Post on 24-Apr-2015
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Das weiße ---Kaninchen
Ich könnte ja Gänseblümchen pflücken und daraus eine Kette
flechten, dachte Alice gerade schläfrig bei sich, als sie plötzlich ein
Weißes Kaninchen mit rosarot funkelnden Augen über die Wiese
nahe am Fluss kommen sah. Ihre Schwester Celia las weiter aus
dem Buch vor, aber Alice hatte sich schon zuvor gelangweilt und
nun konnte sie erst recht nicht mehr zuhören. Sie hatte nur noch
Augen für das weiße Felltier.
Das Kaninchen war trotz der Hitze an diesem Maitag mit einem
karierten Jackett bekleidet und hoppelte nicht etwa - wie alle
anderen Frühlingshasen - über die Wiese, sondern lief auf zwei
Beinen eilig ganz nah an Alices Picknickdecke unter dem Baum
vorbei, sah dabei auf seine Uhr und murmelte besorgt: "Oje,
ojemine, ich komme zu spät!" Dann war es auch schon
vorbeigestürzt und nahe der Hecke am hinteren Feldrand
angekommen. Alice sprang auf und folgte dem Weißen Kaninchen.
Sie hatte noch nie zuvor ein sprechendes Kaninchen mit
Taschenuhr gesehen, müßt ihr wissen. Aber da war das weiße
Langohr bereits flugs in einem Erdloch unter der Hecke
verschwunden.
Das Wunderland im Kaninchenbau
Ohne lange zu überlegen war Alice dem Kaninchen hinterher in
den Bau geschlüpft und erst als sie drinnen war, staunte sie über
sich selbst. Sie war ja in einen dunklen Tunnel unter der Erde
gekrochen! Hier war es nicht etwa wie in einer gewöhnlichen
Kaninchenhöhle mit waagerecht ausgebuddeltem Kaninchengang,
sondern es ging nur kurz eben geradeaus und dann geradewegs in
einem Schacht nach unten in die Tiefe. Alice purzelte hinein und
begann zu fallen. Sie war plötzlich ganz leicht und fiel deshalb nur
sehr langsam, wie in Zeitlupe. Mit staunenden Augen schaute sie
um sich. "Es sieht hier sehr gemütlich aus", dachte sie. Links und
rechts waren Küchen- und Bücherregale angebracht. Ja, einige
Bücher und Landkarten kannte sie sogar aus der Schule. "Mmh,
und hier: eingemachte Apfelsinen", sagte sie mit lauter Stimme
und schmatzte vor Naschlust. Aber da war sie auch schon wieder
weiter und weiter nach unten gesegelt. Ihr Kleid war aufgebauscht
wie ein Fallschirm, so dass Alice schaukelte und schwebte wie ein
Blatt im Wind.
Sie hatte weit aufgerissene große Augen, schaute und schaute,
flog und flog, tiefer und immer tiefer. Dabei dachte sie: "Die Höhle
ist offenbar sehr tief. Denn ich fliege zwar langsam, aber schon
ganz schön lange." "Vielleicht komme ich ja bis zum Mittelpunkt
der Erde," überlegte sie dann laut und hörte dabei ihre Stimme in
der Leere hallen. Da sie nichts weiter zu tun hatte, begann sie leise
zu rechnen: "Das wären dann… wieviel Meter? Ungefähr 6500
Kilometer?" Bevor sie aber zu Ende gerechnet hatte, kam ihr eine
neue Idee: "Vielleicht falle ich ja ganz durch die Erde hindurch und
komme auf der anderen Seite auf dem Kopf wieder heraus!"
Wieder hörte sie ihre eigene Stimme in der Stille. "Aber wo wäre
ich dann?" Jetzt war sie eine ganze Weile still und dachte: "Ich
sollte dann nach dem Namen des Landes fragen. Wahrscheinlich
bin ich dann in Neuseeland oder Australien. Oder wo?"
Sie fiel weiter, still und ohne etwas zu sagen, denn sie stellte sich
vor, wie sie es am besten anstellen sollte, wenn sie herauskäme.
Dann sagte sie mit heller Stimme und machte dabei einen Knicks:
"Guten Tag, können Sie mir sagen, wo ich bin?" Sie wollte
ausprobieren, was sie tun würde, käme sie am anderen Ende der
Weltkugel wieder zum Vorschein.
Doch jetzt fiel sie plötzlich ganz schnell, stürzte hinab in die Tiefe,
so dass sie mit dem Kopf zuerst fiel und einen Schreck bekam.
Aber bald drehte sie sich im Flug wieder um ihre eigene Mitte und
schwebte also wieder Kopf nach oben weiter langsam in die Tiefe.
Ihr fiel jetzt auf, dass sie im Flug einen Knicks gemacht hatte und
sie fand, das war ein ganz beachtliches Kunststück: "Mmh!" Da ihr
hier aber niemand antwortete und sie auch niemanden sah, wurde
sie schließlich vom langen Fallen schläfrig. Normalerweise schlief
ja ihre Katze bei ihr, deshalb rief sie nach ihrer Katze: "Dinah!
Miez! Miez! Miez! Ach, ich wünschte, du wärst hier!" Dann dachte
sie daran, dass Dinah etwas zu Fressen brauchte und murmelte:
"Du könntest hier in der Luft statt Mäuse, Fledermäuse oder
Spatzen fangen. Mäuse oder Spatzen?
Essen Katzen Spatzen mit den Tatzen?" Sie spielte im Traum eine
Weile mit den Wörtern, dachte sich Reime aus, zum Beispiel:
"Machen Katzen Fratzen?" und überlegte gerade noch einmal, ob
sie wohl jemals auf dem Boden ankommen würde, da landete sie
mit einem "Plumps" in einem Haufen raschelnder weicher Blätter.
Aber nein, Alice hatte sich nicht weh getan. Sie schaute gleich
neugierig um sich. Über ihr, von wo sie gekommen war, war es
stockdunkel, vor ihr aber war ein heller schmaler Gang mit
schönen Leuchtern an den Wänden. "Ah!" Dort sah sie gerade noch
den Stummelschwanz des Weißen Kaninchens, das um die Ecke
bog, wobei sie es wieder sagen hörte: "Oje ojemine, ojemine! Bei
meinen Löffeln und Schnurrbarthaaren. Ich komme zu spät!" Sie
sprang also geschwind auf und rief: "Warte auf mich!" Aber das
Kaninchen lief hastig weiter ohne auf Alice zu achten. Alice eilte
ihm hinterher, war ihm jetzt auch schon direkt auf den Fersen, ja
meinte sogar, seinen Stummelschwanz zu erhaschen. Aber so
schnell sie auch versuchte, es einzuholen, als sie um die Ecke bog
und in der angrenzenden grossen Halle stand, war das Kaninchen
bereits durch eine der vielen Türen ringsum entschlüpft!
Durch welche Tür war es bloß gegangen? Alice lief an den Wänden
entlang, versuchte jedoch vergeblich eine der Türen zu öffnen. Alle
waren zu! Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen!
Unter der Erde: Alices Tränenmeer
Alice sah sich ein zweites Mal in der Halle um, dabei entdeckte sie
auf einem kleinen Glastisch einen winzigen goldenen Schlüssel.
Nur er wollte in keines der vielen Türschlösser passen. Entweder
waren die Schlösser zu groß oder ihr Schlüssel zu klein. "Ich suche
ein kleines Weißes Kaninchen", sagte sie leise und drehte dabei
einen Türknauf. Aber auch diese Tür öffnete sich nicht und
niemand war da, der ihr hätte helfen können.
Nun betrachtete sie den Raum noch genauer, schob dann
vorsichtig einen kurzen roten Vorhang an der Wand beiseite, den
sie zuvor nicht beachtet hatte. Und siehe da! Dahinter verbarg sich
eine kleine, nur etwa 40 Zentimeter große Tür, mit einem winzigen
Schlüsselloch!
Ja, das war sicher das passende Schloss für den kleinen Schlüssel!
Die Tür sprang auf und Alice wollte natürlich hineinschauen,
musste dazu aber zuerst in die Knie und dann auf alle Viere gehen,
um endlich hineinschauen zu können.
"Oh!" Dahinter verbarg sich ein wunderschöner Blumengarten! Er
war wie ein Labyrinth angelegt mit ineinander verschlungenen
Wegen und hohen Hecken. "Wenn ich nur wüsste, wie ich da hinein
kommen kann", fragte sich Alice ungeduldig. "Ich möchte mich wie
ein Fächer zusammenfalten und dann wie ein Teleskop
ineinanderschieben können!" Nur, wie sollte sie das anstellen? Es
schien ihr ganz unnütz, länger bei der kleinen Tür zu warten, denn
in der unterirdischen Höhle hier waren bereits so viele
ungewöhnliche Dinge passiert, dass sie hoffte, in der Halle noch
einmal etwas Überraschendes zu entdecken. Also ging sie erneut
umher.
"Siehst du, da auf dem Tisch steht ein Fläschchen", sagte sie zu
sich selbst. Tatsächlich fand sie also auch diesmal wieder etwas.
"Die kleine Flasche war vorher noch nicht da", stellte Alice mit
detektivischem Instinkt fest. Um den Flaschenhals herum war ein
Zettel gebunden, auf dem stand: "Trink mich!" "Nun ja, das werde
ich tun, aber ich sehe zuerst nach, ob ein Totenkopf darauf ist",
sagte Alice, denn sie wusste, das bedeutete, dass die Flasche Gift
enthielt. Als sie sich vergewissert hatte, dass das nicht der Fall
war, kostete sie. "Mmh!" Der Saft schmeckte nach Kirschkuchen
mit Schlagsahne, Ananas, Karamellbonbon und warmem, mit
Butter bestrichenem Toast. "Köstlich!" Nach und nach trank Alice
die Flasche ganz leer.
Aber, "was für ein eigenartig kribbeliges Gefühl!" dachte sie, als sie
merkte, dass plötzlich in ihrem Körper etwas Seltsames vor sich
ging. "Ich schrumpfe!", rief sie dann gespannt. Ihr Gesicht begann
zu strahlen bei dem Gedanken, dass sie nun die geeignete Größe
haben würde, um durch die kleine Türöffnung in den rätselhaften
Garten zu gelangen. Jetzt war sie tatsächlich gerade noch 25
Zentimeter groß und wollte also gleich hineingehen. Aber, arme
Alice! Als sie an die Tür kam, bemerkte sie, dass sie beim Trinken
aus der Flasche den goldenen Schlüssel auf den Tisch gelegt hatte
und die Tür mittlerweile wieder zugefallen war.
"Oh, wie ärgerlich, ich habe den goldenen Schlüssel auf dem Tisch
vergessen!", sagte sie. Sie ging zurück, den Schlüssel zu holen,
aber, sie konnte ihn in ihrem jetzigen Zustand unmöglich
erreichen. Zwar sah sie ihn von unten durch den gläsernen Tisch
hindurch oben liegen, als sie aber an einem der Tischbeine
hinaufklettern wollte, rutschte sie sofort wieder hinunter. Sie
versuchte es immer und immer wieder, und als sie sich schon ganz
müde geklettert hatte, setzte sich die kleine Alice hin und weinte.
