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DEUTSCHLANDFUNK Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler Feature Der Eremit im Zentrum Kunst und Leben bei Carlfriedrich Claus Von Joachim Büthe Sprecher 1: Sprecher 2:
REGIE: Axel Pleuser
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- unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 8. April 2011, 20:10 - 21:00 Uhr
CD (Claus-Archiv Inv.-Nr.25): Stimme von Claus, Regengeräusche,
kurz stehen lassen, dann unter dem folgenden weiterlaufen lassen
O-Ton (Scherstjanoi): Nichts da, kein Schild, nur links ist eine Klingel.
Ich habe geguckt, die Wohnung ist so halb im Keller, die Fenster voller
Staub. Man hat geheizt mit Briketts, Rekord hießen die, Gestank und
natürlich alles dreckig. Die Fenster sahen so aus als ob man sie schon
seit zig Jahren nicht aufgemacht hatte. Ich habe geklingelt. Es klingelt
und dann geht die Tür auf, Schritte, Carlfriedrich Claus steht vor mit und
guckt mich an, und diese Geste werde ich nie vergessen: Ja, kommen
Sie! Kommen Sie!
Der Eremit im Zentrum
Kunst und Leben bei Carlfriedrich Claus
Ein Feature von Joachim Büthe
O-Ton (Milde): Da wo Carlfriedrich Claus war, da war ein Zentrum. Man
kann schon sagen in frühen Ausstellungen, wo er vertreten war, da
versammelte sich Publikum, da versammelte sich ein bestimmter
Interessentenkreis. Er war nicht nur postalisch vernetzt, sondern er hatte
eine Sogwirkung, die das zum Zentrum machte, wo er beziehungsweise
sein Werk präsent war.
Spr.2: Künstlerische Ausbildung habe ich nicht, wollte ich nicht haben.
Ich fasse mich auch nicht als "Künstler" auf, eher als Existenz-
Experimentator, als black box, mit verschiedenen Ein- und Ausgängen,
als Experiment aus Experimenten, Frage - Information -: eben:
vorversuchende, experimentelle Existenz in experimenteller Arbeit.
CD (Claus-Archiv Nr. 10) Anfang, dann im Hintergrund
Spr.1: Diese schon fast tautologische Selbstbeschreibung, die keinen
Unterschied macht zwischen Arbeit und Leben innerhalb des
allumfassenden Experiments, findet sich in einem Brief an den Fluxus-
Künstler Dick Higgins aus dem Jahr 1967. Carlfriedrich Claus, der Nicht-
Künstler ist alles auf einmal: Literat, Bildender Künstler, Philosoph.
Entsprechend breit gefächert ist seine Korrespondenz. Zu seinen
Briefpartnern und -freunden gehören der Philosoph Ernst Bloch, die
Künstler Bernard Schultze, Hans Arp und Raoul Hausmann, nicht zuletzt
der Schriftsteller Franz Mon und viele andere. In seinem Nachlass
fanden sich über 22 000 Briefe. 1960 gibt Franz Mon die bahnbrechende
Anthologie movens heraus. Mit ihr, so der Literaturwissenschaftler
Friedrich W. Block, meldet sich Mitteleuropa auf der Höhe des
internationalen Kunstgeschehens zurück. Der DDR-Bürger Carlfriedrich
Claus ist in ihr vertreten.
CD: Elisabeth Schimana & International Theremin Orchestra: 2. Stück
(im Hintergrund)
O-Ton (Block): Ich denke, dass bei Movens zweierlei angelegt ist und
zwar spartenübergreifend auf alle Künste, die ja in dem Band von 1960
auch vertreten sind. Und zwar einmal die Beweglichkeit des Materials,
mit dem man versuchend experimentell umgeht. Das betrifft natürlich im
wesentlichen das Sprachmaterial, das Zeichensystem, die
Verknüpfungsmöglichkeiten, den Sprachgebrauch. Das ist eine Ebene,
weg von allen Formen der Geschlossenheit, des Statischen hin zu
Aspekten der Beweglichkeit im Sprachmaterial. Die zweite Ebene ist
noch eine tiefer liegende oder tiefgründigere, nämlich die Performanz
der Herstellungs- und Bearbeitungsprozesse selbst. Da steht jemand
wie Carlfriedrich Claus wie kaum ein anderer dafür, nicht nur auf die
Beweglichkeit von Letternfeldern, von Handschrift oder Artikulation zu
setzen, sondern in der Beweglichkeit der Prozesse selbst beobachtend
drin zu sein. Und diese Form von hochkonzentrierter und überaus
differenzierter Selbstbeobachtung als künstlerisches Verfahren oder
Vorhaben, das würde ich im Bereich von Prozess als Performanz
ansiedeln.
O-Ton (Claus): Segmente, Themen, Gedanken, wechselnde Luft.
Segmente, Themen, Gedanken, wechselnde Luffft...
Spr.1: Der Beitrag der DDR zur internationalen Avantgarde war in der
DDR nicht willkommen und zunächst im westlichen Ausland bekannter
als daheim. Claus war politisch isoliert, aber seine Einsiedelei war auch
selbstgewählt: ausschließliche Konzentration auf sein experimentelles
Leben und Arbeiten. Erst ab Mitte der siebziger Jahre sind Ausschnitte
seines Werks gelegentlich zu sehen, zum Beispiel in Chemnitz
beziehungsweise Karl-Marx-Stadt. Für den Lautpoeten Valeri
Scherstjanoi war es eine einschneidende Begegnung.
