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6.1.Wörter auf der Goldwaage: Ausgangsfragen
• Welche allgemeinen Mechanismen liegen den konkurrierenden Modellen der Sprachverarbeitung zugrunde?
• Welche Rückschlüsse lassen sich aus der - Häufigkeit des Vorkommens sprachlicher Formen - der Ähnlichkeit zwischen sprachlichen Formen - und der Geschwindigkeit der Sprachverarbeitung auf - die psychische Verfügbarkeit (kognitive Verarbeitung / Speicherung) sprachlicher Formen ziehen?
Wörter auf der Goldwaage: Methoden
• Häufigkeitszählungen in Textkorpora (6.2.)
• Messungen der Verarbeitungs-geschwindigkeit (6.3.)
• Psycholinguistische Tests: - Natürlichkeitstest (6.2.)- Produktionstest (6.3.)- Lexikalischer Entscheidungstest (6.4.)- Pseudoworttest (6.6.)
6.2.Häufigste und seltenste Verben (Brown-Korpus von Francis / Kucera 1982:
1 000 000 Wörter, Pinker S. 162f.)
1. be 39 1752. have 12 4583. do 4 3674. say 2 7655. make 2 3126. go 1 8447. take 1 5758. come 1 5619. see 1 51310.get 1 486
• abate 1• abbreviate 1• abhor 1• ablate 1• abridge 1• abrogate 1• acclimatize 1• acculturate 1• admix 1• adulterate 1(von 877 Verben)
Wie zählt man Wörter ?• Token: jedes Wort im Text; auch alle identischen
Wörter werden gezählt (Er fliegt und fliegt und fliegt)
• Types: verschiedene Wörter in einem Text. Alle identischen Wörter werden nur 1x gezählt
• syntaktische Wörter: unterschiedliche Wortformen eines Lexems (flog, fliegt, fliegen, geflogen)
• Lexem: Zusammenfassung aller syntaktischer Wörter, die sich auf einen gemeinsamen Lexikoneintrag beziehen (Bedeutung, Wortart, Stamm / Wurzel) (z.B. als Stamm: flieg-, obwohl dieser nur lose mit flog verbunden ist, oder als Wurzel fl-V-g)
Getrennte Wege• Empfindung der „Unnatürlichkeit“ einer bestimmten
Präteritumsform könnte auch an der Unnatürlichkeit des Wortes insgesamt liegen
• Wir unterscheiden daher zwischenLexemfrequenz (Häufigkeit des Vorkommens aller Vertreter eines Lexems in einer bestimmten Textmenge, z.B. alle Formen von „sehen“) und Präteritumsfrequenz (nur die Formen von „sah“)
• Bei manchen Verben ist die Lemmafrequenz hoch, die Präteritumsfrequenz trotzdem niedrig; für das Natürlichkeitsurteil ist aber nur letztere entscheidend, vgl. Präsensformen in formelhaften Wendungen, die sehr selten im Präteritum stehen (er ist „verschollen“; ein „hartgesottener“ Bursche; etwas „steht und fällt“ mit ) (S. 165-167)
Worthäufigkeit und lexikalische Produktivität (im Brown-Korpus, S.167-169)
• 15369 regulär gebildete Präteritumsformen, davon 871 Hapaxlegomena (=5,7%)
• 10832 irregulär gebildete Präteritumsformen, davon 62 Hapaxlegomena(= 0,6%)
170 391 Verben877 Hapaxlegomena = neue Verben (=0,5%)Neue reguläre Präteritumsformen werden im Englischen 10x so schnell erzeugt wie neue Verben. Irreguläre Formen verhalten sich dagegen wie neue Wörter.
Hapaxlegomenon (griech.) = „einmal gesagt“: Wörter, die in einem Korpus nur einmal vorkommen.