"Still, Alice, hör sofort auf zu weinen!", sagte sie augenblicklich mit
strenger Stimme zu sich selbst. Ja, sie gab sich oft selbst
Anweisungen, müsst ihr wissen. Manchmal schimpfte sie sogar so
heftig mit sich selbst, dass sie weinen musste.
Alice war ein Mädchen, das sich gerne vorstellte, zwei Personen zu
sein und sich auch gerne eine Welt vorstellte, in der Dinge möglich
waren, die sonst nicht sein durften oder als unmöglich galten.
"Aber jetzt bringt es nichts, so zu tun als ob ich zwei verschiedene
Personen wäre. Es ist ja kaum genug von mir selbst übrig. Und das
Heulen bringt auch nichts, denn ich bin jetzt wirklich zu klein, um
dort hinaufzukommen!" dachte sie. Was also tun? Da fiel ihr Auge
auf ein kleine Schatulle, die unter dem Tisch lag. Sie öffnete
umständlich den fest verschlossenen Riegel. In der Schatulle lag
ein kleiner Keks, auf dem mit Korinthen geschrieben stand: "Iß
mich!" "Nun", dachte Alice bei sich: "werde ich größer, so kann ich
den Schlüssel oben greifen, werde ich aber kleiner, dann schlüpfe
ich eben durch den klitzekleinen Türschlitz am Boden in den
schönen Garten." Also aß sie einen Kekskrümel und sagte
neugierig zu sich selbst: "Wohin jetzt? Aufwärts oder abwärts?"
Dabei hielt sie die Hand prüfend auf ihren Kopf. Nach und nach
verzehrte sie den Keks ganz und gar, denn es wollte sich keine
Reaktion einstellen.
Doch mit einem Mal -schwupp-, -schwupp-, -schwupp- wuchs und
wuchs sie in die Höhe und ihr Körper schoss nach allen Richtungen
auseinander. Sie bekam einen langen Hals, einen großen Bauch
und Kopf, ja, alles wurde so riesengroß, dass ihre Füße bald endlos
weit weg schienen. So füllte sie den ganzen Raum der Halle aus
und war jetzt zehnmal größer als vorher, ganze 2,70 Meter groß!
Zuerst fand sie es lustig, nicht einmal mehr ihre eigenen Füße zu
sehen und dachte sich eine Geschichte aus, wie sie wohl mit ihren
Füßen wieder einmal in Kontakt kommen könnte. Sie könnte ihnen
ja zu Weihnachten ein Päckchen schicken und dabei schöne Grüße
bestellen. Als sie aber mit einem Mal mit ihrem Kopf heftig an die
Decke prallte, erschrak Alice. Sie erschrak so sehr, dass sie wieder
zu weinen begann und diesmal vor Verzweiflung nicht mehr auf
sich selbst hörte, als sie sich sagte, dass sie aufhören solle. In den
Garten zu gehen war doch jetzt komplett unmöglich geworden!
Deshalb quollen aus ihren großen Augen dicke Tränen. Immer
mehr und mehr Tropfen strömten heraus, kullerten über ihre
Wangen hinab und platschten auf den Boden. Das Weinen wollte
gar nicht mehr aufhören. Alice weinte so lange, bis die literweise
verflossenen Tränen um sie herum eine etwa 10 Zentimeter tiefe
Pfütze bildeten.
Was sollte sie bloß tun? Sie hatte zwar mit dem goldenen Schlüssel
die kleine Tür nun wieder öffnen können, war aber mittlerweile viel
zu groß, um durch die kleine Öffnung zu passen. "Vielleicht war in
dem Glasfläschchen von vorhin ja noch etwas Flüssigkeit?", dachte
sie dann. Alice wollte also gerade nachschauen und griff mit ihren
großen Händen danach, da hörte sie von weitem Hasenpfoten
trippeln. Sie lauschte unbeweglich und rollte dabei ihre Augen nach
allen Richtungen, um zu sehen, woher die Schritte kamen. Und
siehe da, zu ihren Füßen lief schwitzend und hastend das Weiße
Kaninchen herbei. Wieder war es in Eile. Doch diesmal war es fein
bekleidet, trug weiße Glaceehandschuhe und hielt einen Fächer in
der Hand. Es murmelte atemlos vor sich hin: "Oje, ojemine,
ojemine! Die Herzogin! Die Herzogin; sie wird wütend, wenn ich zu
spät komme!"
Alice wollte das Kaninchen um Hilfe bitten, doch als sie ihre
Stimme erhob, da erschrak das Kaninchen so sehr, dass es
Handschuhe und Fächer fallen ließ und schnell davon jagte. Alice
war wieder allein. Stickig heiß war es hier, deshalb kam sie jetzt
auf den Gedanken, doch den Kaninchenfächer zu nehmen, um sich
ein wenig frische Luft zuzufächern während sie über ihre Lage
nachdenken wollte. Alice nahm den kleinen Fächer und dachte bei
sich: "Wurde ich denn heute Nacht ausgewechselt? Ich kenne mich
gar nicht mehr aus. Bin ich noch ich selbst oder bin ich eine andere
geworden? Und wenn ich nicht mehr dieselbe bin, wer in aller Welt
bin ich denn dann?" Da fiel ihr ein: "Vielleicht bin ich ja eine meiner
Freundinnen?"
Alice stellte sich ihre Schulkameradinnen vor: Nein, Ada war sie
ganz bestimmt nicht. Denn Ada hatte krauses Lockenhaar und
Alices Haare waren glatt. Oder war sie etwa Mabel? Nein, die
konnte sie schon gar nicht sein, das kam nicht in Frage, denn
Mabel war nicht so gut in der Schule wie sie. Alice wusste nämlich
über sehr viel mehr Dinge weit besser Bescheid als Mabel. Wer
aber war sie, wenn nicht eine der beiden? Jetzt kam Alice auf die
Idee, sich selbst zu testen, ob sie vielleicht doch sie selbst war und
ihr Wissen bei sich selbst abfragen konnte. "Beginnen wir mit
Mathematik!", forderte sie sich auf. "Vier mal fünf ist zwölf und vier
mal sechs ist dreizehn." Oh, weh, da stimmte etwas nicht! "Dann
wollen wir es mal mit Geografie versuchen", wies sie sich an und
fuhr fort: "London ist die Hauptstadt von Paris und Paris ist die
Hauptstadt von Rom und Rom ist… Oh nein, das ist ja alles ganz
falsch!", beurteilte sie sich selbst. "Dann werde ich es jetzt mal mit
einem Gedicht versuchen. Kann ich mich wenigstens noch an das
Gedicht >Gegen Müßiggang und Ungedeih< erinnern?" Doch ihr
wollten auch dafür nicht mehr die passenden Reime und Verse
einfallen.
Denn anstatt: "Wie emsig macht die kleine Bien", begann das
Gedicht jetzt so:
Wie eifrig putzt das Krokodil
Den glänzend' Schwanz sich glatt.
Es spült mit Wasser aus dem Nil
Die gold'nen Schuppen sich ab.
Wie freundlich scheint das Tier zu sein,
Wie schlau spitzts Klau' und Kralln!'
"Willkommen kleine Fischlein mein",
so lockt's, damit sie in den Kiefer falln!
Alice merkte, dass das ganze Gedicht vollkommen verkehrt
herausgekommen war! Anstatt: "Wie emsig macht die kleine Bien"
begann es mit "Wie eifrig putzt das Krokodil" und anstatt von
honigsammelnden Bienen, handelte es jetzt von hungrigen
Krokodilen. Nun war sie sich also ganz sicher: sie konnte unmöglich
Alice sein! Sie war mit ihren Resultaten ganz und gar nicht
zufrieden und gab schließlich die Schulfragen auf.
"Oh, ich wünschte so sehr, jemand würde hier bei mir sein!",
seufzte Alice traurig und fuhr fort, sich mit dem Kaninchenfächer
Luft zuzuwedeln. Von Alice zunächst unbemerkt zeigte der Fächer
jedoch - wie all die anderen Dinge hier in der Kaninchenhöhle -
bereits seine zauberhafte Wirkung. Alice sah, dass sie jetzt die
weißen Lederhandschuhe des Kaninchens trug und fragte sich, wie
das vonstatten gegangen sein konnte. Sie musste also mit jedem
Fächerschlag kleiner und immer kleiner geworden sein bis ihr die
Handschuhe des Kaninchens passten. "Oje, ojemine, so klein war
ich ja noch nie!", rief sie aus, als sie sich über ihren Wandel klar
wurde. "Hilfe!", kam dann plötzlich aus ihrem Mund; sie war auch
noch ausgerutscht und konnte nicht mehr auf die Beine kommen,
denn um sie herum war alles nass und glitschig. Ihr Kopf stieß auch
längst nicht mehr an der Decke an, stattdessen brauchte Alice nun
dringend beide Hände, um zu schwimmen, denn sie konnte schon
nicht mehr stehen, so hoch war das Wasser. Sie hatte den Fächer
schnell weggeworfen, denn nur so hatte sie gerade noch im letzten
Augenblick verhindern können, dass sie gänzlich verschwunden
war und in dem tiefen See unterging, in dem sie sich jetzt über
Wasser hielt.
Zuerst glaubte Alice, dass sie vielleicht plötzlich am Meer war und
dort Urlaub machte und sie sich doch immer gewünscht hatte, dass
das Wasser singen und die Pflanzen sprechen könnten. Aber dann
wusste sie: jetzt war sie in einem tiefen See unter der Erde! "Wenn
ich nur nicht so viel geweint hätte!", dachte sie dann, während sie
aus dem Wasser herauszupaddeln versuchte. Alices zuvor
vergossene Tränen waren für die nun winzige Alice zu einem
großen See, ja zu einem Meer aus Tränenwellen geworden. Wie sie
also so durch das Wasser schwamm, hörte sie ein Geräusch und
sah weiter hinten eine andere Gestalt im Wasser. "Dort schwimmt
ja ein Flusspferd", dachte Alice; deshalb schlüpfte sie schnell in die
Glasflasche, die auf dem Wasser schwamm. In der schaukelte sie
dann wie in einer Flaschenpost auf ihren Tränenwellen. Aber nein.
Alice erinnerte sich, dass sie ja ganz klein geworden war und - so
kombinierte sie - musste das Tier wohl eher so groß wie eine Maus
sein. "Wahrscheinlich ist sie auch ins Wasser gefallen", dachte sie.
Alice und die Maus schwammen ohne einander etwas zu sagen
umher. Es war sehr still, nur das Wasser platschte leise.
