ostprodukt geblie-
ben – daran können auch einzelne
westliche Ausreißer wie die Berliner
Senatoren Wolf und Knake-Wemer
nichts ändern, zumal sie bundespoli-
tisch vollkommen unbekannt sind.
Diese Feststellung impliziert aber ein
Zweites: Das Projekt PDS als gesamt-
deutsche Linkspartei ist offensichtlich
gescheitert und damit auch der von
Gysi und Brie verfochtene Anspruch
auf Wiederherstellung der europäi-
schen Normalität einer Linkspartei jen-
seits der Sozialdemokratie.
Die Ursachen für dieses Versagen
waren bereits im Gründungswider-
spruch der Partei angelegt: einerseits
der Wunsch, originäre Ostpartei mit
Alleinvertretungsanspruch zu sein,
andererseits der Wille zur bundesweit
agierenden sozialistischen Linkspartei.
Dieses ewige Changieren zwischen
Ost-Folklore und linkem Avantgarde-
anspruch musste letztlich schief
gehen. Der Abgang Gregor Gysis ent-
hüllte das Scheitern. Er war die einzige
Figur, die zumindest scheinbar den
Spagat zwischen Ost und West, linkem
Traditionalismus und Postmoderne
bewältigte. Mit der Übernahme des
Senatorenamtes scheiterte jedoch
auch seine Turnübung. Hierfür gebührt
Gregor Gysi Dank: Seine Fahnenflucht
hat den Blick frei gemacht für die Trost-
losigkeit der Hinterbühne.
Es ist mehr als ironisch, dass es nach
den unrühmlichen Abgängen der ein-
stigen linken Frontmänner Lafontaine
und Gysi der vormalige Sparkanzler
war, der, gerade in der Flutkatastrophe,
noch am stärksten das Ideal von Steh-
vermögen für die von Schicksalsschlä-
gen gebeutelte Notgemeinschaft ver-
körperte – und nach dem Sieg der SPD
sowie dem Ausscheiden der PDS jetzt
auch noch den Lordsiegelbewahrer
alter sozialdemokratischer Glaubens-
gewissheiten gibt.
Gründungsdilemma
Albrecht von Lucke
13
Das Verschwinden der PDS
Denn das Ausscheiden der PDS
bedeutet durchaus nicht, dass der
durch vierzig Jahre Sozialismus
geprägte Osten die Parteistrategen
nicht mehr interessiert. Das Gegenteil
ist der Fall: Der absehbare Niedergang
der PDS weckte erst wieder die Begehr-
lichkeiten gegenüber jenem Wählerre-
servoir, das die SPD nur Monate zuvor
bei den Landtagswahlen in Sachsen-
Anhalt endgültig verloren zu haben
schien. Jene Stimmanteile, die Schrö-
der im Westen wieder an die CDU ver-
lor, hat er im Osten von der PDS zurück-
gewonnen. Jetzt beginnt; der Kampf
um den Nachlass der PDS. Vier Prozent
können wahlentscheidend sein. Nur
vordergründig konnte deshalb der
neue alte Verbalradikalismus Gerhard
Schröders auf dem ersten Parteitag
nach der Wahl verwundern.
In Schröders Rhetorik war aus der
Partei der Mitte längst die Linke Mitte
geworden. Nach der Wahl ist eben vor
der Wahl. Keiner weiß das besser als
Schröder. Die vom Kanzler bei seiner
fast schon klassenkämpferischen Rede
aufgestellte Behauptung: Dieses Land
ist ein für alle Mal kein CDU-Staat
mehr, steht und fällt nicht zuletzt mit
der zukünftigen Rolle der PDS. Gelingt
es der SPD tatsächlich, die PDS langfri-
stig überflüssig zu machen und die
sozialdemokratischen Stammlande
südlich der Elbe zurückzuerobern,
könnten aus 8.800 Stimmen Vor-
sprung auf die Union wieder die dies-
mal verloren gegangenen 1,7 Millionen
werden. Die Notlösung Stolpe könnte
sich deshalb nachträglich als die rich-
tige Wahl erweisen. Wie kein anderer
verkörpert er eine Haltung von Arran-
gement mit dem alten Regime und
pragmatischer Ankunft im neuen, die
auch bei vielen PDS-Wählern Anklang
findet und in Brandenburg bereits ein-
mal mit der absoluten Mehrheit
belohnt wurde.
Während der Osten zunehmend in
die Hände von SPD und CDU überge-
hen dürfte, bleibt nach dem PDS-Des-
aster noch die Frage: Wie verhält es
sich mit dem Projekt Linkspartei? Die
kurzzeitig aufgekommenen Partei-
gründungsüberlegungen kann man
jedenfalls getrost ins Reich der Phanta-
sterei verweisen. Parteien entstehen
bekanntlich nicht am Reißbrett, son-
dern aus gesellschaftlicher Bewegung.
Folglich sind alle Pläne in dieser Rich-
tung derzeit auf Sand gebaut. Zwar ist
mit der neuen globalisierungskriti-
schen Bewegung um Attac so etwas
wie ein Lüftchen im Lande zu spüren.
Von Parteigründungsambitionen sind
die Aktivisten aus guten Gründen
allerdings weit entfernt.
Ohnehin spricht vieles für die
Annahme Niklas Luhmanns, dass die
postmaterialistischen Neugründun-
Albrecht von Lucke
14
gen der 80er Jahre den einzigen
parteifähigen Widerspruch aufgriffen,
der nicht bereits im Parlament vertre-
ten war. Einige der jetzigen Verbalradi-
kalen der neuen Bewegung dürften
deshalb mit abgekühlten Mütchen
den willkommenen Nachwuchs für
Grüne und SPD stellen. Dem gleichen
bürgerlichen Milieu entstammen sie
ohnehin.
Wenn aber in Zukunft die Ostper-
spektive bei der Parteienkonkurrenz,
der linke Universalismus bei Attac bes-
ser aufgehoben sein wird als bei der
PDS, sitzen vor allem die einstigen PDS-
Reformer endgültig zwischen allen
Stühlen. Keine guten Aussichten für
die melancholischen Mundwinkel
Andre Bries. Auf lange Sicht betrachtet
spricht vieles dafür, dass die modera-
ten Sozialisten tatsächlich mit Kanz-
lers Worten ihre „neue Heimat“ in der
SPD finden. Sozialdemokratische Poli-
tik machen die derzeit Regierenden
aus den Reihen der PDS ohnehin, ob
man nach Mecklenburg-Vorpommern
oder Berlin schaut. Reformer vom
Schlage Bries könnten in einer konzep-
tionell erschlafften SPD vielleicht
tatsächlich so etwas wie linke Anstöße
geben. Andrea Gysi, ehemalige Bun-
destagsabgeordnete und Frau von Gre-
gor Gysi, hat schon einmal die Rolle der
Vorhut beim geordneten Rückzug
übernommen. Ihr Austrittsformular ist
jedenfalls bereits unterzeichnet.
Albrecht von Luckeist Publizist und lebt in Berlin.
Mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag
entnommen aus: Blätter für deutsche und internationale Politik,
Bonn, 12/2002, S. 1418-1420.
15
Gut zwei Monate nach der Bundes-
tagswahl 2002 ist es die Frage, ob über
die PDS und ihre Niederlage geredet
wird – oder über den Zustand der
Mitte-Links-Parteien in Deutschland.
Ob über Deutschland am 22.9.2002 als
Ausbrecher aus dem europäischen
Trend – oder über Deutschland als eine
spezifische Form der europäischen
politischen Entwicklung. Ist die Krise
der PDS ein isoliertes Phänomen – oder
ist sie ein besonders signifikanter Teil
der Krise des Mitte-Links-Lagers in
Europa? Sind andere Parteien von der
Krise der PDS nur betroffen, weil sie ein
politischer Partner und Konkurrent ist
– oder können gerade SPD und Bünd-
nisgrüne am Schicksal der PDS Sym-
ptome einer mehr oder weniger
gemeinsamen Krise studieren?
Vor dem Hintergrund des rapiden
Ansehensverfalls der rot-grünen Bun-
desregierung bereits in den ersten
Wochen und Monaten nach der Wahl
scheint zumindest die Frage prüfens-
wert, ob der Absturz der PDS nur der
erste Akt in der deutschen Version der
allgemeinen europäischen Krise von
Mitte-Links gewesen sein könnte. Und
zum zweiten wäre vor diesem Hinter-
grund nach der Perspektive und den
Chancen oder Gefahren zu fragen, die
sich durch die Entwicklung der PDS, die
insbesondere mit dem Bundespartei-
tag von Gera (Oktober 2002) eingelei-
tet wurde, verbinden.
Erlauben wir uns eine kurze, grobe
historische Parallele: Vor 200 Jahren
begann die Konstituierung des Kapita-
lismus im nationalstaatlichen Rah-
men, heute erleben wir die Konstitu-
ierung des Kapitalismus auf globaler
Ebene. Die politischen und gesell-
schaftlichen Regularien, Mechanis-
men, Institutionen, Akteure aber sind
noch die der nationalstaatlich gepräg-
ten Ära. Der Liberalismus bestimmte
Politik und Ideologie des „national-
staatlichen“ Kapitalismus – heute
bestimmt der Neoliberalismus Politik
Sozialisten im Abseits?Die Krise der PDS ist mehr als nur eine Krise der PDS
von Thomas Falkner
1. Mitte-Links in Europa – das ausgefallene Projekt …
Thomas Falkner
16
und Ideologie des beginnenden globa-
lisierten Kapitalismus. Auf nationaler
Ebene traten Demokraten, Konserva-
tive, Sozialisten als politische Akteure
mit dem Hintergrund ganzer politisch-
geistiger Grundströmungen hinzu –
sie schlossen Lücken, die der Liberalis-
mus offen ließ, sie nahmen sich der
Probleme an, die er erzeugte – und sie
erzwangen einen sozialen und demo-
kratischen Ausgleich, der in die moder-
nen westlichen Gesellschaften mün-
dete. Vergleichbare Prozesse sind für
die Phase des globalisierten Kapitalis-
mus im Grunde genommen noch nicht
einmal im Ansatz zu erkennen.
Der ökonomischen Globalisierung,
die ausgangs des 20. Jahrhunderts ein-
geleitet wurde, fehlt am Beginn des 21.
Jahrhunderts das Pendant der sozialen
Gerechtigkeit und des interkulturellen
Ausgleichs. Das hätte das europäische,
das internationale Projekt der Nach-
Kohl/Mitterand-Generation (also der
Mitte-Links-Regierungen der späten
90er Jahre) sein können und müssen –
aber es ist ausgeblieben. Der Politi-
schen Union und dem Euro ist nichts
mehr gefolgt – nur nationalstaatlich
begrenzte Reformen, in Umfang und
Substanz unterdimensioniert: Im
„Standortwettbewerb“ immer weni-
ger Ressourcen für Sozialstaatlichkeit
(im Inneren und erst recht nach außen)
– die wachsenden Rivalitäten unter
den Bedürftigen um die geringer wer-
denden Ressourcen werden in Kauf
genommen – die Druckentlastung
erfolgt entlang der kulturellen Kon-
fliktlinien durch restriktivere „Auslän-
derpolitik“ und durch Missionierung
im Ausland (statt ökonomischer, kultu-
reller und sozialer Öffnung). So aber
werden Probleme nicht wirklich gelöst,
aber Konflikte geschürt. Dafür wird
man nicht so einfach wieder gewählt …
Die Wurzeln dieses Phänomens lie-
gen tief – in einem faktischen Steue-
rungsverzicht, der bereits vor Jahrzehn-
ten seinen Anfang nahm. Am Anfang
der europäischen Linken entstand mit
der industriellen Revolution auch die
Utopie von der immer entwickelteren
Technik, die man nur in den Dienst der
Allgemeinheit stellen müsse, damit es
„Zuckererbsen für jedermann“ geben
könne. Im 20. Jahrhundert zeigte die
fordistische Produktionsweise (Mas-
senproduktion – Massenbeschäfti-
gung – Massenkaufkraft), dass es auch
unter kapitalistischen Voraussetzun-
gen eine solche Interessensymbiose
geben konnte, die ein weithin aus-
kömmliches Leben ermöglichte. Dafür
bedurfte es eines Technologie- und
Produktivitätsschubes – jeder weitere
Technologie- und Produktivitätsschub
aber engte die Interessensymbiose
wieder ein und produzierte das Inter-
esse, an der jeweils voraus gegange-
Sozialisten im Abseits?
17
nen Stufe fest zu halten. Dazu kamen
die Tatsache, dass die Technologie- und
Technikschübe mehr und mehr mit
Kriegswirtschaft und Militär-Industrie-
Komplex in Verbindung gerieten,
sowie das wachsende Bewusstsein von
den ökologischen Gefahren der
Großindustrie. Die Linke wurde sozial-
konservativ und technik-pessimistisch
– und verlor zu großen Teilen Fähigkeit
wie Anspruch, Fortschritt zu initiieren
und zu gestalten.
In einer Analyse für den Bereich Stra-
tegie und Grundsatzfragen beim alten
PDS-Parteivorstand hieß es im Sep-
tember 2002, unter den Bedingungen
der Globalisierung „werden aus dem
linken Themenspektrum entschei-
dende Stücke heraus gebrochen. Uni-
versalismus und Individualismus wer-
den als Schlagwörter des Marktes ver-
waltet. Der Technik- und Fortschritts-
optimismus kommt allein den Neoli-
beralen zugute. Für die traditionelle
Linke bleibt einzig die Sozialpolitik,
und die kann im Deutungsmuster der
Globalisierung als protektionistisch,
partikularistisch, wettbewerbsfeind-
lich und reaktionär kodiert werden.“
Tatsächlich geraten Sozial- und
Reformpolitik in Konflikt. Der fordi-
stisch-nostalgische Sozialkonservatis-
mus verteidigt seine Institutionen und
Regularien gegen die Umbrüche der
Realität und provoziert damit zusätz-
lich den neoliberalen Tabubruch. In den
modernen Gesellschaften steigen die
Kosten für die solidarische Alters- und
Arbeitslosenversorgung, weil tatsäch-
lich immer weniger Erwerbstätige
immer mehr Bedürftige über immer
längere Zeiten finanzieren müssen.
Medizinisch wird immer mehr möglich
– vor allem mehr, als die herkömmliche
Finanzierung der Gesundheitssysteme
ermöglicht. Die sozialstaatliche Rea-
lität verhindert insbesondere in
Deutschland marktgerechte Preise und
forciert in der Pharma- und Medizin-
technikindustrie beachtliche Sonder-
profite zu Lasten der Allgemeinheit.
Niemand kann davor die Augen ver-
schließen – aber die mächtigen Lobby-
gruppen beharren auf den von ihnen
vertretenen Interessen. Wer zuerst
zurück steckt (und sei es nur durch Ver-
zicht auf Widerstand selbst gegen
kleinste Maßnahmen), muss einen
strategischen Nachteil gegenüber sei-
nen Konkurrenten befürchten. Weil
niemand zurück steckt und Raum für
Innovationen frei gibt, wird der Druck
auf die Politik immer größer – vor
allem auf die Parteien, deren WählerIn-
nen traditionell vor allem in Sozial-
staatsfragen engagiert sind. So zieht
zugleich der Klientelismus in die Politik
vor allem der Mitte-Links-Parteien ein.
Die bloße Addition von Minderheiten
aber schafft noch keine Mehrheiten,
Thomas Falkner
18
wusste schon Bill Clinton vor seiner
Präsidentschaft. Noch schwieriger aber
wird es, wenn Minderheiten nicht ein-
mal mehr addiert werden können, weil
ihre Klientele um geringer werdende
Ressourcen gegeneinander konkurrie-
ren … In letzter Konsequenz führt das –
wie in Frankreich – mit zur Vertiefung
der Klüfte zwischen verschiedenen lin-
ken Parteien, an die sich verschieden
Klientele hängen …
Im Ergebnis machen sich als gesell-
schaftliche Phänomene breit:
• Sozialstaatsverdruss angesichts des
von Generation zu Generation
immer weniger akzeptablen Verhält-
nisses von Aufwand und Leistung.
• Konsensverdruss angesichts der täg-
lichen erlebbaren Entwicklungs-
blockaden, die sich aus dem weit rei-
chenden faktischen Veto-Recht der
Interessenverbände ergeben.
Und der Verdruss wendet sich in
neue politische Lust:
• Lust an der Polarisierung, mit der
Konfliktaustragung erzwungen wer-
den soll.
• Lust an individuellen Strategien zur
Absicherung von Lebensrisiken, Alter
etc., mit denen man den sozialstaatli-
chen Belastungen und Zumutungen
ein Schnippchen schlagen kann …
Jörg Haider hat auf der Klaviatur von
Verdruss und Lust souverän gespielt.
Am (vorläufigen) Ende des FPÖ-Inter-
mezzos am Wiener Ballhausplatz steht
ein struktureller Umbruch in den (par-
tei-)politischen Kräfteverhältnissen
Österreichs – zu Gunsten des bürger-
lich-konservativen Lagers. So weit sind
wir in Deutschland noch nicht …
So weit das Koordinatensystem und
die Fixpunkte für die Krise, in der sich
Mitte-Links-Parteien heute in Europa
befinden. Zumindest aus der Erfah-
rung innerhalb der PDS ergab sich in
den letzten Jahren ein solches Bild.
Und in diesem beschriebenen Raum
vollzog sich die konkrete, spezifische
Krise der PDS. Nur durch eine solche
erweiterte Beschreibung des Rahmens
ist z.B. erklärlich, warum die PDS
gerade an ihren eigenen Themen
gescheitert ist … (Und warum mögli-
cher Weise gerade jetzt die rot-grüne
Bundesregierung so dramatisch an
Rückhalt in der Bevölkerung verliert,
wo sie auf die Gewerkschaftspositio-
nen zugeht, wo die SPD auf Umvertei-
lung von oben nach unten setzt – Ver-
mögenssteuer, wie auch von der PDS
2. Das Versagen der PDS
Sozialisten im Abseits?
19
gefordert –, wo sie im Haushalt nicht
nur über Ausgabenkürzungen, son-
dern auch über Einnahmeverbesserun-
gen nachdenkt – was wir ja auch die
PDS immer verlangte.)
Doch zurück zur Bundestagswahl.
Die Themen Arbeit, soziale Gerechtig-
keit, Friedenserhaltung und – gewan-
delt – Ostdeutschland hatten im Ver-
gleich zu 1998 bei den Wählerinnen
und Wählern im Prinzip nichts an
Gewicht verloren. Daran hatte sich die
rot-grüne Politik zu messen, dem mus-
ste sich die bürgerliche Opposition
unterwerfen und dem musste die linke
Opposition klare, deutlich weiter
führende, also über Rot-Grün hinaus
gehende Vorschläge entgegensetzen
(in diesem Sinne: politisch umsetzbare
Alternativen). Und dies alles war in
eine Situation hinein umzusetzen und
zu kommunizieren, die am Ende fast
ausschließlich von der Frage Schröder
oder Stoiber und den damit verbunde-
nen tiefen sozialpsychologischen und
mentalen Konfliktlinien geprägt war.
Demgegenüber waren Erschei-
nungsbild und tatsächliches Agieren
der PDS geprägt von: Dysfunktionalität
statt Gebrauchswert. Das Wechselspiel
zwischen Selbstintension und Fremd-
zuweisung, das die Entwicklung der
PDS-Identität in den 90er Jahren
geprägt hatte, funktionierte nicht
mehr; insbesondere der Parteivorstand
und die Parteivorsitzende wechselten
auf einen Kurs, der die parteiinterne
Furcht vor der wirklichen Politik und
darauf fußende Lust an der Opposition
zum Maßstab des eigenen Agierens
und zur Prämisse der politischen Ana-
lyse machte. So setzte sich seit dem
Frühjahr 2002 an der Bundesspitze
faktisch eine Auffassung durch, die die
PDS nicht mehr als Teil eines politi-
schen Mitte-Links-Spektrums in
Deutschlands, sondern als ein „drittes
Lager“ diesseits von Union und SPD
betrachtete.
Nach dem damit verbundenen Ver-
zicht auf eigene strategische Optionen
hat sie die PDS-Führung dann ange-
sichts der knappen Umfrageergeb-
nisse im Sommer in eine formalisierte
Konstellationsdiskussion zwängen las-
sen, in der inhaltliche Substanz schon
gar nicht mehr aufgerufen wurde. Was
die PDS in der Sache innerhalb des
Mitte-Links-Lagers in Deutschland zur
Geltung bringen und durchsetzen
könnte, spielte zwar noch in einem im
August im SPIEGEL veröffentlichten
Strategiepapier – einer Vorarbeit für
den Wahlaufruf des PDS-Spitzenteams
– und in der journalistischen Nachar-
beit dazu eine Rolle, nicht aber poli-
tisch, nicht im Agieren insbesondere
der PDS-Vorsitzenden und anderer
Führungsmitglieder. (Zudem wurde
dieser Ansatz durch den Gysi-Brie-Brief
Thomas Falkner
20
an Lafontaine sowie die Spekulation
um einen angeblichen „Zwei-Punkte-
Plan“ für die Wahl Schröders mit PDS-
Stimmen zunichte gemacht.) So kam
es, dass die PDS-Spitze mit ihren Signa-
len der Unterstützung für Schröder
jenes Drittel von potenziellen PDS-
WählerInnen verunsicherte, die sich
laut internen Umfragen eine PDS-SPD-
Kooperation auf Bundesebene nicht
vorstellen konnten oder wollten. Und
mit der als fundamental wahrgenom-
menen Orientierung auf Opposition
auf jeden Fall führte die PDS-Spitze
letztlich gegen jene Mehrheit von rund
70 % der potenziellen PDS-WählerIn-
nen Wahlkampf, die sich eine authenti-
sche und engagierte regierungsbezo-
gene Mitwirkung der PDS an einer rot-
grünen Bundespolitik wünschten.
Dazu kam: Es gab und gibt bislang
keine hinreichenden politischen Refe-
renzen – weder auf der Projektebene
noch aus der Regierungsbilanz. In
Mecklenburg-Vorpommern und Berlin
sind zudem – anders noch als in Sach-
sen-Anhalt – Probleme im Regierungs-
handeln und enttäuschte (teils auch
überhöhte) Erwartungen vor allem zu
Lasten der PDS, nicht der SPD, gegan-
gen. In Mecklenburg-Vorpommern sind
die Gründe für eine Fortsetzung der
rot-roten Koalition zudem wenig mit
konkreten Leistungen der PDS inner-
halb der Regierung verbunden worden.
In Berlin konnte im ersten Jahr der
neuen Koalition angesichts der schwie-
rigen Ausgangssituation ein prakti-
scher Aufbruch zu Neuem – gerade
durch die Beteiligung der PDS ermög-
licht – (noch) nicht erlebbar gemacht
werden. Allerdings: In Berlin gibt es bei
den Interessenverbänden und -grup-
pen aller Art einen dramatischen Rück-
fall in die alte Versorgungs- und Besitz-
standsmentalität, der weitestgehend
das Bewusstsein von der essentiellen
Haushaltskrise und deren Verursachern
überlagert hat und sich in einer fast
aggressiven Verweigerung gegen jede
notwendige Veränderung stellt – bei
besonderem Druck auf die PDS.
Nach den Auseinandersetzungen
um das Schweriner Arbeitsministe-
rium und vor allem nach der Bonus-
meilen-Affäre um Gregor Gysi ist die
PDS dann auch noch im negativen
Sinne erstmals als „normale Partei“
wahrgenommen worden und hat an
Vertrauen und Zutrauen eingebüßt.
Gysis Rücktritt hat dies nicht wett
machen können; seine nach dem Rück-
tritt sogar zunehmende Medienprä-
senz hat auch zu Verdruss geführt und
den Eindruck verstärkt, er sei eher aus
Amtsmüdigkeit zurück getreten und
bevorzuge die Rolle des politischen
Entertainers gegenüber der harten
Sacharbeit. Der in der unmittelbaren
Vorwahlphase eingetretene Trend-
Sozialisten im Abseits?
21
wechsel zu Gunsten von Mitte-Links
im Bund kam daher weitestgehend der
Sozialdemokratie und nicht der PDS in
diesen Ländern zu Gute.
Selbst die „Ostkompetenz“ war ver-
loren gegangen. Das dominierende
Thema (Abwanderung; „Kippe“) hatte
die PDS verpasst und Wolfgang Thierse
überlassen; den Anschluss an die neue
Differenzierung der ostdeutschen Teil-
gesellschaft hat bislang keine politi-
sche Partei gefunden und den Vor-
sprung in der Sachkompetenz in den
„harten“ Politikfeldern – Wirtschaft
etc. – hat die PDS zwar in ihrem
Rostocker Parteitagsbeschluss zu Ost-
deutschland im Kontext der EU-Oster-
weiterung auf dem Papier behauptet –
in der Breite der Partei ist dies jedoch
bislang kaum angekommen … Die
Frage der neuen sozialen und kulturel-
len Differenzierungen im Ost-Milieu
hat die PDS noch immer nicht aufge-
griffen. Bei der Hochwasserkatastro-
phe schließlich erwies sich die PDS für
viele als Totalausfall. Sicher – als
gesamt-nationale Herausforderung
hat die Katastrophe Links-Rechts-
Nuancen im Wahlkampf sowie die all-
gemein problematische Lage im Osten
in der allgemeinen Wahrnehmung
überlagert. Doch vor allem nach dem
Abebben des Hochwassers hat die PDS
als Bundespartei keinerlei Initiativen
ergriffen oder auch nur nennenswert
unterstützt, die Partei von unten als
sinnlich wahrnehmbare Interessenver-
tretung, als Dienstleister für die sehr
konkreten Sorgen und Forderungen
der Betroffenen zu profilieren – womit
der Aufstieg der PDS in den 90er Jah-
ren begonnen hatte, gab es nicht
mehr: die „Partei für den Alltag“.
Und letztlich: Mit seiner harten Linie
gegen einen Irak-Krieg im Wahlkampf
hat Gerhard Schröder nicht nur die Rea-
lität seiner Politik seit dem Kosovo-Krieg
verdrängt, sondern auch durch verbale
Übernahme nahezu jeder PDS-Detail-
forderung nicht nur mit einem außen-
politischen Thema die Wahlentschei-
dung massiv beeinflusst, sondern auch
der PDS den Schneid abkaufen können.
Ursache und zugleich auch wieder
Folge all dessen waren:
• eine sich vertiefende Spaltung inner-
halb des traditionell dominierenden
Reformerlagers, die zu internen Ent-
wicklungsblockaden und zu einem
widersprüchlichen Erscheinungsbild
führte,
• eine von den Führungsdefiziten for-
cierte Demotivierung, schließlich so-
gar Demoralisierung der Parteibasis.
