Post on 05-Apr-2015
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Einführung in die Sprachvermittlung
9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen
Sprache
Ist die Wort-und-Regel-Theorie universell gültig?
• Universalien der Sprache (248f.)• Sprachtypologie: Klassifizierung von Sprachen
nach ihrer Struktur • Ausgangsfrage: Abkopplung der Regularität von
der Häufigkeit? (254)• Beispiele: Pluralbildung in Deutsch,
Niederländisch / Französisch, Ungarisch, Arabisch, Hebräisch / Klassifikatoren von Nomina in Chinesisch und Arupesh (Neuguinea)
Sprachtypen• isolierend: jedes Morphem bildet ein eigenes
Wort, auch Grammatische Morpheme wie „Präteritum“, „Plural“ oder „Steigerung“ werden mit eigenen Wörtern ausgedrückt
• agglutinierend: „anklebend“: grammatische Bedeutung werden jeweils in eigenen Suffixen an die Stämme angehängt
• flektierend: grammatische Bedeutung werden durch Suffixe oder Stammänderungen ausgedrückt; ein Morphem kann verschiedene Funktionen haben (Synkretismus); in einem Morphem können verschiedene Funktionen gleichzeitig ausgedrückt sein (-st = 2.Person+Singular)
Sprachtypen und Sprachwandel
isolierend
agglutinierend
flektierend
kombinierend
analytisch =zerlegend
synthetisch = zusammensetzend
1SG+geh+PRÄT 1SG+ geh-PERF geh-PRÄT-1S geh.PRÄT.1SG3 Wörter 2 Wörter 1 zergliederb. 1 nicht–zerglie-
Wort derb. Wort wo xing le bin gegangen git-ti-m ging
Chinesisch Deutsch Türkisch Deutsch
Universalgrammatik
• Idee einer angeborenen Grammatik, die allen Menschen gemeinsam ist
• Problem: wie kann Sprachverschiedenheit erklärt werden (warum haben Chinesen keine morphologischen Gene? S. 283)
• Trennung von allgemeinen Universalien (Prinzipien) und sprachspezifischen Ausprägungen (Parameter)
• Pinker: abgeschwächte Theorie der Universalgrammatik: nur sehr allgemeine Prinzipien, z.B. Wörter und Regeln – Thema: Welcher Regelbegriff?
Regelbegriffe• Regel als Default:
„…Flexionsmuster, das die Sprecher auf beliebige Wörter einer Kategorie anwenden können, auch wenn das betreffende Wort nie mit diesem oder irgendeinem anderen Muster im Gedächtnis gespeichert worden ist.“ (253)
= psychologische Definition (257)
• Regel als Mehrheitsfall, nach dem sich die meisten Wörter einer Kategorie richten
• Kann immer auch aufgrund der Häufigkeit der Fälle durch Analogien und Muster erschlossen werden.
• „Menschen richten sich, wie Miusterassoziatoren , nach Zahlen oder Häufigkeiten.“ (254) (stützt konnektionistische Theorie)
Pluralbildung im Deutschen
1. 2. + Umlaut:
3. -e
4. -e + Umlaut
5. -er
6. -er + Umlaut
7. -(e)n
8. -s
der Daumen – die Daumen
die Mutter - die Mütter
der Hund – die Hunde
die Kuh – die Kühe
das Kind – die Kinder
der Wald – die Wälder
die Straßen – die Straßen
das Auto – die Autos
„Die Autoren von deutschen Sprachbüchern haben heldenhafte Anstrengungen unternommen, in dieses Durcheinander eine Ordnung zu bringen, doch… gibt es mehr Gegenbeispiele als Beispiele.“ (S. 263)
Verteilung des s-Plurals• s-Plural: nur 4% der Nomina (von 25.000 types)• Häufig bei Fremdwörtern• Häufig bei Eigennamen• Im Lexikon auch in Nachbarschaft von anderen
Pluralsuffixen (Schecks – Flecken, Labels – Kabel, Relings – Ringe)
• Akronyme: PC‘s, GmbH‘s• Fehlen im Innern von Komposita• Häufig an zweisilbigen Nomina mit Vollvokal in
der 2. Silbe• = Präferenz für nicht kanonische Stämme des
Deutschen! (263-269)
Erklärungen des s-Plurals
Pinker / Wunderlich• Minority Default• Einzige reguläre Form• Einzige produktive Form• Übertragung anderer
Pluralformen auf Pseudowörter wegen Assoziatismus
Köpcke / Eisenberg / Bybee• Ein Schema neben
mehreren Schemata• Mehrere reguläre Formen• Mehrere produktive
Formen• Übertragung bei
Pseudowörtern folgt zugrundeliegenden Schemata
Vergleich: engl. Präteritum / deutscher Plural
• Default (-ed) = häufigste Form
• Nur reguläre Form produktiv
• Nur reguläre Form Suffix, irreguläre Formen nur stammverändernd
• S-Plural relativ seltene Form
• Mehrere produktive Formen (-en, -e)
• Überwiegend Suffigierung (Stammveränderung marginal)
Sprachtypologisch sehr unterschiedliche Fälle. Pinkers Erklärung wird hier vielfach infrage gestellt. Die Kritik hat Rückwirkungen für den Regelbegriff!
Eisenberg, Peter: Grundriss der deutschen Grammatik. Band I: Das Wort, S. 158
Systematik der Pluralformen nach Eisenberg• S-Plural nicht beliebig, sondern bevorzugt an
Wörter mit Vollvokal (vV) in der unbetonten zweiten Silbe (1= Pinker 8)
• Pluraltyp an Genusunterscheidung gebunden (Fem / Mask+Neut)
• Bei Mask außerdem Unterscheidung von starker (3) und schwacher Flexion (4)
• -en ist regulär für Feminina, (2+4 = Pinker 7)-e für Maskulina und Neutra (3 = Pinker 3/4) [Umlaut lexikalisch geregelt!]