6.3. Regularität und Reaktionszeit1
• Besonders häufige und irreguläre Form: Speicherung der Präteritumsform im Gedächtnis erleichtert (593 ms)
• Besonders seltene irreguläre Form: Speicherung der Form schwierig, reguläre Dubletten, Effekt des Verwaschens, der Unnatürlichkeit (652 ms)
• Besonders seltene und reguläre Form: Spei-cherung der Präteri-tumsform im Gedächtnis nicht nötig (613ms)
• Besonders häufige und reguläre Form: Speicherung kann im Gedächtnis zusätzlich erfolgen, muss aber nicht(617 ms)
1 Lexikalischer Entscheidungstest bei irregulären und regulären Partizipien des Deutschen (Clahsen, Eisenbeiss & Sonnenstuhl 1997)
Regularität und Reaktionszeit1
• Bei irregulären Verben ist der Unterschied zwischen seltenen und häufigen Formen signifikant (=statistisch belegt) (das Lexikon sucht dann länger nach der Form)
• Bei regulären Verben wirkt sich die Häufigkeit nicht aus (die Form wird mit der Regel gebildet)
• Am schnellsten werden hochfrequente irreguläre Formen gebildet (das Lexikon liefert den Eintrag sofort) (S. 171)
Aktivierung von Lexikon und Regel
• Pinker geht von einer gleichzeitigen Aktivierung des Lexikons und des Regelapparates aus.
• Bei Fortschritten in der Ermittlung des Lexikoneintrags wird die Anwendung des Regelmechanismus heruntergeschaltet (Blockierung).
• Bei seltenen irregulären Präteritumsformen kommt es zu fehlerhaft regulären Bildungen, weil die Suche im Lexikon nicht rechtzeitig in den Regelmechanismus interveniert. (S. 172)
6.4. Lexikalischer Entscheidungstest
• Versuchspersonen hören eine Mischung aus echten und Pseudowörtern und müssen sich per Knopfdruck entscheiden
• Wann wird ein Wort erkannt?- schon einmal gesehen- schon einmal gehört- weiß, was es bedeutet- weiß, wie man es im Satz verwendet(diese Fragen sind vor allem für den kindlichen Spracherwerb wichtig, s.u.)
• Reaktionsgeschwindigkeit davon abhängig, welche Wörter vorher aktiviert („gebahnt“) wurden (S. 174)
Wiederholungsbahnen (repetition priming)
• Ein mehrmals als Input präsentiertes Wort wird beim 2. Mal schneller aktiviert
• Das präsentierte Wort wird „gebahnt“ (der Hörer wird für dieses Wort sensibiliert, bzw. darauf vorbereitet)
• Bahnen zwischen - semantisch verwandten Wörter (Arzt – Krankenschwester)- Stämmen und irregulären Präteritumsformen- Stämmen und regulären Formen
• Grammatik als stärkeres Band, da gebahntes Wort länger aktiviert (S. 174-178)
• Vgl. auch die Diskussion zum semantisch beeinflussten „Bahnen“ einer Buchstaben-Laut-Zuordnung in Weingarten 2002!
6.5. Viele Experimente - zwei Wege
• Skala der Aktivierung regulärer Formen:
Regel LexikonLexikalischer Ent-
Natürlichkeitstest: scheidngstest:
Regelbildung Abfragen des Ge-
dominiert dächtnisses
Bildung von Präteritums-formen unter ZeitdruckWeg von Wörtern in Listeabhängig (S. 184)
6.6. Ähnlichkeitseffekte der Sprachverarbeitung
• Familienähnlichkeit zwischen Stämmen: der starke Punkt des Konnektionismus (Pinker S. 185ff.)
• Unregelmäßige Verben bilden Cluster mit ausgefransten Rändern: neben prototypischen Vertretern (singen) gibt es auch untypische (dingen)
• Pseudowortexperiment: Ableitung von Präteritums bzw. Perfektformen Welche Indikatoren: a) Stammvokalb) Weitere Stammmerkmale der Grundformc) Gesamtschemad) Reim
Der Aufbau der Silbe (vgl. Pinker S. 157)
S (Silbe)
A (Anfangsrand, Onset) R (Reim)
N (Silbenkern, Nucleus) E (Endrand, Coda)
kl a ng
s a ng
Pseudoworttest - Perfekt 1 / n = 181
83%
11%
84,50%
4,00%4% 7,10%
0%10%20%30%40%50%60%70%80%90%
gebr
ünde
t
gebr
ünde
n
gebr
unde
n
bründ
ete
bründ
te
brund
gebründet
gebründen
gebrunden
bründete
bründte
brund
Vermeidung der doppelten Silbe –te-te!
Schwache Flexion mit Vokaleinsetzung!