Thomas Falkner
22
Mittlerweile gibt es für die PDS zwei
Zäsuren: Wahltag und Parteitag.
Der Wahltag hat gezeigt, dass die
PDS – so, wie sie vor allem konzeptio-
nell und strategisch aufgestellt war –
nicht gebraucht wird, wenn es in die-
sem Lande wirklich ernst wird.
Der Bundesparteitag von Gera
(Oktober 2002) aber hat die PDS erst
recht auf die schiefe Ebene gebracht.
Einerseits, weil die der Realpolitik
abholde Linie, die Linie des „dritten
Lagers“, des Schwerpunktes außerhalb
des politisch-parlamentarischen und
auch exekutiven Bestrebens obsiegt
hat. Vorher hatten die PDS keine trag-
fähige Antwort auf das, was die Men-
schen von ihr erwarteten – jetzt hat sie
die falsche Antwort: Oppositionskult
und naive Ansprüche an politische
Gestaltung, Antisozialdemokratismus
und „Mitte-Unten“-Träume statt stra-
tegische Souveränität innerhalb des
Mitte-Links-Lagers in Deutschland …
Andererseits hat der Parteitag mit
der politischen Unkultur, die mit ihm
und danach aufkam (symbolisch dafür
die „Aktentasche-Affäre“ um den stell-
vertretenden Parteivorsitzenden Diet-
her Dehm), Vertrauen in ernsten
Dimensionen verspielt, viel Porzellan
zerschlagen. Viele innerhalb und
außerhalb der PDS sind von der Wucht,
mit der totalitäre Verhaltensmuster
wieder auf- und durchbrechen, über-
rascht. Instinktiv gehen sie – darunter
viele Wählerinnen und Wähler von
1998 – auf Distanz. Man vertraut
durchaus noch einzelnen – aber nicht
mehr der PDS.
Und schließlich: Der Parteitag hat vor-
geführt, dass es die stabile strukturelle
Mehrheit für die sogenannten Reformer
nicht mehr gibt, weil es die Reformer
selbst als ein hegemoniefähiges Lager
nicht mehr gibt. Aus der Binnenerfah-
rung der PDS gibt es schon seit langem
nicht mehr den Konflikt Reformer vs.Tra-
ditionalisten – mit struktureller Re-
former-Mehrheit bei den Aktivisten und
struktureller Traditionalisten-Mehrheit
bei der Basis –, sondern eine neue Lager-
bildung in der Partei. Neben den Traditio-
nalisten hat sich eine Gruppe von ehe-
maligen Reformern (jener, die seit 1989
in erster Linie die Partei reformieren
wollten und dazu auch programmatisch
Taugliches produzierten) neben und
gegen die Gruppe der Pragmatiker kon-
stituiert – also jener Reformer, die in
erster Linie die Gesellschaft reformieren
und zu diesem Zweck Politik machen
wollen. Die parteibezogenen Reformer
nun sind aus innerparteilich-machtpoli-
tischen Erwägungen ein Bündnis mit
den Traditionalisten eingegangen – und
3. Wegscheide
Sozialisten im Abseits?
23
nur deswegen erscheint der Konflikt als
der klassische Konflikt der Prominenten
gegen die Stalinisten und Nostalgiker,
wie er stets die PDS-Geschichte geprägt
hat … Eigentlich – und das klingt nur
zweckoptimistisch, ist aber ein realer
Befund – hat die Entwicklung der letzten
zwei Jahre auch durchaus etwas Kon-
struktives gebracht: Die fast schon voll-
zogene Herausbildung des Pragmatiker-
Lagers – mit einer immerhin ermutigen-
den Machtposition von einem Drittel
auf Bundesebene und doch noch star-
ken Bastionen über zwei Landesregie-
rungen.
Schon deswegen sind die Abgesänge
auf die PDS verfrüht.
Wie auch immer – auf absehbare
Zeit wird sich die PDS weiter mit wich-
tigen Fragen aus der Gesellschaft kon-
frontiert sehen und daran arbeiten:
1. Für welche Funktion in Politik und
Gesellschaft bietet sich die PDS
künftig den Wählerinnen und
Wählern an?
2. Erkennt die PDS mögliche politische
Partner und ist sie fähig, ihre Eigen-
ständigkeit so zu entwickeln, dass
sie zugleich kooperationsfähig mit
diesen wird?
3. Kann die PDS überhaupt den offen-
kundigen Kulturbruch wieder rück-
gängig machen? Das heißt: Findet sie
zu einem auch personellen Neuan-
satz – bis in die Delegiertenzusam-
mensetzung des Parteitages? (Denn
die jetzigen Delegierten haben ja den
Kulturbruch verkörpert …)
Das alles läuft letztlich auf eine ent-
scheidende Frage hinaus: Ist die PDS
willens und fähig, die mit Rostock/
Halle/Gera eingeschlagene Linie ernst-
haft zu korrigieren – inhaltlich und per-
sonell? Und umfangreich …
Dies – nicht die Auseinandersetzun-
gen darum, ob ein stellvertretender
Parteivorsitzender anordnen darf, die
Aktentasche des früheren Bundesge-
schäftsführers zu durchwühlen – mar-
kiert den eigentlichen Raum für die
Auseinandersetzungen, die die „Refor-
mer“ innerhalb der PDS mit der jetzi-
gen Richtung ihrer Partei führen – und
möglichst gewinnen – müssen.
Mit der Wiederholung alter Schlach-
ten freilich wird es nicht getan sein.
Dass sich die falsche Linie in Gera
durchgesetzt hat, heißt nicht automa-
tisch, dass die bisherige Linie der
„Reformer“ noch richtig ist (was wie-
derum nicht bedeutet, dass sie vor
dem 22. September auch schon falsch
war). Doch notwendig ist eine (selbst-)
kritische Überprüfung der strategi-
schen Grundannahmen der letzten
Jahre – sowohl der machtpolitischen
Optionen als auch und vor allem der
Themen und Images. Mit dem Wegfall
der Bundestagsfraktion und des
Zugriffs auf die Ressourcen der Bun-
Thomas Falkner
24
despartei wird dies allerdings – gelinde
gesagt – sehr schwierig. Andererseits
haben die Reformer den strukturellen
Vorteil, dass sie in Regierungsverant-
wortung stehen – dass sie handeln
müssen, entscheiden können, wahrge-
nommen werden und insofern auch
kompetente Rückmeldungen aus Poli-
tik und Gesellschaft erhalten.
Die Pflichten des Amtes werden die
regierenden Reformer – bei Strafe des
eigenen Untergangs – zu konkreten,
umsetzbaren, wirksamen Projekten in
zwei Richtungen drängen:
• Einerseits zu Sparen als Gewinner-
spiel für möglichst viele – durch struk-
turelle Reformen und Innovationen.
• Andererseits wird es um Projekte
gehen müssen, die Perspektiven eröff-
nen – und das müsste mit Weichen-
stellungen für den Osten (der ent-
sprechende Beschluss des Rostocker
Bundesparteitages vom März 2002
bietet dafür durchaus Ansatzpunkte)
oder für die Jugend (Bildung, Ausbil-
dung, Attraktivität des Bleibens im
Osten bzw. der Hinwendung zu ost-
deutschen Leistungszentren statt der
Abwanderung …) zu tun haben.
• Und schließlich muss sich auch
demokratisch-sozialistische Politik
den Ängsten der Bevölkerung, beson-
ders im Osten, zuwenden: Kriegs-
angst, soziale Ängste, Zukunftsäng-
ste, Angst vor Kriminalität und Terror,
vor dem Fremden …
Doch es geht auch um mehr. Defizite
der deutschen Politik sind im Moment
das große Thema. In gewichtiger
Dimension. Es geht nicht an sich um
den dramatischen Ansehensverfall von
Schröder und Rot-Grün – das Thema ist
das Fehlen einer über den Tag hinaus
reichenden Perspektive für die deut-
sche Politik. An der Oberfläche profi-
tiert die Union davon – aber sie ist Teil
des Problems (wenn eben ihre eigentli-
che Antwort darauf die Einsetzung
eines Untersuchungsausschusses we-
gen Wahlbetrug ist, der sich ebenso
gegen sie selber richten könnte …)
Das greifbare Überthema sind
Zustand und Zukunft der Demokratie –
die Debatte um Weimar, um Schröder
und Brüning. Um Parlamente und Kom-
missionen, gewerkschaftliche Verwei-
gerung, bürgerlichen Widerstand,
Umfragen und Wahlen, Staatsfinanzen
und Staatszwecke … Das müsste eigent-
lich eine große Chance für eine demo-
kratisch-sozialistische Programmpartei
wie die PDS sein. Stünde sie nicht seit
Jahren in einer Programmdebatte, müs-
ste sie gerade jetzt beginnen. Freilich:
So, wie die PDS insgesamt derzeit ver-
fasst ist, wird sie keine sonderlich kreati-
ven Antworten auf solche gesellschaft-
lichen Herausforderungen abliefern
können – sondern Formelkompromisse
zwischen marxistologischem Traditi-
Sozialisten im Abseits?
25
onsgut und moderner Symbolik.
Für die Pragmatiker jedoch ist dies die
Chance und die Herausforderung, sich
und ihrem Tun eine programmatische
Basis zu geben – durch einen eigenen
Programmentwurf, der sie nach außen
und innen kenntlich macht, ihre Erfah-
rungen in der Politik aufarbeitet, in
Beziehung zu ihren demokratischen und
sozialen Werten und Leitbildern setzt
und zugleich entwickelt, wie die politi-
schen Verhältnisse in Deutschland refor-
miert werden müssen und können,
damit überhaupt wieder Perspektiven
und große Linien verfolgbar werden.
Eine moderne demokratisch-sozialisti-
sche Programmatik wird den alten Ver-
bändestaat Bundesrepublik und das
Modell Deutschland AG nicht blind zur
ewigen Voraussetzung haben können –
wohl aber als Gegenstand demokrati-
scher Veränderung annehmen und die
archimedischen Punkte für den notwen-
digen Umbruch bestimmen müssen.
Es ist weder ausgemacht, dass eine
solche politisch-programmatische Kon-
stituierung des pragmatischen Teils der
PDS gelingt, noch dass eine solche Strö-
mung letztlich hegemoniefähig wird.
Doch der Versuch ist geradezu demo-
kratische Pflicht. Denn – was wäre die
Alternative? Die Fortsetzung jener Ent-
wicklung zu einer neokommunisti-
schen Formation, die bereits vor zwei
Jahren mit dem Kollaps von Münster
(auf dem damaligen Bundesparteitag
unterlag die damalige PDS-Führung
um Lothar Bisky, Gregor Gysi u.a. mit
dem zaghaften Versuch, die Partei in
der Außen- und Sicherheitspolitik zu
den politischen Realitäten hin zu öff-
nen, und zog sich zugleich aus den Spit-
zenpositionen zurück) begann und die
jetzt in Gera erlebbar wurde:
Der postkommunistische Charakter
der PDS tritt deutlicher in den Vorder-
grund; die (partei-)kommunistische
Traditionslinie tritt erkennbarer neben
und gegen die bisherigen Bemühun-
gen der führenden Reformer, der Partei
eine demokratisch-sozialistisches Rich-
tung zu geben.
Das geht einher mit relevanten Ak-
zentverschiebungen in der inneren Lo-
gik der Partei und ihres politischen
Agierens:
• Ideologie zu Lasten von Politik und
Konzept,
• Aufwertung der Binnenverhältnisse
zu Lasten der Offenheit in die Gesell-
schaft,
• offenere Bekenntnisse nicht nur als
Partei der ehemaligen Dienstklasse
der DDR, sondern auch als Partei der
ehemaligen Kern-Eliten des stalini-
stischen Systems in der DDR.
Wurden unter Gysi und Bisky die Par-
teimitglieder beim humanistischen
Kern ihres Engagements für die DDR
und in der SED gepackt, den Menschen
Thomas Falkner
26
Gutes zu tun, und mehr oder weniger
direkt an die Philosophie der Anfangs-
phase gebunden, wonach Bürgerinter-
essen vor Parteiinteressen zu stehen
hätten, so tritt dies jetzt hinter eine
stärkere Betonung der parteiinternen
Logik und der Veränderung von Gesell-
schaft als nachgelagerte Folge partei-
gebundenen Handelns zurück.
Die geistigen Konturen eines Neo-
kommunismus in Deutschland sind
bereits erkennbar:
Er ist (vulgär-)egalitär, ohne sich auf
einen ernsthaften Wertediskurs einzu-
lassen.
Er bezieht sich programmatisch auf
die Einheit der Menschenrechte bei
starker Betonung bis Verabsolutierung
der sozialen Ansprüche.
Er ist demokratie-skeptisch bis parla-
mentarismusfeindlich – und zugleich
demokratisch-fundamentalistisch:
Alles soll „von unten“ geklärt werden,
Moderation wird an die Stelle von Ent-
scheidung gesetzt, politisches Ent-
scheiden selbst diskreditiert, der reprä-
sentativen Demokratie die Legitima-
tion abgesprochen. Interessengruppen
werden zugleich in Gut und Böse ein-
geteilt und von daher als legitim oder
illegitim angesehen.
Er ist hochgradig ideologisiert, beharrt
auf dem letztlich revolutionären An-
spruch auf die ganz andere Gesellschaft
als Alternative zur gegenwärtigen mo-
dernen westlichen Gesellschaft – und
zugleich bezüglich der Möglichkeit, dies
auch zu erreichen, ultra-realistisch bis
zum Defätismus gegenüber jedweder
demokratischen und sozialen Verände-
rung.
Er gebärdet sich moralisierend, im
Gestus der ständigen Empörung – und
leistet sich so die Illusion eines –
gesellschaftlich letztlich wohl belang-
losen – Avantgardismus.
Er ist analytisch ambitioniert, aber
un-intellektuell und un-modern: marxi-
stisch-orthodox in der „Eigentums-“
und der „Machtfrage“, marxistisch-illu-
sionär in den Debatten um Entfrem-
dung, Arbeitsgesellschaft oder Emanzi-
pation von einer vermeintlichen „Kapi-
tallogik“, auf die alles reduziert wird.
Er präsentiert sich kulturell und
mental als eine Funktionärspartei –
dem entsprechend mit blassen, wenig
charismatischen und eher führungs-
schwachen Spitzenfiguren.
Ein solcher Neokommunismus mag
für die Zeit, in der ihn seine politische
Schwindsucht noch nicht völlig bedeu-
tungslos gemacht hat, noch durchaus
eine Funktionspartei auf unterer
Ebene tragen – eine Funktionspartei,
die ihren ideologischen Ballast auf die
jeweils höchste, für sie machtpolitisch
nicht erreichbare Ebene (Bund, Europa,
NATO, UNO ...) projiziert. Und auch dort
die Schuldigen dafür ausmacht, dass
Sozialisten im Abseits?
27
sie den eigenen radikalen Ambitionen
nicht genügen kann.
Gerade eine solche neokommunisti-
sche PDS eignet sich, so kurios es
erscheint, als Konservator der nach-
wendischen deutschen Parteiensy-
stems und einer – vorerst – strategi-
schen Mehrheit um die SPD herum,
sofern alle Beteiligten an der eingangs
beschriebenen Misere von Mitte-Links
fest halten …
Zugleich würde eine solche neokom-
munistische PDS im Beiboot von Rot-
Grün die parteipolitische Polarisierung
in Deutschland verschärfen. Man stelle
sich nur einen Moment lang vor, die
PDS regierte jetzt in irgendeiner Form
mit – Vermögenssteuer, Irak-Position
und vieles andere würden seitens der
bürgerlichen Opposition als schlimm-
stes kommunistisches Teufelszeug
denunziert werden … Freilich: Ohne
konzeptionelle Alternative. Das Partein-
geschrei im Lande wäre noch schriller –
die Alternativlosigkeit noch dunkler.
Aus der FDP oder der Union müsste
sich ein deutscher Haider auf den Weg
machen. Oder ein deutscher Berlusconi
erschaffen werden.
Es gibt nur eine Alternative: Eine
reformfähige linke Mitte. Sie muss an
einer neokommunistischen PDS nicht
scheitern – aber sie wird von einer prag-
matischen reformfreudigen PDS neuen
Zuschnitts allein auch nicht kreiert
werden können … Es kommt auf alle an.
Dr. Thomas Falknerwar bis September 2002
Grundsatzreferent beim PDS-Parteivorstand.
Gegen Ende des Jahres 2002 erinnert
die PDS an den Lehrer Lämpel in den
Geschichten von Max und Moritz. Wie
dieser nach der plötzlichen Explosion
seiner Pfeife liegt die Partei nach der
unverhofften Wahlniederlage am
Boden und vergewissert sich, ob sie
noch am Leben und wie sehr sie ver-
letzt worden ist. Dass sie noch lebt, ist
offensichtlich, denn unmittelbar nach
dem Niederschlag wurde bereits darü-
ber gestritten, welche Therapie und
Rehabilitationsmaßnahmen eingelei-
tet werden sollten, um ihr eine Weiter-
existenz zu sichern. Bislang vermittelt
dieser Streit den Eindruck, dass sie dar-
über der Agonie und dem Siechtum
anheimfallen und als politisches
Gesamtunternehmen in Liquidation
anstatt auf den Weg der Besserung
geraten könnte: der Parteivorstand
beschäftigt sich mit Taschenkontrollen
(Frankfurter Rundschau v. 25.11.02) und
hat es bislang nicht geschafft, einen
Arbeitsplan für 2003 zu beschließen.
Wie gut, wie schlecht stehen die Chan-
cen für eine positive Perspektive der
PDS und was könnte ihr bevorstehen?
Will sie Erfolg haben, d.h. nicht ledig-
lich als Parteiorganisation existieren,
sondern in der Parteienkonkurrenz
Erfolg haben, muss sie die entspre-
chenden Bedingungen herstellen. Da-
zu gehört neben einer handlungsfähi-
gen Führung eine Partei, in der ein
gruppen- oder flügelübergreifender
Konsens besteht, den herzustellen ist
eine zentrale Aufgabe der Führung, auf
dessen Basis die Partei als einheitlicher
Akteur auftreten kann. Des weiteren
ist wichtig, dass sich die Partei an den
in ihrer gesellschaftlichen Umwelt
ablaufenden Diskussionen beteiligt,
um die Wandel von Werten und Ein-
stellungen zu erkennen und sich dazu
verhalten zu können, d.h. sie sich gege-
benenfalls anzueignen, um nicht sozial
isoliert zu werden.
29
Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002von Gero Neugebauer
Der Blick nach vorn erfordert einen
Rückblick zur Vergewisserung der Aus-
gangslage. Der erste Blick zurück geht
an das Ende des Wahljahrs 1998, als sich
die PDS in einer stabilen Seitenlage
befand: sie war erstmals mit einer Frak-
tion im Bundestag vertreten, hatte sich
im Osten Deutschlands auf der dritten
Position im Parteiensystem festgesetzt
und war Partner in einer Landesregie-
rung geworden. Im Westen dagegen
hatte sie zwar Stimmen gewonnen, aber
sich nicht richtig aufrappeln können.
Der zweite Blick richtet sich auf ihre
weiteren Erfolge 1999 bis Anfang 2002.
Im Ergebnis der diversen Wahlen
erreichte sie eine PDS-Gruppe im Euro-
paparlament und die Beteiligung an
zwei Landesregierungen, konnte die SPD
in zwei Landtagswahlen überholen und
gewann u.a. drei Landratsmandate. Die
PDS befand sich Anfang 2002 auf einem
Höhepunkt ihrer Laufbahn, wenngleich
die höchste Würdigung, die Beteiligung
an einer Koalition auf Bundesebene, bis-
lang jedoch nicht erreicht worden war;
daran gedacht wurde jedoch.
Im Rückblick wird jedoch offenbar,
dass sie die Risiken der Erfolge nicht
erkannte oder sogar negierte. Da war
zum einen ihr angestammtes Milieu,
die antiwestlich eingestellten wirt-
schaftlichen, politischen und kulturel-
len Trägerschichten der DDR und deren
Umfeld. Es bildete eine feste Bank, die
bei Wahlen nahezu unverbrüchlich zur
Partei stand. Die Wahlerfolge waren
zustande gekommen, weil sich die PDS
weitere, mit dem Zustand der inneren
Einheit unzufriedene Wählerschichten
vor allem aus dem Einzugsbereich von
SPD und CDU, aber auch aus dem
Nichtwählersegment erschlossen hat-
te. In Bezug auf diese Wähler stellte
sich ihr die Aufgabe, dieses Potenzial
durch ein attraktives Personal- und Pro-
grammangebot bei der Stange zu hal-
ten; anders als ihre Kernwählerschaft
ließ sich dieses (Protest-) Potenzial
nicht automatisch bei jeder Wahl mobi-
lisieren. Mit einer größeren Berücksich-
tigung der Belange ihrer Randwähler-
schaft lief die Partei allerdings Gefahr,
das Kernmilieu zu verprellen.
Da war zum anderen die Frage der
Weiterentwicklung ihres Profils. Das
alte Programm von 1993, ohnehin ein
Konglomerat verschiedener Positio-
nen, war nach Ansicht führender PDS-
Politiker untauglich geworden, die
Modernisierung der PDS zu unterstrei-
chen und sie für neue Wählerschichten
akzeptabel zu machen. Der Partei
fehlte ein innerer programmatischer
Konsens, der sie nach außen einheit-
lich auftreten lassen konnte. In der
Gero Neugebauer
30
Randwähler vs. Kernmilieu
Öffentlichkeit wirkte sie eher als ein
Dachverband diverser Vereine mit
einem breiten, teilweise unvereinba-
rem politischen Spektrum: „PDS e.V.“
nannte das Lothar Bisky.
Da war zum dritten die Frage der
Expansion der Partei. Der Aufbau der
Parteiorganisation im Westen Deutsch-
lands ging nur zögerlich voran. Der
Zulauf zur PDS blieb gering, die Über-
tritte aus der SPD und von den Grünen
zeigten keine Trittbrettfahrereffekte.
Zwar feierte die Partei die in westdeut-
schen Kommunen seit 1999 errunge-
nen rund 100 Mandate sowie die
gestiegenen Stimmenanteile im West-
teil von Berlin – 1995: 2,1 Prozent, 1999:
4,2 Prozent, 2001: 6,9 Prozent und den
Einzug in Bezirksvertretungen in west-
lichen Stadtbezirken – als Beginn eines
Durchbruchs. Dennoch war es leichtfer-
tig zu erwarten, dass es ohne massive
Anstrengungen zur sozialen und politi-
schen Verankerung der PDS möglich
sein könnte, im Westen in der kommen-
den Bundestagswahl Stimmen hinzu
gewinnen zu können. Jedenfalls war
eine zwischen West und Ost unter-
schiedliche Ausgangslage für die Bun-
destagswahl 2002 gegeben, auf die zu
reagieren war, denn bislang reichten im
gesamtdeutschen Stadion die Fans der
PDS in der Ostkurve nicht aus.
Schließlich waren da noch die exter-
nen Bedingungen für die Erfolge der
PDS. Auf der lokalen und regionalen
Ebene konnte sich die Partei noch auf
Kompetenzen, Leistungen und Perso-
nen stützen, auf der Bundesebene war
das kaum möglich; hier zeigen und zeig-
ten sich keine der erwarteten Synergie-
effekte. Neben den Wirkungen des fort-
dauernden innerdeutschen Ost-West-
Konflikts waren es die Schwächen und
Mißerfolge ihrer Konkurrenten, durch
die sie in unterschiedlicher Weise
begünstigt wurde. Mal bewirkten deren
Aktivitäten („Rote Socken“-Kampgane)
Solidarisierungen zu ihren Gunsten, mal
führten sie der PDS Proteststimmen zu;
Wahlen mit geringer Beteiligung wirk-
ten sich für die PDS, die zudem gut
mobilisieren konnte, häufig positiver
aus, als für ihre Mitwettbewerber.
Die PDS sah sich selbst auf dem Weg
zu einer „normalen“ Volkspartei und
deutete ihre Erfolge als wachsende
Anerkennung ihrer politischen Leistun-
gen bzw. Absichten. In ihren Erwartun-
gen ließ sie sich von der „Vakuum-
These“ leiten. Danach bewegt sich die
SPD zunehmend in die politische Mitte
Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002
31
Anschluss verpasst
und hinterlässt am linken Rand des Par-
teiensystems eine Leerstelle, welche
die PDS als linke, sozialistische Partei,
als Partei der sozialen Gerechtigkeit, als
die einzige Friedenspartei in Deutsch-
land besetzen, und dadurch zugleich
ihre Westausdehnung vorantreiben
kann. Dazu würden politische Kampa-
gnen und Offerten an linke reformori-
entierte, aber bislang PDS-skeptische
Wählergruppen reichen; der Rest
würde sich quasi von selbst einstellen.
Dass sich dieses nicht im Selbstlauf
realisieren würde, wussten PDS-Politi-
ker wie der frühere Bundesvorsitzen-
den Lothar Bisky, der ehemalige Vorsit-
zende der Bundestagsfraktion Gregor
Gysi und der PDS-„Vordenker“ André
Brie, die nach der Bundestagswahl
1998 auf eine rasche programmatische
und strukturelle Modernisierung der
Partei gedrängt hatten. Bisky und Gysi,
Brie hatte sich 1999 in das Europapar-
lament abgeseilt, scheiterten damit
auf dem Parteitag in Münster im April
2000, weil sie letztlich nicht eindeutig
genug von der Mittelgruppe („Reform-
pragmatiker“) unterstützt wurden.
Auch unter Biskys Nachfolgerin Gabri-
ele Zimmer schaffte es die PDS nicht,
vor der Bundestagswahl 2002 ein
neues Grundsatzprogramm zu verab-
schieden und zog statt dessen ohne
ein klares Profil, aber gekennzeichnet
durch Rivalitäten in der Führung und
durch erhebliche Schwächen in der
internen wie der externen Kommuni-
kation in den Wahlkampf. Die Defizite
in der politischen Führung des Wahl-
kampfs, handwerkliche Fehler in der
Kampagne, mangelnde Flexibilität in
den Reaktionen auf veränderte Rah-
menbedingungen, das wenig attrak-
tive und nicht einheitlich auftretende
Personalangebot und nicht zuletzt die
irritierende Losung – „Wer Stoiber ver-
hindern will, muss PDS wählen“ – kon-
terkarierten im Wahlkampf oft die
Anstrengungen der Länder, der Kreise
und der Direktkandidaten. Die Folge:
Die PDS fiel durch. Im Lagerwahlkampf
hatte sie sich widerstandslos an die
Seite drücken lassen und in ihren ver-
muteten Kompetenzen: Eintreten für
soziale Gerechtigkeit, für Frieden und
für Ostinteressen, wurde sie kaum
gewürdigt; damit schaffte sie es nicht,
in ihrer Identität bestätigt zu werden.