CD: Valeri Scherstjanoi: will keine worte (von seiner Homepage), kurz
freistehend, dann im Hintergrund
O-Ton (Scherstjanoi): Ich bin 1979 in die DDR gekommen und meine
erste Lebensstation war das Erzgebirge. Meine Ehefrau stammte aus
Aue, Sachsen. Wir mussten einige Zeit warten, bis sie in Berlin eine
Arbeitsstelle bekommen hat. Ich hatte ein Lebensziel gehabt. Ich wusste
zwar nicht, was macht ein in der Sowjetunion ausgebildeter
Deutschlehrer hier beruflich, aber ich hatte keine Begabung, Pädagoge
zu sein. Und dann noch diese pseudokommunistische Ideologie, sowohl
in der Sowjetunion als auch in der DDR. Ich beschäftige mich seit
meinem 18. Lebensjahr mit der Geschichte des russischen Futurismus,
mit der ganzen Geschichte der russischen Avantgarde bis zum
Dadaismus und zum italienischen Futurismus usw. Den Dadaismus und
den italienischen Futurismus konnte ich nur in der DDR, da waren wir
schon näher am Westen, kennen lernen. 1980, ich musste mich
polizeilich melden im sowjetischen Konsulat in Karl-Marx-Stadt, ich bin
an der Galerie Oben vorbeigegangen, und das war die erste
Ausstellung, die ich überhaupt hier gesehen habe. Das waren die
Sprachblätter von Carlfriedrich Claus. Ich war darauf überhaupt nicht
vorbereitet. Ich habe mich sehr gewundert, erstens dass die Bilder, was
heißt die Bilder?, waren teilweise lesbar. Die Schriftzüge waren nicht nur
auf Deutsch, es waren Hieroglyphen, hebräische Schrift zu lesen, ab
und zu etwas auf Russisch. Es gab für mich den visuellen Eindruck, ja,
das ist abstrakte Kunst und das in der DDR so etwas ausgestellt wird!
Das war sensationell für mich. Ich war hochbegeistert und habe die
Mitarbeiterin gefragt, von wem stammen die Bilder? Sie sagte nein, das
sind Sprachblätter, und der Künstler heißt Carlfriedrich Claus und er
wohnt in Annaberg-Buchholz.
Spr.1: Sprachblätter, keine Zeichnungen, sondern aus der Handschrift
sich entwickelnde Strukturen, die gleichwohl figurative Elemente
enthalten können, häufig sind es Augen. Blätter, die aus der intensiven
Beschäftigung mit einem Thema entstanden sind, jedoch, obwohl Claus
auf ihrer Lesbarkeit bestanden hat, nicht im herkömmlichen Sinn zu
entziffern sind. Selbst den besten Dechiffrierexperten der Stasi, die hier
Nachrichten an den Klassenfeind witterte, ist es nicht gelungen. Auch
der Schriftsteller Michael Lentz hat es versucht.
CD: Claus-Archiv Nr.10, ab Min. 26, im Hintergrund
O-Ton (Lentz): Also wenn die Sachen vergrößert, es gibt ja auch
Vergrößerungen, wenn man das Paracelsus-Zitat sucht und dann
tatsächlich bei ihm findet oder andere Zitate, Ernst Bloch zum Beispiel,
das lässt vermuten, dass man auch den Rest lesen kann. Es gibt
allerdings bei ihm eine Schreibbewegung, die die Gestaltbildung der
Lettern wiederum so entfaltet, dass es in die bloße Lineatur übergeht.
Aber selbst die Lineatur bei Claus hat diesen Schriftzug komplementär
drin. Das tendiert nicht zur Graphur oder zu geometrischen
ornamentalen Figurationen, sondern es tendiert immer zur Schrift. Selbst
das Unleserliche oder das bewusst unleserlich Machen ist ja ein Akt
nicht der Entschriftlichung, sondern Schrift wieder in die Latenz
zurückdrücken, auch das eine Bewusstseinstätigkeit im Schlaf.
O-Ton (Claus): Was für mich immer wieder eine erregende und
abenteuerliche Sache ist das Erfahren von elementaren Naturgewalten
im Körper und in der Psyche, wenn man die natürliche Sprache verlässt
und sich total auf die Bewegungen der Artikulationsorgane einlässt.
Welten, die in jedem von uns aktiv sind, nur eben verdrängt von der
Bewusstseinstätigkeit im Wachen.
CD (Claus-Archiv nr.10): wie zuvor
Spr.1: Bewusstseinstätigkeit im Schlaf ist eine von Carlfriedrich Claus'
akustischen Arbeiten, ein Lautprozess. Sie sind in ihrer Radikalität
einzigartig. Es sind vorsprachliche Artikulationen, die das Hören und
Sprechen nicht mehr oder noch nicht an die verständliche Mitteilung
binden und doch teilen sie etwas mit.
Spr.2: Indem wir die Sprechklänge aus ihrer Vehikel-, aus ihrer Träger-
Rolle für sprachliche Mitteilung herauslösen und zu neuen akustischen,
nicht mehr-, beziehungsweise noch-nicht- "sprachlichen" Strukturen oder
Systemen zusammenschließen, - das heißt, indem uns -
informationstheoretisch gesprochen - an dem Gemisch aus Information
und Rauschen, aus dem das Sprachsignal besteht, plötzlich das
"Rauschen" und die darin eingebetteten anderen Informationen,
Informationsströme, interessieren, die beim Formieren und Wahrnehmen
der sprachlichen Nutzsignale durch unsere Effektoren und Rezeptoren
weitgehend unterdrückt werden, beziehungsweise nur sekundär und
unterschwellig wirksam sind, -- indem wir dies tun, funktionieren wir den
Begriff "Sprechen" ja bereits um. Diesem neuen "Sprechen" liegt nicht
mehr eine bereits vorhandene "Sprache" zugrunde.
O-Ton (Claus): Im Unterschied zu vielem, was heute als
schamanistische Ferienkurse usw. passiert, sehe ich den
Schamanismus als aufklärerisches Element. Die schamanistischen,
totemistischen Vermittlungsexperimente zwischen Mensch und
Naturkräften, die ins vorgeschichtliche zurückreichen und vermutlich im
urkommunistischen Dasein ihren Ursprung haben, begreife ich als einen
antizipatorischen starting point der Aufklärung und Aktion im Dunkel des
Zwischen.