Alice vermisste deshalb umso mehr ihre Katze: "Wo ist nur meine
Katze," murmelte sie laut und wandte sich dabei zur Maus, denn
sie wollte eine Unterhaltung beginnen: "Kennen Sie sich mit Katzen
aus?", fragte sie die Maus. Als ihr die Maus nicht antwortete, wollte
sie es in einer anderen Sprache versuchen, denn sie konnte ja
nicht sicher sein, wo sie sich jetzt befand und ob sie noch
verstanden würde. Da erinnerte sie sich an die erste Seite ihres
Französischbuches und versuchte es auf Französisch: "Où est mon
chat?", sagte sie also zu der Maus und sah, dass die Maus sofort
am ganzen Leib zu zittern begann. "Katze!" Die Maus war so
erschrocken, dass sie hastig antwortete: "Ich will ganz und gar
nicht über Katzen sprechen". "Nun gut", erwiderte Alice und fuhr
auf Deutsch fort, denn die Maus war offenbar zweisprachig: "Magst
Du Hunde? Ich kannte einmal einen Bauern, der erzählte mir, dass
sein Hund auch alle Katzen, Ratten und Mäu…, oh, entschuldige,
jetzt habe ich schon wieder Katze gesagt", stockte Alice in ihrer
Rede. Die Maus aber war unterdessen vor Angst schnell von Alice
weggeschwommen. "Bleib doch hier!", rief ihr Alice nach und
dachte bei sich: "Du bist aber sehr schnell eingeschnappt!"
"Komm, lass uns ans Ufer gehen und uns trocknen", rief die Maus
Alice von Weitem zu, womit Alice durchaus einverstanden war,
denn mittlerweile war der Teich voller kleiner und großer Tiere, die
auch ins Wasser gefallen waren und Vögeln, die auf
schwimmenden Holzstücken saßen. "Dann erzähle ich Dir, warum
ich weder Katzen noch Hunde mag", sagte die arme Maus, die in
ihrer panischen Angst vor Katzen aus dem Teich flüchtete.
Das Abenteuer vom Wettrennen auf der Tierversammlung
"Wie nass es hier ist. Alles nur wegen dieses großen weinenden
Mädchens!", beschwerte sich gerade ein Vogel bei der Maus, als
Alice an Land kam. Alice sah, dass außer ihr und der Maus von
überall her Tiere aus dem Wasser ans Ufer geschwommen und an
Land gekommen waren. Sie gaben unbestreitbar eine sehr
merkwürdig anzusehende Versammlung ab, wie sie da am Ufer
hockten: Vögel mit verklebtem Gefieder, Pelztiere mit
angeklatschtem Fell; allesamt tropfend, verdrießlich und in einem
Zustand sichtlichen Unbehagens.
Wie konnten sie nur wieder trocken werden? Das war die große
Frage. Da ergriff Lori, der Papagei, das Wort. Er schlug eine Lösung
vor, wie alle wieder Fell und Gefieder trocknen sollten. Eifrig
mischten sich auch all die anderen Tiere, die Ente, der Marabu,
eine Elster, ein Kanarienvogel, ein Krebs, ein Biber, die Eule und
die Weihe ein, so dass durch Rede und Gegenrede ein rechtes
Tohuwabohu auf der Tierkonferenz entstand.
Welche Methode war denn nun wohl die Geeignetste? Auf welche
Lösung konnten sich alle Tiere einigen? Da erhob die Maus ihre
strenge Stimme und befahl: "Setzt euch!" Alle verstummten und
taten, was die Maus sagte, denn sie hatte offenbar hier das Sagen.
"Alle der Reihe nach!", ordnete sie jetzt die Redebeiträge. Als
Erstem erteilte sie Dodo, dem Nachtvogel, das Wort. Also
formulierte er seinen Vorschlag. Er sprach laut und deutlich und in
wichtigem Ton: "Ich schlage vor, dass wir ein Parteitagsrennen
veranstalten. Ich organisiere das Rennen!" Dabei begann er einen
Kreis auf der Erde zu markieren und sagte: "Dieser Kreis ist die
Rennbahn. Jeder stellt sich auf der Kreisumlauflinie auf, da, wo er
will und rennt los, wann er will. Fangt also alle am Anfang an und
wenn ihr fertig seid mit Rennen, dann hört ihr auf, ja!" Auf dieser
Tierversammlung startete das Rennen also nicht wie sonst bei
Wettläufen üblich mit "Achtung-Fertig-Los!" und endete auch nicht
mit einem Ziellauf, sondern hier liefen alle im Wettlauf um den
Kreis wie es jedem beliebte, so dass es nicht leicht herauszufinden
war, wann das Rennen eigentlich endete.
Nachdem die Tiere also etwa eine halbe Stunde gelaufen und alle
einigermaßen trocken waren, erhob Dodo wieder seine Stimme
und rief: "Stop! Ende des Rennens!" Keuchend versammelten sich
jetzt alle Tiere um ihn. Sie fragten: "Und? Wer hat gewonnen?"
"Alle haben gewonnen und alle bekommen einen Preis", antwortete
der Nachtvogel. "Ja! Und wer vergibt die Preise", wollten jetzt die
Tiere wissen. "Sie natürlich", sagte Dodo und zeigte auf Alice.
Sämtliche Tieraugen hefteten sich auf Alice und alle riefen im Chor:
"Ja, Preise! Preise!"
Aber woher sollte Alice denn Preise haben? Sie fasste also schnell
in ihre Kleidertasche und - tatsächlich -, sie fischte sogar ein Paar
nasse Bonbons heraus. "Ich habe nur diese Bonbons bei mir",
sagte sie kleinlaut. "Das ist wunderbar!", riefen all die Tiere. Also
verteilte Alice an jedes Tier ein Bonbon. "Alice soll aber auch einen
Preis bekommen!", baten jetzt die Tiere. "Natürlich!", sagte Dodo.
Doch Alice hatte kein Bonbon mehr, sondern brachte nur noch
einen alten Fingerhut aus ihrer Tasche zum Vorschein. "Ja, dann
verleihe ich dir diesen Fingerhut als Ehrenpreis", sagte Dodo
feierlich und überreichte ihr ihren Fingerhut. Nun, das war wirklich
ein sehr merkwürdiges Rennen gewesen und ein ungewöhnlicher
Preis.
Aber alle Tiere konnten sprechen, das gefiel Alice, und da das
Rennen also vorbei war, fiel ihr wieder ein, dass die Maus ihr doch
zuvor eine Geschichte erzählen wollte. "Du hast mir doch
versprochen, deine Geschichte zu erzählen. Komm, erzähle sie mir
jetzt, und warum du K… und H… nicht ausstehen kannst", sagte sie
zu der Maus. "Ja, ja!", riefen jetzt auch all die anderen Tiere, "bitte,
erzähl uns deine Geschichte!" "Bei mir ist das aber eine sehr
ausführliche Geschichte, so eine mit einem endlos langen
Rattenschwanz am Schluss", entgegnete die Maus. Während sich
Alice noch den Kopf darüber zerbrach, warum die Maus
"Rattenschwanz" gesagt hatte, hatte die Maus auch schon
angefangen zu erzählen. Die Maus hatte aber auch gleich bemerkt,
dass Alice noch in Gedanken versunken war und sagte beleidigt:
"Du hörst mir ja gar nicht zu." Und bevor Alice noch irgend etwas
dagegen sagen konnte, war die Maus auch schon aufgesprungen
und wieder auf und davongelaufen.
"Komm doch bitte zurück und erzähl uns deine Geschichte!" riefen
ihr Alice und die Tiere verständnislos nach. Aber die Maus hörte
nicht auf sie und als sie nicht mehr zu sehen war, seufzte der
Papagei: "Wie schade, dass sie nicht hier bleiben wollte." Und eine
Krabbenmutter sagte zu ihrer Tochter: "Lass dir das eine Lehre
sein. Es bringt nichts, die Beherrschung zu verlieren." Alice seufzte
laut, hatte wieder einmal Sehnsucht nach ihrer Katze und sagte:
"Ach, wenn doch nur Dinah hier wäre. Sie hätte die Maus im
Handumdrehen wieder zurückgeholt. Ihr könnt euch gar nicht
vorstellen, wie geschickt sie im Mäuse- und Vögelfangen ist!"
Einige der Tiere wurden daraufhin sichtlich unruhig.
"Darf ich fragen, wer Dinah ist", erkundigte sich Lori, der Papagei.
Natürlich erzählte Alice sofort bereitwillig von ihrem Lieblingstier:
"Wenn ihr sie sehen könntet, wie flink sie im Mäusefangen ist und
erst wenn sie Vögel fängt! Sie hat die Vögel bereits im Maul, bevor
sie sie überhaupt belauert hat!" Alices Erzählung löste jetzt noch
viel größere Aufregung aus. Plötzlich hatten es alle Vogel- und
Kleintierarten ausnehmend eilig, nach Hause zu kommen. "Ach,
hätte ich doch bloß Dinah nicht erwähnt", bemerkte Alice traurig,
als schließlich alle Tiere auf und davon waren. "Dabei ist sie die
beste Katze der Welt! Schade, jetzt sind alle weg und ich bin
wieder allein." Alice brach wieder in Tränen aus. Sie fühlte sich
einsam und vollkommen niedergeschlagen. Da wurde sie wieder
von trippelnden Schritten abgelenkt. "Wer mag das sein?", fragte
sie sich und wollte zuerst glauben, die Maus sei vielleicht wieder
zurückgekehrt, erkannte dann aber bald die Kaninchenstimme.
Alice gefangen im Kaninchenhaus
Das Weiße Kaninchen kam eilig suchend und vor sich hin
murmelnd dahergesprungen. "Bei meinen Pfoten, meinem Fell und
meinen Schnurrhaaren! Die Herzogin, die Herzogin, sie wird mich
zum Tode verurteilen, wenn ich zu spät komme! Wo habe ich bloß
meine Handschuhe und meinen Fächer verloren?", sagte es. Alice
hatte aber gleich gewusst, was es suchte. Es hielt sicherlich nach
den Glaceehandschuhen und dem Fächer Ausschau, die sie selbst
aufgehoben hatte, bevor sie in ihren eigenen Tränenteich gefallen
war.
Sie schaute also ebenfalls um sich, da sie dem Kaninchen seine
Sachen zurückgeben wollte, doch um sie herum war seit dem
Tränenmeer alles ganz anders geworden: die Halle mit dem
Glastisch und der kleinen Tür war fort. Da rief das Weiße
Kaninchen ihr zu: "Annemarie, was suchst du hier draußen? Hopp,
hopp, lauf sofort nach Hause und bring mir ein Paar Handschuhe
und meinen Fächer!"
Alice lief sogleich los, doch wunderte sie sich unterwegs doch: "Es
ist schon recht seltsam, wenn man bedenkt, dass mich ein
Kaninchen für sein Dienstmädchen hält", sagte sie bei sich.
"Botengänge für ein Kaninchen! Na, das Kaninchen wird sich
wundern, wenn es herausfindet, wer ich wirklich bin." Da Alice aber
gerne wissen wollte, wo das Kaninchen wohnte, lief sie also schnell
weiter bis zum Kaninchenhaus, ging hinein, rannte die Treppen
hinauf, bis sie in das kleine, ordentlich aufgeräume Schlafzimmer
des Kaninchens gelangte. Dort auf dem Spiegelschrank fand sie im
Nu Kaninchenfächer und Glaceehandschuhe. Gerade wollte Alice
die Wohnung schon wieder verlassen, da fiel ihr Blick auf ein
kleines Fläschchen, direkt neben der Hasenbrille auf der Ablage vor
dem Spiegel. Diesmal enthielt es keine Aufschrift "Trink mich!",
aber die neugierige Alice wollte wissen, was passierte, kostete sie
auch von dieser Flüssigkeit. "Denn irgendetwas geschieht ja
immer, wenn ich hier etwas esse oder trinke", dachte sie bei sich
und sie wollte sowieso wieder etwas größer werden. Also nahm sie
einen Schluck, dann noch einen.