Politisch verantwortlich für den Wahl-
kampf war der geschäftsführende Vor-
stand der PDS. Der war weder in der
Lage einheitlich zu agieren noch dazu,
die Partei zu geschlossenem Handeln zu
befähigen.Vordergründig lag das daran,
dass die Parteiführung unter dem Deck-
mantel ideologischer Kontroversen
Kämpfe um Positionen – und damit um
die Macht – austrug und durch ihre pro-
blembehaftete, auf interpersonale Kon-
flikte fokussierte interne und externe
Gero Neugebauer
32
Kommunikation erheblich dazu beitrug,
dass politische Ziele und Absichten der
Partei nicht zu vermitteln waren.
Möglich war das vor dem Hinter-
grund der von der Vorsitzenden letzt-
endlich zu verantwortenden Politik in
der Programmfrage. Sie hatte erst
engagiert die Diskussion mit einem
neuen Entwurf vorangetrieben, wurde
dann jedoch konfliktscheu und war
angesichts interner Widerstände nicht
bereit, sie auf dem Parteitag in Dresden
(Oktober 2001) zum Abschluss zu brin-
gen. Damit bot die PDS dem Wähler
keine Möglichkeit zu prüfen, inwieweit
die Partei programmatisch und poli-
tisch den Anschluss an den gesell-
schaftlichen Wandel gefunden und
Konsequenzen daraus gezogen hatte.
Da auf dem Parteitag in Gera (Oktober
2002) faktisch aus der alten Führungs-
spitze nur der Bundesgeschäftsführer
Dietmar Bartsch, er galt als Repräsen-
tant der Modernisierungsdiskussion,
ausgeschieden ist, sind die Vorausset-
zungen dafür nicht besser geworden.
Zweifel sind auch, schaut man auf
die ersten Beschlüsse des neuen Vor-
stands, hinsichtlich dessen Bereit-
schaft angebracht, die Situation der
Partei kritisch zu reflektieren. Manche
Diskussionsbeiträge verraten Relikte
von Kritik und Selbstkritik nach dem
alten SED-Muster: Personen, aber nicht
Strukturen werden kritisiert, eigene
negative Beiträge der Partei zugeschu-
stert und Bemühungen um eine syste-
matische Analyse in eine Arbeits-
gruppe verlagert. Die Tagesordnung
könnte eine Reihe von Problemen ent-
halten, die in der Rekonvaleszenzzeit
zu lösen wären. Da sind:
• die Ursachen und Folgen der teil-
weise desparaten innerparteilichen
Verfassung der PDS für ihre Aktions-
fähigkeit und Akzeptanz,
• die Gefahr, in die Isolation zu gera-
ten, wenn keine Verständigung über
ihren Standort in der Gesellschaft
noch über ihre Bündnisfähigkeit und
-bereitschaft hergestellt wird,
• die Klärung der widersprüchlichen
Positionsbestimmungen, die sie als
gesellschaftliche Opposition außer-
halb und innerhalb der Parlamente
unabhängig von einer eventuellen
Regierungsbeteiligung einnehmen
will und anderes mehr.
Im Moment bietet die PDS eine
beschädigte Identität an, weshalb sie
nicht nur für die eigenen Mitglieder,
sondern auch für potentielle Interes-
senten wenig attraktiv ist. Das zu
ändern, ist Sache politischer Entschei-
dungen, insbesondere durch eine kon-
sequente Programmdiskussion mit
dem Ziel der Modernisierung der PDS.
Die Frage ist, ob die im Parteivorstand
repräsentierten Strömungen sich dar-
auf einlassen wollen.
Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002
33
Eine wichtige Voraussetzung für eine
positive Perspektive ist also, dass die
PDS es schafft, sich aus der durch
interne Bedingungen verursachten
Lähmung zu lösen und die Partei durch
eine Programm- und eine Parteireform
zu rekonstruieren. Denn auch die muss
vorangetrieben werden, soll die am
Boden liegende westdeutsche Parteior-
ganisation überleben und die Bundes-
partei konsolidiert werden. Der Wegfall
staatlicher Gelder sowie der vielfälti-
gen Ressourcen der Bundestagsfrak-
tion (Mitarbeiter, Geld, Spenden, Medi-
enzugang, nationale und internatio-
nale Kontaktmöglichkeiten, Logistik
des Bundestages etc. pp.,) muss durch
die Landesverbände aufgefangen wer-
den, sonst kann die Gesamtpartei Ende
2003 Konkurs anmelden; kein probates,
aber auch kein unbekanntes Mittel für
Problemlösungen.
Die ostdeutschen Landesverbände
sortieren sich nach dem Geraer Partei-
tag neu. Egal, ob sie in der Opposition
oder an der Regierung beteiligt sind,
sie müssen nachweisen, dass ihre Kon-
zepte Erfolg haben. Anders ist der
„Sowohl (Opposition) – als auch (Re-
gierungsbeteiligung) – Kurs“ nicht zu
vermitteln; ein Profil verschafft sich
dadurch jedoch nur der Landesver-
band, nicht aber die Gesamtpartei.
Fazit: Die Voraussetzungen für eine
positive Perspektive verlangen Entschei-
dungen über umfassende programma-
tische, strukturelle und personelle
Aspekte, d.h. sie beziehen sich auf die
Führung der Partei, auf ihre Organisa-
tion und auf ihr Programm. Schafft die
PDS es nicht, sich über die Vorausset-
zungen ihrer Rekonstruktion zu verstän-
digen, hat sie als Bundespartei ohne
wahrnehmbaren westdeutschen Flügel
eine Chance auf den Status einer politi-
schen Sekte mit einer ständig abneh-
menden sozialen Basis, nicht jedoch auf
eine nationale relevante Partei im deut-
schen Parteiensystem. Gesetzt den Fall,
die PDS schafft das, die Prognosen sind
unterschiedlich, dann muss sie mit wei-
teren Problemen rechnen.
Eins davon ist ihre Wählerbasis. Die
Ergebnisse der Bundestagswahlen 2002
zeigen, dass die Bedeutung des Ost-
West-Konflikts für das Wählerverhalten
abgenommen hat und die „westdeut-
schen“ Parteien, dieses Mal insbeson-
Gero Neugebauer
34
Es rüttelt und schüttelt sich
Optionen der Parteienkonkurrenz
dere die SPD, Gegenstand der Wähler-
gunst geworden sind. Auch die kleinen
Parteien FDP und – weniger – die Bünd-
nisgrünen zeigen in der ostdeutschen
Parteienlandschaft wieder Flagge. Der
gesellschaftliche Wandel wird deren
Chancen in Zukunft verbessern, wes-
halb die PDS auf ihrer Suche nach neuen
Wählerschichten mit stärkeren Konkur-
renten als zuvor rechnen muss, zumal
ihre Monopolposition in Sachen „Sozia-
ler Gerechtigkeit“ abbröckelt.
Die Koalitionsoptionen der PDS
reduzieren sich faktisch auf die – unge-
liebte – SPD; die CDU kann sie trotz
mancher Offerten vergessen. Die rech-
net sich durch eine erstarkte FDP bes-
sere Chancen auf Regierungsmacht
aus. Das schmälert die Möglichkeit der
SPD, sich in Koalitionen mit der CDU zu
begeben. Entgegen manchen Vermu-
tungen aus der gegenwärtigen PDS-
Spitze wird sie keine Lust haben, sich in
Landesregierungen mit einer Partei zu
verbünden, die sich programmatisch
anachronistisch, SPD-feindlich und
modernisierungsunwillig gibt. Wenn
die SPD eine Koalition mit der bündnis-
grünen Partei anstreben sollte, was
momentan nur in Berlin, auf längere
Sicht aber auch in Brandenburg und
erst recht in einem Land Berlin-Bran-
denburg möglich sein könnte, dann
bliebe die PDS auch aus arithmeti-
schen Gründen außen vor.
Der Wettbewerb um Wähler wird in
dem Maße zunehmen, in dem die Lager
der Stammwähler sich reduzieren und
der Zugang zu neuen Wählergruppen
für den Gewinn von Mehrheiten wie
für die Verteilung der politischen
Gewichte in den jeweiligen Lagern ent-
scheidend werden wird. Da die PDS sich
stärker als ihre Konkurrenten auf
Stammwähler stützt, muss sie stärkere
Anstrengungen als diese unterneh-
men, um neue Wähler zu erreichen,
wenn sie ihre Ergebnisse verbessern
und bündnisfähig werden will.
Denn vieles spricht dafür, dass die
PDS nur dann eine Perspektive als
Wettbewerberin in der Parteienkonkur-
renz hat, wenn sie sich den oben skiz-
zierten programmatischen, strukturel-
len und personellen Herausforderun-
gen stellt; bislang zeigt sie in allen drei
Bereichen erhebliche Schwächen. Das
bedeutet, dass sie keine unbegrenzten
Optionen hat, aber ob sie sich auf die
Rolle einer Funktionspartei im Sinne
einer Mehrheitsbeschafferin im linken
Lager des Parteiensystems oder in der
Region auf die Rolle einer Führungspar-
tei einstellen sollte, entscheiden die
Wähler und die potentiellen Partner.
Parteien können, wenn sie erst mal
existieren, sich lange halten, selbst
wenn es ihnen an einer ausreichenden
sozialen Verankerung fehlt. Solche Par-
teien am Rande des Parteiensystems
Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002
35
sichern ihre Überlebensfähigkeit ent-
weder dadurch, dass sie sich als Vehikel
für Protest anbieten oder dass sie von
den Schwächen der Konkurrenten pro-
fitieren. Da bietet sich eine für die PDS
nicht unbekannte Chance an, nämlich
aus Veränderungen der Rahmenbedin-
gungen Profit zu ziehen. Schon früher
hat die PDS ihre Stärke nicht nur aus
der eigenen Kraft, sondern zugleich
aus den Schwächen und Fehlern der
oder des Konkurrenten bezogen – und
die neue Amtsperiode der rot-grünen
Bundesregierung hat gerade erst mit
wenig Fortune begonnen.
Zukunftsfähigkeit mit Fragezeichen
Will die PDS sich nicht auf ein Schei-
tern der Koalition verlassen, dann gilt,
wenn sie – unabhängig von der Lösung
der internen Organisations- und Perso-
nalprobleme und ihres demographi-
schen Problems – eine langfristige Per-
spektive anstrebt,
• dass ihre Zeit als Repräsentantin des
Ost-West-Konflikts abläuft,
• dass sie als Protestpartei nur auf
einer instabilen und unsicheren Ba-
sis, den wechselnden Protestorien-
tierungen, existieren kann und
• dass sie im Parteienwettbewerb in
Ostdeutschland durchaus eine Per-
spektive als regionale Partei haben
kann, solange sie sich auf politische
und soziale Traditionen und Milieus
stützen kann, zu denen die anderen
Parteien keinen Zugang haben.
Theoretisch könnte sie als Bundes-
partei eine Chance mit dem Versuch
haben, sich entlang einer realen, aber
keiner fiktiven oder konstruierten
gesellschaftlichen Konfliktlinie zu or-
ganisieren, die ihr eine soziale Basis
wie eine relevante Repräsentation im
Parteiensystem sichert. Die Realisie-
rung dieser Hoffnung wird in PDS-Krei-
sen in der Konstituierung der PDS als
einer gesamtdeutschen modernen so-
zialistischen Partei gesehen. Diese Per-
spektive setzt, gibt man angesichts des
bisherigen Scheiterns der PDS in dieser
Frage einer relevanten Nachfrage nach
„Sozialismus“ überhaupt eine Chance,
vieles voraus, darunter Antworten auf
eine Reihe von Gretchenfragen zur Re-
levanz anachronistischer Sozialismus-
theorien, zur Vereinbarkeit von Re-
formkonzeptionen und politischen
Systemfragen, zu den Folgen der Re-
naissance von mentalen und kulturel-
len Traditionen der SED in der PDS und
nicht zuletzt nach den Inhalten ihres
Politikkonzepts.
Gero Neugebauer
36
Interessierte Beobachter ziehen aus
der gegenwärtigen Performance der
PDS, insbesondere aus den Selbstdar-
stellung der Parteispitze, den Schluss,
dass, angefangen vom Einsatz intellek-
tuellen Ressourcen über die Formulie-
rung politischer Positionen bis hin zu
personalpolitischen Entscheidungen,
sich Konturen einer Strategie abzeich-
nen, die auf das Überleben in der Orga-
nisation mit dem Zweck gerichtet ist,
Positionen (Jobs) und den Zugang zu
den knapp werdenden Ressourcen zu
sichern. Das – und die dagegen gerich-
teten Strategien – erinnern an die Zeit,
in der die ursprünglichen Anstrengun-
gen zu einer kritischen Reflektion der
programmatischen Positionen und
politischen Strategien der PDS aufge-
geben wurden und die Partei sich ein-
igelte, wodurch sie den Kontakt zur
Gesellschaft und damit Mitglieder
sowie Sympathisanten verlor. Die
damaligen Bedingungen für den spä-
teren Aufschwung liegen heute nicht
mehr vor und sind auch nicht zu rekon-
struieren. Der Bedarf für die PDS muss
von ihr selbst nachgewiesen werden
Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002
37
Dr. Gero Neugebauerist Politologe und Parteienforscher
am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin
http://www.polwiss.fu-berlin.de/osi/osz/index.htm
Potsdam ist eine schöne Stadt. Für
viele sogar die schönste Stadt in Ost-
deutschland, vielleicht sogar mittler-
weile die schönste und kulturell span-
nendste Landeshauptstadt im verein-
ten Deutschland. Potsdam ist aber nicht
nur wegen seiner Schlösser, seiner Land-
schaft und Kultur spannend. Spannend
und aufregend ist die Stadt auch poli-
tisch. Und insbesondere an Wahlaben-
den immer für eine Überraschung gut.
Beispiele: Im Jahr 1993 – als der
Westen die PDS schon im Abfallkorb
der Geschichte sah – wurde fast ein
ehemaliger Stasi-IM für die PDS zum
OB gewählt.
Oder das Jahr 1998, als mit Matthias
Platzeck ein neuer SPD-Oststar geboren
wurde, den die Potsdamer gleich im 1.
Wahlgang triumphal zum OB wählten.
Bei der OB-Wahl 2002 fehlten hinge-
gen im 2.Wahlgang – fünf Wochen nach
der Bundestagswahl – nur 122 Stimmen,
und ein sächselnder PDSler wäre zum
Platzeck-Nachfolger gewählt worden.
Und dies, obwohl er im ersten Wahlgang
am 22. September noch gut 11.000 Stim-
men hinter dem SPD-Kandidaten lag.
Verrückte Welt in Potsdam also?Auf jeden Fall haben politische Beob-
achter es schwer, in Potsdam einen kla-
ren politischen Entwicklungstrend zu
erkennen. Entsprechend werden in den
Medien konjunkturelle Stereotypen
wie „PDS-Hochburg“, „SPD-Hochburg“,
„Meckerstadt des Ostens“, „Neues Bür-
gertum erobert die Stadt“ verbreitet,
die am nächsten Wahltag nicht mehr
stimmen. Zeit also für eine detaillierte
Analyse der Wahlen in Potsdam – jen-
seits der gefühlten Stimmungslagen.
18 Mal gewählt – und nichts ist passiert?
In den vergangenen 12 Jahren konn-
ten die Potsdamer in 18 Wahlgängen
entschieden, welche Parteien sie präfe-
rieren: bei einer Volkskammerwahl, zwei
Europawahlen, vier Bundestagswahlen,
drei Landtagswahlen, drei Kommunal-
wahlen, drei OB-Wahlen und zwei dabei
notwendigen Stichwahlen.
Von ihrem Wahlrecht machten die
Potsdamer sehr unterschiedlich ge-
brauch: die höchste Wahlbeteiligung
wurde bei der ersten und einzigen freien
39
Verrückte Welt in Potsdam?Zur Parteienkonkurrenz in der brandenburgischen Landeshauptstadt
von Klaus Ness*
* Mein Dank gilt Silke Pamme für die umfangreiche Zuarbeit des statistischen Materials.
Klaus Ness
40
Volkskammerwahl 1990 mit 93,01 Pro-
zent erzielt. Danach ging es – je nach der
Beurteilung der Wichtigkeit der jeweili-
gen Wahl und der allgemeinen politi-
schen Stimmungslage – auf und ab.
Bundestagswahlen liegen mit einer rela-
tiv hohen Wahlbeteiligung zwischen
75,78 Prozent (1990) und 80,44 Prozent
(1998) an der Spitze, während Europa-
wahlen mit 46 Prozent (1994) und 33,3
(1990) am Ende der Skala liegen. Land-
tagswahlen mit einer Beteiligung zwi-
schen 60,37 Prozent (1999) und 71,79 Pro-
zent (1990) liegen mit rückläufiger Ten-
denz im Mittelfeld. Gleiches lässt sich für
Kommunalwahlen (1990: 74,40 Prozent,
1993: 62,81 Prozent, 1998: 79,92 Prozent)
und OB-Wahlen (1993: 62,87 Prozent
1998: 79,91 Prozent, Stichwahl 2002:
40,37 Prozent) sagen.
Stereotype Nr. 1:Potsdam ist eine PDS-Hochburg
Ist Potsdam eine PDS-Hochburg? Ein-
deutig ja. Aber alles ist relativ! Als ehema-
lige DDR-Bezirksstadt mit einer beson-
ders starken Häufung von Angehörigen
der ehemaligen Dienstleistungsklasse
(Beschäftige der öffentlichen Verwal-
tung, der so genannten „bewaffneten
Organe“, Hochschulstandort, etc.) sowie
von Führungseliten der SED und NVA
erreicht die PDS bei allen Wahlen in Pots-
dam überdurchschnittliche Ergebnisse –
wie in anderen ehemaligen Bezirksstäd-
ten in den neuen Ländern auch. In Pots-
dam fällt auf, dass die PDS ihre Anhän-
gerschaft im Vergleich zu anderen Par-
teien bei allen Wahlen relativ gut mobili-
sieren kann. Die prozentuale Schwan-
kungsbreite bei der Mobilisierung der
PDS-Wähler ist im Vergleich zu potenziel-
len SPD- und CDU-Wählern deutlich
geringer. Zunächst ein Blick auf die Stim-
menpotenziale: Die höchste absolute
Stimmenzahl erreichte die PDS bei den
Erststimmen bei der Bundestagswahl
1994, als ihr Kandidat Rolf Kutzmutz (der
ein Jahr zuvor fast OB geworden wäre!)
31.447 Stimmen (38,75 Prozent) erreichte.
Ihre geringste absolute Stimmenzahl
erzielte die PDS mit 12.516 Stimmen (37,10
Prozent) bei der Europawahl 1999 (Wahl-
beteiligung: 33,30 Prozent).
Der Vergleich der prozentualen
Ergebnisse beider Wahlen weist auf ein
wichtiges Ergebnis dieser Studie hin:
Die PDS profitiert in Potsdam von einer
relativ geringen Wahlbeteiligung, da
sie den größten Sockel von Stamm-
wählern hat, die mit ihrer Partei „durch
dick und dünn“ gehen. Spannend ist die
Frage nach der strukturellen Mehr-
heitsfähigkeit der Potsdamer PDS. Wie
entwickeln sich die erreichbaren Wäh-
lerpotenziale der Partei angesichts der
demografischen und wanderungsbe-
dingten Veränderungen? Gestartet ist
die PDS bei der Volkskammerwahl 1990
(höchste erreichte Wahlbeteiligung!)
Verrückte Welt in Potsdam?
41
mit 27.385 Stimmen. Sie stürzte bei den
weiteren Wahlen des Jahres 1990 bis
auf 16.120 Stimmen (Zweitstimme Bun-
destagswahl) ab und erlebte ab 1993 in
einer Phase wachsenden Unmutes
ihren Wiederaufstieg als Vertreterin
von Ostinteressen auf 29.782 Stimmen
(OB-Stichwahl 1993). 1994 holte Kutz-
mutz als Direktkandidat bei der Bun-
destagswahl 31.447 Stimmen – der
Höhepunkt dieser Entwicklung, 1998
erhielt er noch 29.399 Stimmen, 2002
aber nur noch 25.703 Stimmen. Ein pa-
ralleler, sogar noch deutlicherer Rück-
gang ist bei den Zweitstimmen der
jeweiligen Bundestagswahlen erkenn-
bar: 1994 erreichte die PDS 25.559 Stim-
men, 1998 noch 22.808 Stimmen, 2002
jedoch nur noch 18.335 Stimmen.
Auch wenn unterstellt werden kann,
dass ein Teil von PDS-Anhängern aus
taktischen Gründen bei der Bundestags-
wahl 2002 mit der Zweitstimme SPD
gewählt hat, bleibt festzustellen, dass
sich das für die PDS erreichbare Wähler-
potenzial in Potsdam tendenziell verrin-
gert. Grob taxiert: Während das erreich-
bare Potenzial für die Potsdamer PDS in
der ersten Hälfte der 90er Jahre bei
maximal 32.000 Wählern lag, sind es
jetzt nur noch 25.000 – 27.000 Wähler.
Übersetzt: Die PDS hat jeden fünften bis
jeden sechsten Wähler verloren. Festzu-
halten ist weiter, dass der PDS die opti-
male Ausschöpfung ihres Potenzials nur
gelingt, wenn sie ein attraktives Perso-
nalangebot unterbreitet. Kutzmutz hat
einerseits deutlich an Attraktivität ein-
gebüßt, andererseits kann der OB-Kandi-
dat Scharfenberg das frühere Kutzmutz-
Potenzial nicht vollständig erreichen.
Trotzdem bleibt nach der knappen
Bundestagswahlen Wahlbe- Wahlbe- PDS
PDS Zweitstimmen rechtigte teiligung
Anzahl
in % absolut in %
Volkskammerwahl
1990 106.892 93,01 27.385 27,65
1990 106.384 75,78 16.120 20,20
1994 106.595 77,7 25.559 31,40
1998 102.650 80,44 22.808 28,14
2002 105.654 77,27 18.335 22,80
Klaus Ness
42
Stichwahl um den OB-Posten 2002
festzuhalten, dass das erreichbare
PDS-Potenzial leichter mobilisierbar ist
als die potenzielle Anhängerschaft der
SPD und der bürgerlichen Parteien.
Deshalb hätte es im Herbst fast einen
PDS-OB gegeben …
Fazit: Die PDS hat in Potsdam wahr-
scheinlich ihren Zenit überschritten.
Ursachen sind der zurückgehende
„Gebrauchswert“ der PDS als Ostpartei,
aber auch demografische und wande-
rungsbedingte Veränderungen in der
Potsdamer Bevölkerung. Auf ihrem
Weg, in Potsdam strukturell mehrheits-
fähig zu werden, ist die PDS auf dem
Rückmarsch. Andererseits kann die PDS
durch ihre nach wie vor gute Mobilisie-
rungsfähigkeit in Potsdam bei geringer
Wahlbeteiligung immer noch stärkste
Partei werden. Im Extremfall sogar mit
absoluter Mehrheit.
Stereotype Nr. 2:Ein neues Bürgertum erobert Potsdam
Jauch, Joop, Borer-Fielding, Nadja
Auermann, Friede Springer und Mat-
thias Döpfner: Die Schönen und Rei-
chen erobern Potsdam, die Villen in der
Berliner Vorstadt erstrahlen in neuem
Glanz. Spiegel, Stern, die Berliner
Tageszeitungen beschreiben in regel-
mäßigen Abständen, wie es ein neues
Großbürgertum sehnsuchtsvoll ins
preußische Arkadien zieht.
Logisch, dass damit auch die Vermu-
tung einhergeht, bei so viel finanzkräfti-
gen Zuzug müsse in Potsdam bald so
bürgerlich gewählt werden wie an der
Hamburger Elbchaussee, in Bad Godes-
berg oder am Wannsee. Goldene Zeiten
also für die CDU in Potsdam? Zunächst
stimmt eins: So viel Zuzug,Wegzug und
Umzug gab es in Potsdam noch nie wie
in den vergangenen 12 Jahren. Seit 1991
haben 61.016 Personen ihren Wohnsitz
nach Potsdam verlegt, 67.864 Men-
schen sind im gleichen Zeitraum aus der
Stadt verzogen. Auch wenn man unter-
stellt, dass es unter den Zu- und Wegzü-
gen eine Reihe von Überschneidungen
(beispielsweise Studenten) gibt, hat sich
die Potsdamer Wahlbevölkerung in den
vergangenen 12 Jahren radikal verän-
dert. In die Betrachtung muss auch ein-
bezogen werden, dass sich der Potsda-
mer Lebensbaum aufgrund natürlicher
Entwicklungen (allein 12.060 Sterbefälle
in den vergangenen 10 Jahren) verän-
dert hat. Unterm Strich kann also davon
ausgegangen werden, dass die Potsda-
mer Wählerschaft des Jahres 2002 nur
noch zu maximal 30 – 40 Prozent mit
der des Jahres 1990 identisch ist. Fast
zwei Drittel der Wähler sind neu hinzu-
gekommen. Die gemessen an der Ein-
wohnerzahl gigantische Zuzugszahl
von gut 61.000 Personen deutet schon
darauf hin, dass die Neu-Potsdamer
nicht alles nur gut verdienende Promi-
nente sein können. Der „Promi-Kult“ um
die Jauchs und Joops verzerrt das reale
Bild der Neu-Potsdamer: es sind sehr
viele Studenten dabei, die durch die
nach der Wende neu entstandene Uni-
versität mit mittlerweile 16.500 Studen-
ten in die Stadt gekommen sind. Und
noch mehr Menschen, die in der Verwal-
tungs-, Dienstleistungs- und Medien-
stadt Potsdam in den vergangenen 12
Jahren eine neue Anstellung gefunden
haben.
Vor diesem Hintergrund überrascht
es nicht, dass das von Journalisten
beschworene, vielleicht auch herbeige-
wünschte „bürgerliche Potsdam“ bei
der Betrachtung der CDU-Wahlergeb-
nisse der Jahre 1990 – 2002 keine Ent-
sprechung findet. Merke: Potsdam ist
nicht konservativer geworden.