CD: Claus-Archiv Nr.16, als Hintergrund für Lentz
O-Ton (Lentz): Man meint, wenn man ihn hört, nichts anderes zu hören
als Claus. Als gäbe es da keine Vorgeschichte, als gäbe es auch keine
Vorbehalte, die Claus gegenüber sich selbst gehabt hätte. Leichthin ist
man ja geneigt, das für etwas Unverstelltes, Urwüchsiges, Originäres zu
halten, bis man dann liest, dass er doch nach einem bestimmten
Konzept gearbeitet hat, dass er sehr theorieaffiziert war respektive sich
selbst die Theorie geschrieben hat. Das heißt dass dem ein
interessantes Wechselspiel zugrunde liegt zwischen bestimmten
theoretischen Überlegungen, einem gewissen experimentellen
Verständnis und zwar eines solchen, das sich nicht nur auf das konkrete
Experiment, dessen was man gerade tut beschränkt, sondern er hat das
mit dem ganzen Lebensbegriff überformt. Dann ist es auch etwas, das
sofort den Eindruck des Peinlichen auslöst. Man fragt sich ja oft, würde
man das auch selber machen. Nein, das würde man nicht machen.
Warum nicht, weil es etwas Kindliches oder gar Kindisches ist, man
denkt auch als der Stellvertreter der gesamten Zivilisation, was man für
ungebärdig, für ungehörig hält. Und gleichzeitig ist da so ein gewisses
Granulat der Stimme, wie es bei Roland Barthes so schön heißt, obwohl
er ja keine verbalen Anteile benutzt, und trotzdem hört man die
sächsische Formung der Stimme noch durch selbst in diesen
Verlautbarungen. Das alles zusammen macht den Eindruck, dass sich
da jemand artikuliert wie von einem anderen Stern. Mit der Zeit hört man
der Sache zu als würde da jemand tatsächlich sprechen.
O-Ton (Claus): Rinde der Bäume/erstarrt/ als äusserste schicht/ doch
strömendes/fliessendes/spiegeln/ von verborgenen/ fluten und ufern/
rinde der bäume:/ farbige kurlen/ blättern/ die träume/ raumgewordene
zeit:/ kreisende/ roworko-sonnen/ und/ flechten und pilze/ die glimmen
bei nacht/ auf durchfurchter borke/ spielen/ sylphen/ ihr/ lautloses lied/
von/ stille und sturm/ von/ dunklem flattern/ vom unhold/ am
mondwolkenturm/ rinde der bäume:/ runen/ und worte/ von gnomen
gesäumt
Spr.1: Mit solchen Gedichten hat es angefangen in den fünfziger
Jahren. Schon bald beginnt sich der Textkörper der Gedichte aufzulösen
beziehungsweise sich auszubreiten über das Blatt. Zugleich tritt der
semantische Gehalt der Wörter zurück, verschwindet fast hinter ihrem
Klang, der akustischen Anmutung. Diese Bewegung kann man bei Claus
immer wieder beobachten: Je mehr er seine Mittel reduziert auf den
Kern, auf den es ihm ankommt, desto raumgreifender und
allumfassender wird er, als gelte es, seine Welt in einem Reiskorn zu
fassen und sich in Beziehung zu setzen mit der umgebenden Natur.
Brigitta Milde, heute Leiterin des Carlfriedrich-Claus-Archivs, in den
achtziger Jahren in gleicher Funktion in der Galerie am Markt in
Annaberg-Buchholz, kennt eine von Claus' Voraussetzungen.
CD: sensorium (hommage à carlfriedrich claus) nomized: waltz river,
schon unter dem Text zuvor beginnen und vor O-Ton Claus enden
lassen
O-Ton (Milde): Carlfriedrich Claus hat ein ganz enges Verhältnis zur
Natur gehabt. Er ist sehr viel spazieren gegangen. Er ist auch als
Einsiedler und Eremit sehr viel spazieren gegangen, nur zu
ungewöhnlichen Zeiten und Jahreszeiten. Natureindrücke sind für die
Herausbildung seines Werkes unabdingbare Voraussetzungen. Es gibt
tausend frühe Texte, die immer wieder diesen unmittelbaren Naturbezug
deutlich machen, die aber natürlich dann auch nachvollziehen lassen,
wie Carlfriedrich Claus diese Natureindrücke genommen hat, indem er
sie zunächst aufgeschrieben hat, dann weiterbearbeitet hat
dahingehend, dass nicht ein Natureindruck nacherzählt wird, sondern
mit Material, nämlich mit Sprachmaterial neu erzeugt wird.
O-Ton (Claus): Turmdohlen (Gedicht, übergehend in Vokalgekrächze)
Spr.1: Natureindrücke sind ein Teil des Clausschen Kosmos, dessen
subjektive Verknüpfungen so ungewöhnlich wie, wenn man ihm zuhört,
einleuchtend sind. Auf jeden Fall haben sie früh begonnen. Die Bilder
von Paul Klee lernt er im Alter von acht Jahren kennen.
CD: Elisabeth Schimana wie zuvor, erstes Stück
Spr.2: Zwischen 1938 und 1945 hatten - neben anderen - Bilder Paul
Klees eine ganz besondere Bedeutung für mich. Ich lernte, dank meiner
Eltern, Reproduktionen seiner Arbeiten etwa 1938 kennen, also mitten in
der Nazitriumphzeit und unter dem Druck der "deutschen
Volksgemeinschaft". Ich befasste mich damals mit Werken, die als
"Entartete Kunst" als "Kulturbolschewismus" verfolgt wurden, wie mit
Geheimlehren, das heißt ich sah sie als Exerzitientafeln, Chiffren und
Chiffrenverknotungen, die auf verbotene Wirklichkeiten nicht nur
hinwiesen, sondern in die Kräfte dieser Wirklichkeiten selbst verknüpft
sind. Mit der Vehemenz, die Phantasie in der Kindheit hat, versuchte ich,
in die Bilder einzudringen, mich in sie zu verwandeln, und so die Knoten
zu lösen. Was durch diese Selbstexperimente, Selbstaktivierung
immerhin geschah, war eine Veränderung der subjektiven Verfassung.