Aber, ach! Sie hatte die Flasche gleich ganz leer getrunken und
nun war es zu spät. Der Flascheninhalt machte sie tatsächlich
größer, aber viel rascher, als sie sich hätte träumen lassen. Sie
wuchs und wuchs, so dass sie in dem kleinen Zimmer bald keinen
Platz mehr hatte, ja, ihr Kopf schon an die Decke stieß und ihr Hals
bereits zu brechen drohte. Weil sie immer größer wurde, musste
sie auf den Boden knien und sich gleich darauf sogar auf den
Boden legen und dort zusammenkauern. Die Wirkung des
Wunderfläschchens ließ erst nach, als ihr Arm bereits aus dem
Fenster ragte, ihr Bein aus dem Schornstein guckte und die
Zimmerwände schon knarrten und ächzten. Jetzt hatte die kleine
Zauberflasche zwar ihre volle Wirkung entfaltet, Alice wuchs also
glücklicherweise nicht mehr weiter, aber sie befand sich doch in
einer ganz unangenehmen Lage.
Sie fühlte sich, als hätte sie sich in ein kleines Puppenhaus
hineingequetscht. "Zuhause hätte sie genügend Platz und würde
nicht von allen möglichen Tieren herumkommandiert", dachte sie
jetzt traurig bei sich und fragte sich, was denn jetzt bloß mit ihr
geschehen solle. Als sie einige Minuten später draußen wieder die
Kaninchenstimme vernahm, horchte sie auf. Es rief ungeduldig:
"Anne! Annemarie! Meine Handschuhe! Wo bleiben meine
Handschuhe?" Alice aber antwortete nicht, denn sie wusste sich
selbst nicht zu helfen. Also wollte das Kaninchen in das Haus
hereinkommen. Vergeblich versuchte es schon die Tür zu öffnen.
Aber es war natürlich nicht möglich, weil Alice das gesamte Haus
ausfüllte. Alice bemerke, dass das Kaninchen nun offenbar
beschlossen hatte, außen herumzugehen und durch das Fenster
einzusteigen. Sie hörte, wie es mit einer Leiter hantierte und
begann sich plötzlich vor dem Kaninchen zu fürchten.
Alice wußte zwar, dass das völlig unbegründet war, denn sie war ja
um ein Vielfaches größer als das Hoppeltier, aber dennoch begann
sie vor Angst zu zittern, so dass mit ihr das ganze Haus wackelte.
Draußen drehte sie jetzt ihre Handgelenke hin und her, um das
Einsteigen des Kaninchens zu verhindern und von dort hörte sie
das besorgte Kaninchen schimpfen. Mittlerweile waren offenbar
noch andere Personen zum Kaninchenhaus gekommen, denn Alice
hörte, wie sich das Kaninchen mit einem Bauern, der Klaps hieß,
beriet. "Wer kann das sein in meinem Haus, Klaps, und was ist das,
was da aus dem Fenster ragt?", fragte ihn das Kaninchen. "Ein
Arm, Euer Gnaden!" antwortete Klaps und eine andere männliche
Stimme flüsterte: "Die Sache ist mir unheimlich!" "Jetzt hat sich die
Hand bewegt", sagte Klaps dann aufgeregt. Alice hörte immer
mehr und mehr Stimmen, die alle beratschlagten, was für ein
Wesen wohl in dem Haus sei und ob es ein Monster wäre. "Das
Kaninchen hat sich also Verstärkung geholt und draußen, vor dem
Haus, ist eine ganze Versammlung entstanden", stellte Alice jetzt
bei sich fest.
Einer der Helfer, eine Eidechse, die Zettel hieß, sollte nun offenbar
in den Schornstein krabbeln, um von oben in das Kaninchenhaus
einzudringen und das seltsame Wesen aus dem Haus zu jagen. Da
wusste sich Alice allerdings zu helfen! Sie zog ihr Bein ein wenig
an, so dass sie es nach oben stoßen konnte, und als das Tierchen
in den Schornstein geklettert war, katapultierte sie es in hohem
Bogen aus dem Schornstein hinaus.
Die arme Eidechse war ziemlich verstört irgendwo im Garten
gelandet und draußen herrschte nun zunächst einmal Stille. Einige
halfen offenbar Zettel, der Eidechse, wieder auf die Beine zu
kommen und andere Helfer berieten sich mit dem Kaninchen. "Wir
müssen das Haus in Brand stecken!" beratschlagten sie. Aber da
kam jemand auf eine andere Idee. Nach ein, zwei Minuten hörte
Alice ein Rumoren. Dann kam plötzlich ein Hagel winziger
Kieselsteine durch das Fenster geprasselt. "Lasst das bloß sein",
rief Alice jetzt, doch dann bemerkte sie, dass die Kieselsteine zu
winzigen kleinen Kuchen wurden, sobald sie auf den Fußboden
fielen. Ihre Aufmerksamkeit fiel jetzt ganz auf das Gebäck und ihr
kam eine Idee: "Ich bin sicher, wenn ich etwas von diesen
Kuchenstückchen esse, werde ich wieder meine Größe verändern."
Sie wollte es gleich ausprobieren, nahm also einen kleinen
Kuchenkrümel vom Boden und aß ihn. Glücklicherweise zeigte er
die gewünschte Wirkung, Alice begann zu schrumpfen!
"Zuerst will ich wieder zu meiner richtigen Größe gelangen und als
Zweites will ich endlich in den schönen Garten gehen", sagte sie
dabei zu sich. Sobald sie endlich wieder die richtige Größe hatte,
um sich im Kaninchenhaus zu bewegen und die Treppe wieder
hinabsteigen zu können, sprang sie auch schon aus dem Haus,
rannte, so schnell sie konnte, an dem Weißen Kaninchen, an Zettel,
der Eidechse und Klaps, dem Bauern, den Meerschweinchen und
all den anderen Tieren vorbei, die vor dem Haus versammelt
waren, und sie aufhalten wollten. Sie durchquerte Hals über Kopf
die Wiese, lief dort im Schatten von Wildrosen, Glockenblumen,
Schafgarben, Veilchen und Gräsern, machte einen momentlang
unter einer Butterblume Rast und suchte schließlich unter einer
Distel Schutz.
Kaum hatte Alice aber etwas verschnauft, da hörte sie ein sehr
lautes Bellen. "Schon wieder ein Tier in meiner Nähe", dachte sie.
Diesmal war es ein Hund, nicht weit von ihr auf der Wiese. "Er ist ja
mindestens so groß wie ein Pferd", stellte Alice erstaunt fest, denn
der Hund war mindestens zehnmal größer als sie. Deshalb
fürchtete sie, er könnte ihr gefährlich werden. Also nahm sie einen
Stock und warf ihn, so weit sie nur konnte in hohem Bogen in seine
Richtung. Der Hund rannte nach dem Stock und Alice flugs in die
andere Richtung. Sie lief weiter in Richtung des nahegelegenen
Waldes, wo sie endlich einen Pilz fand, unter dessen Dach sie
ausruhen wollte. "Gerettet!" Sie wusste, dass sie hier im Wald
wieder unbedingt etwas zu essen oder zu trinken finden musste,
um wieder größer zu werden. Mittlerweile war sie sich aber auch
sicher, dass sie in dieser Welt unter der Erde, immer irgendwo
etwas finden würde. Doch sie musste sich vorsehen, denn sogar
die Blumen waren größer als sie gewesen und auch der Pilz war in
etwa genauso hoch wie Alice selbst. Nachdem sie etwas
verschnauft hatte, begann sie den Pilz, der ihr Obdach bot, von
unten und bald auch von allen Seiten genau zu betrachten. Dann
schaute sie auch nach oben, auf die Kappe des Pilzes, und dort
sank ihr Blick in die Augen einer großen blauen Raupe, die auf dem
Pilz saß und gemächlich eine Wasserpfeife rauchte.
Alice folgt dem Rat einer Raupe
Sie schauten sich eine Weile schweigend an, derweil die Raupe an
ihrer Wasserpfeife zog. Schließlich nahm die Raupe ihre Pfeife aus
dem Mund und fragte: "Mmh, wer bist denn du?" "Nun ja,"
antwortete Alice zögernd, denn das war nicht gerade ein
angenehmer Gesprächsbeginn für sie, "das weiß ich in diesem
Moment selbst nicht so genau, Sir. Heute morgen war ich mir noch
ganz sicher, und hätte ihnen antworten können. Aber jetzt? Wissen
Sie, ich habe mich heute früh schon mehrmals verändert. Ich bin
immerzu größer und kleiner geworden." "Was soll denn das heißen,
hä? Erkläre dich!", fragte die Raupe streng.
"Nun ja, das kann ich ja gerade nicht erklären, fürchte ich, Sir!"
antwortete Alice schüchtern, "weil ich nicht ich selbst bin, sehen
sie". "Ich sehe gar nichts!", erwiderte die Raupe. "Es ist sehr
verwirrend. Sie können sich das sicherlich vorstellen weil sie ja
selbst ein Meister der Verwandlungskunst sind…", fuhr Alice fort.
"Kann ich nicht", kam die barsche Antwort der Raupe. "…Und sich
von ihrem jetzigen Zustand einer Raupe in einen Kokon einspinnen
und so zur Puppe werden, und wenn sie erwachsen sind sich
schließlich wieder entpuppen zum flatternden Schmetterling. Das
ist doch sonderbar, nicht wahr." "Ist es ganz und gar nicht", sagte
die Raupe. "Also ich weiß, das wäre für mich sonderbar!" "Ja, für
dich!", sagte die Raupe. "Wer bist denn du?" "Oh, nein!", rief Alice
aus, denn damit waren sie just wieder am Beginn ihrer
Unterhaltung angelangt. "Na, das kann ich ja gerade nicht
beantworten!", und dann entgegnete sie: "Ich finde, sie sollten mir
zuerst einmal sagen, wer sie sind".
Als sich die Raupe wieder, anstatt zu antworten, in Schweigen
hüllte, wollte Alice nicht weiter betreten dastehen, sondern drehte
sich einfach weg, ließ die blaue Raupe stehen und wollte gerade
davongehen. "Früher, als ich Märchen las, dachte ich immer, dass
diese Dinge nur in Geschichten vorkommen. Aber jetzt bin ich
selber in solch einem Märchen drin", dachte Alice bei sich. Da
vernahm sie wieder die rauchige Stimme der Raupe. "Komm
wieder zurück!", rief die Raupe, "Ich muss dir etwas Wichtiges
sagen." Alice drehte also doch wieder um und wartete darauf, was
die Raupe ihr sagen wollte.
"Du meinst also, du wärst jemand anderes?", fragte die Raupe.