Ihr bestes Ergebnis erreicht die CDU
prozentual und in absoluten Stimmen
bei der Bundestagswahl 1990: 18.804
Potsdamer gaben ihr damals ihre Zweit-
stimme und damit 23,57 Prozent. Zur
Bundestagswahl 2002 waren es jedoch
nur 12.421 Potsdamer und damit nur
noch 15,45 Prozent. Wenn alle 18 Wahl-
gänge der Jahre 1990 – 2002 in die
Betrachtung einbezogen werden,
erreicht die CDU zwischen 6.157 Stim-
men (Europawahl 1999) und 18.804
Stimmen (Zweitstimme Bundestags-
wahl 1990) Bei den Wahlen ab 1998
holte sie aber nur noch zwischen 6.157
Stimmen (Europawahl 1999) und 13.625
Stimmen (Erststimme Bundestagswahl
2002). Das bedeutet im Ergebnis, dass
die Veränderungen in der Zusammen-
setzung der Potsdamer Wahlbevölke-
rung keine Erweiterung des Potenzials
der CDU zur Folge hatte. Im Gegenteil:
Verrückte Welt in Potsdam?
43
Bundestagswahlen Wahlbe- Wahlbe- CDU
CDU Zweitstimmen rechtigte teiligung
Anzahl
in % absolut %
Volkskammerwahl 106.892 93,01 18.467 18,65
1990
1990 106.892 75,78 18.804 23,57
1994 105.395 77,70 14.123 17,35
1998 102.650 80,44 11.340 13,99
2002 105.654 77,27 12.421 15,45
Klaus Ness
44
Die CDU stagniert in ihren Wahlergeb-
nissen, die für sie erreichbare Wähler-
schaft ist offensichtlich sogar rückläufig.
Fazit: Es mag sein, dass sich ein Bürger-
tum in der Stadt etabliert. Aber bisher
gibt es, wie die Wahlergebnisse belegen,
kein Indiz dafür, dass sich in Potsdam ein
prägendes konservatives Milieu heraus-
bildet, von dem die CDU profitiert.
Stereotype 3: Platzecks Hometown wird SPD-Hochburg
Matthias Platzeck ist ein Kind seiner
Stadt. Der gebürtige Babelsberger
erreichte bei der OB-Wahl 1998 als SPD-
Kandidat gleich im 1. Wahlgang 51.905
Stimmen und damit 63,51 Prozent. Bei
der am selben Tag stattfindenden Kom-
munalwahl überrundete die SPD im Sog
dieses Wahlsieges mit 39,30 Prozent die
PDS und wurde stärkste Fraktion in der
Stadtverordnetenversammlung. Plat-
zeck erwies sich in seiner Zeit als OB als
der gute Kommunikator, als den die
Brandenburger ihn bereits als Umwelt-
minister kennen gelernt hatten. Pots-
dam hatte vor Platzeck lange und
schwer an dem Image getragen, die
„Meckerhauptstadt des Ostens“ zu sein.
Platzeck verstand es in seiner knapp vier
Jahre währenden Amtszeit, die Potsda-
mer wieder mit ihrer Stadt zu versöh-
nen. Insbesondere seine aktive Unter-
stützung für bürgerschaftliches Enga-
gement bei der Wiedergewinnung ver-
lorener historischer Identitätspunkte
der Stadt (Stadtkanal, Belvedere auf
dem Pfingstberg, Fortunaportal) haben
dazu beigetragen, dass die Potsdamer
wieder Stolz für ihre Stadt empfinden.
Bundestagswahlen Wahlbe- Wahlbe- SPD
SPD Zweitstimmen rechtigte teiligung
Anzahl
in % absolut in %
Volkskammerwahl
1990 106.892 93,01 34.552 34,86
1990 106.384 75,78 26.575 33,30
1994 106.595 77,7 35.181 43,22
1998 102.650 80,44 35.058 43,25
2002 105.654 77,27 37.087 46,11
Platzeck traf in seiner Amtszeit aber
auch schwierige und umstrittene Ent-
scheidungen wie etwa die Schließung
der Philharmonie, die Widerstand her-
vorriefen. Vor allem seine Kommunika-
tionsfähigkeit auch in diesen Situatio-
nen hat dazu beigetragen, dass die mei-
sten Potsdamer sein Ausscheiden als OB
und die Übernahme des Amtes des
Ministerpräsidenten mit einem lachen-
den und einem weinenden Auge gese-
hen haben.
Dies hat den Eindruck entstehen las-
sen, dass Potsdam nun endgültig zur
SPD-Hochburg geworden ist. Als Plat-
zecks „Kronprinz“ Jann Jakobs dann als
SPD-Kandidat im 1. Wahlgang bei sechs
Gegenkandidaten gleich 45,42 Prozent
der Stimmen erreichte, schien sich das
sogar zu bestätigen. Umso größer war
der Schock in der SPD, als Jakobs dann
in der Stichwahl gegen den PDS-Kandi-
daten Hans-Jürgen Scharfenberg nach
einer Zitterpartie mit nur 122 Stimmen
Vorsprung knapp das Rennen machte.
Wie stark, wie schwach ist die SPD in
Potsdam? Ein Blick in die Wahlge-
schichte der Potsdamer Sozialdemo-
kratie kann helfen, diesen Vorgang bes-
ser zu verstehen. Die SPD startete bei
der Volkskammerwahl 1990 mit 34,86
Prozent = 34.522 Stimmen, fiel bei den
Bundestagswahlen 1990 auf 33,30 Pro-
zent = 26.575 Stimmen. Bei den Bun-
destagswahlen 1994 steigerte sie sich
auf 43,22 Prozent = 35.181 Stimmen.
1998 wiederholte sie mit 43,25 Prozent
= 35.058 Stimmen fast genau dieses
Ergebnis, um sich bei den Bundestags-
wahlen 2002 auf 46,11 Prozent = 37.087
Stimmen zu steigern.
Während es der Potsdamer SPD bei
den nationalen Wahlen gelang, ihr
erreichbares Potenzial relativ umfas-
send zu mobilisieren, zeigt ein Blick auf
die Kommunal-, Landtags- und Europa-
wahlen etwas anderes: Nämlich wie
gering der prozentuale Stamm-
wähleranteil am Gesamtpotenzial der
Potsdamer SPD im Vergleich zu PDS
oder auch CDU ist. Bei den Landtags-
wahlen schwankt der Zweitstim-
menanteil zwischen 23.268 und 32.325
Stimmen. Bei den beiden Europawah-
len erreicht die SPD nur 16.668 Stim-
men (1994) und 9.904 Stimmen (1999).
Bei den Kommunalwahlen (3 Stimmen
je Wähler) schwankte der SPD-Anteil
zwischen 61.815 Stimmen (1993) und
91.046 Stimmen (1998).
Fazit: Die SPD ist in Potsdam die Par-
tei, die absolut die größte Stimmen-
zahl aller Parteien erreichen kann. Es
ist sogar davon auszugehen, dass die
Veränderungen in der Wahlbevölke-
rung in den vergangenen zwölf Jahren
der SPD zugute gekommen sind. Aber:
Die SPD hat im Vergleich zu den beiden
Hauptkonkurrenten PDS und CDU den
geringsten Anteil von Stammwählern.
Verrückte Welt in Potsdam?
45
Klaus Ness
46
Sie muss deshalb bei jeder Wahl stär-
kere Mobilisierungsanstrengungen als
die Konkurrenz unternehmen, um ihr
Potenzial auszuschöpfen. Wenn ihr das
gelingt, ist sie bei allen Wahlen in der
Lage, stärkste Partei zu werden.
Und wie gehen die Wahlen 2003 und 2004 in Potsdam aus?
Kein Mensch kann voraussagen, wie
in zwölf Monaten die Kommunalwah-
len oder in knapp zwei Jahren die Land-
tagswahlen ausgehen. Die Erfahrun-
gen der bisherigen Wahlen lassen klare
Schlüsse zu, was den Wahlausgang
beeinflussen wird: Entscheidend so-
wohl für den Ausgang der Kommunal-
als auch der Landtagswahlen in Pots-
dam wird sein, welches allgemeine
politische Klima herrscht. Wohin geht
der Bundestrend, wohin geht der Lan-
destrend? All das hat Konsequenzen für
die einzelnen Parteien, für die Mobili-
sierung ihrer jeweiligen Wählerpoten-
ziale. Berücksichtigt werden muss
auch, dass jede Wahl ihre eigenen
Gesetzmäßigkeiten hat. Während die
Landtagswahlen in starkem Maß von
dem Spitzenkandidaten geprägt sind,
sind Kommunalwahlen – auch bedingt
durch die drei Stimmen, die kumuliert
oder panaschiert werden können – in
hohem Maße Persönlichkeitswahlen.
Was bedeutet das konkret für die bei-
den nächsten Wahlen in Potsdam? Bei
der Kommunalwahl 2003 ist eine Wahl-
beteiligung zwischen 45 und 65 Prozent
zu erwarten. Die Wahlbeteiligung wird
von der allgemeinen politischen Stim-
mung, den von den Parteien aufgestell-
ten Kandidaten und ihren jeweiligen Mo-
bilisierungsanstrengungen abhängen.
Bei einer eher niedrigen Wahlbeteili-
gung spricht sehr viel dafür, dass die
PDS stärkste Fraktion im Stadtparla-
ment wird. Bei einer höheren Wahlbe-
teiligung hat die SPD gute Chancen,
ihre Rolle als stärkste Fraktion zu ver-
teidigen. Der CDU wird bei beiden Vari-
anten der Sprung über die 20 Prozent-
Grenze nicht gelingen.
Bei der Landtagswahl 2004 ist eine
Beteiligung zwischen 55 und 65 Pro-
zent zu erwarten, abhängig von der all-
gemeinen politischen Stimmung und
den Mobilisierungsanstrengungen der
einzelnen Parteien.
Die SPD hat mit dem Ministerpräsi-
denten Matthias Platzeck in Potsdam
alle Chancen, stärkste Partei zu wer-
den. Je höher die Wahlbeteiligung sein
wird, umso besser wird das Ergebnis
der SPD ausfallen. Die CDU wird hinge-
gen größere Probleme haben, ihr rela-
tiv gutes Wahlergebnis von 1999 zu
wiederholen. Die PDS hat Chancen, bei
guter Mobilisierung ihrer Anhänger-
schaft und gleichzeitig relativ geringer
Wahlbeteiligung, ihr Ergebnis von
1999 zu halten.
Verrückte Welt in Potsdam?
47
Und wer hat sich in den 12 Jahren nun durchgesetzt?
Zusammenfassend lässt sich sagen,
dass die Kräfteverhältnisse zwischen den
Parteien in den vergangenen zwölf Jah-
ren trotz massiver Veränderung in der
Potsdamer Wählerschaft relativ stabil
geblieben sind. Die SPD konnte ihr er-
reichbares Potenzial um etwa 3.000 auf
37.000 Stimmen vergrößern. Das Poten-
zial der PDS schrumpfte um etwa 4.000 –
5.000 auf 25.000 Stimmen. Die CDU
schwankte ohne große Änderungen zwi-
schen 12.000 und 13.500 Stimmen.
Entscheidend für den jeweiligen
Wahlausgang wird sein, welche Partei
ihre Anhänger und Sympathisanten
besser zum Gang an Wahlurne mobili-
sieren kann. Hier hat die PDS es am
leichtesten und die SPD die größten
Schwierigkeiten. Alle drei Parteien sind
weit davon entfernt, strukturelle
Mehrheiten in Potsdam zu erreichen.
Es bleibt also spannend.
Klaus Nessist Landesgeschäftsführer der SPD Brandenburg.
SPD PDS CDU
Anzahl Anzahl Anzahl
absolut % absolut % absolut %
BT-Wahl Min 27.232 (90) 34,22 (90) 17.066 (90) 21,45 (90) 11.398 (98) 14,05 (98)
Erststimmen Max 32.928 (02) 41,07 (02) 31.447 (94) 38,75 (94) 18.277 (90) 22,97 (90)
BT-Wahl Min 26.575 (90) 33,30 (90) 16.120 (90) 20,20 (90) 11.340 (98) 13,99 (98)
Zweitstimmen Max 37.087 (02) 46,11 (02) 25.559 (94) 31,40 (94) 18.804 (90) 23,57 (90)
LT-Wahl Min 20.961 (99) 33,21 (90) 18.303 (90) 24,43 (90) 8.130 (94) 11,86 (94)
(Erststimmen) Max 29.281 (94) 42,73 (94) 24.255 (94) 36,86 (94) 14.309 (90) 20,57 (99)
LT-Wahl Min 23.268 (99) 38,01 (99) 17.742 (90) 23,58 (90) 7.731 (94) 11,25 (94)
(Zweitstimmen) Max 32.325 (94) 47,05 (94) 22.637 (94) 32,95 (94) 13.697 (90) 20,46 (99)
Europawahl Min 9.904 (99) 29,30 (99) 12.516 (99) 36,70 (94) 6.157 (99) 12,90 (94)
Max 16.668 (94) 34,70 (94) 17.627 (94) 37,10 (99) 6.178 (94) 18,20 (99)
Kommunalwahl Min 61.815 (93) 31,96 (90) 61.559 (90) 26,52 (90) 19.579 (93) 10,27 (93)
(3 Stimmen) Max 91.046 (98) 39,30 (98) 74.330 (98) 38,36 (93) 38.589 (90) 16,62 (90)
OB-Wahl Min 19.347 (93) 29,48 (93) 20.043 (98) 24,52 (98) 7.458 (98) 9,13 (98)
Max 51.905 (98) 63,51 (98) 29.739 (93) 45,32 (93) 12.493 (02) 15,51 (02)
OB-Stichwahl Min 21.423 (02) 50,14 (02) 21.301 (02) 45,06 (93)
Max 36.311 (93) 54,94 (93) 29.782 (93) 49,86 (02)
Die Parteien und Parteisysteme
schweben in Ostdeutschland nach wie
vor in weiten Bereichen lose vernetzt
über dem Wählermarkt. Begründete
Parteibindungen existieren kaum und
sind häufig Zufälligkeiten anheim
gestellt. Zusätzlich herrscht das Gefühl
vor, dass die westdeutsch dominierten
Parteien SPD und CDU die ostspezifi-
schen Interessenlagen nur unzurei-
chend aufnehmen können. Hier hat die
PDS den entscheidenden Vorsprung
gegenüber ihren Konkurrenten. Sie hat
keine westdeutsche Schwesterpartei,
auf die sie Rücksicht nehmen müsste
und sie hat aus der ehemaligen Dienst-
leistungsklasse der DDR ein Milieu
hinüberretten können, das aus Tradi-
tion und innerer Verbundenheit so
etwas wie ein Stammwählerpotential
darstellt.
Für die SPD müssen die Parteibin-
dungen immer wieder neu begründet
werden. Ausgehend von einer tiefen
emotionalen Verbundenheit mit dem
amorphen Gebilde „Ostdeutschland“
(siehe weiter unten) muss diese Partei-
bindung über Perspektiven und Identi-
fikationen hergestellt werden. Harte
Fakten, wie der Solidarpakt II, der
Stadtumbau Ost oder auch eine Infra-
strukturoffensive reichen hierfür nicht
aus. Dieses sind Voraussetzungen zur
ökonomischen Überlebensfähigkeit
„des Ostens“, sie lassen sich aber kaum
emotional aufladen. Das gelingt
jedoch mit Kompetenzen, die die Ost-
deutschen besitzen.
„Zwölf Jahre nach der Wiedergrün-
dung des Landes Brandenburg ist die
Nachwendezeit abgelaufen. Die Zeit
ist zu Ende, die gekennzeichnet war
durch den dramatischen Umbruch des
Jahres 1989 und seine Folgen“, so Mat-
thias Platzeck, einer der Hoffnungsträ-
ger der ostdeutschen SPD, in seiner
ersten Regierungserklärung als bran-
denburgischer Ministerpräsident. Und
weiter: „Wir Brandenburger sind im
Alltag der neuen Bundesrepublik ange-
kommen. Es wächst inzwischen eine
junge Generation heran, die mit der
Zeit vor 1989 höchstens noch vage
Kindheitserinnerungen verbindet –
und oft nicht einmal mehr das. Im
Herbst vor 13 Jahren waren viele der
Erstwähler des Jahres 2002 noch nicht
einmal eingeschult.“
49
„Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“Chancen für eine neue Sozialdemokratie in Ostdeutschland
von Lars Krumrey
Was wie ein Allgemeinplatz klingt,
ist der Versuch, eine neue Debatte über
die zukünftige Rolle Ostdeutschlands
in der Bundesrepublik zu initiieren. Mit
einigem Geschick kann hieraus auch
ein neuer Denkansatz für die Sozialde-
mokratie Ostdeutschlands entstehen.
Schauen wir uns zunächst noch mal
die Nachwende-Zeit an. Mit der Wirt-
schafts-, Währungs- und Sozialunion
begann ab Sommer 1990 das Umkrem-
peln einer gesamten Volkswirtschaft.
Statt Club-Cola gab es plötzlich Cherry-
Coke in den Diskos, Werder-Obst wurde
durch Holländische Importtomaten
abgelöst und statt des Trabbis stand
nun der Opel Omega vor der „Platte“.
Politisch erodierte die DDR ebenfalls.
Die ideologisch kontrollierte Wandzei-
tung in der Schule durch mehr oder
wenig gelungen Schülerzeitungen
abgelöst, das Kollektiv hieß nun Team
und statt eines einfachen Ja zum Wahl-
vorschlag der Nationalen Front musste
sich der mündige Wähler plötzlich zwi-
schen bis zu einem Dutzend Parteien
auf dem Wahlzettel entscheiden. Das
alles war von der Bevölkerung gewollt.
Was nicht gewollt war, war die öko-
nomische Depression, die um sich griff.
Weil alle Treibhaus-Tomaten kauften,
wurden die Obstpflücker in Werder
arbeitslos. Weil Milka-Schokolade en
vouge war, wurde keine Schlager-Süß-
tafel mehr hergestellt. Weil Pneumant
Trabbi-Reifen produzierte, stand die
Firma kurz vorm Exodus. Und Robotron
mit dem größten Mikrochip der Welt
war plötzlich weit weniger modern als
ein 10 Jahre alter Commodore C 64.
Neu war auch, dass es statt des kosten-
losen Betriebskindergartens nun plötz-
lich Gebührendbescheide für die kom-
munalen Kitas gab.
Das alles hat zu den sattsam bekann-
ten massiven Tranformations-Proble-
men und zunehmender Perspektivlo-
sigkeit der Bevölkerung geführt. Kaum
ein „gelernter DDR-Bürger“ kann nach
der Wende auf eine bruchfreie Berufs-
biografie zurückschauen. Fast jede
Familie war in unterschiedlich intensi-
ver Ausprägung von Arbeitslosigkeit
betroffen – oder ist es noch heute. Wie
das neue Gesellschaftssystem funktio-
niert, musste man erst mühsam lernen,
häufig überaus schmerzhaft.
Transformation bedeutet deshalb in
der Nachwendezeit vor allem Unsi-
cherheit bis hin zur Fremdheit im eige-
nen Lande. Alles in allem fühlte sich bei
weitem nicht nur die ehemalige
Dienstleistungsklasse der DDR um ihr
Lebenswerk betrogen.
Nun hatten die Westdeutschen den
Ossis aber blühende Landschaften ver-
sprochen. Keinem sollte es schlechter
gehen als vorher! Und hier setzten die
politischen Konzepte der Nachwende-
zeit an. Die Probleme des Vereini-
Lars Krumrey
50
gungsprozesses mussten staatlich
abgefedert werden.
Die ostdeutsche SPD erklärte ver-
nünftiger Weise über zehn Jahre lang
die Menschen und deren sozialen Zu-
sammenhalt zur Richtschnur ihres Han-
delns. Dem Primat der Kohlschen Wirt-
schafts- und Währungsunion setzte sie
das Primat der Sozialunion entgegen.
Sie wollte den Vereinigungsprozess auf
Länderebene so gut wie möglich mana-
gen und die Unbilden der Vereinigung
möglichst umfassend abfedern. Stamo-
kap war zwar out, der Staatsinterventio-
nismus erhielt aber in den Ost-Ländern
unter zu Hilfenahme der größten Um-
verteilung Deutschlands von West nach
Ost unter anderem Vorzeichen eine völ-
lig neue Dimension.
Dabei kämpfte die Ost-SPD an vielen
Fronten: Den Menschen versuchte sie
den Eindruck zu vermitteln, dass sie
keine wirkliche Deklassierung erlebt
haben und erhobenen Hauptes in die
neue Bundesrepublik eintreten könnten.
Von rechts musste sie sich des Vorwurfes
erwehren, auf Kosten einer unverant-
wortlichen Staatsverschuldung „Soziali-
stische Wärmestuben“ zu errichten. Die
PDS – zu der die SPD ihr Verhältnis nie
wirklich richtig klären konnte – warf den
Sozialdemokraten vor, die Menschen nur
technokratisch zu verwalten und im
Zweifelsfall auf dem Altar der gesamt-
deutschen Politik zu opfern.
Das große Dilemma der Ost-SPD war,
das „Links“ und „Rechts“ in Ost-
deutschland eindeutig aufgeteilt
waren. Sie hatte also nur einen sehr
schmalen Grad, innerhalb dessen sie
sich profilieren konnte. Ihre Genese als
einzige wirklich neue Partei von
Bedeutung in der Nachwende-Gesell-
schaft reichte für den dauerhaften Par-
teienwettbewerb nicht aus. Die drin-
gend notwendige Diskussion über ein
eigenes politisches Selbstverständnis
wurde innerhalb der Ost-Sozialdemo-
kratie leider teils aus Überlastung (die
Anzahl der von Sozialdemokraten aus-
gefüllten Mandate stand und steht in
einem krassen Missverhältnis zur
Anzahl der Mitglieder), teils aus Mutlo-
sigkeit, nie ernsthaft geführt. Das führt
auch heute noch dazu, dass die SPD in
den „neuen Ländern“ zwar dort Erfolge
erzielen kann, wo sie charismatische
Persönlichkeiten anbietet (Stolpe, Plat-
zeck, Ringsdorf, früher sehr herausra-
gend Hildebrandt) und sich die Men-
schen (staatsinterventionistisch) gut
regiert fühlen. Eine in schwierigen Zei-
ten auch inhaltlich belastbare Verbin-
dung zwischen Wählerschaft und Par-
tei ist hieraus jedoch nur sehr rudi-
mentär erwachsen.
In Zeiten knapper Kassen bedeutet
dies eine erhebliche Gefahr für die SPD.
Gut regieren im ostdeutschen Sinne
hieß bisher immer, Geld in die Hand zu
„Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“
51
nehmen und entweder Strukturförde-
rung zu betreiben oder wichtige Pro-
jekte mit „Ost-Feeling“ am Leben zu
erhalten. Hierauf konzentriert(e) sich
der Parteienkampf um die kulturelle
Hegemonie in Ostdeutschland letzt-
lich. Die Auseinandersetzungen um die
Finanzierung der Kinderbetreuung in
Brandenburg und Sachsen-Anhalt sind
hierfür nur ein Beispiel.
In den letzten Jahren sind die Gren-
zen der öffentlichen Kassen aber mehr
als deutlich geworden. Es muss also
eine neue Begründung für politisches
Handeln her. Gleichzeitig schreit die
Realität angesichts von Anspruch und
Wirklichkeit danach, die Rolle Ost-
deutschlands in der Gesamtrepublik
auf eine neue Grundlage zu stellen.
Der Solidarpakt II und seine Schatten-
haushalte gewährleisten zwar nach
wie vor erhebliche Investitionen, die
Bewältigung des sozialen Wandels ist
damit aber nicht zu realisieren.
Deshalb ist Matthias Platzeck unein-
geschränkt zuzustimmen: Die Nach-
wendezeit ist vorbei – in Ost und West!
Das wiedervereinigte Deutschland
steht von einem ähnlichen Strukturwan-
del wie die DDR-Bevölkerung Anfang der
90er. Zwar wird das politische System
nicht durch ein neues ersetzt, aber
Grundfesten des deutschen Sozialsy-
stems müssen renoviert werden. Die
Politik steht vor der Aufgabe, ein moder-
nes Deutschland zu schaffen. In den
nächsten Jahren wird für die gesamte
Bundesrepublik Wandel zur Normalität
und Stillstand zur Ausnahme.
Ostdeutschland kommt hierbei eine
Schlüsselrolle zu. Zwar gibt es immer
noch vereinigungsbedingte Probleme,
aber es gibt eben weder die finanziellen
Mittel aus der Nachwendezeit, noch
kann man 13 Jahre nach dem Mauerfall
ruhigen Gewissens begründen, warum
sich bestimmte soziale Standards
(Schulsozialarbeit, Kita-Dichte, Schul-
größen usw.) immer noch deutlich über
den westdeutschen Niveaus befinden.
Der Nachwendezeit in Ostdeutschland
folgt nun ein gesellschaftlicher Um-
bruch, der durch demografische Brüche
geprägt ist. In den ländlichen Regionen
hält das Downsizing an, die Abwande-
rung qualifizierter und junger Men-
schen aus den Dörfern und Gemeinden
wächst und insgesamt kollabiert unser
Sozialsystem angesichts der derzeitigen
Ausgaben. Das Gleichgewicht zwischen
sozialen Ansprüchen und staatlicher
Unterstützung muss neu gefunden wer-
den. Hier stehen vielfältige und tiefgrei-
fende Umbrüche bevor.
Bei aller negativen Erfahrung haben
die Ostdeutschen bei der Lösung der
anstehenden Probleme jede Menge
einzubringen. Sie haben in der Nach-
wendezeit erfahren, wie Umbrüche
und Herausforderungen gemeistert
Lars Krumrey
52
werden können. Sie haben gelernt, dass
jede Krise auch neue Chancen birgt und
sie haben an eigenem Leib gespürt, was
es bedeutet, flexibel auf den Wandel
reagieren zu müssen. Diese Erfahrung
haben die „Ossis“ den „Wessis“ voraus.
Ihre Kenntnisse und das Wissen um die
Chancen, die mit den Krisen einherge-
hen können, geben den Ostdeutschen
einen Erfahrungsvorsprung.
Hinzu kommt ein in Ostdeutschland
immer noch sehr homogenes System
an Werten und Identifikationsmustern.
Das Selbstverständnis der Ostdeut-
schen als „Deutsche zweiter Klasse“, das
empirisch ja durchaus auch begründbar
ist, hat zu einer signifikanten Identifika-
tion mit „Ostdeutschland“ geführt.