Teilnehmerbefragung von 2006
weiden,weidete geweidet
scheiden,schied geschieden
leiden,litt gelitten
Muster:
Pseudoworttest - Perfekt Präteritum 2 / n = 178
82%
3% 3,90%
66,90%
8%22,50%
3%
0%
10%20%
30%
40%50%
60%
70%80%
90%
gefe
idet
gefe
iden
gefie
den
gefid
den
feide
ten
fiede
nfit
ten
gefeidet
gefeiden
gefieden
gefidden
feideten
fieden
fitten
Teilnehmerbefragung von 2006
Pseudoworttest - Perfekt / Präteritum: 3 / n = 181
82%
15,2%2%
3,4%
81,5%
13%
0%10%
20%30%40%
50%60%70%
80%90%
gelehm
t
gelomm
en
gelehm
en
lehm
telah
m
lahm
te
gelehmt
gelommen
gelehmen
lehmte
lahm
lahmte
Muster: nehmen, nahm, genommen
Muster: kennen – kannte (gemischt, nur mit Kurzvokal!)
Teilnehmerbefragung von 2006
Regulärer Default• bründen :• liegt auf einem Territorium, das nicht von starken Verben
bevölkert ist: fast keine Ablautbildung, nur kleinere Variation bei der Partizip-Endung
• feiden • Konkurrenten sind die starken Verben „scheiden“ /
„leiden“, deren Einfluss (aufgrund von Häufigkeit?) bei der Perfekt-Aufgabe noch relativ schwach ist, aber beim Präteritum stärker wird.
• Der Einfluss der gesamten ei -i(e) – i(e) – Gruppe macht sich nicht bemerkbar!
• lehmen: Bezug zu einer Gruppe starker Verben: e – a – onehmen, helfen…; der Einfluss ist relativ schwach, aber konstant; nur 1 Reimwort
blinken - geblinkt
schwingen - geschwungen
Pseudoworttest - Perfekt / Präteritum 4 / n = 181
45%
3%
53%
30%
5% 3%2%
5%2%
39%
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
gebingt
gebinget
gebingen
gebungen
gebongen
gebongt
bingte
bang
bung
bong
Teilnehmerbefragung von 2006
Auf irregulärem Terrain• bingen• Der Einfluss der Verbgruppe –ing / -ang /-ung ist
sehr stark. Das starke Muster wird bei 39% übergeneralisiert. Bei diesem Muster ist der gesamte Reim wirksam. Im Präteritum leicht abgeschwächt (30%)
• schwache Bezugsverben in diesem Terrain sind selten; sie sind aber für die Regelanwendung auch nicht relevant
• Störfeuer durch andere Ablautschemata (>4%)• Gemischte Bildungen: -te / ge-X-t + Ablaut
(Assoziation bekannte Wörter: „gebongt“, „bangte“)
schweißen, geschweißt
weisen, gewiesen
schmeißen, geschmissen
Pseudoworttest - Perfekt / Präteritum 5 / n = 181
32%
7%
46%
6%
28%
13%9%
26%
11%
7%
0%5%
10%15%20%25%30%35%40%45%50%
gelei
ßt
gelei
ßet
gelei
stet
gelei
ßen
gelie
ßen
gelis
sen
leißte
n
leiste
ten
ließen
lisse
n
geleißt
geleißet
geleistet
geleißen
geließen
gelissen
leißten
leisteten
ließen
lissen
Teilnehmerbefragung von 2006
…ein zerklüftetes Bild
• leißen• Irreguläre Bezüge relativ stark durch viele
Reimwörter (…eißen), trotzdem weniger als ein Drittel (26%); im Präteritum geschwächt (13%)
• konkurrierendes Muster (w…eisen) (7%-28%); weitere Assoziation: lassen – ließ als Störfaktor
• Regulärer Default abgeschwächt durch- nicht plausible Schwa-Einsetzung(7%)- lautliche Nähe zu „leisten“ als Störfaktor: (geleiß(s)tet - leisteten) (11%-6%)
Familienähnlichkeit im DeutschenKunstverben, die sich
Nicht auf existierende Verben reimen„brewen“
Auf seltene starke Verben reimen„melzen“
Auf häufige starke Verben reimen„spechen“
% der Partizipbildung nach Schema –ge-C-o-C-en
0% 10,7%
„gemolzen“
19%
„gespochen“
% regulär gebildete Partizipien
61,9%„gebrewt“
51,5%„gemelzt“
48,6%„gespecht“
Pseudowortexperiment mit Aphasikern, vgl. Penke 2006, S. 68f.