Die Bilder, so benutzt, halfen, psychische Gefasstheit, Resistenz zu
erlangen, so dass Unsicherheit und Angst zumindest zeitweilig
vergingen. Die psychische Wirklichkeit, in die mich die Reproduktionen
seiner Bilder versetzten, war von Verbindungen, Winken erfüllt; ich
glaubte, durch sie hindurch mich in eine Welt verborgener Kontakte
zwischen Menschen, toten und lebenden, Tieren, Steinen, Pflanzen,
Gestirnen, Elementen zu befinden. Immer wurde dabei auch eine
abenteuerliche Ader in mir stimuliert. Und Bewegung. Geistige und
körperliche. Klees Bilder schufen manchmal eine Stimmung, die mich
aus dem Zimmer hinaus, in die Dämmerung, den Abend, durch die
verdunkelten Straßen trieb; dabei meinte ich, Kontakt mit Menschen, die
ich verehrte, und mit Unbekannten zu haben.
Spr.1: Dieser Text aus dem Jahr 1984 enthält so viele Elemente des
Clausschen Lebensprogramms, dass man nicht weiß, wo man anfangen
soll. Das Selbstexperiment selbstverständlich, die Geheimlehren, die es
zu entschlüsseln gilt und die zugleich schützen vor Anpassung an eine
nicht akzeptable Umwelt, wenn man in ihnen nicht esoterisch versinkt
und ihre subversive Kraft erfasst. Die Exerzitien und Chiffren, die man im
Werk von Carlfriedrich Claus wiederfindet, die Suche nach dem
Unbekannten und die pantheistischen Elemente seiner Weltsicht. Und
Bewegung.
CD: wie zuvor, wechseln zur Nr.5
O-Ton (Block): Ich würde es wagen, ihn als einen poetischen Mystiker
zu bezeichnen. Claus hat sich Zeit seines Lebens, seit den fünfziger
Jahren, sehr umfangreich mit mystischen Schriften beschäftigt, mit der
Kabbala über buddhistische Schriften bis hin zur christlichen Mystik, er
hat sich enorm davon inspirieren lassen. Es ist ganz offensichtlich, dass
er zentrale Praktiken seiner künstlerischen Arbeit mit mystischem
Vokabular belegt. Also Sprechexerzitien, Schärfung der Achtsamkeit,
das ist mystischer O-Ton, wenn man so will, aber auch andere
poetologische Begrifflichkeiten. Dann käme noch mal der Begriff der
Selbstbeobachtung ins Spiel, also das, was Mystik immer getan hat,
methodisch, nämlich in einer sehr tiefgründigen Weise kognitive
Selbstbeobachtung zu betreiben, das hat er künstlerisch sehr fein
ausgearbeitet. Und das ist von Lebenspraxis nicht mehr zu trennen. Man
macht es ja und damit ist es Lebenspraxis. Das finde ich ungeheuer
spannend.
O-Ton (Claus): Die Corroborri der Australier, die ekstatischen Gesänge
und Tänze, die primär Lautdichtungen sind und gerade deshalb wie
Feuer von Stamm zu Stamm laufen können, das alle, die es berührt,
sprech-, sing-, schreigestikulierend hochlodern lässt. Da sind
Sprachgrenzen keine Grenzen. Dann die unartikulierten Schreie, durch
die Ekstase anspringt, bei den Schamanen Sibiriens, der Mongolei, die
sinnlosen Lautaneinanderreihungen, Meditationsmurmelformeln in der
lamaistischen, besonders Rotmützenwelt.
CD: C.C.: Basale Sprech-Operationsräume, Take 7, etwas länger frei
stehen lassen
O-Ton (Claus): Also die Erfahrung, die ich interessanterweise besonders
mit der Bewusstseinstätigkeit im Schlaf gemacht habe, also mit diesen
Lautprozessen war, nach diesen Aufführungen, da herrschte totales
Schweigen danach. Und in Radebeul, da gab es eine außerordentlich
heftige Diskussion. Die Hälfte ungefähr verließ den Raum unter Protest.
Und dann, ich hatte versucht, den Standpunkt zu verstehen. Sie
sprachen eben von einem durch den Marxismus vermittelten
humanistischen Menschenbild, also der klassische Gedanke von Lukacs
her, diese Ideen herrschten bei den Diskutanten vor. Also es war
interessant wie die Interpretation des Stückes innerhalb von kürzester
Zeit umschlug. Zunächst dachte die Bildhauerin, die die Diskussion
leitete, dass es eine Aufzeichnung elektrischer Hirnströme wäre. Und als
ich sagte, das ist meine Stimme, da wurde die Frage gestellt: Was gibt
das dem Menschen? Ich habe gesagt, mein Bestreben, wenn es das
gibt, sei, ihn bewusster zu machen.
Spr.1: Der von Ernst Bloch geprägte Marxismus des Carlfriedrich Claus
fand, wie hätte es anders sein können, in der DDR keinen Widerhall.
CD: wie zuvor, wechseln zu Take 6, etwa 3.30 Min. nach Beginn, unter
dem O-Ton langsam verschwinden lassen
O-Ton (Block): Sein Kommunismus ist ja von einem SED-Kommunismus
galaxienweit entfernt. Nicht umsonst ist er mit der kommunistischen
Partei der DDR furchtbar aneinander geraten und mit dem ganzen
System. Die konnten mit ihm überhaupt nichts anfangen. Für ihn war
sein Kommunismus höchst subversiv. Er hat sich immer als Kommunist
verstanden und zwar insbesondere, weil er einen sehr umfassenden
Begriff von Kommunismus hatte, der zum Beispiel auch an
Kommunikation festgemacht wurde. Natürlich war das auch politisch,
weil er antikapitalistisch gedacht hat, aber es ging ihm sehr stark um
kommunikative Prozesse zwischen unterschiedlichsten Bereichen,
zwischen Mensch und Natur, zwischen Gesellschaft und Individuum bis
hin zu den psychosomatischen Zusammenhängen. Und das wiederum in
einem holistischen Sinn, in einer communio. Er hat sich auch sehr
interessiert für kommunistische Bewegungen, aber wenn man dann
guckt, wie beobachtet er zum Beispiel vietnamesische Freiheitskämpfer?