Haben sie sich kurz nach der Wende
(ausgehend von dem Slogan „Wir sind
ein Volk“) zu 65 Prozent vor allem mit
der Bundesrepublik emotional verbun-
den gefühlt, so weist der Sozialreport
für das Jahr 2001 eine 80-prozentige
Verbundenheit mit „Ostdeutschland“
aus, einem politischen Raum, der anders
als eine Gemeinde, die Bundesrepublik
oder die Europäische Union formal gar
nicht existiert.Wolfgang Engler, Berliner
Soziologe mit ostdeutscher Biografie,
bringt es auf den Punkt: „Aus den Ost-
deutschen an sich wurden die Ostdeut-
schen für sich.“
Dieses „für sich“ führt zu spezifi-
schen Ausprägungen, die gute Ansatz-
punkte für die SPD bieten. Ausgehend
von der kulturellen Identität spielen
die Begriffe „Gerechtigkeit“ und
„soziale Sicherheit“ eine zentrale Rolle
im ostdeutschen Selbstverständnis.
Beides, die während des Transforma-
tionsprozesses erworbenen „Umbruch-
Kompetenzen“ und der innere Zusam-
menhalt der Ostdeutschen mit dem
spezifischen Wertesystem kann die
Grundlage einer neuen sozialdemokra-
tischen Politik sein.
Ein Indiz hierfür ist auch das Ergebnis
der Bundestagswahl 2002. Hier soll
keine Wahlanalyse geleistet werden,
und sicherlich ist das Ergebnis auf eine
Vielzahl von Einflüssen zurückzuführen.
Trotzdem einige Anmerkungen, die die
Ausgangslage skizzieren.„Sicherheit im
Wandel“, unter dieser Überschrift hat
die SPD in Ostdeutschland ein bemer-
kenswertes Ergebnis erzielt. Sie wurde
mit Abstand stärkste Partei. Von Sach-
sen abgesehen, wird die politische
Geographie im Osten seit dem 22. Sep-
tember von der SPD bestimmt: von den
37 Wahlkreisen in den übrigen vier Län-
dern hat die CDU diesmal lediglich 3,
die SPD dagegen 34 für sich gewinnen
können. Von der PDS sind 300.000
Wählerinnen und Wähler zur SPD
gewandert.
Das macht deutlich: Die SPD ist in
Ostdeutschland durchaus auch in für
sie als schwierig erachteten Ländern
„Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“
53
mehrheitsfähig. Sie ist es immer dann,
wenn sich die Menschen von ihr mitge-
nommen fühlen. Vergewissert sich die
Sozialdemokratie dessen und orientiert
sie sich – ausgehend von der gesell-
schaftlichen Wirklichkeit – bei der
Begründung der Notwendigkeit von
Umbrüchen und Einschnitten an den
Begriffen „Gerechtigkeit“ und „soziale
Sicherheit“, wird sie Zustimmung zu
ihren Politikangeboten erhalten.
Die Gestaltung eines modernen
Deutschlands muss zum Markenzei-
chen der Ost-SPD werden. Hierbei wer-
den die Ostdeutschen einen wesentli-
chen Teil ihrer Erfahrungen einbringen
und damit ihre Rolle im vereinigten
Deutschland einer grundlegenden Ver-
änderung unterziehen können. Daraus
wird sich dann auch ein neues, ein star-
kes und tragfähiges Selbstbewusstsein
der Ostdeutschen entwickeln.
Nur, das muss die Sozialdemokratie
auch leisten: Sie muss begründen,
wohin sie will, warum das sozial
gerecht ist und was man gegenseitig
voneinander erwarten kann!
Die Kernprobleme müssen auf den
Tisch. Dieses sind die Fragen der Ren-
tenversicherung und Generationenge-
rechtigkeit, der staatlichen Absiche-
rung von Lebensrisiken und die Frage
nach den Voraussetzungen für mehr
Beschäftigung und Entlohnung. Hinzu
kommt die Frage, welche Wanderungs-
bewegungen sind innerhalb der Bun-
desrepublik notwendig, um mehr
Arbeit zu schaffen, sprich: Können die
Uckermark oder das Vogtland in einem
nennenswerten Umfang über den Sta-
tus quo hinaus Arbeitsplätze anbieten,
oder muss die regionale Mobilität
nicht gefördert werden?
Auf alle diese Probleme muss die
SPD in der nächsten Zeit wohl begrün-dete Antworten liefern. Wenn sich Ost-
deutschland an die Spitze der Reform-
bewegung setzt, profitiert es ökono-
misch und sozial. Leisten kann das die
ostdeutsche Bevölkerung allemal.
Abwanderung, ausgelöst durch den
demografischen Wandel in unserer
Gesellschaft, wachst sich zu einem der
zentralen Zukunftsprobleme des Landes
aus. Das Auseinanderfallen von Randre-
gionen und Ballungszentren birgt
erheblichen sozialen Sprengstoff und
stellt die Politik vor die vielleicht größte
Herausforderung der nächsten Jahre.
Um den demografischen Wandel ranken
sich alle großen Probleme wie Arbeitslo-
sigkeit, Bildungspolitik, Generationenge-
rechtigkeit und Zukunftsfähigkeit unse-
rer sozialen Sicherungssysteme.
Aus Brandenburg sind im letzten Jahr
15.800 Personen in andere Bundesländer
abgewandert. Nur die Ansiedlung an der
Berliner Stadtgrenze sichert Branden-
burg zur Zeit eine halbwegs ausgegli-
chene Wanderungsbilanz. In der
Lars Krumrey
54
Gesamtbetrachtung bedeutet es aber,
denn hinzu kommen noch die Wande-
rungsbewegungen innerhalb Branden-
burgs, das „Ausbluten“ weiter Bereiche
des Landes. Spektakuläre Aktionen, wie
der Abriss von Plattenbauten in Schwedt
oder Eisenhüttenstadt, sind nur die Vor-
boten der tatsächlichen Herausforde-
rung. Es geht für Ostdeutschland in der
Konsequenz darum, das soziale, ökono-
mische und kulturelle Leben in Forst, Par-
chim, Chemnitz und Saalfeld abzusi-
chern. Die Diskussion über den jahr-
gangsübergreifenden Unterricht zur
Absicherung einer wohnortnahen
Schulversorgung oder tragfähige Struk-
turen des öffentlichen Personennahver-
kehrs in der Fläche sind die „neuen Kul-
turfolger“ der Abrissbirnen. Da die groß-
zügig ausgebauten Gewerbegebiete
auch mehr als 10 Jahre nach der Wende
von Großinvestoren links liegen gelas-
sen werden, werden die Fragen nach
regionalen Wirtschaftskreisläufen und
Vermarktungssystemen ebenfalls laut
gestellt. Für das Gesundheitssystem
stellt sich zum Beispiel die Frage, wie
kann die Versorgung der zunehmend
vergreisenden Bevölkerung aufrechter-
halten werden? Ein ähnliches Versor-
gungsproblem entsteht bei den Kon-
sumgütern des täglichen Bedarfs.
Anders als der Westen der Republik,
wo sich die Landes- und Kommunalpo-
litiker diesen Problemen noch weitest-
gehend verschließen, sind die Diskus-
sionen über Reaktionsmöglichkeiten
und Auswege in Ostdeutschland mitt-
lerweile voll im Gange. Das Vertrauen
auf ein Bevölkerungswunder ist einer
realistischen Wahrnehmung gewi-
chen. Die Lösungen sind bei weitem
noch nicht gefunden. Aber die Bereit-
schaft dazu ist deutlich ausgeprägter
als an der niederländischen Grenze.
Der hieraus entstandene Erfahrungs-
vorsprung in Bezug auf Infrastruktur-
wandel und demografische Herausfor-
derungen beträgt mindestens zehn
Jahre. Ein Faustpfand, der genutzt wer-
den muss.
Zu der zu erwartenden neuen Rolle
und den korrespondierenden eigenen
Ansprüchen gehört auch, dass ostdeut-
sche Spitzenrepräsentanten zuneh-
mend bereit sein müssen, Verantwor-
tung für die gesamte Gesellschaft zu
übernehmen. Personen sind in unserer
Gesellschaft zu Symbolen von politi-
schen Inhalten geworden. Ein moder-
nes Ostdeutschland will von modernen
Menschen repräsentiert werden.
Das heißt, die Ost-SPD muss verstärkt
Leute anbieten, die Stallgeruch mitbrin-
gen, gleichzeitig aber auch Wandel und
Zukunftsfähigkeit repräsentieren. Hier
steckt die SPD zur Zeit insgesamt in
einem Dilemma. Ein ausreichend
großes Personalreservoir von Men-
schen, die eine entsprechende Reprä-
„Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“
55
sentationsleistung erbringen könnten,
existiert derzeit nicht. Jedoch ist bei
aller Unzulänglichkeit die Lage der Ost-
SPD um einiges komfortabler, als die der
westlichen Parteigliederungen. Hier fal-
len einem relativ spontan immerhin die
Namen Platzeck, Matschie und Tiefen-
see ein – alles Personen, die erst am
Anfang ihrer Karriere stehen. Ähnliche
Assoziationen fallen für Westdeutsch-
land ungleich schwerer. Wende-Reprä-
sentanten der Ost-SPD, wie Richard
Schröder, Markus Meckel, Stephan Hils-
berg, Friedrich Schorlemmer oder Rein-
hard Höppner spielen hingegen heute
in der Ost-SPD, und noch stärker in der
öffentlichen Wahrnehmung, kaum
noch eine Rolle. Auch daran macht sich
das Ende der Nachwendezeit deutlich.
Die erste Person auf Regierungsebene,
die mit einer eindeutigen Ost-Biogra-
phie und den entsprechenden Erfahrun-
gen Verantwortung für Gesamtdeutsch-
land übernimmt, ist Manfred Stolpe.
Wenn er als Infrastrukturminister „Auf-
bau Ost“ und „Ausbau West“ auf eine
Stufe stellt, dann ist das Ausdruck des
eingeforderten Selbstbewusstseins. Er
ist aus seiner Rolle als Sachwalter des
Ostens (Ministerpräsident) herausge-
wachsen und betreibt seine Politik nun
auf Grundlage eines gesamtdeutschen
Hintergrundes. Das wird zunehmend
der Anspruch an SPD-Spitzenpolitiker
sein: Mit dem Bewusstsein um die eige-
nen Erfahrungen und den hieraus resul-
tierenden Kompetenzen die gesamt-
deutsche Perspektive des politischen
Handelns deutlich machen. Der „Sonder-
weg Ost“ ist vorbei. Die von Franz Walter
eingeforderte fulminante Beteiligung
an den großen Kontroversen der Repu-
blik muss eine nachhaltig ostdeutsche
Prägung bekommen.
Auch dieses ist ein Ergebnis des
Endes der Nachwendezeit.
Lars Krumrey
56
Lars Krumreyist Diplom-Politologe und Referent beim SPD-Landesverband Brandenburg.
Brandenburg ist derzeit kein Land
ohne Probleme. Dafür gibt es eine Viel-
zahl von Ursachen. Sicher ist nur ein
Teil der Probleme in Brandenburg
selbst begründet und kann durch die
Politik im Land beeinflusst werden.
Dennoch sollte eine gewisse kritische
Stimmung erlaubt sein. Aus meiner
Sicht (ganz persönlich und ganz sub-
jektiv) brauchen wir in der jetzigen
Situation vor allem ein klares Einge-
ständnis bestehender Probleme – ohne
zu resignieren – und Ernsthaftigkeit
und Problemlösungskompetenz in
ihrer Beseitigung. Es folgen lose
Gedanken über eine Generation, die
ihren Beitrag zur Lösung dieser Pro-
bleme leisten möchte.
Bevor wir uns jedoch mit dieser
Generation beschäftigen, müssen wir
uns mit drei anderen Generationen –
vielleicht wäre es besser von Gruppen
zu sprechen, doch der Generationsbe-
griff ist/war irgendwie in Mode3 –
beschäftigen. Die erste bestand aus
Regine Hildebrandt und Manfred
Stolpe. Sie prägten Brandenburg weit
über zehn Jahre und über den politi-
schen Rahmen hinaus. Zum einen
führten sie Politik und Verwaltung,
waren somit für Problemlösungen ver-
antwortlich. Zum anderen nahmen sie
aber die Menschen im Land mit in die
neue Zeit. Sie standen für das Branden-
burg in den zehn Jahren nach der
Wende. Sie gaben Stabilität und Legiti-
57
Zonenfunktionäre1 – Eine ostdeutsche Generation als Avantgardeoder ein egoistisches Manifest2
von Christian Maaß
1 Der Begriff Zonenfunktionäre ist wie der gesamte Titel eine Kombination der folgenden drei Buchtitel.Hensel, Jana (2002): Zonenkinder, Berlin.; Illies, Florian (2000): Generation Golf, Berlin.;Engler, Wolfgang (2002): Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin.
2 Die nachfolgen Zeilen sind bewusst subjektiv gefärbt und erheben keinen Anspruch auf Differenziertheit und Neu-tralität. Sie sollen vor allem zur Diskussion anregen. Zeiten großer Herausforderungen verlangen Ideen und Denk-anstösse außerhalb gewohnter Raster und Wege, „denn Avantgarde ist keine Garantie für Ankunft, nur für Auf-bruch. Furcht vor dem Unbekannten ist ihr eigen, gewaltsame Abstoßung von der Vergangenheit, zeitweiser Verlustvon Ort und Halt, Schmerz und Herbheit. (Engler 2002, S. 196)“ Dabei wird bewusst in Kauf genommen anzuecken.Eine Distanz zum Thema kann es schon deshab nicht geben, weil sich der Verfasser der hier beschriebenen Gruppezugehörig fühlt.
3 Allenthalben werden Generationen besichtigt (siehe FN 1 und 2). Dabei ist allerdings kaum jemand so lesenswertwie Herr Lehmann und die Generation derer, die vor dem Mauerbau in Westberlin darauf warteten 30 zu werden.
Brandenburg nach Stolpe und Hildebrandt
mation für ein System, das für einen
deutlich sichtbaren Teil unserer Bürge-
rinnen und Bürger durchaus Probleme
mit sich bringt. Sie standen für den
Übergang von der DDR in das verei-
nigte Deutschland. Regine Hildebrandt
ist so früh und auf so tragische Weise
von uns gegangen. Es wird auf abseh-
bare Zeit keine Politikerin und schon
gar keinen Politiker gegeben, der so
glaubwürdig und zugleich kraftvoll
und optimistisch den Zugang zu den
Menschen finden wird.4 Manfred
Stolpe verschleißt sich derweil im
Kabinett von Gerhard Schröder: Dieses
Kabinett ist gegenwärtig nicht der Ort
übergroßen Erfolges und Siegesgewis-
sheit. Auf Regine Hildebrandt können
wir demnach gar nicht mehr und auf
Manfred Stolpe nur noch bedingt
zurückgreifen, wenn es um Politik in
Brandenburg geht.
Die zweite Gruppe ist die Gruppe
derer, die 1990 die Ärmel aufkrempelten
und unter teilweise chaotischen und
dramatischen Bedingungen Politik und
Verwaltung in Brandenburg auf-bau-
ten. Diese Gruppe trägt heute zum
großen Teil Verantwortung. Sie steht vor
der Herausforderung, aus der Erinne-
rung an die Aufbauleistung ein neues
Selbstbewusstsein und neue Problem-
lösungskompetenz zu gewinnen. Wenn
die Zeit der Transformation vorbei ist,
aber die großen Herausforderungen
noch bestehen, Antworten auf noch
immer drängende Fragen für Branden-
burg gesucht werden müssen, können
die bisherigen Lösungsmuster nicht
mehr verfangen. Im Sinne des Landes
wäre eine intensive und vertrauensvolle
Zusammenarbeit dieser Generation
und der Zonenfunktionäre erforderlich.
Das Problem dieser beiden Gruppen ist
der mitunter nicht ausreichende Alters-
abstand. Die Zonenfunktionäre werden
teilweise als Bedrohung aufgefasst,
zumindest wenn sie in hauptamtliche
Verantwortung streben. Hier bedarf es
eines fairen Ausgleichs zwischen den
besten Teilen beider Gruppen.
Die dritte Generation/Gruppe ist wie
die erste sehr klein. Aus Regine Hilde-
brandt und Manfred Stolpe ist Mat-
thias Platzeck geworden. Er steht
angesichts der Situation des Landes
vor der schwierigen Aufgabe, anhal-
tend hohe Integrationswerte mit
neuer Problemlösungskompetenz zu
verbinden. Alte Muster verfangen
nicht mehr, es geht darum, Branden-
burg erfolgreich in eine neue Zeit zu
führen. In der Regierungserklärung
heißt das „Modernisierung mit märki-
scher Prägung“. War bereits kurz auf
den Konflikt zwischen der Generation
der erste Stunde und den Zonenfunk-
tionären hingewiesen worden, so
Christian Maaß
584 Als Beleg kann u.a. das Kondolenzbuch auf den Seiten http://www.regine-hildebrandt.de/ angeführt werden.
kommt dem Parteivorsitzenden und
Ministerpräsidenten auch hier eine
ausgleichende und auswählende Auf-
gabe zu. Er wird herausfinden müssen,
wer sich dazu eignet, den Weg der
Modernisierung mitzutragen. Die rich-
tige Beantwortung dieser Frage, auch
unter maßvollem Rückgriff auf qualifi-
zierte Importe, ist eine Erfolgsvoraus-
setzung für die SPD in Brandenburg.
Die Zonenfunktionäre5
Ihre Ausbildung Geboren sind die Angehörigen dieser
Generation so um das Jahr 1970. Mit-
unter können ihr auch etwas jüngere
oder ältere Menschen zugerechnet
werden. Stimmen die Mitglieder der
Gruppe in vielen, aber nicht allen
Merkmalen überein, ist es eben durch-
aus leichter möglich, zur Gruppe dazu
zu stoßen. Somit waren sie 1989 für
eine aktive Teilnahme an den mehr
oder weniger revolutionären Umwäl-
zungen noch zu jung. Sie waren auch
zu jung, um 1989/90 einen der recht
einfach zu ergatternden hauptamtli-
che Posten in Politik und Verwaltung
abzu-bekommen. Die meisten waren
aber alt genug, um zu diesem Zeit-
punkt mit einem politischen Engage-
ment zu beginnen, das spätestens bei
der zweiten Runde der Kommunal-
wahlen einen Sitz in einer Stadtverord-
netenversammlungen oder Kreistag
brachte. Hier konnten die ZF in den
letzten Jahren zumeist gut vorankom-
men. Zu jung, um in der DDR zu studie-
ren sind die Angehörigen dieser
Gruppe, aber alt genug, um in der DDR
die Schule abgeschlossen zu haben.
Somit verfügen sie über beides die
Prägung durch den Osten und die Aus-
bildung (oft ein Studium) im Westen.
Sie sind hier sozialisiert, dennoch ken-
nen sie mehr als den einheimischen
Kulturkreis. Somit ist die Gruppe eine
große Chance für die Partei. Die dop-
pelte Geschichte bietet Perspektiven,
angesichts knapper Kassen und einer
bisher in gewissen Teilen qualitäts-ver-
gessenen NRW-orientierten Personal-
rekrutierung Verantwortung zu über-
nehmen und neue Lösungen zu offe-
rieren. Wie geht die Partei mit dieser
Gruppe um? Welche Rolle spielt sie in
der Modernisierung?
Angesichts der (äußerst) problemati-
schen Situation des Landes Branden-
burg brauchen wir Professionalität zur
Bewältigung der Herausforderungen.
Zonenfunktionäre können aufgrund
Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest
595 Zukünftig nur noch ZF.
ihrer Ausbildungspfade zumeist ein
gewisses Maß an Professionalität bie-
ten. Die Qualität der Schulbildung in
der DDR hat zumeist die Grundlagen
für ein erfolgreiches Studium gelegt.
Sie haben davon profitiert, dass
Deutsch, Mathe und Physik nicht nach
der achten Klasse abwählbar waren.
Fehlende musische, geschichtliche,
künstlerische und sprachliche Kennt-
nisse wurden durch familiäre, kirchli-
che oder sonstige oft außerhalb des
ostdeutschen Systems liegende Akti-
vitäten kompensiert. Viele besuchten
den Religionsunterricht regelmäßig bis
gern, auch und gerade, weil er in der
Gemeinde und nicht in der Schule
stattfand. Zonenfunktionäre mussten
lernen, sich anzupassen und aufzupas-
sen. Wer keine Jugendweihe mit-
machte, brauchte Durchhaltevermö-
gen, Disziplin und ein Elternhaus, das
ihn dabei stützte. Einige von ihnen
mussten lernen, in einer Welt voranzu-
kommen, die sie manchmal an den
Rand schob, es auf keinen Fall beson-
ders leicht machte. Sie lernten zwi-
schen den Zeilen lesen und denken.
Später konnten sie mit den Kommilito-
nen aus dem Westen mithalten. Was
für einen Erfolg in Brandenburg von
größerer Bedeutung ist; sie haben ein
Studium (oft) im Lande eben trotzdem
unter Westbedingungen absolviert.
Dabei profitierten sie von der Auf-
bruchstimmung in den ersten Jahren
an den Nachwendeuniversitäten. Sie
studierten oft bei Professoren, die noch
einmal etwas bewegen wollten, die
etwas Neues suchten. Sie hatten einen
Vorsprung, wenn es um studentische
Jobs und die Besetzung von Mitarbei-
terstellen im Anschluss an das Stu-
dium ging. Sie standen nicht vor dem
überfüllten Hörsaal, sondern lasen in
aus Erstausstattungsmitteln ange-
schafften Büchern. Sie erlebten dabei
zugleich, wie es Ostdeutsche schaff-
ten, im Wissenschaftsbetrieb zu ver-
bleiben, oder viele – trotz guter Qualifi-
kation – durch den Rost fielen. Eine
gewisse Professionalität verspre-
chende Ausbildung ist also vorhanden.
Die neben dem Studium entfalteten
praktischen Aktivitäten sorgten dabei
für die notwendige Bodenhaftung und
Praxisorientierung.
Christian Maaß
60
Ihr Glaube an die Einheit – Oder füreine lebendige Sozialdemokratie undwider Bonner6 und andere Kleingeister7
Zonenfunktionäre sind Ostdeutsche
mit einem ausgeprägten Selbstbewus-
stsein. So gehen sie an die Gestaltung
der Einheit. Es bleibt für sie unfassbar,
dass viele SPD-Mitglieder noch immer
Probleme mit der Wiedervereinigung
haben. Besonders deutlich wurde dies
bei der Vielzahl von Mitgliedern der
SPD-Fraktion, die für Bonn und gegen
die Einheit gestimmt haben8. Aus der
Sicht der ZF haben diese Fraktionsmit-
glieder nicht begriffen, was das ist, die
Wiedervereinigung. Wiedervereini-
gung ist eben mehr als nur eine Oster-
weiterung der BRD. Sie bringt Wandel
für den Osten, aber eben auch für den
Westen. Einige in der Partei scheinen
vergessen zu haben, dass die Partei
ihre Wurzeln auch im Osten hat. Gotha
und Eisenach und selbst Karl Lieb-
knecht und der Sieg der SPD im Kaiser-
wahlkreis scheint für einige nur noch
im Geschichtsbuch der Partei zu exi-
stieren. Das sind aber Orte im Osten. ZF
können nur schwer akzeptieren, dass
Teile der SPD im Westen sich nicht neu
orientieren können. Sie identifizieren
sich deutschlandpolitisch eher mit
Kurt Schumacher. Es war übrigens
Adenauer, der aus Köln kommend den
Osten gering schätzte. Schumacher
stand für die Einheit. Willy Brandt war
für so viele im Osten ein Hoffnungsträ-
ger, Helmut Schmidt ob seiner Fach-
lichkeit hoch geschätzt. Es war
schmerzhaft, das Gefühl zu haben,
dass das im Westen zum Teil verleug-
net wurde. ZF stellen die Frage: Wie
konntet Ihr Euch bei dieser Abstim-
mung, bei diesem einzigen symboli-
schen Sieg des Ostens verweigern. Ein
Glück, dass Willy Brandt noch lebte. ZF
passen nicht in eine sozialdemokrati-
sche Politik, die für den Osten nicht
mehr bietet, als eine in Teilen richtige
aber kalte und initiativlose Analyse, die
nicht Verantwortung übernehmen
will. Brudermord gefolgt von Fahnen-
flucht in der schweren Stunde ist nicht
ihr Stil. ZF arbeiten daran, ernst
genommen zu werden. Sie setzen
nicht auf geschenkte Sonderrechte, die
kaschieren, dass sie bei den wirklich
wichtigen Dingen außen vor sind.
Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest
61
6 Hier soll keines Falls der Eindruck erweckt werden, dass vor allem Bewohnern der Stadt Bonn eine Ablehnung derEinheit unterstellt wird. Bonn kann und soll hier symbolisch aufgefasst werden.
7 Vgl. zur Debatte insgesamt: http://www.bundestag.de/info/berlin/debatte/Besonders eindrucksvoll – im positiven Sinne ist die Rede von Wolfgang Thierse, dem kann exemplarisch Peter Glotzentgegen gestellt werden: http://www.bundestag.de/info/berlin/debatte/bdr_002.html. Peter Glotz: „Bonn ist dieMetapher für die zweite deutsche Republik. Bonn muß und soll Regierungs- und Parlamentssitz bleiben.“ Dem istzu entgegnen, dass die zweite deutsche Republik im Sinne Glotz nun mehr nicht nur einfach erweitert wurde, son-dern etwas gänzliches neues entsteht, mit allen Chancen und Risiken.Von den 320 Stimmen für Bonn kamen 126 aus der Fraktion der SPD. Lediglich 109 stimmten für Berlin.
8 Liste unter: http://www.bundestag.de/info/berlin/debatte/bd_nam3.html
Ihre an Werten orientierte Politik –Oder gegen Solardächer auf Kuba
Ein junger Sozialdemokrat9 zu sein,
ist für ZF nichts Ehrenrühriges. Ein
guter Mensch muss nichts zwangsläu-
fig modisch-links sein. Für Solardächer
auf Kuba sammeln, ist nicht wert-
voller als Haushaltskonsolidierung in
Potsdam-Mittelmark zu betreiben, die
die Versorgung der Bevölkerung mit
öffentlichen Dienstleistungen sicher-
stellt. ZF müssen sich nicht linke Theo-
retiker unter das Kopfkissen legen, um
ein soziales Gewissen zu entwickeln.