Dann folgte ein erneutes minutenlanges Schweigen. Alice
erwiderte ganz verstört: "Ich fürchte ja! Sieh mal, ich wollte zum
Beispiel das Gedicht >Gegen Müßiggang und Ungedeih< aufsagen.
Es handelt von Bienen, aber statt den eigentlichen Gedichtversen
kam etwas anderes, nämlich ein Gedicht von einem Krokodil, das
Fische verschlingt, heraus, alles ganz anders und ganz verdreht!"
"Dann sag jetzt >Du bist alt, Vater Wilhelm< auf!", sagte die
Raupe und wieder folgte minutenlanges Schweigen. Alice
versuchte, das Gedicht jetzt aufzusagen. Sie sagte nämlich gerne
Gedichte auf, deshalb fiel es ihr gewöhnlich nicht schwer; aber
auch diesmal merkte sie, dass ihr auch für dieses Gedicht nicht
mehr die passenden Reime und Verse einfielen. Nach ihrem
Vortrag herrschte wieder langes Schweigen und wieder unterbrach
die Raupe die Stille und fragte: "Wie groß möchtest du sein?" "Nun
ja, die genaue Größe ist gar nicht so wichtig, nur der ständige
Wechsel ist unangenehm, doch ein wenig größer würde ich schon
gerne sein. 7 1/2 Zentimeter ist doch eine erbärmliche Größe",
sagte Alice. "Sag das nicht", erwiderte die Raupe zornig und
richtete sich der Länge nach vollkommen auf. "Ganz im Gegenteil!
Das ist eine schöne Größe! Ich bin genau 71/2 Zentimeter groß."
Alice bemerkte jetzt, dass sie die Raupe beleidigt hatte und wollte
ihr noch einmal erklären, dass es eben für sie sehr verwirrend war,
unentwegt größer und kleiner zu werden. Doch die Raupe nahm
schweigend noch ein paar Züge aus der Wasserpfeife, glitt dann
von dem Pilz herab, krabbelte ins Gras und kroch davon.
Alice fühlte sich an ihr vorheriges Treffen mit der Maus erinnert
und dachte: "Wenn hier bloß nicht alle so empfindlich wären!" Im
Fortgehen sagte die Raupe noch geheimnisvoll: "Eine Seite wird
dich größer machen, die andere kleiner." "Die eine Seite von
was?", fragte sich Alice gerade, da antwortete die Raupe, als könne
sie Gedanken lesen: "Vom Pilz". Hellhörig geworden schaute sich
Alice daraufhin den Pilz genau von allen Seiten an. Wo sollte sie
denn bloß beginnen? Wo waren denn bei einer runden Pilzkappe
rechts und links? Alice rief der Raupe noch schnell, bevor sie
davongekrochen war, zu: "Welche Seite ist denn rechts und welche
links?" "Die Seite vom Pilz!", erwiderte die Raupe. Oh, nun wusste
Alice wirklich nicht mehr als zuvor.
Aber irgendwo musste sie doch beginnen. "Besser hier oder
schlechter da, oben oder unten, rechts oder links?" Da sie keine
Lösung fand, umfasste sie den Pilzhut mit beiden Armen und brach
mit beiden Händen einfach jeweils an den Stellen ein Stück ab, wo
die Hände angelangt waren. Um zu sehen wie die Wirkung war,
biss sie gleich in das der beiden Stücke hinein, das sie in der
rechten Hand hielt. "Uuuii!", rief sie beängstigt aus. Schneller als
sie denken konnte hatte sich ihr Körper in die Tiefe bewegt. Sie
war nun so geschrumpft, dass zwischen ihrem Fuß und ihrem Kinn
nur noch ein winzig kleiner Schlitz frei war, um gerade noch von
dem Pilzstück in ihrer anderen Hand auch einen Krümel
hineinschieben zu können, und als sie ihren Mund wieder richtig
öffnen konnte, knabberte sie noch einmal in das Pilzstück in ihrer
linken Hand hinein. Nun schoss sie aber dermaßen in die Höhe, so
sehr, dass ihr ganz schwindelig wurde und sie eine Weile brauchte,
um festzustellen, was denn nun wieder mit ihrem Körper passiert
war. Sie sah ihre Hände und Füße überhaupt nicht mehr.
Stattdessen blickte sie auf ein grünes, sich im Wind wiegendes
Blättermeer.
Sie war über die Bäume im Wald hoch hinausgewachsen, unter
denen sie zuvor umher gelaufen war, und schaute jetzt über alle
Baumkronen hinweg. Sie betrachtete sich und stellte fest, dass sie
einen meterlangen dünnen Hals bekommen hatte, der wie bei
einer Giraffe sehr biegsam war, nur um ein Vielfaches länger und
dünner als bei Giraffen. Dort oben in der Luft kam jetzt auch schon
eine böse gurrende Taube auf sie zugeflogen. "Schlangen haben
hier nichts zu suchen!", kreischte diese und flog aufdringlich
flügelschlagend um Alices Kopf herum. Die Taube hatte sie also mit
einer Schlange verwechselt! Alice protestierte zwar, konnte aber
die Taube nicht davon überzeugen, dass sie keine Schlange,
sondern ein kleines Mädchen war. Denn tatsächlich sah sie nicht
danach aus. "Wenn du keine Schlange bist, was bist du denn dann,
hä?", äffte die Taube und fuhr fort: "Du suchst meine Eier, gib es
doch zu! Wenn nicht, dann mach, dass Du wegkommst!"
Tatsächlich pfiff die Taube in sehr unverschämtem Ton. Alice aber
hatte nichts anderes im Sinn als wie sie an ihre rechte Hand mit
dem Pilzstück kommen könnte, um wieder davon abzubeißen und
ihre Größe zu regulieren.
Sie versuchte, ihren Kopf unter die Baumkronen zu beugen,
musste es aber viele Male probieren, weil sich ihr Hals immer und
immer wieder um die Äste und Zweige der Bäume schlang. Sie
schaffte es mühevoll, sich aus den Ästen zu winden und es gelang
ihr, wieder ein Pilzstückchen abzuknabbern und gleich merkte sie
erleichtert, wie sie nach und nach wieder zu ihrer regulären Größe
kam. "Wenigstens bin ich wieder auf meine richtige Größe
gekommen!" sagte sie tröstend zu sich selbst, denn endlich konnte
sie sich wieder bewegen, wie sie wollte, und ihrem gefassten Plan
folgen. "Als nächstes will ich endlich in den bezaubernden Garten
gehen", beschloss sie bei sich.
Und während sie über all das Größerwerden, Kleinerwerden und
wie sie in den Garten gelangen könnte nachdachte, war sie
unversehens auf eine Lichtung geraten, auf der ein kleines Haus
stand. Das Haus war gerade mal so hoch wie ein Tisch, also dachte
Alice, musste sie ihre Größe noch stärker verändern, um den
Hausinsassen nicht als Riesin zu begegnen. Schnell nahm sie noch
einen kleinen Bissen von dem restlichen Pilzstück, das sie in der
rechten Hand hielt - es war ja das, welches sie kleiner machte -
und zuletzt leckte sie noch ein wenig daran. So kam sie genau auf
die Größe, die sie wollte. Ja, sie war bereits geübt im Größer- und
Kleinerwerden und kannte sich damit jetzt schon besser aus! In
ihrer jetzigen Gestalt wagte sie es schließlich, sich dem Häuschen
zu nähern. Es war etwas über einen Meter hoch und Alice maß in
etwa 22 cm, so dass sie gerade die geeignete Größe dafür hatte,
sich dort zu bewegen.
Die Geschichte vom Schweinebaby
Alice stand noch eine Weile am Waldesrand und überlegte, was sie
dort bei dem Häuschen anfangen sollte; dabei beobachtete sie aus
der Ferne, wie ein Lakai in einem Livreeanzug und mit einem
Fischgesicht auf das Haus zulief und dort einen Briefumschlag
überbrachte, der so groß war wie er selbst.
"Das ist doch ein Fisch in Uniform!", wunderte sich Alice und
beobachtete, wie er den Brief umständlich abstellte und an die Tür
klopfte, wo ihm ein anderer Lakai öffnete, der ebenfalls eine Livree
trug. Allerdings hatte dieser ein Froschgesicht. Beide Figuren
waren ungewöhnlich herausgeputzt, hatten weiß gepudertes Haar,
das in Locken um ihren Kopf lag und an den Seiten in
Schillerlocken herabhing. Alice hörte, wie der Fischlakai zum
Froschlakai sagte: "Eine Einladung von ihrer Majestät, der Königin,
zum Krocketspiel."
"Es musste sich also um ein herrschaftliches Haus handeln, wenn
hier Diener in Uniform und gepuderten Perücken arbeiteten",
dachte Alice bei sich und wieder fand sie, dass sie solche Bilder
bisher nur aus Märchen kannte. Als der Fischlakai wieder weg war,
kam sie neugierig näher, ging langsam auf die Tür des Hauses zu
und klopfte an. Von innen drang ohrenbetäubender Lärm nach
draußen. Plötzlich öffnete sich die Tür mit Karacho von selbst und
herausgeflogen kam in hohem Bogen ein großer Teller, der im Flug
sogar die Nase des Froschlakais streifte, der inzwischen im Garten
saß, dann weiter flog und an einem nahegelegenen Baum
zerschellte. Der Froschlakai aber blieb davon ganz unbeeindruckt
und meinte zu Alice, dass sie nicht anzuklopfen brauche und auch
nicht hineingehen müsse, weil sie bereits drinnen sei.
Alice stutzte. "Drehte sich nun die Welt ganz und gar, wie ein
Karrussell", fragte sie sich. "Nicht genug, dass sie bisher alle
Viertelstunde größer und kleiner geworden war und nicht mehr
genau gewusst hatte, wo oben und unten war. Jetzt sollte sie auch
noch drinnen und draußen, hier und da, vorne und hinten nicht
mehr kennen? Das war ja zum Auswachsen!" Alice ließ den
Froschlakai einfach links liegen und ging geradewegs in das Haus
hinein. "Hatschiiii", nieste sie beim Eintreten laut, anstatt sich
vorzustellen. Jetzt stand sie in einer total mit Feuerqualm
verrauchten Küche, in der eine mürrisch dreinblickende Köchin in
einem großen dampfenden Suppentopf rührend am Herd stand,
auf dem gleichzeitig eine Teekanne tutete und pfiff. Sie pfefferte
die Suppe immer wieder aus einer großen, reich verzierten
Pfefferdose.
Neben dem Herd hockte eine still und breit vor sich hin grinsende
große Katze. Auf einem Hocker mitten im Raum saß die Herzogin
und wiegte ein heulendes und ununterbrochen niesendes Baby im
Arm. Alice beobachtete, wie die Köchin unentwegt die Suppe
pfefferte und dann mit einem Messer eine Tasse durchschnitt, um
aus der halben Tasse Tee zu trinken. Im Nu war die Tasse leer und
sie schenkte sich wieder nach. Auch die Herzogin trank - wie die
Köchin - eine Tasse Tee nach der anderen, während die Tassen und
das Geschirr auf dem Regal schepperten und klirrten. Die Köchin
nahm die Suppe vom Herd und begann plötzlich, Töpfe und allerlei
Geschirr nach der Herzogin zu werfen. Die aber reagierte nicht
einmal, als das Porzellan sie traf und in Scherben zu Boden fiel.