An denen macht er fest, weil sie asketisch gelebt haben, sich dem
revolutionären Kampf gewidmet haben, an denen macht er dann fest die
Sublimierung von Sexualenergie. Das macht er an vietnamesischen
Freiheitskämpfern fest!
Spr.1: Der Einsiedler und asketische Utopist hielt auch die vollständige
Verwandlung von sexueller in geistige Energie für machbar und
wünschenswert. Auch das war ein Grund, Mauerfall und Wende mit
gelassener Skepsis zu betrachten.
O-Ton (Scherstjanoi): Ich war so euphorisch, aber er war ganz ruhig und
gelassen und sagte, ich habe Angst, dass ich jetzt aus meiner Wohnung
rausgeschmissen werde. Er hatte Angst vor der Diktatur des Sexes.
Was machen sie dann mit dem Kino Gloria? Machen sie da einen
Sexshop? Das ist nicht passiert.
Spr.1: Als utopischer Kommunist in einer pseudosozialistischen
Gesellschaft zu leben, zudem noch in regem Kontakt mit der
westeuropäischen künstlerischen Avantgarde, diese einmalige
Konstellation ist nicht leicht auszuhalten. Fast könnte man denken,
Claus sei der DDR-Kunst überhaupt nicht zuzurechnen.
O-Ton (Claus): Hallo ... Geist der Mauer, Gedanken der Mauer, Zeichen
der Mauer, Signale der Mauer, wir hören euch. Wir sind auf Empfang.
CD: wie zuvor (wieder aufnehmen)
O-Ton (Lentz): Das, was er gemacht hat, das klingt jetzt komisch,
müsste man differenzieren, ist ein Teil der DDR-Kunst. Ohne dieses
Gefängnis ist es nicht zu denken. Das glaube ich schon, weil er hat auf
der einen Seite immer an einem utopischen Begriff von Kommunismus
festgehalten, den er abgeglichen hat mit dem praktizierten der DDR. Auf
der anderen Seite hat er dem empfundenen Defizit, sowohl seines
utopischen Entwurfs von Kommunismus als auch des real existierenden,
aber auch lebenspragmatischen Defiziten, dieses Defizit hat er gekontert
mit einer noch größeren Beschränkung. Die sowohl im Formalen als
auch im Inhaltlichen bei ihm zu finden ist. Weil er Entscheidungen
getroffen hat, was er nicht macht. Abgesehen von seinen frühen, fast
naturhaften Gedichten und Wortgebilden arbeitet er nicht mit verbalen
Anteilen. Er arbeitet nur mit seiner Stimme. Das sind alles
Entscheidungen, die etwas anderes komplett ausschließen. ... Ob nun
Kunst oder Leben, es handelt sich um ein Myzel. Die Pilzköpfe, die über
der Erde herausragen, das ist der Roman, das ist das Ausformulierte,
das Eingeführte, das Wiedererkennbare. Ich will das Pilzgeflecht, das,
was darunter ist, was nicht zu sehen ist.
Spr.1: Seine Entscheidung, etwas nicht zu machen, sei sie den
Verhältnissen geschuldet oder nicht, radikal nur seinem Ansatz zu
folgen, war auch beispielhaft innerhalb der DDR. Und in diesem Sinn
rückt der Eremit dann doch wieder ins Zentrum der DDR-Kunst.
CD: ... aus randlosem in randloses ... (hommage à C.C.) Remix Basale
Sprech-Operationsräume (im Hintergrund)
O-Ton (Milde): Carlfriedrich Claus war immens wichtig und
paradoxerweise wage ich zu behaupten nicht nur für die inoffizielle,
sondern in gewissem Sinne auch für die offizielle. Aber erst mal zur
inoffiziellen: Er hat vorgelebt, dass man ohne jeden Kompromiss sein
Werk entwickeln kann zu einem Rang und einer Geltung führen kann,
die quasi auch alle Skeptiker und alle diejenigen, die der Sache kritisch
und ablehnend gegenüberstehen doch zu einer gewissen Anerkennung
nötigen. Das hatte natürlich einen immensen Einfluss und eine immense
Ermutigung auch für all die vielen, die im Untergrund gewirkt haben und
die im halben Untergrund halboffiziell tätig waren, auch wenn nicht jeder
das Format von Carlfriedrich Claus haben konnte, aber das Vorbild war
nicht hoch genug einzuschätzen. Erstaunlich war aber, dass
Carlfriedrich Claus eben gerade deswegen, weil er so gänzlich
unbeeinflussbar war, auch die offiziellen zu einem gewissen Respekt
genötigt hat. Und letztendlich war er ja dann spätestens seit den
achtziger Jahren auch in offiziellen Ausstellungen, manchmal sogar im
Ausland durch die DDR vertreten. Das zeigt, dass sie vielleicht wider
Willen, genötigt, aber immerhin nicht umhin kamen, seine Position
anzuerkennen, ihm auch eine gewisse Öffentlichkeit zuzugestehen.
O-Ton (Claus): Meine Arbeiten waren total entgegengesetzt der SED-
Kulturpolitik. Ich stand in der interessanten Situation, dass Leute, die
meine Arbeiten nicht ganz ohne Interesse sahen, dass sie mich von ihrer
westlichen Orientiertheit her als Antikommunisten betrachteten. Da war
Übereinstimmung. Sie sagten von vorn herein, ich bin mit Ihnen
solidarisch, die Antikommunisten hier in der DDR. Und die Kommunisten
sahen mich als Feind, die eigentlich meine Freunde hätten sein können.