Sie konnten die Jusos10 aus dem
Westen erleben. 11 Bis tief in die Nacht
stritten diese unerbittlich – gesell-
schaftlich relevant wie viele andere
Sekten – um inhaltlich nicht immer
wirklich wichtiges dafür mit einer teil-
weise stalinistischen Attitüde. Im
Gegenüber wird vor allem der Feind
gesehen und ein wesentliches Ziel ist
seine Demütigung. ZF haben gelernt
zurückzuschlagen, das immerhin ver-
danken sie auch zum Teil den Jusos aus
dem Westen. Deshalb reagieren sie
auch so allergisch auf Teile einer
nachrückenden Generation im eigenen
Land, die gelernt hat, dass Intrigen
wichtiger als Problemlösungskompe-
tenz sind. Wenn die Tageslosung aus
der Kampa das eigene Denken ersetzt,
kann es mit der Sozialdemokratie nicht
mehr lange gut gehen. Wohl gerade,
weil die ZF lernen mussten in unterge-
henden Welten zu leben, konnten sie
Werte und die Kraft bewahren, angeb-
lichen Sachzwängen zu trotzen.
ZF haben reale Arbeiter(innen) in
ihren Familien. Sie kennen Arbeiter
nicht nur aus missglückten Versuchen,
sich Weltrevolution verkündend Lehr-
lingen zu nähern und sie von ihrem
Weg abzubringen. ZF sind nicht ver-
snobt und fühlen sich tief in in ihren
Herzen als etwas Besseres. Sie haben
eine Chance darauf, auch noch in zwan-
zig Jahren ein Gewissen zu haben und
sich nicht mit scheinbarer Professiona-
lität, die leider diesen und jenen auch
moralischen Kompromiss erfordert,
sentimental an die Zeit zu erinnern, in
der es schick war, ein sozial denkender
Mensch zu sein. Nur wenige haben
zum Glück das Zeug für Diagonalkarrie-
Christian Maaß
62
9 Aus der Sicht westdeutscher Jusos handelt es sich bei der Bezeichnung „Junge Sozialdemokraten“ fast schon um einSchimpfwort. Junge Sozialdemokraten stehen für sie tendenziell rechts und werden grundsätzlich abgelehnt. Hiergibt es eine ausgeprägte politische und kulturelle Differenz zwischen einem Teil der Jusos Ost (nämlich den Teilen –vor allem der ersten Generation der Jusos in Ostdeutschland – die sich als junge Sozialdemokraten empfinden) undden Jusos West. Vgl. dazu auch Ehlers, Benjamin (1999): Wer, wenn nicht wir! 10 Jahre Junge Sozialdemokraten in derDDR, Potsdam. Bei den Jusos in den alten Ländern gab es 1989/90 sogar Überlegungen, mit der FDJ zu kooperieren.
10 Es gibt natürlich nicht den Juso aus dem Westen. Das Engagement vieler Jusos, von denen viele auch noch immer„reale Arbeitnehmer“ persönlich kennen, ist gar nicht hoch genug zu würdigen. Es entsteht indessen oft der Ein-druck, dass gerade sie es nicht schaffen, sich gegen den harten Funktionärs-/Karrieretyp durchzusetzen.
11 Die Art und Weise, wie die Jusos in den alten Ländern teilweise Politik betrieben, wird sehr schön ein einem voneinem erfahrenen Juso aus den alten Ländern zusammengefasst: „Fehlende Sachkompetenz ersetzen wir durchEngagement und Lautstärke“.
ren. So können sie davor bewahrt wer-
den, inhaltsleer auf den Moden und
Wellen zu surfen. Vielleicht bringt ein
Leben ohne dieses Surfen weniger
Spaß, bei den ganz wichtigen Zielen
setzen ZF eben auf Konsequenz und –
wenn es sein muss – Verbissenheit.
Ihr Erleben des Niedergangs – Oder Trotz aus der Entwertung ziehen
Die Eltern der ZF haben oft Jahr-
zehnte im Osten geschuftet. Stammen
die Eltern aus der direkten Kriegs- und
Nachkriegsgeneration, war ihr Weg
besonders entbehrungsreich. ZF haben
erlebt, wie der Westen ihre Eltern aus-
geschieden hat. Plötzlich bestimmte
nicht mehr Friedrich Engels ihr Schick-
sal, sondern drängte sie die Treuhand im
Sinne westlicher Konkurrenten aus dem
Markt. ZF wissen, dass die DDR am Ende
war. Das lässt sie manche Widersprüche
leichter ertragen als die 45- bis 50-Jähri-
gen, die sich 1989/90 mit einem ihr
Leben in Frage stellenden, radikalen
Bruch konfrontiert sahen. ZF können
selbstbewusst genug sein, eine starke
Position für ihr Land einzufordern. Sie
trauen sich zu, dafür Ideen zu ent-
wickeln. Dass die DDR marode war,
bedeutet nicht, dass Brandenburg keine
Chance bekommen sollte. ZF können
die Leistungsfähigkeit des Westen aner-
kennen ohne seine Schwächen zu ver-
kennen. Sie glaubten schon immer eher
Dieter Hildebrandt als Helmut Kohl. Das
„ZDF-Magazin“ war nur wenig demago-
gischer als „Der Schwarze Kanal“. Trotz-
dem war die Bundesrepublik nach dem
Überwinden des Muffs der Adenauer-
Zeit eine Demokratie, und der kleinka-
rierte Sachsen-Sozialismus ein Un-
rechtsstaat, wenn auch mit kommoden
Bedingungen für brave Untertanen. Der
anheimelnde Kleinbürgerrealsozialis-
mus der DDR duldete Abweichungen
nur in einem sehr begrenzten Rahmen.
Wer ausbrach wurde verraten, wegge-
schlossen, ja auch weggeschossen oder
einfach nur verkauft. Manche ZF mögen
Kommunisten fast so sehr, wie es Kurt
Schumacher tat, doch erscheint ihnen
die „Jagd“ nach kleinen Stasimitläufern
manchmal absurd, wenn wir an die
BRD-Karrieren so vieler Nazis denken.
Ihr Leben als glaubhafter Träger vonIdentität – Oder ein Sozialdemokrataus Preußen kauft kein Haus im Tessin
Zu den Herauforderungen, eigentlich
zu den Problemen Brandenburgs
gehört die Frage, wie es gelingt, mög-
lichst alle Menschen in ein erträgliches
Gemeinwesen zu integrieren. Was hilft
dabei, entwurzelte Menschen unter-
schiedlichen Alters wieder an eine
zivile Gesellschaft zu binden. Diese
Bindung an das hier und jetzt kann
durchaus Züge von Stolz auf das
Eigene tragen. Sie braucht aber vor
Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest
63
allem die Kraft, die notwendige Tole-
ranz zu entwickeln, die ein verträgli-
ches Auskommen aller garantiert. Ach,
gäbe es zumindest eine vernunftbe-
gründete Toleranz, sei sie auch wirt-
schaftlich begründet. Das wäre doch
für einige ein Anfang. ZF können hel-
fen, das Hier und Jetzt zu vermitteln,
ohne den Blick nach außen unnötig zu
verstellen. Sie fühlen sich ihrer Heimat
verbunden. Die Toskana ist für sie über-
wältigend und die Alpen unfassbar. ZF
sind aber mutig in Rheinsberg (hier
war immer schon Fronde) und trauern
mit Luise in Gransee. Brandenburg
braucht diese Bindung. ZF können
dabei helfen, sie aufzubauen. Besinnen
wir uns in Brandenburg zurück, ist da
vor allem Preußen. Das ist für ZF mehr
als Folklore. ZF sehen all das Problem-
behaftete, doch können sie mit dieser
Quelle der Identität umgehen. Sie
brauchen keinen Wettstreit darüber,
welcher Teil Deutschlands mehr
Schuld an den grausamen und men-
schenverachtenden Verbrechen des
Nationalsozialismus trägt. Wenn
Baden-Württemberger alles können
außer Hochdeutsch und Bayern Leder-
hose und Laptop versöhnt, warum sol-
len wir dann Friedrich II oder seinen
Bruder Heinrich negieren. München
feiert die Pinakothek, ZF gewinnen
Tiefe durch die Betrachtung von Men-
zels Auseinandersetzung mit der
Größe und Ambivalenz von Preußen.
ZF genießen Caravaggio, denn er
bringt italienische Lebensart nach
Preußen.
Ihr Selbstbewusstsein ist stark genug –Oder wir brauchen die Fusion mit Berlin
Endlich einmal Nein-Sagen, gegen
alle vermeintlichen und realen Nieder-
lagen stimmen … so oder so ähnlich
lässt sich im Rückblick das Abstim-
mungsverhalten bei der Fusionsab-
stimmung beschreiben. Einer schlech-
ten Kampagne folgte ein verhängnis-
volles Nein bei einer Frage von zentra-
ler Bedeutung. Die Region braucht Ber-
lin-Brandenburg, auch wenn wir es
nicht Preußen nennen können. Als Ber-
lin noch ganz klein war, war vieles ein-
facher, da war es ein Teil der Mark. Die
Metropole in der Mitte und das Land
darum, sie sind fast schicksalhaft mit
einander verwoben. Wenn auch der
Bahnhof in Neustadt (Dosse) einen
Ausgang zur City hat, wir brauchen die
City in unserer Mitte. Welche der
Städte Brandenburgs könnte da mit-
halten. Brandenburg an der Havel und
Frankfurt an der Oder: die eine Stadt
hat einen tragischen Helden, der seiner
Schwester glücklich über seinen
Selbstmord berichtete und die andere
einen herrlichen Dom, der allerdings
auseinanderbrechen oder doch wenig-
sten wegrutschen will (Dank sei den
Christian Maaß
64
Rettungsversuchen seit Schinkel). Cott-
bus kämpft mit Eduard Geyer gegen
den Abstieg. Da bleibt als Zentrum nur
noch Potsdam, das – doch aber auch
und gerade – davon lebt, das kleine
und deshalb andere an der Seite von
Berlin zu sein. Die Mark Brandenburg
ist mehr als ein Teil der manchmal lau-
benpiperhaften Westberliner Sozialde-
mokraten, die nach Reuter, Brandt und
anderen sich in ihrer Welt behaglich
einrichteten, CDU-Politik auf Teppich-
händlerniveau. Die Sorgen der Bran-
denburger, übervorteilt zu werden sind
berechtigt, die schwache Region muss
aber ihre Potentiale bündeln. Wenn wir
eine wettbewerbsfähige Region wer-
den wollen, muss es ein gemeinsames
und starkes Land geben. Wir haben das
Selbstvertrauen, in einem solchen Land
nicht unterzugehen. ZF haben das not-
wendige Selbstvertrauen, ein starkes
Brandenburg in ein gemeinsames Bun-
desland zu begleiten.
Ihre Politik ist mehr als Kungeln – Oderfür eine Problemlösung, die länger alseine Wahlkreisdelegiertenkonferenz hält
Politik hat immer viel mit Macht,
Herrschaft und der Durchsetzung von
Interessen zu tun. Es wäre blauäugig
anzunehmen, dass es nur um die For-
mulierung lösungsbedürftiger Pro-
bleme, die Auswahl von Lösungsalter-
nativen und die Umsetzung der besten
Lösung geht. Schon die Auseinander-
setzung mit dem parteipolitischen
Gegner erzwingt ein taktisches Vorge-
hen, das auch harte Bandagen kennt.
Politik in der heutigen Zeit kann sich
aber nicht mehr darauf beschränken in
erster Linie Mehrheiten in Ortsverei-
nen zu organisieren und hoffnungs-
volle andere Bewerber auszustechen.
Wir brauchen Wissen darüber, wie eine
Gemeindegebietsreform konzipiert
und durchgeführt wird – das darf man
eben nicht allein der Ministerialbüro-
kratie übertragen – und darüber, wie
die Wirtschaft in unserem Land geför-
dert werden kann. Wir brauchen Stra-
tegien für ein in weiten Landstrichen
schrumpfendes Land, wo ungeklärt ist,
wie die notwendige Infrastruktur vor-
gehalten werden kann. Die Liste der
Herausforderungen ließe sich beliebig
verlängern. Neben der Härte in der
innerparteilichen Auseinandersetzung
brauchen wir Politiker/Politikerinnen
mit höherer Problemlösungskompe-
tenz. Ein auf Transfers aus den alten
Ländern gestütztes „Weiter So!“ kann
und wird es nicht geben. ZF stehen für
eine solche neue Politik bereit.
Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest
65
Ende und Ausblick Eine erfolgreiche Sozialdemokratie
in Brandenburg braucht einen Aus-
gleich zwischen dem Solitär Platzeck,
der Generation der ersten Stunde und
den Zonenfunktionären. Es sollte ver-
hindert werden, dass mit den ZF auch
noch eine weitere junge Generation
das Land verlässt. Dabei geht es nicht
darum, jemanden zu verdrängen, auch
wenn der Beitrag stellenweise die
Argumente auf eine intensivere Art
und Weise vortrug. Es geht um nach-
vollziehbare Perspektiven und nicht
darum etwas geschenkt zu bekom-
men. Brandenburgs Erfolg wird zu-
künftig ganz stark davon abhängen,
wie seine Menschen auf die Herausfor-
derungen vorbereitet sind. Werden die
ZF gut an zukünftige Aufgaben heran-
geführt, können sie in Brandenburg
und darüber hinaus an einer „Moderni-
sierung mit märkischer Prägung“ mit-
wirken – und darauf kommt es an.
Christian Maaß
66
Christian Maaßist stellvertretender Vorsitzender der SPD im Havelland.
Es klingt fast banal nach den Terror-
anschlägen von 11.9.2001 auf das
offensichtliche Spannungsverhältnis
zwischen Orient und Okzident hinzu-
weisen. Es ist ebenso leicht, eine Ver-
dichtung dieser Spannungen sowohl
auf der weltpolitischen Bühne wie
auch auf der geistigen Ebene festzu-
stellen. Die herrschende Tendenz in der
westlichen Welt, vor allem in Europa,
ist aber, den Aufeinanderprall der Zivi-
lisationen zu ignorieren. Der Dialog
zwischen Christen und Moslems wird
verstärkt weiter betrieben. Der Dialog
der Kulturen des Orients und des Okzi-
dents wird mehr als je zuvor gefördert.
Dieses gilt zwar als politisch korrekt, ist
jedoch um so erstaunlicher, angesichts
der offenen Kriegserklärung an den
Westen seitens Al Qaida und anderen
gleichgesinnten islamistischen Bewe-
gungen. Diese Islamisten haben keine
Bedenken einen fortwährenden Kampf
der Kulturen durchzuführen. Sie haben
„ihren Huntington“ gelesen. Seit mehr
als einem Jahr zeichnen sich im Wes-
ten Reaktionen ab, die mehrheitlich als
aufklärerisch, beschwichtigend, Har-
monie orientiert oder apologetisch zu
bezeichnen wären. Sie alle haben eines
gemeinsam: sie sind nicht konfronta-
tiv. Auch die buddhistische Welt des
Fernen Ostens hat nicht aggressiv rea-
giert angesichts der mutwilligen Zer-
störung ihrer Heiligtümer in Bamian
durch die Talibanherrschaft. Stellen Sie
sich nur vor, welche islamische Reak-
tionen wir zu erwarten hätten, wenn
islamische Heiligtümer in Mitleiden-
schaft gezogen worden wären. Die
Konfrontation zwischen Muslimen
und Hindi in Indien wäre nur ein Vor-
spiel. Im Westen sind die hörbaren
Stimmen, die den Zivilisationskampf
Magazin
67
Orient und Okzident:Schuldzuweisung gegen SchuldbekenntnisEröffnungsvortrag der 44. Jahrestagung der Gesellschaft für Geistesgeschichteam 31. Oktober 2002 in Potsdamim Rahmen des Symposiums „Der Orient im Okzident“
von Mordechay Lewy
Einleitung
zwischen Okzident und Orient als
unvermeidlich artikulieren, selten. Es
gilt nicht als politisch korrekt, sich dar-
über öffentlich zu äußern. Berlusconis
Einschätzungen über die kulturelle
Überlegenheit des Okzidents im Ver-
gleich zur islamisch-arabischen Welt
riefen in Europa eine Welle der politi-
schen Entrüstung hervor. Eine radikal
feindselige Haltung spricht aus dem
letzten Buch von Oriana Fallaci „Die
Wut und der Stolz“. Sie ist früher mehr-
mals als Sensationsreporterin aufge-
fallen. Doch ihre Kritik gegenüber der
Rückständigkeit der arabischen Welt
und des Islam kann nicht nur als
rechtspopulistisch disqualifiziert wer-
den. In ihrer manchmal überzogenen
Kritik hat sie einen Tabubruch an der
im Westen betriebenen political cor-rectness gegenüber der arabischen
Welt begangen. Auch von konservati-
ver Seite wurde Fallaci gerügt: „Die ara-bische Kultur von vornherein minder-wertiger als die europäische anzusehen,wie Oriana Fallaci dies tut, muss als
unerträgliche Hybris erscheinen. InSachen Zuwanderung nach ihremRezept kurzen Prozess zu machen undArmutsflüchtlinge zu deportieren heißt,Grundgedanken der Aufklärung unddes Christentums, auf die demokrati-sche Kultur und Rechtsstaatlichkeit inWesteuropa aufbauen, gleich mit abzu-schieben.“ Klare und unmissverständ-
liche Stimmen wie der indischstäm-
mige Literaturnobelpreisträger V. S.
Naipaul in seiner Islamkritik haben Sel-
tenheitswert: „Die islamischen Ländersind korrumpiert. Sie überschätzen ihreeigene Stärke und haben nicht begriffen,dass das, was sie für ihre Stärke halten,auf Schwäche beruht … Es muss einesehr entschiedene Antwort geben. Sonstwird dieser Wahn weitere Länder befal-len.“ Meine Ausführungen sollen Denk-
anstöße geben, um uns mehr Klarheit
über das westliche Verhaltensmuster zu
verschaffen. Ferner liegt mir daran, den
dialektischen Zusammenhang zwi-
schen den westlichen und orientali-
schen Verhaltensmustern aufzudecken.
Orient und Okzident verstehe ich als
aus ihrer eigenen Geschichte entstan-
dene Kulturräume, die wegen ihrer
geopolitischen Nähe relevant zueinan-
der waren und es auch bleiben werden.
Diese Dichotomie ist keineswegs nur
eine Erfindung des kolonialen Okzi-
dents, um den Orient zu unterjochen
oder zu verunglimpfen, auch wenn
Edward Saids These vom Orientalism
Definitionen
Mordechay Lewy
68
breite Zustimmung in westlichen Uni-
versitäten und in islamistischen Krei-
sen gefunden hat. Seine schärfsten Kri-
tiker befinden sich im übrigen unter
den säkulären Kreisen der linksgerich-
teten Intelligentsia in der arabischen
Welt. Die Namen von Sadik-al-Azm
oder Nadim-al-Bitar sollen hier gewür-
digt werden. Die Gegensätze sind nicht
virtuell sondern real.
Orient: bedeutet hier geographisch die
islamisch-arabische Welt im Mittel-
meerraum und im Nahen Osten. Eine
Welt, die keine strikte Trennung zwi-
schen Religion und Staat vollzogen hat.
Säkularisierung als staatstragende Idee
existiert halbwegs im Orient nur dort,
wo es von Oben verordnet wird und sich
auf die herrschende Macht der Bajo-
nette berufen kann. Es ist eine Welt, in
der der Islam den Alltag der Mehrheit
der Bevölkerung geprägt hat und
immer noch oder wiederum entschei-
dend mitformt.
Okzident: bedeutet geographisch
hauptsächlich den Kulturraum in Europa
und Nordamerika. Eine Welt, die ihr
Selbstverständnis als Wertegemeinschaft
aus der judäisch-christlichen Tradition
übernommen hat. Sie ist der Demokratie
als Herrschaftssystem und der Säkulari-
sierung (also rechtliche Trennung von
Staat und Religion) verpflichtet.
Schuldzuweisung: Jeder von uns kennt
die alltägliche Situation, in der ein Kind
sich am häuslichen Tisch anstößt und
sich dabei wehtut. Seine Mutter wird
das heulende Kind gleich trösten wollen
und den schlimmen, bösen Tisch
beschuldigen, weil er dort gestanden
und dem Kind wehgetan hat. Diese
Schuldzuweisung ist eine Ablenkung der
eigenen Schuld und Unzulänglichkeit
auf andere, weil man selbst nicht richtig
aufgepasst hat. Dieses Verhaltensmu-
ster kann man auch auf eine bestimmte
kulturell homogene Bevölkerungsgrup-
pe anwenden. Die moderne Kulturan-
thropologie arbeitet seit längerer Zeit
nach dieser Methode.
Schuldgefühl und Schuldbekenntnis:Wer kennt nicht den Unglücklichen, der
einen verhängnisvollen Autounfall ver-
ursacht hat und sich seither nicht mehr
traut, sich ans Lenkrad zu setzen. Sein
Schuldbekenntnis belastet sein Gewis-
sen so sehr, dass er nicht mehr das Risiko
eingehen will nochmals schuldig zu
werden. Sein zukünftiges Verhalten
beruht auf einer einmaligen traumati-
sierten Erfahrung in seiner Vergangen-
heit. Darüber hinaus definierte Freud
das irrationale Schuldbewusstsein bzw.
Bekenntnis folgendermaßen: „Der Neu-
rotiker reagiert so, als ob er schuldig
wäre, obwohl er unschuldig ist, weil ein
in ihm bereitliegendes und lauerndes
Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis
69
Schuldbewusstsein sich der Beschuldi-
gung des besonderen Falles bemäch-
tigt“. Auch hier bietet sich die Anwen-
dung eines solchen Verhaltensmusters
auf eine bestimmte kulturell homogene
Bevölkerungsgruppe an.
Gegenseitige Wahrnehmungen
Ich gehe davon aus, dass Orient und
Okzident seit dem Erscheinen des
Islams auf der historischen Bühne
mehr Gegensätze als Gemeinsamkei-
ten ausgestrahlt hatten. Bis ins hohe
Mittelalter war die arabisch-islamische
Kultur die tonangebende von den Bei-
den. Fernand Braudel beschreibt die
Beschaffenheit der longue duree des
gemeinsamen Mittelmeerraumes. Ob-
zwar kein Schmelztiegel, war dieser
Raum die Plattform des Gebens und
Nehmens zwischen Orient und Okzi-
dent in allen Bereichen. Eine Abschot-
tung des Mittelmeers als Barriere zwi-
schen diesen Kulturen, wie es einst
Henri Pirenne behauptete, fand wahr-
scheinlich nie statt. Nur wenige Mus-
lime sehen heute den Okzident als die
Wertgemeinschaft der judäisch-christ-
lichen Zivilisation an. Ihr Bild vom
Westen entbehrt die religiöse Essenz
dieser Zivilisation. Die Religion in
Europa hat in der Tat an politischer
Macht eingebüßt und das Christen-
tum stellt für die Muslime keine
Gefahr mehr dar. Vielmehr erscheint
ihnen der Okzident als eine säkulari-
sierte Macht, die von Materialismus,
Imperialismus und Ausbeutung der
arabischen-islamischen Welt geprägt
wird. Bei strengen Muslimen und radi-
kaleren Islamisten erscheint der Wes-
ten letztlich als ein Hort der Dekadenz
und der Gottlosigkeit. Demgegenüber
ist bei der großen Mehrheit der Bevöl-
kerung im Westen ein Bild vom Orient
entstanden, das von agressivem reli-
giösem Fanatismus, gesellschaftlicher
Rückständigkeit und politischer Un-
mündigkeit geprägt wird. Tatsächlich
sind im letzten Jahrzehnt in 90 % der
blutig ausgetragenen Konflikte auf der
Welt arabische bzw. islamistische
Kräfte mit involviert. Diese Wahrneh-
mung mag auf der Stammtischebene
kursieren. Es ziemt sich aber nicht,
diese Wahrnehmung lautstark und
öffentlich zu artikulieren. So absurd es
klingen mag, nehmen die etablierten
Kirchen im Okzident ihre unmittelbare
Umgebung ähnlich wie der Islam
wahr. Durch die Beliebigkeit der Wert-
orientierung im postmodernen Zeital-
ter und der „Spaßgesellschaft“ im
Okzident, lamentieren Kirchenvertre-
Mordechay Lewy
70
ter ebenso über den grassierenden
Materialismus, über die dekadente Kul-
tur im Westen und über die herr-
schende Gottlosigkeit. Kirchen und
Islamisten hoffen zugleich auf reli-
giöse Umkehr und wollen der Deka-
denz ihrer jeweiligen Kulturen ent-
schieden entgegentreten. Der kleine
Unterschied liegt aber darin, dass die
Dekadenzkritik der Islamisten sich auf
den korrumpierend erscheinenden
westlichen Einfluss auf die arabisch-
islamischen Welt bezieht, also kein
Schuldbekenntnis im eigentlichen
Sinne ist. Zwischen Islam und katholi-
scher Kirche ergeben sich sogar
gemeinsame Interessen in gesell-
schaftspolitischen Fragen, wie in der
Familienplanung oder dem menschli-
chen Klonen. Es ist bezeichnend für
den Westen, dass die a-religiöse Mehr-
heit die eigenen Kirchen und die Rolle
der Religion als obsolet beurteilt, aber
in ihrer Wahrnehmung des Orients die
Rolle der islamischen Religion überaus
relevant erscheint. Unter dieser a-reli-
giösen Mehrheit im Westen gibt es
wiederum eine intellektuelle Schicht,
die auch stark in den Medien und der
Publizistik vertreten ist. Ihr Bild vom
Orient ist von den Denkkategorien der
Politik- und Sozialwissenschaft ge-
prägt. Ihre eigene politische Sozialisie-
rung hat sie zu einem Weltbild geführt
in dem die Religionen kaum eine
gestaltende Rolle einnehmen. Daher
wird die Macht des heutigen Islam in
dieser Schicht unterbewertet. Ihr Bild
von der arabischen Welt ist das eines
Opfers der kapitalistischen Ausbeu-
tung, der imperialen Dominanz und
des westlichen Orientalism. Diese
Schicht sieht den islamischen Terroris-
mus zwar als verabscheuungswürdig,
aber nicht als einen Zivilisationsbruch.
Sie meinen, wenn man die politischen,
sozialen und wirtschaftlichen Bedin-
gungen ändert, so trocknet man damit
auch den Sumpf aus, in dem dieser Ter-
rorismus entstehen konnte. Innerhalb
dieser Schicht sieht man die Schuld
des Westens stark ausgeprägt.