Einer der Teller segelte sogar so nah an dem Baby vorbei, dass es
dessen Nase streifte, aber niemand machte sich etwas daraus,
außer, dass das Wickelkind noch lauter weinte als es sowieso
schon heulte. Alice schaute sich das gesamte Spektakel an und
überlegte, wie sie eine Persönlichkeit wie die Herzogin wohl
ansprechen sollte.
"Mit Verlaub, warum grinst Ihre Katze so?", fragte sie schließlich
etwas schüchtern. "Weil es eine Grinsekatze ist", antwortete diese,
dabei unaufhörlich das weinende Baby heftig im Arm auf und
abschaukelnd. Dann rief die Herzogin, plötzlich in Eile: "Fast hätte
ich es vergessen, ich muss mich fertig machen für das Krocketspiel
bei der Königin." Flink wandte sie sich Alice zu: "Hier! Du kannst
das Baby auch mal schaukeln. Fang es auf!", dabei warf sie das
Neugeborene Alice bereits durch die Luft entgegen. Alice konnte
das Baby gerade noch rechtzeitig auffangen, da war die Herzogin
auch schon auf und davon. Alice schaute sich das Baby nun aus
der Nähe an. Es war ein merkwürdig unförmiges Geschöpf. Alice
hatte Schwierigkeiten, es im Arm zu behalten, so zappelte die
kleine Kreatur. Ja, und es weinte zwar, aber aus seinen Augen
quollen überhaupt keine Tränen. Außerdem glich sein Aussehen
mehr einem Schweinchen als einem Menschenbaby, ja, es grunzte
sogar.
Alice dachte: "Aber wenn ich es nicht mitnehme, haben sie es hier
binnen weniger Tage umgebracht." Also behielt sie es auf dem
Arm. Wieder grunzte das kleine Ding! War es tatsächlich ein
Schweinebaby? Nun, die Nase glich tatsächlich einer Schnauze und
die Augen waren wirklich auffallend klein. "Wenn du ein Schwein
wirst, dann will ich dich nicht behalten", sage sie zu dem Baby in
ihrem Arm und ging mit ihm an die frische Luft. Sie betrachtete das
Tier im Freien draußen noch genauer und dachte darüber nach,
was sie wohl mit einem Schweinchen anfangen sollte, wenn sie
wieder zuhause war und kam zu dem Schluss, "ja, es ist - so finde
ich - zwar ein gutaussehendes Schweinebaby, aber ich will es nicht
behalten." Also setzte sie es ins Gras und war erleichert, als sie es
über die Wiese davonlaufen sah.
Wie sie noch so über das Ferkel nachdachte, bekam sie einen
Höllenschreck, denn sie bemerkte über sich im Baum plötzlich auf
einem Ast sitzend die schwarze, breit grinsende Katze aus dem
Haus der Herzogin. "Cheese, cheese, cheese… Miez, miez", lockte
Alice sie, denn sie beschloss, die Katze freundlich anzusprechen.
Sie hatte ziemlich lange Krallen und zeigte eine ganze Menge
großer, scharfer gebleckter Zähne. "Kannst du mir sagen, wie ich
von hier aus weitergehen soll?", fragte sie. "Das kommt ganz
darauf an, wohin du gehen möchtest", säuselte die Katze. "Das ist
egal. Ich möchte nur irgendwo ankommen", erwiderte Alice, die
jetzt schon wieder etwas mehr Mut gefasst hatte. "Dann mußt du
nur lange genug gehen, dann wirst du sicher irgendwo
ankommen", entgegnete daraufhin die Grinsekatze. "Welches aber
ist die genau richtige Richtung und wer wohnt dort?", wollte Alice
nun wissen. "In dieser Richtung wohnt ein Hutmacher und in dieser
Richtung ein Märzhase. Es ist egal, zu wem du gehst, alle beide
sind verrückt", war die Antwort der schwarzen Katze. "Aber ich
möchte nicht zu verrückten Personen gehen", sagte Alice. "Das
wird schwer möglich sein, denn wir sind hier alle verrückt. Ich bin
verrückt, du bist verrückt", sagte die Katze zu Alice, als ob sie
Gedanken lesen könnte. "Woher willst Du wissen, dass ich verrückt
bin?", sagte Alice. "Du musst verrückt sein, sonst wärst Du nicht
hier", antwortete die Katze und gab ein langes, wohliges, aber
doch eher nach einem Hund klingendes "rrrr" von sich. "Sieh mal,
ich wedle mit dem Schwanz, wenn ich verärgert bin und ich knurre,
wenn ich mich wohl fühle", sagte die Katze. "Ich nenne das
schnurren, nicht knurren", verbesserte Alice. "Ach, nenn es, wie du
willst!", antwortete die Katze und fragte Alice dann:
"Spielst Du heute auch Krocket bei der Königin?" "Das würde ich
zwar gerne, aber ich bin leider nicht eingeladen", sagte Alice.
"Dann treffen wir uns dort!", bestimmte die Katze und löste sich in
Luft auf. Während Alice noch antworten wollte und ungläubig auf
die Stelle sah, wo die Katze soeben verschwunden war, erschien
das Katzengesicht plötzlich wieder aufs Neue und fragte:
"Übrigens, was ist aus dem Baby geworden?" Als Alice sagte, es
habe sich in ein Schweinchen verwandelt, verschwand die Katze
wieder und murmelte: "Das habe ich mir gedacht." Alice wartete
noch eine Weile, weil sie dachte, die Katze erschiene noch einmal,
ging aber, als das nicht geschah, ihrer Wege in die Richtung des
Hauses des Märzhasen.
Auf ihrem Weg schaute sie zufällig hinauf in einen Baum und wollte
zuerst ihren Augen nicht trauen: dort saß schon wieder die Katze
auf einem Ast. "Sag mal, hast Du Schwein oder Reim gesagt?",
fragte die Katze diesmal. "Schwein!", fiel Alice stotternd zu sagen
ein. Ihr müsst wissen, Alice war mittlerweile schon ganz
schwindelig vom ständigen Erscheinen und Verschwinden der
Katze. "Nun gut, diesmal will ich ganz langsam verschwinden",
sagte dann die Katze, die Gedanken lesen konnte, und verschwand
diesmal nach und nach. Zuerst der Schwanz, dann ihr Körper, und
zuletzt blieb der Kopf noch grinsend in der Luft stehen. Dann war
nur noch ihr Grinsen da und schließlich löste sich auch das ganz
langsam in Luft auf. Alice schaute auf die Stelle, wo die
Grinsekatze eben verschwunden war und war stumm vor
Verwunderung. So etwas hatte sie noch nie gesehen.
Sie wusste zwar, dass sie schon Katzen ohne Grinsen gesehen
hatte, aber noch nie Grinsen ohne Katze. Als Alice über all das
nachdachte, fand sie, dass es die verwunderlichste Sache war, die
sie je gesehen hatte. Derweil war sie weiter gegangen und näherte
sich einem Haus, von dem sie annahm, dass es das
Märzhasenhaus war, denn das Dach war mit Fell bedeckt und der
Schornstein hatte die Form von Hasenohren. Alice biss schnell
noch ein wenig von dem Pilzrest ab, den sie die ganze Zeit in der
linken Hand hielt, um wieder etwas größer zu werden und war nun
etwa 60 cm groß. Sie sah von weitem den Hutmacher, den
Märzhasen sowie eine kugelig eingerollt schlafende Haselmaus an
einem großen Gartentisch unter einem Baum sitzen.
Alices Abenteuer auf der verrückten Nicht-Geburtstagsparty
Sobald der Hutmacher und der junge Märzhase Alice sahen, riefen
sie ihr einstimmig zu: "Kein Platz, alles besetzt!" Alice aber kam
trotz des unfreundlichen Empfangs näher, denn sie sah, dass der
lange Tisch für eine große Gesellschaft gedeckt, aber niemand
außer ihr weit und breit zu sehen war. Also setzte sie sich dennoch
in einen Lehnstuhl am Kopfende der Tafel. "Möchtest du Wein?",
fragte sie sogleich der übermütige Märzhase. "Aber es gibt doch
gar keinen Wein. Ich sehe nur Tee", erwiderte Alice und fügte
hinzu, es sei sehr unhöflich, dass sie sich nicht setzen sollte, wo
doch so viele unbesetzte Stühle um den Tisch standen.
"Warum ist der Rabe kein Schreibtisch?", gab ihr der Märzhase zur
Antwort. "Aha! Jetzt hatte er ihr also ein Rätsel aufgegeben, anstatt
mit einem erklärenden Satz zu antworten." Das gefiel Alice, obwohl
sie natürlich gleich merkte, dass sie erneut in eine wunderliche
Gesellschaft geraten war. Doch Rätselraten war eine ihrer
Lieblingsbeschäftigungen. "Na, wirst du das Rätsel lösen?", fragte
der Hase. "Aber natürlich!", antwortete Alice rasch. "Dann solltest
du sagen, was du meinst", sagte der Märzhase. "Das werde ich!",
trumpfte Alice auf. "Wenigstens…, wenigstens meine ich, was ich
sage." "Das ist keineswegs dasselbe. Denn dann könntest du
genauso gut sagen: Ich esse, was ich sehe ist das Gleiche wie ich
sehe, was ich esse!", mischte sich der Hutmacher ein. "Ja, oder: Ich
mag was ich bekomme ist dasselbe wie ich bekomme was ich
mag!", setzte der Märzhase hinzu. "Ja, genauso gut könntest du
sagen…", schloss sich nun auch die Haselmaus an, die dabei war,
ihren Winterschlaf zu beenden und deshalb immer wieder
abwechselnd einschlief und aufwachte, "…Ich atme, wenn ich
schlafe ist dasselbe wie ich schlafe wenn ich atme." "Na, bei dir ist
das tatsächlich der Fall!", sagte der verrückte Hutmacher zur
Haselmaus. Er trug einen riesigen Hut, der halb so groß war wie
der ganze Hutmacher selbst, müsst ihr wissen. Nun waren so viele
Vergleiche, die wirklich nicht dasselbe darstellten,
aneinandergereiht, dass im Garten Stille eingekehrt war und jeder
über das Rätsel mit dem Raben und dem Schreibtisch nachdachte.
Dann holte der Hutmacher seine Taschenuhr aus der Hosentasche,
schüttelte sie heftig und fragte: "Welchen Tag haben wir heute?"