Aber sie waren es eben da nicht.
Spr.1: Es gibt viele Paradoxa im Leben und Schaffen von Carlfriedrich
Claus. Kommunist und Mystiker, Einsiedler, in dessen Arbeit
kommunikative Prozesse eine zentrale Rolle spielen, Sprachblätter, die
rational nicht erfassbare Denklandschaften sind, Lautprozesse, die sich
zurücksehnen in eine Zeit, als die Emotionen noch nicht von den
Fertigbauteilen einer Sprache überformt waren. Er ist unterwegs in
einem Zwischenreich, hoch reflektiert und zugleich wissend, dass dies
eine abenteuerliche terra incognita ist. Wie das Leben und auch die
Poesie.
CD: Elisabeth Schimana, Wiederaufnahme 1. Stück
O-Ton (Block): Ich habe das immer so verstanden, gerade das
Poetische, ist etwas, das ganz im ursprünglichen Wortsinn etwas mit
Genesis zu tun hat. Es gibt ja diesen wunderbaren Text bei Platon, das
Gastmahl, wo man dem Liebesgott huldigt und in diesem
Zusammenhang dem auf die Spur kommt, was grundständig an der
Liebe ist. Und das sind eben die poetischen Prozesse, die
Schaffensprozesse. Die Kräfte, die dafür zuständig sind, dass etwas
vom Nicht-Sein in das Sein übertritt und umgekehrt. Das sind genau die
Kräfte, an denen Claus m. E. interessiert ist und auf die er sich sehr
feinsinnig einstellt, und zwar sowohl im mikrologischen als auch im
makrologischen Bereich. Er ist ja immer daran interessiert in diesen
Experimenten, die er im Selbstversuch durchführt, von der molekularen
Ebene den Bogen zu kriegen ins Kosmische. Das finde ich absolut
faszinierend.
O-Ton (Lentz): Innerhalb dieses Hallraumes, in dem Moment wo er
diesen Hallraum zum Stillstand bringt, sei es nun skriptural oder
artikulierend, in dem Moment ist es ja dem Imaginären oder auch
vorgestellt Naturhaften entrissen. Das ist so aus dem Dunklen
herausgefischt. Es ist so ein Zwischenreich wie beim Negativ einer
Fotografie, wo das Weiße plötzlich zum Schwarzen wird. Es bildet einen
Zwischenweltenbereich und Zwischenwelt ist ja auch ein Begriff, mit dem
Claus operiert hat. Und deswegen nur konnte er weitermachen, weil, er
ist dann wieder hinabgetaucht und hat was anderes herausgefischt. Das
Ganze konnte er nicht herausnehmen. Aber das ist ja auch die
Hoffnung. Wenn man das Ganze herausnehmen könnte, dann hätte sich
die Sache mit einem Schlag erledigt.
Spr.1: Aber weil sich die Sache nicht erledigt hat, das Experiment Kunst
und das Experiment Leben immer weitergeht, sich aus dem Ergebnis
des einen Experiments das nächste schon ergibt, darum hat
Carlfriedrich Claus alles aufgehoben in seiner kleinen Klause. Das
Ergebnis ist der Ausgangspunkt.
O-Ton (Scherstjanoi): Überall Bücher, Bücherhalden, Bücher und
Papiere, so ein Haufen von Briefmarken. Oh, dachte ich, er ist
Korrespondent! Überall Bücherhalden, Bücher und Papiere, seine
Graphiken, mit Wäscheklammern hat er seine Graphiken gehängt
überall. Da bist du wie in einem Röntgenzimmer, da hängen diese Filme.
Man sah, er hat sich auf seinen Gast vorbereitet. In der Mitte war ein
runder Tisch mit einem Heft und Bleistift. Es gab noch zwei freie Stühle,
sonst gab es keinen Platz. Überall Papiere, Manuskripte, Bücher und
Bilder. Und dann haben wir uns unterhalten, stundenlang. Es war
Wahnsinn.
CD: ... die randlose ... Wiederaufnahme Remix
O-Ton (Milde): Das Thema von Carlfriedrich Claus Kunst war
nachzuvollziehen, wie intellektuelle, geistige, emotionale Einflüsse im
Menschen nicht nur intellektuell und rational, sondern auch mental und
emotional im Affekthaushalt weiterwirken und, wie er es nannte,
herauszuprozessieren, wie sie den Menschen möglicherweise verändert
haben. Es geht in seiner Kunst zunächst um Bewusstseinsprozesse und
um Kommunikation, um Kommunikation verstanden mit sich selbst, mit
seinen eigenen biologischen, körperlichen, psychischen Gegebenheiten,
aber auch um Kommunikation mit den Mitmenschen und mit der
gegebenen Natur außerhalb seiner selbst. Und um diese
Kommunikation, diese Veränderung in den Phasen des
Bewusstwerdens, des Aufarbeitens, des Abwägens nachvollziehen zu
können, war natürlich all das, was während der Arbeit entstanden war
und die Arbeit protokollierte, wiederum Grundlage für neue Reflektionen
und neue Arbeit. Insofern ist es ganz schlüssig, dass alles aufgehoben
wurde, was für eine spätere Konzeption wieder von großer Bedeutung
sein konnte als Ausgangsmaterial.
Spr.1: Die alte avantgardistische Forderung, Kunst und Leben
miteinander zu verknüpfen, die häufig darauf zielte, das Kunstghetto zu
verlassen und sich eine andere Form der Öffentlichkeit zu suchen, bei
Claus ist sie realisiert, doch in einer anderen Form, in der höchst
subjektiven Form der eigenen Person.