• Wortbildungssuffixe (auch bei Fremdwörtern) nehmen –en (Feminina) oder –e (Maskulina)-heit / -keit / -ung / -(er)ei / -tion / -tät // -ling
Systematik der Pluralformen II
• Markierte (irreguläre) Formen verhalten sich spiegelbildlich zu unmarkierten (reguläre):(4) - schwache Maskulina (auf Konsonant oder auf -e) nehmen –en (n)
• (5) - einsilbige Feminina nehmen –e [immer mit Umlaut, Teilgruppe von Pinker 4](6) – einsilbige Neutra dominieren bei –er [immer mit Umlaut! Pinkers Gruppen 5+6 fallen zusammen, wenn man die phonologische Umlautregel berücksichtigt ]
Phonologisches Kriterium der Pluralbildung • Pluralformen enden zweisilbig mit Betonung auf der ersten Sil-
be (Trochäus: Einheit von betonter (S‘) u.unbetonter Silbe (S0))• einsilbige Feminina der Gruppe (2) bilden daher immer
silbischen Plural (-en)• zweisilbige Feminina der Gruppe (2) bilden Plural nur mit (-n)• einsilbige starke Maskulina und Neutra (3) bilden Plural auf –e• Maskulina auf –e bilden Plural mit –n (schon zweisilbig)
S‘ S0
A R A R
N E
H u n d eB ü ch er
Irreguläre Pluralformen• Mutter / Tochter: einzige Feminina, die nur mit Umlaut
Plural erzeugen; größer ist Gruppe der Maskulina (Pinkers Gruppe 2)
• Maskulina auf Pseudosuffix (-er, -el): ohne Pluralmarkierung (konform mit Silbenregel) (Pinkers Gruppe 1)
• Maskulina mit –er-Plural (kleine Gruppe) (in Pinkers Gruppe 6)
• Lexikalisierter Umlaut in Gruppe 3 (nur Maskulina: Bach – Bäche neben Schaf – Schafe) (in Pinkers Gruppe 4)
FAZIT: Nur ein kleiner Teil der Nicht-s-Plurale im Deutschen ist in demselben Sinne wie bei den Präteritumsformen irregulär und daher Teil des Lexikons!
Signalstärke der Pluralmarkierungen
• „Salienz ist die Bestimmung des Ausmaßes, mit dem eine morphologische Markierung vom Hörer identifizierbar ist, also ihre akustische Prominenz.“
• „Signalvalidität meint die Frequenz, mit der ein bestimmtes Merkmal in der Kategorie auftaucht, die mit der Zielkategorie kontrastiert.“
Köpcke, Klaus-Michael: Schemata der Pluralbildung im Deutschen. Tübingen 1993, S. 82
Signalstärken der Pluralsuffixe (Köpcke)
Markie-rung
Salienz Type Fre-quenz
Token Frequenz
Validität Silben-bildend
-(e)n
-s
-e
-er
Umlaut
+
+
+
+
-
+
-
+/-
-
-
+
-
+
-
-
+
+
-
-
+/-
+ / -
-
+
+
-
1. Salienz: Suffixe sind wahrnehmbarer als Stammveränderungen (Umlaut). (??)
2. Validität: -s und –n selten Endung im Singular –e / -er auch dort häufig
Köpcke, 1993, S. 184
Pseudowortexperiment:
1. Sprecher behandeln alle Suffixe (bis auf –lein) zu 90% und mehr als regulär: „der Klirmling / die Schergung / das Quettchen…“
2. Nomina auf Schwa (Woge, Hase) erhalten in sehr hohem Maße den –n-Plural„der Knumpe“ „die Muhre“
Köpcke, 1993, S. 184
Pseudowortexperiment:
3. Nomina auf Vollvokal: Generalisierung von –s etwas niedriger; Alternative: Generalisierung von –n mit Vokalausfall: Pizza – Pizzen / Pizzas
4. Nomina mit Pseudosuffix: -en: Endungslosigkeit dominant bei Maskulina / Neutra auf –en („Wagen“), -er (Koffer“), bei –el („Säbel“) etwas schwächer. Endung –n bei Feminina auf –el („Gabel“) ; nicht regelkonform: Feminina auf –er („Kiefer“)
Köpcke, 1993, S. 184
Pseudowortexperiment:
3. Einsilbige Nomina: Größter Einfluss irregulärer / konkurrierender regulärer Muster: a) Maskulina: stark 59% vs. schwach 21%Übergeneralisierung von -enb) Feminina: Sogwirkung der Familie: Hand / Hände (27%) c) Neutra: Sogwirkung der Familie: Tuch / Tücher (14%); Übergeneralisierung von –en; -e- Suffix eher untergeneralisiert
Deutsche Plurale und die Wort- und Regeltheorie
• Erklärung des s-Defaults unbefriedigend• Reines Auswendiglernen oder Muster-
Assoziieren der anderen Formen nicht bestätigt• Regularisierung von –en als stärkstes Pluralaffix
(neben Ausbreitung des –s)• Relative Stabilität von –e (zur Herstellung von
Zweisilbigkeit)• Einzelne Familiencluster mit irregulären Formen
wirken assoziativ (-er; Umlaut+ -e)„Multiple Regularitäten“ / Regeln eines mittleren
Abstraktionsgrades