"Es ist der Vierte", antwortete Alice. "Ah! Dann geht meine Uhr
zwei Tage nach", schimpfte der Hutmacher und beschwerte sich
beim Märzhasen darüber, dass in seiner Uhr Brotkrümel waren und
der Hase das Uhrwerk also mit schlechter Butter geölt habe. Der
Märzhase nahm die Uhr, tunkte sie ein paar Mal hintereinander in
die Teetasse. "Vielleicht hilft ein kleines Teebad!", sagte er dabei
und schaute dann auf die Uhrzeiger, ob sie nun wieder besser
liefen. "Was für eine lustige Uhr", sagte Alice unterdessen, "die
anstatt der Uhrzeit die Tage anzeigt." "Warum nicht? Zeigt deine
Uhr denn das Kalenderjahr an?", murrte der Hutmacher. "Aber
natürlich nicht!", rief Alice. "Das Jahr dauert doch viel zu lange,
deshalb zeigt die Uhr die Stunden an." "Nun, dann ist deine Uhr ja
wie meine", sagte daraufhin der Hutmacher.
Was der Hutmacher da sagte, erschien Alice nun wirklich
vollkommen verwirrend und sie fragte sich, ob nun sie selbst oder
die Uhr total verrückt geworden war. Des Hutmachers Worte
brachten sie total durcheinander, dennoch waren sie aber in einen
verständlichen Satz gekleidet und auf Deutsch formuliert. Nur was
der Hutmacher sagen wollte, konnte niemand verstehen. "Ich
verstehe dich nicht recht", sagte Alice höflich, währenddessen der
Hutmacher Tee über die Nase der Schlafmaus kippte und sich
daraufhin wieder Alice zuwandte und fragte: "Hast du das Rätsel
mit dem Raben und dem Schreibtisch schon gelöst?" "Na, hast du
die Antwort?", fragte auch der Hase. "Nein", antwortete Alice
erschöpft, "ich gebe zu, ich habe nicht die leiseste Ahnung. Was ist
also die Lösung?" "Ich habe nicht die geringste Ahnung",
antwortete der Hutmacher. "Ich auch nicht," tönte der Märzhase.
Die Schlafmaus blieb still, denn sie machte gerade wieder ein
Nickerchen. "Nun, ich finde, ihr solltet eure Zeit nicht mit Rätseln
vergeuden, die ihr selbst nicht lösen könnt," sagte Alice jetzt
bestimmt.
"Die Zeit? Weißt du…", seufzte nun der Hutmacher und begann zu
erzählen, dass er sich mit der Zeit im Frühling des vergangenen
Jahres zerstritten habe und es deshalb bei ihm immer fünf Uhr
bliebe. Vor jenem Frühling sei er mit der Zeit gut befreundet
gewesen und habe mit ihr allerlei lustigen Schabernack getrieben.
"Stell dir vor, es wäre acht Uhr morgens und du könntest mit der
Zeit sprechen, so dass es im Nu 13 Uhr mittags und Zeit zum
Mittagessen wäre." "Oh, das wäre wunderbar! Nur hätte ich dann
noch keinen Hunger!", rief Alice fröhlich, denn das war eine sehr
angenehme Vorstellung, selbst bestimmen zu können, ob und
wann sie zur Schule gehen würde. "Du könntest es dann so lange
ein Uhr sein lassen, wie du wolltest", erwiderte der Hutmacher, "bis
du Hunger hast." "So macht ihr es hier, nicht wahr?", erkundigte
sich Alice nach kurzem Nachdenken. "Nein, bei uns ist das anders.
Das habe ich nicht selbst veranlasst", antwortete der Hutmacher
plötzlich wieder ernst und erzählte die Geschichte, wie es dazu
gekommen war, dass die Uhrzeit stehen geblieben war: "Es war auf
dem großen Konzert der Herzkönigin. Da habe ich ein Lied
vorgetragen. Du kennst es sicherlich. Es begann so:
Rabimmel rabammel ra bum bumm bumm
Dann kam die erste Liedstrophe:
Ich geh und schau in die Ferne
Und die Ferne schaut zu mir.
Dort oben leuchten die Sterne,
Hier unten flunkern wir.
Mein Stern heißt Laus,
Auf dem Tablett sitzt die Maus,
Rabimmel rabammel ra bum bumm bumm.
"Ja, es kommt mir bekannt vor," sagte Alice während die
Haselmaus immer weiter "rabimmel, rabammel ra bum bumm
bumm" sang und sich dabei schüttelte. Der Hutmacher kniff die
Haselmaus in ihren schönen weichen Pelz, damit sie endlich
aufhörte und fuhr fort: "Aber die Königin sprang auf, unterbrach
meinen Gesang und brüllte völlig außer sich: 'Das Versmaß stimmt
nicht und das Wortspiel ist nicht richtig! Du hast den Takt und die
ganze Zeit kaputt gemacht!' Dann befahl sie ihren Soldaten: 'Köpft
ihn. Er hat die Zeit tot geschlagen.' Nun, seit jenem Tag ist die Uhr
stehen geblieben. Sie geht nicht mehr weiter und es bleibt immer
fünf Uhr. Bei uns ist es deshalb immer Teatime und wir haben nie
Zeit, das Geschirr abzuwaschen", seufzte der Hutmacher und
schaute dabei auf seine Uhr.
"Es ist fünf Uhr, wir wollen alle einen Platz weiterrücken", sagte er
dann in die Runde und rutschte einen Stuhl weiter. Die Haselmaus
folgte ihm, indem sie behende auf den nächsten Stuhl hüpfte, und
der Märzhase rückte auf den Platz der Haselmaus vor. Alice nahm
dann den Platz des Märzhasen ein, goss sich selbst etwas Tee in
die Tasse und nahm sich eine Butterbrotschnitte.
Dann lauschte sie einer neuen Geschichte, die die Haselmaus zu
erzählen begonnen hatte. Sie handelte von drei kleinen
Schwestern, die auf dem Rand eines Sirupglases wohnten. "So
etwas gibt es nicht!", protestierte Alice. Aber der Hutmacher und
der Märzhase legten den Finger auf den Mund und machten "Pst!"
So fuhr die Haselmaus fort: "Die drei Schwestern lernten mit
Himbeersirup zu malen. Sie malten alle Dinge, die mit M begannen,
zum Beispiel den Mond, Mausefallen, Malen. Hast du schon einmal
gesehen wie jemand das Malen malt?", fragte sie Alice. "Jetzt, wo
du mich fragst", sagte Alice und versuchte sich zu erinnern. "Dann
sei still, wenn du es nicht weißt!", unterbrach sie der Hutmacher.
Das war zuviel! Alice wollte die Unfreundlichkeit des Hutmachers
jetzt wirklich nicht mehr weiter hinnehmen und nicht mehr hier
bleiben, sie stand also auf und ging davon. Die Haselmaus fiel
sofort wieder in tiefen Schlaf und als sich Alice beim Weggehen
noch einmal umdrehte, sah sie, wie der Märzhase und der
Hutmacher die schlafende eingekugelte Haselmaus in die
Teekanne stopften.
Sie sagte zu sich, während sie wieder durch den Wald ging: "Nie
wieder komme ich hierher zurück. Das war die verrückteste
Teeparty meines Lebens."
Aber sie wollte sich die Geschichte merken, denn man könnte die
Geschichte von der Zeit ja auf Geburtstage anwenden und also die
Uhr am Geburtstag anhalten, um dann 164 Tage im Jahr Geburstag
zu feiern. "Das Fest würde dann Nicht-Geburtstag heißen!"
Ganz in diesen - wie sie fand - sehr angenehmen Gedanken
versunken war sie wieder in den Wald gelaufen, wo sie an einem
Baum vorbei kam, der ein Türschild trug. "Ich will mal
nachschauen, was sich hinter dieser Tür verbirgt!", dachte sie
neugierig und ohne lange zu überlegen trat sie ein. Da stand sie
plötzlich wieder in der großen Halle mit dem Glastischchen, die sie
bereits kannte. "Ah!", diesmal, beschloss sie, wollte sie aber alles
in der richtigen Reihenfolge machen. Sie nahm also zuerst den
goldenen Schlüssel vom Tisch, schloss damit die kleine Tür hinter
dem roten Vorhang auf, holte dann ein Pilzstückchen aus ihrer
rechten Kleidertasche, biss davon ab und wurde kleiner, so klein,
dass sie mühelos durch die kleine Öffnung schlüpfen und durch
den Gang hinter der Tür kriechen konnte, der sie endlich in den
schönen Garten führte.
Alice beim königlichen Krocketspiel
Gleich hinter dem Gartentor traf sie auf drei Gärtner, die aussahen
wie Figuren aus einem Kartenspiel, nur mit Köpfen und Beinen
daran. Der Eine hatte sieben, der Andere fünf und der Dritte zwei
Zeichen auf dem Kartenkörper.
Alle drei waren gerade damit beschäftigt, ein weißes
Rosenbäumchen mit roter Farbe anzustreichen. Alice wunderte
sich über ihr Tun und fragte, warum sie das denn machten. Da
erzählte ihr Nummer zwei, dass sie aus Versehen ein weißes
Bäumchen gepflanzt hätten. "Sie müssen wissen, die Königin wird
uns köpfen, wenn sie das sieht. Deshalb malen wir die weißen
Rosen rot an." Kaum hatte er aber das Wort Königin
ausgesprochen, da ertönten aus der Ferne heller Fanfarenklang,
mächtig donnernde Schritte und heftige Paukenschläge. Die
Kartenfiguren räumten schnell alle Pinsel weg, dabei Nummer fünf
aufgeregt rief: "Die Königin, die Königin. Sie kommt!"
Alice schaute um sich, woher die näherkommenden Schritte,
Paukenschläge und Schellenklänge kamen, da sah sie eine ganze
Parade aus Spielkarten näher kommen: Herz, Karo, Pik und
Kreuzfiguren, ein ganzer Aufmarsch nach Farben und
Kartenzeichen aufgestellter Kartenfiguren, mit gedrechselten
Stäben und Keulen in der Hand, kam dahermarschiert. Alice wollte
sich wieder zu den Spielkartengärtnern umdrehen, doch die sah sie
jetzt ganz flach unten auf der Erde liegen. Schon waren auch die
ersten Soldaten der königlichen Eskorte nah herbeigekommen.
Hinter ihnen folgte eine lange Prozession, allen voran kamen in
Zweierreihen zehn Keulenfiguren, über und über mit Diamanten
verziert. Danach hüpften, ebenfalls in Zweierreihen, die
königlichen Reiter und Reiterinnen heran, auch diese überall mit
Herzen dekoriert. Danach folgte eine Gästeschar aus Königinnen
und Königen, darunter entdeckte Alice das Weiße Kaninchen und
beobachtete, wie es liebenswürdig lächelnd mit dem übrigen
Hofstaat Konversation pflegte und sich nach hier- und dorthin
verneigte.
Nun kam der Herzbube, er trug die Königskrone auf einem
karminrot samtenen Kissen vor sich her, und als krönender
Abchluss der festlichen Prozession marschierten der Herzkönig und
ihre Majestät, die Herzkönigin, durch das Kartenfiguren-Spalier, das
der inzwischen zum Stand gekommene Zug gebildet hatte.