CD: Claus-Archiv Nr. 29 (im Hintergrund)
O-Ton (Lentz): Ich glaube aber doch, dass da ein ganz bestimmtes
hierarchisches Denken ist bei ihm, nämlich im Sinne einer integrativen
Menge. Und da ist der Begriff des Lebens die höchst integrative Menge
und ein Ferment nur ist der Begriff der Kunst. Das ist dann ein
romantizistischer Kern. Das ist keine Wertung, nur eine Feststellung. Die
Romantik hat ja bis heute nicht aufgehört. Das heißt sein Anspruch ist
ein totaler, aber kein totalitärer.
O-Ton (Block): Ich würde das bei noch nicht mal als Projekt bezeichnen,
wie es die Avantgarde suggestiv formuliert hat, sondern das ist ständig
passiert. Es ist kaum das eine vom anderen zu unterscheiden. Es ist ein
selten deutlicher Fall wie Kunst und Leben zu Lebenskunst werden in
dem klassisch philosophischen Sinn, dass man Sorge um sich trägt und
versucht, die Frage nach dem warum und wie produktiv zu beantworten.
Das sehe ich bei Claus sehr deutlich und auch faszinierend realisiert. Er
hat Lebensführung und künstlerische Praxis sehr eng ineinander
verschlungen.
Spr.2: Die beiden Weisen der Sprache konzentrieren sich: der Schrift-
Text auf das Optische, der Klang-Text auf das Akustische. Der Autor
kommt, vom Klangreich ins Schriftreich übergehend, in eine völlig
andere Materie. Hat der da Töne um sich, so hier Bilder. In Zukunft wird
man, glaube ich, den "Gedichtbänden" wohl - wie schon jetzt hie und da
- Langspielplatten oder Bänder beigeben, das heißt falls sich der
betreffende Autor mit Klangtexten befasst, doch der Leser hört - in
extremen, aber dann vielleicht nicht mehr so ganz extremen Fällen - das
Gelesene nicht noch einmal auf der Platte, wie jetzt, sondern etwas ganz
anderes taucht in seinem Ohr auf. Er wird aus den Schriftbildern, den
gedruckten "Gedichten", die ihn nicht an eine von vornherein
festliegende Zeit-, Lese-Ordnung binden, KLANGTEXTE, die sich je
nach seiner Disposition wandeln, selbst ermessend zusammenstellen.
Spr.1: Dieser Text von Carlfriedrich Claus stammt aus dem Jahr 1959.
Claus hat etwas voraus geahnt, sich etwas gewünscht, dass erst mit den
heutigen technischen Mitteln realisierbar ist. Abgeschnitten von den
neuesten technologischen Entwicklungen, von denen auch die
westlichen Kollegen noch wenig wussten, hatte er dennoch eine Vision.
Und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zu helfen gewusst.
CD: C.C.: Lautaggregat, etwa ab Min. 10 (im Hintergrund)
O-Ton (Lentz): Diese Art von Poesie liefert ja gleich ihre eigene
Mediengeschichte mit. Er hat da mit dem Tonband gearbeitet, schon
recht früh, hat sich das aus dem Westen in die DDR schicken lassen
und arbeitete noch mit einem Tonband, das gewissermaßen technisch
defizitär war. Das heißt er konnte nicht mit der Überlagerung
verschiedener Schichten arbeiten. Das war ein Monogerät, und was
macht er, arbeitet mit der sogenannten Tricktastenschaltung, das heißt
der Löschkopf wird während der Neuaufnahme weggedrückt, so dass
das alte Aufgenommene beim Neuaufnehmen nicht gelöscht wird, und
so entsteht ja in unterschiedlichen akustischen Gradationen der
Eindruck, als wäre da raumakustisch fast eine radiophone Situation
entstanden. Das heißt er münzt ja bestimmte technische Defizite um und
kommt zu Ergebnissen, die in dem medialen Aspekt nicht zu trennen
sind von dem, was er mit der Stimme macht. Das hat auch etwas Raues,
etwas scheinbar Unprofessionelles, etwas Unverarbeitetes, aber genau
so muss es sein.
Spr.1: Genau in dieser Vorgehensweise, die Möglichkeiten der Technik
nutzend, sich ihnen aber nicht überlassend, sondern sie einbettend in
ein ästhetisches Konzept, das in der Anthologie movens schon in
Ansätzen beschrieben ist, sieht Friedrich W. Block das Impulspotential,
das Carlfriedrich Claus heute noch hat.
O-Ton (Block): Ich glaube, dass man da immer mit komplementären
Dingen zu tun hat. Und dass diese, wie ich sie in der Medienkunst und
auch in der Medienpoesie nach wie vor sehe, diese starke Fixierung auf
technische Möglichkeiten etwas abblendet, das Claus eben verfolgt und
eingebracht hat und das ich für relevant halte. Eben die Bereiche, die
eben speziell mit individuellen und kognitiven Prozessen zu tun haben.
Das ist nichts Dualistisches, sondern das hängt unmittelbar miteinander
zusammen. Und die Fixierung auf Grammatologisches oder auf
Aufschreibsysteme, wie es bei Kittler heißt, hat als andere Seite der
Medaille die Bereiche, die im Menschlichen siedeln. Damit meine ich
solche Prozesse wie in der Selbstbeobachtung. Das ist etwas, das Claus
in engem Kontakt mit Medientechnologie... Er war ja dann auch im
Tonstudio mit Digitaltechnik und hat diese kleine Bandmaschine, die er
Ende der fünfziger Jahre hatte, dann wesentlich erweitert mit
zeitgenössischer Technologie. Da findet das praktisch schon statt, was
ich meine.
Spr.1: Carlfriedrich Claus ist nicht ruhig gestellt im Archiv der gut
abgehangenen Avantgarde. Das belegt nicht nur die aktuelle
Ausstellung in der Akademie der Künste, sondern auch die sich
häufenden Ausleihwünsche von Museen aus dem In- und Ausland und
die Vielzahl der Publikationen über ihn in den letzten Jahren. Dass ein
solcher Solitär und Einzelgänger nicht schulbildend hat wirken können,
versteht sich von selbst.