Der emeritierte Prof. Krippendorf
sagte auf einer Tagung in Berlin wie
folgt: „Es sei ein Glück für die Muslime, dieAufklärung und die Modernisierung ver-passt zu haben, weil ihnen so die ,Horror-vision‘ unserer totalitären Macht undAusbeutung erspart geblieben sei.“ Man
fühlt sich unwohl, reich und mächtig zu
sein. Amerikanische Intellektuelle wie
Susan Sontag, Noam Chomski und der
Italiener Tiziano Terzani, aber auch
gemäßigtere Stimmen wie Norman
Mailer oder Philipp Roth oder die indi-
sche Autorin Arundhati Roy üben Zivili-
sationskritik am Westen und verteilen
die Schuld an beide Seiten oder weisen
sogar einseitig die Schuld der USA zu.
Während im Okzident eine Vielfalt der
Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis
71
Wahrnehmungen des Orients besteht,
bleibt das Bild des Okzidents im Orient
monolithisch. Diejenigen Intellektuellen
im Orient, die eine differenzierte bzw.
eine positive Wahrnehmung des
Westens haben,können sich nur bedingt
in der einheimischen Öffentlichkeit arti-
kulieren. Fouad Ajami beschreibt in sei-
nem Buch „The Dream Palace of the
Arabs“ eingehend ihr Dilemma. Früher
oder später werden sie in den Westen zie-
hen, um sich freier entfalten zu können.
Thesen
Soweit mir bekannt ist, wurde im
Spannungsverhältnis zwischen Orient
und Okzident noch nie der Blickwinkel
der Beziehung zwischen einer Schuld-
zuweisungskultur (blame society) und
einer Schuld- und Schuldbekenntnis-
kultur (guilt society) beleuchtet. Kul-
turanthropologen operieren eher mit
den Begriffen der Schuldkultur (Wes-
ten) und Schamkultur (Ostasien und
Afrika). Unser Bezugsrahmen soll
jedoch nicht als alleiniges Erklärungs-
modell verstanden werden. Er soll uns
aber nachdenken helfen, warum die
Schuldgefühle im Okzident teilweise
zur Selbstverleugnung führen, unge-
achtet dessen, dass der Konfliktstoff
zwischen Orient und Okzident auf
absehbare Zeit nicht versiegen wird.
Fraglich bleibt, warum der Orient
schwerlich Verantwortung für selbst-
verschuldete Unzulänglichkeiten über-
nehmen kann. Da eine Selbstkorrektur
die Fähigkeit zur Selbstkritik voraus-
setzt, sind zukunftsorientierte Umwäl-
zungen im Orient nur in langsamen
Schritten zu erwarten. Darüber hinaus
kann der Orient aus sich heraus den
Konflikt mit dem Okzident kaum mei-
den, da er sich selbst seit Jahrhunder-
ten in Verschwörungstheorien ver-
strickt hat und sich in einem hermeti-
schen Verschluss der sich selbst erfül-
lenden Prophezeiungen eingekreist
hat. Die Tatsache, dass die kleinen und
großen „Tiger“ im Fernen Osten, inner-
halb von einigen Jahrzehnten, den
Anschluss an die globalisierte Wirt-
schaft gefunden haben und sich von
Hungersnot und Armut verabschiedet
haben, verdeutlicht den Menschen in
der arabischen Welt, wie weit sie selbst
eigentlich in der gleichen Zeitspanne
zurückgefallen sind. Thesenhaft for-
muliert ergeben sich folgende Aussa-
gen:
1. Im Orient wird die eigene Schuld
und Unzulänglichkeit verdrängt und
anderen zugeschoben. Selbstkritik
ist selten zu finden. Korrekturfähig-
Mordechay Lewy
72
keit ist begrenzt.
2. Im Orient wird die eigene Opferrolle
bevorzugt. Zur Begründung dieses
Verhaltensmusters werden Ver-
schwörungstheorien geschmiedet.
3. Der Islam kennt keine Erbsünde und
daher keine historisch tradierte Kol-
lektivschuld.
4.Der Islam begünstigt nicht die
Gestaltung des freien Willens und
der eigenen Verantwortung. Im isla-
mischen Menschenbild steht der
freie Wille neben der allumfassen-
den Vorherbestimmung Allahs, ohne
dass die islamischen Theologen bis-
her beide Grundsätze vereinbaren
konnten.
5. Im Okzident neigt man zum Schuld-
bekenntnis, ungeachtet ob zurecht
oder zu unrecht. Daher wird häufig
die Täterrolle übernommen.
6.Die Schuldbekenntniskultur im Okzi-
dent begünstigt die Selbstkritik aber
auch die eigene Korrekturfähigkeit.
7. Im heutigen Okzident ist die religiös
begründete Erbsünde teilweise säku-
larisiert und drückt sich in Schuldbe-
kenntnissen u.a. auch gegenüber der
islamisch-arabischen Welt aus.
8. In dem offenen oder verdeckten Kon-
flikt zwischen beiden Kulturen kann
der Okzident mit seiner Schuldkultur
nicht frei handeln und zwar wegen
selbstauferlegten moralischen Zwän-
gen. Diese Einschränkung wird vom
Orient, die als Schuldzuweisungskul-
tur aggressiver agiert, als Schwäche
wahrgenommen. Diese Schwäche
wird in Konfliktsituation nicht hono-
riert, sondern ausgenutzt.
Ohne Erbsünde kein kollektives Schuldbewusstsein
Sigmund Freud behauptete, das
Schuldgefühl sei das wichtigste Pro-
blem der Kulturentwicklung. Die Regu-
lation sozialen Verhaltens (Kultur) liegt
in den Händen des Über-Ichs (das
Gewissen). Dieses bedient sich mittels
des Schuldgefühls. Schuld ist nach
Freud dem Menschen in der abendlän-
dischen Kultur immanent. Diese Auffas-
sung beruht, zumindest symbolisch, auf
der biblischen Erzählung der Erbsünde,
infolgedessen der Übergang vom
unschuldigen Naturzustand zur Unter-
scheidung zwischen Gut und Böse voll-
zogen wurde. Aber eine Erbsünde, wie
im abendländlichen Verständnis, gibt es
nicht im Islam. Die Vertreibung aus dem
Paradies ist im Koran kein Schlüsseler-
lebnis. Allah vergibt alle Sünden,
großund klein, wenn der Sünder Reue
und Umkehr zeigt. Ungläubigen,
einschliesslich der Völker der früheren
Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis
73
Offenbarungen wie Juden und Christen,
bleiben die Pforten des Paradieses ver-
schlossen. Es gibt im Koran keinen aus-
gangsoffenen Kampf zwischen Gut und
Böse, der manichäische Dimensionen
hat. In der abendländischen Tradition
kann der Satan den Menschen ver-
führen (das faustische Motiv). Im Islam
entwaffnet der Satan sich selbst, indem
er in der Sure 14,22 zugibt, über die Men-
schen keine Macht ausüben zu können.
Ein praktizierender Muslim erlangt
seine Gewissheit das Heil zugeteilt zu
bekommen einzig und allein durch die
Erfüllung aller Gebote Allahs. Dieses
Verhalten erspart ihm die Gewissens-
bisse um sein Heil, die im Christentum
immanent sind. In der islamischen Auf-
fassung gilt die Schuld zwar als persön-
liche Bürde, die kann aber mit der strikt
rituellen Befolgung der Gebote Allahs
abgetragen werden. Im Orient kennt
der Muslim kein kollektives Schuldbe-
kenntnis, das historisch an die nächsten
Generationen tradiert würde. Im Okzi-
dent hat sich die christlich geprägte
Idee der Erbsünde so ausgewirkt, dass
sie Bestandteil der westlichen Zivilisa-
tion geworden ist. Mit der Säkularisie-
rung und der Aufklärung im Okzident
wurde die Erbsünde ebenfalls säkulari-
siert und in den jeweiligen ideologi-
schen Schematas des zu behebenden
unmoralischen Grundübels bewahrt.
Man fühlt sich schuldig, reich zu sein, so
als ob man diesen Reichtum nicht mit
Mühe erarbeitet hätte. Man hat ebenso
Gewissensbisse, legitime Machtmittel
zu verwenden. Der Antikolonialismus,
Postkolonialismus, Antikapitalismus
oder die Antiglobalisierung nähren sich
doch alle auch von Schuldgefühlen, die
der Dritten oder Vierten Welt abzugel-
ten wären. Der Orient ist trotz seines
Erdölreichtums darin eingeschlossen.
Somit bekommt der Orient auch Anteil
an der Schlüsselgewalt der zu vergebe-
nen Absolution. Als Schuldtilgung gel-
ten z.B. finanzielle Zuwendungen an
Länder der Dritten Welt. Gegenüber
dem Orient soll eher die Schuld mit poli-
tischer Rücksichtnahme abgegolten
werden. Terzani schreibt drei Tage nach
dem 11.9., dass man den Islam als eine
Religion begreifen soll, die sich gegen
die Globalisierung zur Wehr setzt. Die
Islamisten verabscheuen aber die
demokratischen Werte. Deren Gesetze
sind von Menschenhand bestimmt
worden, und damit stehen sie im Wider-
spruch zu dem göttlichen Ursprung der
Scharia, der islamischen Gesetzgebung.
Aber wenn sie selbst von arabischen
oder westlichen Regimen verfolgt wer-
den, scheuen sie sich nicht, die „unde-
mokratischen Verfahren“ anzuprangern
und an Menschenrechte zu appelieren.
Schuldbewusste Abendländer lassen
sich trotz dieser Heuchelei davon beein-
drucken.
Mordechay Lewy
74
Arabische Verschwörungstheorien und Schuldzuweisungskultur
Bassam Tibi erwähnt in seinem Buch
„Die Verschwörung – Das Trauma arabi-
scher Politik“ den Begriff Mu’amarah
(Verschwörung) als eine kulturell veran-
kerte Sichtweise, die dem eigenen
Schicksalsglauben (Kismet) Vorschub lei-
stet. Der türkische Begriff Kismet
stammt aus dem Arabischen Qisma und
bedeutet Zuteilung oder Anteil. Gemeint
ist eigentlich die tröstende Erklärung für
Schicksalsschläge,die den unerklärbaren
göttlichen Willen als Grund vorausset-
zen. Damit wird dem Kismet ein religiö-
ser Sinn gegeben. Islamwissenschaftler
billigen dem Glauben an Kismet kaum
einen theologischen Stellenwert zu. Für
sie gehört er eher in die Bereiche der Fol-
klore bzw. Volksreligion. Der Begriff wird
ferner überall benutzt, wo es den Betrof-
fenen nicht mehr möglich ist, hinter den
unentrinnbaren schicksalhaften Erschei-
nungen eine für sie erklärbare lebensbe-
zogene Ursache festzustellen. Wenn der
Moslem von Allah ein zugeteiltes Los
erhält, ohne es selbst beeinflussen zu
können, übt der Mensch auch keine
eigene Verantwortung aus. So entsteht
die Neigung, Ereignisse oft aufgrund des
Eingreifens anderer Kräfte zu erklären,
sie aber nie auf sich selbst zurückzu-
führen. Niederlagen und unerwünschte
Ereignisse im politischen Bereich wer-
den somit als Verschwörungen gegen
die Araber oder den Islam wahrgenom-
men. Bernard Lewis schildert in seinem
neuesten Buch „What went wrong?“
eine historische Kette von Schuldzuwei-
sungen an externen Faktoren, die für die
Antwort auf die arabischen Frage „Wer
hat uns das angetan?“ herhalten mus-
sten. Im Mittelalter wurde die mongoli-
sche Invasion für die Zerstörung des
Khalifats in Bagdad verantwortlich ge-
macht. Über die interne Schwäche der
Abassiden wurde vornehm geschwie-
gen. Seit Beginn der relativ kurzen Herr-
schaftsperiode der Kolonialmächte im
arabischen Raum wurden vornehmlich
England und Frankreich für den politi-
schen und kulturellen Niedergang der
Araber schuldig befunden. Diese Rolle
wurde nach dem zweiten Weltkrieg von
der USA übernommen. In der politischen
Kultur der arabischen Welt wird das
Schicksal der Araber seit den Sykes-Picot
Abmachungen von 1916 durchgehend
bis zum Anschlag auf die Zwillingstürme
in New York am 11.9.2001 als eine lange
Kette der westlichen Verschwörung
empfunden. Anlässlich des ersten Jah-
restags der Anschläge vom 11.9. veröf-
fentlichte die ägyptische Wochenschrift
al-Ahram Weekly eine Umfrage. Auf die
Frage, wer verantwortlich für den
Anschlag sei, antworteten 39 % – der
Mossad; 25 % – wir werden es nie erfah-
Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis
75
ren; 19 % – Al Qaida oder andere mili-
tante Islamisten; 17 % – andere Nicht-
Muslime. Bin Laden hat sich zwar in sei-
nem Video längst der Tat bezichtigt, und
seine Kassette wurde in dem populär-
sten Satellitensender im Nahen Osten
„Al Dschezira“ ausgestrahlt. Dennoch
waren 81 % der Befragten nicht bereit,
eine arabische Verantwortung zu konzi-
dieren oder die Al Qaida in die Pflicht zu
nehmen. Das Verschwörungssyndrom
spricht den Araber von der Verantwor-
tung an Missständen und Misserfolgen
frei, und die Schuld wird anderen, vor-
zugsweise dem Westen, zugeschoben.
Die Araber empfinden sich oft als Opfer,
nie als Täter.
Islamisten beschuldigen auch oft die
korrupten arabischen Regierungen und
die korrumpierte Lebensart an den Miss-
ständen in der arabischen Welt und bie-
ten die Rückkehr zum Islam als Heilsre-
zept an. Die islamistischen Imame predi-
gen in Moscheen Hass und geben dem
Westen die Schuld an dem kranken
Zustand des Islam. Die Verschwörungs-
theorie gegen den Islam wird für die
Schuldzuweisung mobilisiert. „Wie
kommt es, dass 15 Millionen Juden die
Welt beherrschen und die 1,2 Milliarden
Moslems, trotz des Erdölreichtums, sind
die Unterlegenen?“ So wird in den
Moscheen gefragt. Der Westen hat die
Muslime um ihren Glauben gebracht
und darüber hinaus auch korrumpiert.
Im Namen der globalisierten Neuord-
nung der Welt, im Namen der Men-
schenrechte und im Namen des Frieden-
sprozesses, so schallt es in Freitagspre-
digten, will der Westen den Islam auch
zukünftig beherrschen. Das Heilmittel ist
die Reislamisierung der Menschen indi-
viduell, wie auch die der Gesellschaft.
Ziel ist die Einigung der islamischen
Welt, bei manchen soll sogar das Khalifat
als zentrales oder als föderatives Staats-
gebilde wieder entstehen. Der politische
Aktionismus der Islamisten steht im
Dienst ihres Islamverständnisses. Die
Islamisten nehmen das Gesetz des Han-
delns in ihre Hand und lassen den Kis-
met nicht gelten. Angesichts solcher
Schuldzuweisungen war es wohltuend,
die besonnene Stimme des jordanischen
Prinzen Hassan bin Tallal zu hören. In der
Eröffnungsrede des Orientalistenkon-
gresses WOCMES in Mainz, sagte er „I’m
blaming ourselves for our own shortco-
mings, I’m not blaming the west“.
Arabische Intellektuelle, wie die Tune-
sier Abdelwahab Meddeb und Moha-
med Talbi oder der Marrokaner Abdou
Filali-Ansary setzen sich für Reformen in
der islamischen Welt ein. Sie erhoffen
sich die Wiedererlangung der Fähigkeit
zur Selbstkritik und den verpassten
Anschluss des Islam an die Aufklärung.
Leider artikulieren sie ihre Meinungen
eher im Pariser Exil und nicht in ihren
Heimatländern.
Mordechay Lewy
76
Der christlich-islamische Dialog zwischen Schuldzuweisen und Schuldbekennen
Der geballte Komplex von der säkula-
risierten Kollektivschuld des Westens
gepaart mit der christlichen Bereit-
schaft zum Schuldbekenntnis wirft sei-
nen Schatten über den eifrig betriebe-
nen interreligiösen Dialog. Professor
Bassam Tibi hat in einem ZEIT-Inter-
view „Selig sind die Betrogenen“ diesen
Dialog als eine Selbsttäuschung der
christlichen Dialogpartner bezeichnet.
„Skepsis ist angebracht, wenn manbedenkt, dass im bisherigen Dialog vonislamischer Seite nichts als Forderungenund Anklagen erhoben wurden. DieMuslime gefielen sich in der Rolle desOpfers. Den christlichen Vertreternwurde nicht nur die deutsche Vergan-genheit vorgehalten, sie wurden auchfür die Kreuzzüge und für den Kolonialis-mus mitverantwortlich gemacht.Zugleich verbaten es sich die Muslime,mit der Geschichte des Dschihad kon-frontiert zu werden. … Doch darüber zureden gilt als tabu. Lieber reden auch dieChristen von ihrer eigenen dunklen Ver-gangenheit. Ein solches Ritual einseiti-ger Schuldzuweisungen ist kein Beitragzur Verständigung zwischen den Zivilisa-tionen. Es kommt dabei nur ein verloge-ner Dialog heraus.“ Tibi beklagt sich,
dass Christen dieser feindseligen Hal-
tung nicht trotzen, sondern sich „dem
Islam anbiedernd verbeugen“. Er sieht
mehrere Gründe dafür. Zwei sind für
uns von grosser Relevanz, zumal sie auf
den Zustand in Deutschland abzielen.
„Erstens: die Schuldgefühle der Chri-sten, vor allem der deutschen Protes-tanten, in Bezug auf die unrühmlicheVergangenheit ihrer Kirche im ,DrittenReich‘. Nie wieder will man in die Gefahrkommen, andere Religionen zu diskrimi-nieren. Hier stellt sich die Frage, warumes Islamisten, die ja militante Antijudai-sten sind, gestattet sein soll, moralischesKapital aus dem vergangenen Leidender Juden zu schlagen.
Zweitens: die gesinnungsethisch ver-ordnete Fremdenliebe der Deutschen,die es ihnen verbietet, zwischen demo-kratischen und undemokratischen Aus-ländern und Kulturen zu unterscheiden.“Noch schärfer als Bassam Tibi geht der
Islamwissenschaftler Dr. Hans-Peter
Raddatz mit der unbedingten Dialog-
bereitschaft der christlichen Seite zu
Gericht. Er kritisiert massiv die katholi-
sche Kirche in ihrer Dialogbereitschaft
mit dem Islam in seinem Buch „Von
Gott zu Allah – Christentum und Islam
in der liberalen Fortschrittgesellschaft“.
Raddatz meint, dass im westlichen Kul-
turkreis gegen das eigene Interesse
gehandelt wurde. Man war nicht nur
Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis
77
bereit den Islam zu verklären, sondern
Kirche (Dialog) und Staat (Einwande-
rungspolitik) haben eigenen Interes-
sen zuwidergehandelt.
Eine gegensätzliche Ansicht vertritt
der Jesuitenpater und Islamwissen-
schaftler Prof. Christian W. Troll, der von
katholischer Seite mit dem Islamdialog
betraut ist. Er betont, dass „die Katholi-sche Kirche weiss, dass ohne beharrli-ches Fortschreiten auf dem Weg desvom Zweiten Vatikanischen Konzil kon-zipierten und vorgeschriebenen inter-kulturellen und -religiösen Dialogs dievielfältig zusammengesetzten, globalvernetzten Gesellschaften der Erdekeine Zukunft haben – weder bei unsnoch sonst wo gibt es eine Alternativezu ehrlichem, kritisch-offenem Dialogfür das gedeihliche Zusammenleben inVerschiedenheit – es bliebe nurdeKampf der Kulturen.“ Troll setzt hier
eine Dialogbereitschaft seitens der
islamischen Theologen voraus, die es in
der Realität kaum gibt. Der Islam fühlt
sich als letzte Offenbarung überlegen.
Bei Troll ist der Dialog eine Notwendig-
keit, da er jegliche zusätzliche Konfron-
tation mit dem Islam vermeiden
möchte. Bei einem kürzlich in Mainz
geführten christlich-islamischen Dia-
log betonte Troll, man habe universale
Werte gemeinsam durchzusetzen ge-
gen „jenen Humanismus, der die Reli-
gion aus der öffentlichen Sphäre her-
ausdrängen will“. Aber nicht nur die
Dialektik des religiösen Dialogs zwi-
schen dem schuldbewussten Okzident
und dem schuldzuweisenden Orient
verdient unsere Aufmerksamkeit. Es
gibt im heutigen Islam Versuche, die
Kirchen im Okzident soweit zu instru-
mentalisieren, dass ihnen von islami-
scher Seite eine gemeinsame Platt-
form angeboten wird, um den deka-
denten und ausbeuterischen Westen
zu bekämpfen. Hierzu ein Beispiel: Der
Vorsitzende des Hohen Rates der
Schi’iten im Libanon, Muhammad
Mahdi Schams-a-Din, hat im Jahre
1996 einem Aufsatz „Der islamisch-
christliche Dialog: die Notwendigkeit
des Wagnisses“ veröffentlicht, der in
großen Auszügen von Prof. Adel
Khoury in der Festschrift für Sma’il
Balic wiedergegeben wurde. Darin
erkennt der Autor drei Dialogkreise
zwischen Muslimen und Christen. Der
Dialog der Kriege ist für ihn Vergan-
genheit, da beide Religionen ihre politi-
sche Kraft eingebüßt haben. (Ich
stimme ihm im Bezug auf den Islam
nur bedingt zu.) Der theologische Dia-
log hat keine Zukunft, da beide Religio-
nen dogmatisch unvereinbar bleiben
werden. Es bleibt also der Dialog des
Zusammenlebens beider Religionen in
den jeweiligen sozio-politischen Syste-
men, sowohl in Europa als auch im
Nahen Osten. Schams-a-Din erkennt
Mordechay Lewy
78
für beide Religionen die gemeinsame
Gefahr der materialistischen Dekadenz
und der Säkularisierung, die zu
bekämpfen wären. Er verschweigt
dabei, dass er die westliche Kultur und
die Verwestlichung in der arabischen
Welt im Auge hat. Schams-a-Din
scheut sich nicht, die gemeinsame
Plattform auf der Judenfeindschaft
errichten zu wollen. Er hebt daher die
Rezepierung der christlichen Juden-
feindschaft im Koran hervor: „die ableh-nende Haltung der Juden Jesus gegenü-ber und ihre Verleugnung seiner Bot-schaft, ihre ungeheuerliche Verleumdunggegenüber Maria und die Intrigen derJuden gegen Jesus um ihn zu töten“.
In seinem Fragekatalog zum Dialog
stellt er unverfroren die folgenden Fra-
gen: „Welche Haltung diktiert derGlaube im Bezug auf die Frage des altenund neuen Imperialismus?“ Aus dem
nicht übersetzten Text geht hervor
dass er die Palästinafrage und den
„Siedlerimperialismus“ meint. Die
andere Frage lautet: „Welche Haltungdiktiert der Glaube im Bezug auf denRassismus?“ Auch hier geht aus der
nicht übersetzten Orginalfassung her-
vor, dass er den „zionistischen Rassis-
mus“ meint. Die Marschroute wird also
deutlich. Das koranisch rezipierte Chri-
stentum soll den Dialog offenbar
attraktiver machen. Der Preis für die
gemeinsame Plattform ist aber die
Judenfeindschaft. Die im traditionellen
Islam verbürgte Gleichbehandlung der
Juden und Christen als ahl-al-Dhimma,
wird somit aufgehoben. Es bleibt zu
hoffen, dass die katholischen Theolo-
gen, die den Dialog mit dem Islam aus
der Enzyklika „Nostrae Aetate“ des
2. Vatikankonzil ableiten, gleichzeitig
die dort erwähnten Passagen zum
Abbau der christlichen Judenfeind-
schaft vor Augen haben. Unser Beispiel
zeigt, dass Schuldgefühle auch zur
Blindheit verführen könnten.
Zusammenfassung
Die Beziehungsgeschichte zwischen
Orient und Okzident war und ist durch
eine lange Kette von gegensätzlichen
Wahrnehmungen, aber auch von zeit-
weiliger gegenseitiger Achtung gekenn-
zeichnet. Oft wurden die Reformation,
der Rationalismus, die Aufklärung oder
die Werte der Französischen Revolution
als Erklärungsmodelle hinzugezogen,
um den zivilisatorischen Vorsprung des
Okzidents gegenüber dem Orient zu ver-
mitteln. Aus der Krise des Osmanischen
Reiches seit dem späten 17. Jahrhundert
folgerte man in Istanbul, dass man den
Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis
79
Okzident nachahmen sollte, um An-
schluss an die Moderne zu finden. Dieser
Versuch setzte die Anerkennung der
eigenen Schwäche und Unzulänglich-
keit voraus. Es war der Machterhaltungs-
trieb, der die osmanische Herrschaft zu
dieser Erkenntnis führte, wobei man
auch religiöse Bedenken manchmal bei-
seite ließ. In der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts wurde aber zuneh-
mend klar, dass die Nachahmung des
Okzidents eine beträchtliche Moderni-
sierung herbeibrachte, aber eine Ver-
westlichung, d.h. Verinnerlichung von
westlichen Werten, kaum erreicht
wurde. Westliche Modernisierung kam
in den Verruf, nur den autokratischen
arabischen Regimen beim Machterhalt
förderlich zu sein. Die breite Masse in der
arabischen Welt sah die Moderne als
repressive Instrumente ihrer Herrscher.
Die eklektische Nachahmung des Wes-
tens war zum Scheitern verurteilt und
wurde mit zunehmender Rückbesin-
nung und agressiver Interpretation des
Islam kompensiert. Eigene Unzuläng-
lichkeit wurde nicht mehr zugegeben.
Die Schuldzuweisung an allem Übel
wurde dem Westen und seinen Agenten
zugeschoben. Im Westen, der selbst in
eine postmoderne Orientierungskrise
(Beliebigkeit der Werte) geraten ist,
weiss man nicht genau wie man mit die-
sen Schuldzuweisungen umgehen soll.
Das westliche Dilemma wird deutlicher
angesichts des zivilisatorischen Erbes
des Christentums und der Aufklärung.