CD: Wiederaufnahme Basale Sprech-Operationsräume wie zuvor, vor
O-Ton Lentz aufhören lassen.
O-Ton (Milde): Ich denke, es liegt an der Einmaligkeit und der hohen
Subjektivität und hohen Intensität, die dieses Werk von Carlfriedrich
Claus hat. Das Werk ist so subjektiv und so authentisch, dass eine
einfache Nachfolge schier undenkbar ist. Eine Nachfolge könnte in der
Methode bestehen, so radikal auf Selbsterfahrung und Selbsterkundung
auszugehen und das Erkundete im Kunstwerk zum Ausdruck zu bringen.
Aber das müsste nicht unbedingt in einer formal ähnlichen Art und
Weise erfolgen.
Ich denke das Werk von Carlfriedrich Claus ist noch immer so
unentdeckt und birgt noch so viel Überraschendes, auch Provokatives,
wie man mindestens im akustischen Sektor immer noch merkt an der
Resonanz des Publikums, auch so viel noch nicht Gedachtes oder noch
nicht im weiten Radius Geäußertes, dass es noch weit davon entfernt
ist, musealisiert zu sein. Ich glaube, dass die Ausstellung in der
Akademie, gerade weil neue Aspekte einbezogen werden, frühe
Fotoexperimente, die bislang wenig wahrgenommen worden sind,
andere Aspekte von Carlfriedrich Claus deutlich werden lässt, zumal mit
Verblüffung zu beobachten ist, dass selbst ganz frühe Experimente, die
zunächst in keinem Zusammenhang zu stehen scheinen mit dem, was
das spätere singuläre Werk ausmacht, Aspekte aufweisen, die in
unmittelbarem Bezug zur Herausbildung dieses Werks stehen.
Spr.1: Geschlossen ist es nicht, dieses Werk, sondern sich aus sich
selbst entwickelnd. Geschlossen ist es schon deshalb nicht, weil es
immer wieder Grenzen auslotet und überschreitet, das Mögliche
erkundet und das Unmögliche versucht. Das macht diesen Fremdkörper,
der quer zu den bestehenden Gattungen der Künste liegt, so
faszinierend. Man kann den Kern, die Grundlage seines Schaffens
erahnen, aber ihn hörend und sehend vollständig ergründen kann man
ihn nicht. Kann man die Selbstbeobachtung beobachten? Das
zurückgelassene Werk ist ihre Spur.
O-Ton (Lentz): Wie kann man Claus anwenden? Kann man gar nicht.
Das meinte ich damit, dass der Subjektbegriff bei ihm sich
möglicherweise in seinem Subjekt erschöpft. So radikal und existenziell
das sein mag, so ist es trotzdem nur die Marke Carlfriedrich Claus. Der
kann auch keine Schüler haben. Was wäre das für ein Ergebnis? Das
wären Kopisten und kopierte Existenzen. Man kann dann wirklich nur
hoffen, dass man das ganz Andere macht. Auch die Grenzauslotung, die
er zumindest intentional für sich selbst so gespürt hat, da kann man
auch nur darüber spekulieren. Wir haben nur das Elaborat auf Tonband
oder auf der Leinwand, auf Folie oder auf dem Glas, sonst haben wir
nichts. Wir haben den Stillstand nur und nicht die Bewegung dieser
Auslotung. Das Machen, dieser Prozess, deswegen heißt es ja auch
Lautprozess, ist für ihn unabdingbar dazugehörend, im Sinne der
Performanz von etwas. Wie aber kann man das, was ja auch paradox
wäre, konservieren? Filmen? Würde es beim Filmen die Autosuggestion
nicht so weit gehen, dass man sich als gefilmtes Medium selbst bedient?
Was ja auch schon eine Entfremdung darstellt. Ist das nicht nur im
Unbeobachtbaren zu tun? Usw. Die Grenzauslotung, das bleibt eine
Utopie. Möglicherweise ist aber Claus derjenige, der sich am weitesten
aus dem Fenster des bürgerlichen Hauses in den Außenraum dieser
Utopie hinausgelehnt hat.
CD: Claus Archiv Nr. 25, wie am Anfang
Spr.1: Carlfriedrich Claus, geboren 1930 in Annaberg-Buchholz,
gestorben 1998 in Chemnitz. Den größten Teil seines Lebens hat er in
der Kellerwohnung unter dem Kino Gloria verbracht, die nach Ende der
Vorstellung nicht mehr beheizt wurde. Am Ende seines Lebens haben
ihn Ruhm und Ehre noch erreicht, Ausstellungen, das
Bundesverdienstkreuz, die Ehrenbürgerschaft seiner Heimatstadt. Valeri
Scherstjanoi ist davon überzeugt, dass es ein erfülltes und in gewisser
Weise glückliches Leben war. Und dazu hätte es dieser Ehrungen nicht
bedurft.
O-Ton (Scherstjanoi): Er war ein großer Künstler und ein großer
Träumer, wenn auch Tagesträumer, denn nachts hat er immer
gearbeitet. Er war der radikalste Künstler, den ich kenne. Dahinter steckt
auch viel Menschenliebe. Nicht nur Menschenliebe, sondern auch
Pflanzen, ich denke, er hat sich mit den Pflanzen auch unterhalten,
schamanistische Beschwörungen, Pflanzen und Mäuse und Spinnen
kommen in seinen frühen Texten vor. Er war ein sehr bescheidener
Mensch und sehr freundlich.
CD: evtl. Von der randlos CD Georg Jappe: Flugzeugfunk, müsste dann
unter dem O-Ton beginnen
Spr.1: Die Beschäftigung mit seinem Werk hält an und vielleicht hat er
auch das schon geahnt.
O-Ton (Claus): Meldet euch ... Meldet euch ... Meldet euch ... Ja, macht
das. Wenn ihr es könnt.