Eine Kultur, die Schuldbekenntnis und
Selbstkritik gewohnt ist, neigt auch
dazu, die an sie gerichteten Schuldzu-
weisungen ernst zu nehmen. Ich meine,
dass mit zunehmender Aggression des
islamistischen Orients, sich der Okzident
aus eigenem Erhaltungstrieb zurückbe-
sinnen muss und dem geistigen und
politischen Konflikt mit dem Orient
letztendlich nicht ausweichen kann. Der
erste Schritt wäre, das Kind beim Namen
zu nennen und zu konzidieren, dass wir
uns in einer Konfrontation befinden, die
wir uns nicht ausgesucht haben. Wir
sollten dabei mit Umsicht und Ent-
schlossenheit vorgehen, ohne uns selbst
zu verleugnen. Durch behutsames Vor-
gehen könnte man auch eine Entwick-
lung vermeiden, die Heine in den Versen
„An Edom“ schon antizipiert hatte. Seine
Verse waren zwar auf den Konflikt zwi-
schen Juden und Christen gemünzt,aber
im Konflikt mit der arabisch-islamischen
Welt könnten sie sich bewahrheiten:
Jetzt wird unsre Freundschaft fester,Und noch täglich nimmt sie zu;
Denn ich selbst begann zu rasen,Und ich werde fast wie Du.
Mordechay Lewy
80
Mordechay Lewyist Gesandter der Botschaft des Staates Israel in Berlin.
Dass es in der Vergangenheit an Auf-
klärungsmaterial und Informationen
zur Vertreibung der Deutschen aus den
früheren ostdeutschen Gebieten, aus
Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa
gefehlt habe, lässt sich kaum behaup-
ten. Amtliche und nicht-amtliche Doku-
mentationen sowie Schilderungen der
Ereignisse oder Zeitzeugenberichte
haben sich bereits am Ende der 40er
Jahre des letzten Jahrhunderts ausführ-
lich mit der Vertreibung der Deutschen
im 2. Weltkrieg oder in den ersten Jah-
ren nach diesem Krieg befasst.
Von Anfang an – mit der Zeit aller-
dings deutlich zunehmend – bildete die
Vorgeschichte zur Vertreibung der
Deutschen – die Unterdrückungs- und
Umsiedlungspolitik des deutschen NS-
Staates in Tschechien, Polen und Osteu-
ropa sowie der Völkermord an den
Juden – einen Teil der historischen
Interpretation und Wahrnehmung in
Deutschland. Der deutsche General-
plan Ost und andere vergleichbare
Dokumente machten die langfristige
Zielsetzung Hitlerdeutschlands in Ost-
europa deutlich. Die deutsche Nationa-
lität sollte danach schrittweise die
nicht-deutschen Völker verdrängen und
nach Osten transferieren. Jalta und
Potsdam haben die umgekehrte Bewe-
gung – die Vertreibung der Deutschen –
vorbereitet und legitimiert. Vertrei-
bung und Umsiedlung betrafen nicht
nur die Deutschen – in Teilen ihres
früheren Staatsgebiets oder als Min-
derheit in der Sowjetunion, in Polen,
Rumänien, Jugoslawien, Ungarn und in
der Tschechoslowakei. Auch die ungari-
sche Minderheit in der Tschechoslowa-
kei, in Jugoslawien, in Rumänien oder in
der Karpatho-Ukraine, die der Sowjet-
union angegliedert wurde, war betrof-
fen. Selbst Nationalitäten, die zur Sie-
gerseite gehörten, wurden einbezogen,
etwa Teile der slowakischen Minderheit
in Ungarn, die in die Slowakei „zurück-
kehrten“, und die polnische Minderheit
im ehemaligen Ostpolen, die in Teilre-
gionen Weißrußlands und Litauens –
jeweils in den Grenzen nach 1945 – vor
der deutsch-sowjetischen Teilung
Polens die Mehrheit gebildet hatte. In
Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung –europäische und amerikanische Orientierungs-probleme gegenüber Nationalitätenkonfliktenvon Klaus Faber
81
der Mitte und im Osten Europas soll-
ten, soweit möglich, im Rahmen der
von den Siegermächten gestalteten
Nachkriegsordnung nach Nationalitä-
ten gegliederte, homogene Territorial-
einheiten entstehen.
Gegenüber den Deutschen war dabei
am wenigsten Rücksicht zu nehmen,
wie dies Stalin bereits auf der Jalta-
Konferenz andeutete. Er wies damals
auf die in den Ostgebieten zu erwar-
tenden deutschen Verluste durch Tod
und Flucht während des sowjetischen
Vormarsches hin. Das dieser Prognose
entsprechende tatsächliche Schicksal
der deutschen Zivilbevölkerung in dem
von sowjetischen Truppen besetzten
Teil Deutschlands in den letzten Kriegs-
monaten des Jahres 1945 war der poli-
tisch-militärischen Führung in Moskau
selbstverständlich bekannt. Die Sowjet-
union warnte in einer Erklärung vor
Aufnahme der Kriegshandlungen
gegen Japan dieses Land vor den
Schrecken, die nach dem Beispiel
Deutschlands auch Japan erleiden
werde, falls es den Krieg fortsetzen
wolle. Die Zahl von etwa zwei Millionen
vergewaltigter Frauen, von der einige
Historiker ausgehen, zeigt einen Teilas-
pekt der sowjetischen Kriegsgreuel und
macht gleichzeitig die allgemeine
Aggressionstendenz gegen Zivilisten
während der letzten Kriegsphase in
Deutschland deutlich. Der antikommu-
nistische Grundkonsens in der Grün-
dungsphase des westdeutschen Teil-
staates beruht in einem beachtlichen
Umfang auf diesen Kriegserfahrungen.
Vor allem nach dem Abschluss der Ver-
träge von Warschau und Moskau in den
70er Jahren fand das Vertrei-
bungsthema in der deutschen Politik
und Publizistik zunächst nur noch wenig
Aufmerksamkeit. Das seitdem wohl vor-
herrschende Erklärungsmuster zieht
historisch Bilanz: Hitlers Angriffskrieg,
die deutschen Völkermordverbrechen,
Unterdrückungsmaßnahmen und Um-
siedlungsaktionen führten zur Vertrei-
bung der Deutschen und zu den deut-
schen Gebietsverlusten. Die Erinnerung
an die Vertreibungsgreuel verblasste.
Die DDR versuchte nicht ohne Erfolg, sie
durch systematische geschichtspoliti-
sche Anstrengungen zu löschen. Die
Neuordnung der europäischen Land-
karte nach der Wiedervereinigung, der
Auflösung der Sowjetunion, der Tsche-
choslowakei und des früheren Jugosla-
wiens hat an dem nach 1990 weiter
bestehenden Konsens nichts geändert,
Deutschlands Grenzen politisch als end-
gültig zu akzeptieren. Revisionistische,
auf Rückgewinnung verlorenen Territori-
ums gerichtete Bestrebungen finden im
Deutschland des neuen Jahrhunderts
bislang nur wenige Anhänger.
Die aktuelle literarisch-politische
Diskussion über die Vertreibung der
Klaus Faber
82
Deutschen im Osten – vom Gustloff-
Untergang bis zu den Benesch-Dekre-
ten – sehen einige Debattenteilneh-
mer wohl als ein Normalisierungsele-
ment in der deutschen Identitätsfin-
dung. Die Vertreibungsverbrechen aus
der deutschen Geschichtsüberliefe-
rung auszublenden, war in der Tat
keine auf die Dauer Erfolg verspre-
chende Konzeption. Verbrechen – auch
und gerade Verbrechen dieser Dimen-
sion – können nicht aufgerechnet wer-
den, wie z.B. die Auseinandersetzung
mit dem Terrorismus zeigt. Tragfähige
Kooperations- und Freundschaftsbe-
ziehungen zwischen Staaten und Völ-
kern sind nicht auf dem Vergessen auf-
zubauen. Sie müssen zumindest in
einigen Grundelementen auf gemein-
samer Erinnerung beruhen.
Manche Untertöne in der deutschen
Vertreibungsdebatte geben allerdings
Anlass zu Fragen. Führt z.B. der zuwei-
len mit außenpolitischem Druck ver-
bundene Appell, die Benesch-Dekrete
zur Enteignung und Vertreibung der
Deutschen aufzuheben, nicht doch mit
einer gewissen Konsequenz zu An-
schlussforderungen nach einem Rück-
kehrrecht? Müsste ein derartiges Rück-
kehrrecht, wiederum folgerichtig, nicht
in gleicher Weise den Flüchtlingen und
ihren Nachkommen aus den früheren
Ostgebieten Deutschlands und aus
anderen europäischen Regionen einge-
räumt werden? Die Antwort auf derar-
tige Fragen könnte positive oder nega-
tive Auswirkungen auf die Stabilität der
europäischen Staatenwelt und der ein-
zelnen Staaten haben. Sie steht auch in
einem inneren Zusammenhang zur
politischen Position der EU-Staaten
und der USA gegenüber den Bevölke-
rungsbewegungen sowie den Lösungs-
ansätzen nach dem Auseinanderbre-
chen des früheren Jugoslawiens oder
der Teilung Zyperns. Sie führt damit
zudem zu Grundsatzproblemen des
inner- und zwischenstaatlichen Zusam-
menlebens von Angehörigen verschie-
dener Ethnien und Kulturkreise.
Gegen den thematischen Debatten-
zusammenhang vom Vertreibungsun-
recht gegenüber den Deutschen bis
zur Lösung der Konflikte in Bosnien, im
Kosowo oder in Zypern könnte einge-
wandt werden, die abstrakte Anerken-
nung eines Rechts auf Rückgabe frühe-
ren Eigentums und auf Rückkehr sei
nicht unbedingt gleichbedeutend mit
der Rückgabe oder der Rückkehr selbst;
das Bekenntnis zu den Vorzügen eines
multiethnischen und multikulturellen
Zusammenlebens bedeute nicht, dass
fünfzig Jahre oder mehr Jahre zurück-
liegende Flucht- und Vertreibungsvor-
gänge, die nach der heute üblichen Ter-
minologie zu einer „ethnischen Säube-
rung“ führten, rückgängig gemacht
werden sollten. Gegen eine derartige
Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung
83
Aufteilung zwischen grundsätzlich-
symbolischer Position und konkreter
Politik spricht aber die Dynamik, die
mit einer prinzipiell-moralisch ange-
legten Argumentation verbunden sein
kann, und ebenso die praktische Erfah-
rung. Von der abstrakten Anerkennung
eines Rückkehrrechts bis zur Realisie-
rungsforderung ist es häufig nur ein
kleiner Schritt. Was die einen als
abstrakt-grundsätzliche Position ver-
standen wissen wollen, sehen andere
als durchsetzbaren Rechtsanspruch.
Auch uns Deutschen sollte es deshalb
möglich sein, Zurückhaltung und
Zögern etwa auf der tschechischen
Seite bei solchen Fragen zu verstehen.
Migrationsvorgänge und die daraus
resultierende Begegnung und Verbin-
dung verschiedener Ethnien und Kul-
turen sind in der Menschheitsge-
schichte eher die Regel als die Aus-
nahme. Die räumliche Trennung nach
langem Zusammenleben, Flucht und
Vertreibung – sowie Schlimmeres –
gehören auf allen Kontinenten aber
ebenso zum historischen Erfahrungs-
bestand; sie sind keinesfalls ein Spezi-
fikum des christlich-abendländischen
oder europäisch-amerikanischen Krei-
ses. Seit dem 19. Jahrhundert haben
mehrere Millionen Muslime die früher
osmanischen Gebiete von der Donau
bis zum heute noch türkischen Ost-
thrakien verlassen. „Flucht“, „Vertrei-
bung“ oder – nach neuer Sprachkon-
vention – „ethnische Säuberung“ sind
dafür die richtigen Bezeichnungen, vor
allem wenn man die Verluste der mus-
limischen Zivilbevölkerung in diesen
Regionen im gleichen Zeitraum durch
Kriegsakte und Verfolgung berücksich-
tigt. Einen ähnlichen muslimischen
Exodus (auch von Teilen der tschet-
schenischen Bevölkerung) hat seit dem
19. Jahrhundert der Kaukasus erlebt,
mit umgekehrten Vorzeichen, was eth-
nisch-religiöse Unterdrückung und
Verfolgung anbelangt, Armenien. Der
griechische Ministerpräsident Venize-
los und Atatürk wußten, weshalb sie
sich in den zwanziger Jahren des letz-
ten Jahrhunderts auf einen Bevölke-
rungsaustausch einigten, der nur
wenige Muslime in Griechenland und,
dem Anteil nach, noch weniger Grie-
chen in der Türkei zurückließ.
Niemand wird ernsthaft vorschla-
gen, die Bevölkerungsbewegungen
zwischen Griechenland und der Türkei
nach etwa achtzig Jahren wieder rück-
gängig zu machen. Atatürks Versuch,
eine islamische Gesellschaft zu säkula-
risieren, wäre wohl kaum in dem bei
allen Rückschlägen bis heute zu erken-
nendem Umfang erfolgreich gewesen,
wenn Auseinandersetzungen mit
einer starken nicht-muslimischen Min-
derheit die türkische Innenpolitik
geprägt hätten. Das alles in allem sich
Klaus Faber
84
gut entwickelnde deutsch-polnische
und deutsch-tschechische Verhältnis
beruht auch auf der Sicherheit in
Grenzfragen und diese wiederum dar-
auf, dass keine Irridentabestrebungen
nationaler Minderheiten die Grenzen
in Frage stellen.
Der Völkermord des deutschen Staa-
tes an den Juden muß Gegenstand der
Erinnerungskultur in Deutschland und
in anderen Ländern bleiben. Ebenso
spricht nichts dafür, aus der kollektiven
Erinnerung die während und nach dem
2. Weltkrieg begangenen Verfolgungs-
und Vertreibungsverbrechen Hitler-
deutschlands, der Sowjetunion, Polens,
der Tschechoslowakei oder Jugoslawi-
ens auszunehmen. Die rückblickende
Kritik an der Vertreibung der Deut-
schen wird sich dabei – in Deutschland
und in anderen Ländern – in erster
Linie auf die in jeder Hinsicht inhu-
mane Durchführung der Vertreibung,
aber zugleich auf das Prinzip der Tren-
nung nach Nationalitäten beziehen.
Zwischen diesen beiden Aspekten ist
allerdings deutlich zu unterscheiden.
Die Gründung neuer Nationalstaaten
in Ostmittel- und Osteuropa nach dem
1. Weltkrieg wird wohl kaum pauschal
negativ beurteilt werden können, auch
nicht der dabei – mit Mängeln und zum
Teil parteilich – verfolgte Grundsatz der
Grenzziehung nach Nationalitäten-
und Sprachzonen. Es besteht kein
Anlass, etwa die Verhältnisse im Habs-
burgerstaat mit seinen zahllosen, am
Ende immer aggressiver geführten
Nationalitäten- und Sprachkonflikten
posthum romantisch zu verklären.
Noch weniger wäre eine beschöni-
gende Sicht der Zustände vor dem
1. Weltkrieg z.B. in der preußischen Pro-
vinz Posen oder im russischen General-
gouvernement Warschau zu rechtferti-
gen. Dass nach einem verlorenen Krieg
der unterlegene Staat, vor allem wenn
er, wie Deutschland, als Aggressor
angesehen werden konnte, Territorial-
verluste hinzunehmen hat, wird trotz
anderslautender Grundsatzerklärun-
gen verschiedener Herkunft auch in
den Konflikten nach 1945 nicht unbe-
dingt widerlegt.
Multiethnische und multikulturelle
Formen des Zusammenlebens in ei-
nem Staat oder in einer Staatenge-
meinschaft werden auf längere Sicht
zunehmend an Bedeutung gewinnen –
trotz der nicht zu übersehenden aktu-
ellen Trennungs- und Abgrenzung-
stendenzen. Unverzichtbar dafür ist
allerdings ein Mindestmaß an Über-
einstimmung in den Grundregeln für
das Zusammenleben – in dieser Defini-
tion ein Mindestmaß an „Integration“.
Ethnische oder ethnisch-religiöse
Gruppen können ohne einen Basiskon-
sens zur gegenseitigen Tolerierung
und zur politischen Ordnung auf die
Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung
85
Dauer nicht in einem gemeinsamen
Staat zusammenleben. Dass die dafür
notwendigen Bedingungen nach Bür-
ger- oder Sezessionskriegen und in
Nationalitätenkonflikten insbesondere
dann nicht binnen kurzer Zeit herge-
stellt werden können, wenn starke reli-
giöse Faktoren die ethnische Differenz
mitbestimmen, ist eine Erfahrung, die
Europäer und Amerikaner zur Zeit
nicht nur auf dem Balkan machen.
Der Zeitfaktor hat bei Prognosen zur
künftigen Entwicklung des Verhältnis-
ses zwischen verschiedenen Nationa-
litäten durchaus praktische Bedeu-
tung. Wenn eine ausreichend positive
Tendenz in absehbarer Zeit nicht zu
erwarten und ein halbwegs erträgli-
ches Nebeneinander verschiedener
Ethnien in einem Staat auch auf län-
gere Sicht nur durch eine internatio-
nale Intervention zu sichern wäre, ver-
stärkt dies die Argumente für eine
räumliche Trennung – soweit dafür
nach der jeweiligen politischen Kon-
stellation Optionen überhaupt eröff-
net sind (was, um in diesem Zusam-
menhang Beispiele zu nennen, im jetzt
noch überwiegend uigurisch besiedel-
ten Sinkiang oder in Tschetschenien
nicht der Fall ist).
Europäer und Amerikaner müssen
sich deshalb fragen, welche Ziele sie in
den Nationalitätenkonflikten in Bos-
nien, im Kosowo oder in Mazedonien
verfolgen und welche Mittel sie dafür
einsetzen wollen. Wenn, wie es zur Zeit
im Kosowo geschieht, die internatio-
nale Interventionsadministration die
Wiederherstellung ursprünglich von
Serben bewohnter Siedlungen fördert,
die im Kosowo-Krieg von den Einwoh-
nern der ausschließlich albanischen
Nachbardörfer zerstört worden waren,
müssen die politisch-militärischen
Konsequenzen – der dauerhaft sicher-
zustellende Schutz durch internatio-
nale Truppen – klar sein. Europäer und
Amerikaner sollten sich in einer derar-
tigen Lage der Frage stellen, wie lange
sie den dafür zu entrichtenden Preis
bezahlen wollen und wie mögliche
Alternativen für eine stabile Lösung
(unter Einschluss von territorialen Tei-
lungsmodellen) aussehen könnten.
Flucht und Vertreibung sowie vor
allem die von den Amerikanern unter-
stützte kroatisch-bosnische Offensive
in der letzen Phase des Krieges in Bos-
nien und Herzegowina haben in die-
sem Land zu einer Territorialverteilung
zwischen dem muslimisch-kroatischen
Staat und der „Serbischen Republik“
geführt. Ihre Bedeutung soll jedoch
durch eine Rückbesiedlung wieder
relativiert werden, die sich auch an den
Vorkriegsverhältnissen orientiert. Es
lässt sich kaum behaupten, dass in die-
sen Fragen eine stringente, langfristig
tragfähige und von Europäern sowie
Klaus Faber
86
Amerikanern gemeinsam getragene
Politiklinie zu erkennen ist. Der damit
beschriebene Koordinations- und Kon-
zeptionsmangel besteht im Jugosla-
wienkonflikt allerdings von Anfang an.
Ein Rückblick auf das Vertreibungs-
unrecht am Ende und nach dem
2. Weltkrieg, dem vor allem die Deut-
schen ausgesetzt waren, sollte auch
die aktuellen Erfahrungen mit Natio-
nalitätenkonflikten etwa auf dem Bal-
kan einbeziehen. Er hat dabei aller-
dings nicht nur das angestrebte Ziel
des multiethnischen Zusammenle-
bens, sondern ebenso den Umset-
zungsstand und die künftigen Realisie-
rungschancen zu berücksichtigen.Wel-
che Alternativen hatte, vom heutigen
Standpunkt aus gesehen, 1945 z.B.
Tschechien (bzw. die damals beste-
hende Tschechoslowakei), das wegen
der Benesch-Dekrete in der neuen Ver-
treibungsdebatte zur Zeit eine beson-
dere Rolle spielt? Einen Teil der sude-
tendeutschen Gebiete bei Deutsch-
land und Österreich zu belassen, wäre
damals wohl weder in der Tschechoslo-
wakei noch in anderen Ländern der
Anti-Hitler-Koaliton verstanden wor-
den. Sollte die Tschechoslowakei dar-
auf setzen, die 3,5 Millionen Sudeten-
deutschen in den tschechoslowaki-
schen Staat – unter nicht-kommunisti-
scher oder unter kommunistischer
Führung – zu integrieren? Wie wäre
eine derartige Politik im Verhältnis zu
Polen bewertet worden, nachdem die
früher deutschen, nach 1945 von Polen
verwalteten und besiedelten Ostge-
biete bereits im Krieg einen größeren
Teil ihrer ursprünglichen Bevölkerung
verloren hatten? Dass eine „Transfer“-
Lösung, wie die Entfernung der Sude-
tendeutschen aus der Tschechoslowa-
kei schon während des Krieges von der
Londoner Exilregierung genannt
wurde, zu den in Betracht kommenden
Varianten zählte, war im Kreis der Anti-
Hitler-Koalition eine weit verbreitete
Position. Stalin hatte während des
Krieges – also vor der Vertreibung der
Sudetendeutschen – Massendeporta-
tionen durchführen lassen, deren
Opfer verschiedene Völker und Natio-
nalitäten in der Sowjetunion aufgrund
kaum im einzelnen begründeter Loya-
litätszweifel wurden. Fluchtbewegun-
gen und Vertreibungen, die ungefähr
20 Millionen Menschen betrafen, fan-
den kurze Zeit nach der Vertreibung
der Deutschen auf dem indischen Sub-
kontinent nach der Aufteilung von Bri-
tisch-Indien statt.
Dies alles kann den „Transfer“ der
Sudetendeutschen nicht rechtfertigen
– und schon gar nicht die Verbrechen
bei der nach Kriegsende vollzogenen
Vertreibung. Ein gewisses Maß an Ver-
ständnis für die damalige tschechoslo-
wakische Position, nicht weiter mit 3,5
Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung
87
Millionen Deutschen in einem Staats-
verband leben zu wollen, ist aber den-
noch möglich. In der Zeit zwischen den
beiden Weltkriegen wurden die Sude-
tendeutschen, was die Minderheiten-
rechte als eigene Nationalität anbe-
langt, von dem neuen tschechoslowaki-
schen Staat unterdrückt. Hitlerdeutsch-
land gab sich 1938 jedoch nicht mit der
Abtretung der sudetendeutschen
Gebiete im Münchner Abkommen
zufrieden. Das ein Jahr später errichtete
Protektorat Böhmen und Mähren war
ein deutsches Instrument, das über ver-
schiedene Zwischenschritte die Auslö-
schung der tschechischen Nationalität
zum Ziel hatte.
Ein junger deutscher Revolutionär –
sein Name war Karl Marx – hatte 1848
Abgeordneten aus Böhmen, die sich als
Tschechen definierten und deshalb die
Teilnahme an der deutschen National-
versammlung in Frankfurt am Main
ablehnten, eine militärische Reaktion
der deutschen Revolution angedroht.
Er hatte dabei eher beiläufig, aber kon-
sequent, die Existenz einer tschechi-
schen Nation in Frage gestellt und mit
dieser Auffassung im deutschen
Umfeld damals vermutlich keine iso-
lierte Einzelmeinung vertreten. Vor
dem damit skizzierten Hintergrund
sollten wir in der neuen inner- und
außerdeutschen Vertreibungsdebatte,
vielleicht ebenso in unserer eigenen
Erinnerungskultur, zumindest einige
der Positionen – vor allem die Ängste –
einer kleinen Nation verstehen, deren
Überleben vor nicht allzu langer Zeit
von Deutschland bedroht war. Diffe-
renziende Lösungsansätze, die histori-
sche Erfahrungen, darunter die eigene
Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert,
nicht ausblenden, könnten auch für
aktuelle Konflikte in anderen Regionen
angemessen sein.
Klaus Faber
88
Klaus Faber,Rechtsanwalt in Potsdam und Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsfo-
rums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.
Der Artikel erschien zuerst in Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft 12/2002.
Harald L. Sempf
Regionale Wirtschaftspolitikvor dem Hintergrund desregionalenStandortwettbewerbsEine Untersuchung am Beispieldes Landes Brandenburg
352 Seiten, Paperback, 29,80 €ISBN 3-936130-03-5
Die in der Bundesrepublik praktizierte Regionale Wirtschaftspolitik geräthinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Effizienz insbesondere in den neuenBundesländern zunehmend in die wissenschaftliche Kritik. In dem Buchwerden der Nachweis bestehender regionaler Disparitäten auf unter-schiedlichen Ebenen innerhalb der EU geführt, regionalökonomisch rele-vante Begrifflichkeiten diskutiert und die theoretischen Grundlagen derRegionalen Wirtschaftspolitik verdichtet dargestellt. Am Beispiel des Lan-des Brandenburg untersucht der Autor, ob eine Neuorientierung der bis-herigen Regionalen Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund des zuneh-menden Wettbewerbs der Regionen geboten scheint. Raumordnung,Regionalentwicklung und Regionale Wirtschaftspolitik werden dabei insSpannungsfeld zueinander gesetzt. Die brandenburgische Strategie,Raumordnung und Regionale Wirtschaftspolitik zum Leitbild der Dezen-tralen Konzentration zu vernetzen, wird dabei einer kritischen Untersu-chung unterzogen. Anhand von ausgewählten Indikatoren werden diewirtschaftlichen Ergebnisse in Brandenburg denen in den anderen NeuenBundesländern gegenübergestellt, die wirtschaftliche Entwicklung Bran-denburgs nach regionalen Gesichtspunkten analysiert und das Erreichender Ziele nach Leitbildkriterien überprüft und bewertet.
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Harald L. Sempf
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Eine Untersuchung am Beispiel des Landes Brandenburg
v e r l a g k a i w e b e r b r a n d e n b u r g i s c h e h o c h s c h u l s c h r i f t e n
h e b b e l s t r a s s e 3 9 · 1 4 4 6 9 p o t s d a mf o n 0 3 3 1 – 2 0 0 8 7 2 2 · f a x 2 0 0 8 7 2 4
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Bislang erschienen:1. Zukunft der brandenburgischen Hochschulpolitik*2. Sozialer Rechtsstaat*3. Informationsgesellschaft*4. Verwaltungsreform*5. Arbeit und Wirtschaft*6. Rechtsextremismus*7. Brandenburg – die neue Mitte Europas*8. Was ist soziale Gerechtigkeit?9. Bildungs- und Wissensoffensive10. Zukunftsregion Brandenburg11. Wirtschaft und Umwelt12. Frauenbilder13. Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem14. Brandenburgische Identitäten15. Der Islam und der Westen16. Bilanz 4 Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt
SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 PotsdamPVSt, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550
* leider vergriffen