Alle Augen richeten sich aber nun auf Alice, denn die Königin fragte
streng: "Wer ist das?", und zu Alice gewandt: "Wie heißt du, mein
Kind?" "Mit Verlaub, ich heiße Alice, Eure Majestät!", antwortete
Alice in aller Höflichkeit und fuhr für sich selbst in Gedanken fort:
"Na ja, das sind ja nur ein paar Spielkarten. Vor denen habe ich
doch keine Angst!" "Und wer sind die da?", fragte die Königin
weiter, indem sie auf die drei am Boden liegenden
Spielkartengärtner zeigte. "Woher soll ich das denn wissen",
antwortete Alice und war selbst überrascht über ihre mutige
Entgegnung. Wütend wie eine Furie starrte die Königin Alice jetzt
an und schrie: "Weg mit ihrem Kopf, weg!" "Totaler Quatsch!",
setzte Alice ihr jedoch laut und deutlich entgegen. Augenblicklich
verstummte die Königin.
Absolute Ruhe war eingekehrt. Vorsichtig legte der König seine
Hand auf den Arm der Königin und sagte leise besänftigend zu ihr:
"Meine Liebe, lass sie. Sie ist ja noch ein Kind." Da wandte sich die
Königin den Spielkartengärtnern zu während sie den Herzbuben
anwies, diese umzudrehen. "Steht auf!", schrie sie schrill, während
sie bereits den Rosenbaum untersuchte. "Was habt ihr hier
angestellt?" "Wir wollten", begann Nummer zwei, aber schon fuhr
die Königin wütend fort: "Ja, das sehe ich, weg mit ihren Köpfen!"
Schon setzte sich der ganze Königszug wieder in Bewegung. Alice
hatte aber - als sich der Menschenzug wieder zu ordnen begann -
den Augenblick des Durcheinanders genutzt, um die Gärtnerkarten
schnell in einen der Blumenkästen zu stecken.
"Ihr sollt nicht geköpft werden", sagte sie und sah aus dem
Augenwinkel, wie ein paar Soldaten noch nach den drei
verschwundenen Gärtnern umhersuchten, sich dann aber schnell
der königlichen Parade anschlossen und auf die Frage der Königin,
ob sie ihren Auftrag ausgeführt hätten, sagten: "Ja, die Köpfe sind
ab, Eure Hohheit." Da gellte schon wieder die Stimme der Königin
durch die Luft: "Kannst du Krocket spielen?" Das galt diesmal wohl
Alice, denn alle Soldaten und der ganze Hofstaat schauten stumm
auf sie. "Ja", schrie Alice zurück. "Dann komm mit!", brüllte die
Königin, woraufhin Alice sich auch in die Prozession einreihte und
gespannt war, was als nächstes passieren würde.
"Was für ein schöner Tag!", meldete sich da ein feines Stimmchen
gleich neben Alice und sie sah, dass jetzt zum ersten Mal das
Weiße Kaninchen neben ihr ging und freundlich mit ihr sprach.
"Tatsächlich, ein schöner Tag", erwiderte Alice höflich, "sagen Sie,
wo ist eigentlich die Herzogin?" "Leise!", raunte das Kaninchen nun
aufgeregt und flüsterte Alice ins Ohr: "Sie steht unter Todesstrafe!"
"Aber warum bloß?", fragte Alice entsetzt. "Sieh nur, sie hat die
Königin geohrfeigt…", begann das Kaninchen. Alice lachte laut
heraus. "Sei doch leise!", bat das Kaninchen jetzt flehentlich, "die
Königin hört dich doch! Sieh nur, es war so: die Herzogin kam zu
spät, da sagte die Königin…"
"Auf die Plätze!", donnerte da die Stimme der Königin dazwischen,
und alle rannten durcheinander, suchten ihre Plätze, purzelten
übereinander her und saßen, erst als eine ganze Weile vergangen
war, schließlich alle auf ihren Plätzen. Alice hatte noch nie in ihrem
Leben eine solche Krocketspielfläche gesehen! Anstatt einer
ebenen Fläche war der Boden hügelig, so dass sich die Bälle auf
eine wahre Berg- und Talfahrt gefasst machen mussten. Alice
bemerkte auch bald, dass die Königin für das Krocketspiel alles so
arrangiert hatte, dass nur sie allein gewinnen konnte. Traf sie mit
ihrem Schläger nämlich einen Ball nicht, so rannten die Tierchen,
die die Bälle spielten, dahin, wo ihr Schläger war, und wenn die
Bälle nicht gezielt waren, dann liefen die Spielkarten, die die Tore
darstellten und sich dafür zu einem Bogen formten, dahin, woher
der Ball gerollt kam, damit er unter ihrem gebogenen Körper
hindurch rollte.
Die Schläger waren wie all die anderen Spielelemente ebenfalls
lebendig. Es waren lebende Flamingos! Alice, die an diese Art des
Spiels natürlich nicht gewöhnt war, musste lachen, wenn sie in die
erstaunten Augen des Flamingos sah, als sie gerade zum Schlag
ausholen wollte und beobachtete, wie sich ihr Flamingo-Schläger
dann einrollte, so dass Alice die lebenden Igelbälle gar nicht treffen
konnte. Auch gab es keinerlei Spielregeln. Deshalb wartete keiner
der Spieler darauf, dass er an die Reihe kam, und die Spielkarten-
Tore und Igel-Bälle versuchten zwar alle sich so zu bewegen, dass
die Königin gewann, aber auch das wollte nicht recht gelingen.
Darüber geriet die Herzkönigin in fürchterliche Rage und rief mal
hier-, mal dorthin: "Kopf ab!", "Weg mit ihrem Schädel!", dabei
stampfte und tobte sie gewaltig. Alice wollte dieses Spektakel
keinesfalls gefallen, deshalb überlegte sie, wie sie das Spiel
beenden und hier herauskommen konnte. Bald spürte sie über sich
in der Luft eine seltsame Bewegung. Sie schaute deshalb
aufmerksam in die Höhe, wo sie freudig verwundert eine
Erscheinung wahrnahm, die im Laufe von etwa ein oder zwei
Minuten nach und nach Gestalt annahm und ihr irgendwoher
bereits bekannt vorkam.
"Das ist ja die Grinsekatze!", freute sich Alice, endlich bald eine
Komplizin in ihrer Nähe zu haben. "Jetzt habe ich endlich
jemanden, mit dem ich sprechen kann." "Kommst Du voran?",
fragte die Katze, sobald ihr Mund so weit erschienen war, dass sie
damit sprechen konnte. Alice wartete mit ihrer Antwort ungeduldig,
bis auch die Augen der Katze zum Vorschein gekommen waren und
nickte dann. "Aber es macht noch keinen Sinn, zu sprechen", sagte
sie sich, "bevor die Ohren oder wenigstens eines von beiden
aufgetaucht war." Dann aber war endlich der gesamte Katzenkopf
hervorgetreten und Alice erzählte ihr, dass ihr das Krocketspiel
nicht gefiel, weil es hier keinerlei Spielregeln gab. "Gefällt dir die
Königin", wollte die Katze jetzt mit leiser Stimme wissen. "Ganz
und gar nicht, sie ist so…", da wurde Alice vom König
unterbrochen, der zu ihr gekommen war, den Katzenkopf neugierig
ansah und fragte: "Mit wem sprichst Du?" "Das ist meine Freundin -
eine Grinsekatze. Mit Verlaub, darf ich vorstellen."
"Mir gefällt es keineswegs, sie anzuschauen", antwortete der König
spitz, doch dann wandte er sich der Katze trotzdem zu: "Nun gut,
ihr dürft meine Hand küssen, wenn es euch beliebt." "Lieber nicht",
bemerkte die Katze wählerisch. "Sei nicht so unverschämt und
respektiere gefälligst die Standesregeln!", rief der König entrüstet
aus. "Standesregeln?", mischte sich jetzt Alice in die Konversation
ein, "darüber habe ich zwar einmal in Büchern gelesen, aber ich
erinnere mich nicht mehr, wo das war." "Sie muss beseitigt
werden!", befahl jetzt der König deutlich verärgert und rief der in
diesem Moment vorbeigehenden Königin zu: "Meine Liebe, bist du
so liebenswürdig und beseitigst diese Katze?" "Weg mit ihrem
Kopf!", schallte sogleich die Antwort der Königin herüber, die nicht
einmal hergeschaut hatte. "Den Scharfrichter wähle ich persönlich
aus", fügte der König eifrig hinzu und lief davon.
Alice meinte, nun ebenfalls wieder aufs Spielfeld gehen zu müssen,
doch dann sah sie, wie dort alle Spieler kreuz und quer
umherliefen, die Spielkarten durcheinandergebogen waren sowie
zwei Igel heftig miteinander kämpften und ihr Flamingo gerade im
hinteren Teil des Spielfeldes Anstalten machte, davonzulaufen.
Dafür übte er sich soeben in Flugversuchen, um sich auf einen der
Bäume zu flüchten. Alice fing ihren Flamingo schnell ein und
behielt ihn von nun an unter dem Arm, damit er ihr nicht wieder
davonlaufen konnte. Als sie zur Grinsekatze zurückkehrte staunte
sie nicht schlecht, denn um diese herum war mittlerweile eine
große Versammlung entstanden. Der größte Teil der Versammelten
war still und schaute betreten. Dagegen waren der König, die
Königin und der Scharfrichter in einen heftigen Streit verwickelt.
Sie stritten darüber, ob ein Katzenkopf geköpft werden könne, der
unabhängig von einem Katzenkörper exisitierte. Alice forderte die
drei auf, ihre Argumente doch statt gleichzeitig und durcheinander
besser hintereinander und klar zu formulieren. "Außerdem gehört
die Katze der Herzogin. Sie sollten also besser sie fragen, was mit
ihr geschehen soll", setzte sie außerdem noch hinzu. "Sie sitzt im
Gefängnis, hol sie her!", befahl die Königin daraufhin dem
Scharfrichter, der sogleich wie ein Pfeil davonschoss. Schlau
begann der Katzenkopf in diesem Moment langsam zu
verschwinden, so dass er bei der Rückkehr des Henkers mit der
Herzogin bereits gänzlich verschwunden war. Wild rannten da jetzt
der König und der Scharfrichter auf der Suche nach der Katze das
Spielfeld auf und ab. Alle anderen aber wandten sich einstweilen
wieder dem Krocketspiel zu.
Die Geschichte von der Falschen Suppenschildkröte
"Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dich
wiederzusehen", sagte die Herzogin zu Alice. Sie war jetzt sehr
freundlich zu Alice und auch nicht mehr so zornig wie sie zuvor, bei
sich zuhause, mit der Köchin und dem kleinen Ferkel gewesen war.
Die Herzogin hakte sich bei Alice ein und ging ganz nah an ihrer
Seite, so nah, dass sie ihr Kinn auf Alices Schulter ablegen konnte.
Alice gefiel das nicht besonders, weil sie die Herzogin hässlich und
ihr Kinn unangenehm scharfkantig fand, und weil sie außerdem auf
dem anderen Arm auch noch den Flamingo trug, der ihr ja zuvor
als Krocketschläger gedient hatte. Doch die Herzogin erzählte
einfach weiter.
Allerdings wurde ihre Stimme nach und nach immer leiser und
Alice erkannte, dass es wohl wegen der Königin sein musste, die
plötzlich wie aus dem Nichts kommend vor Ihnen stand. "Einen
wunderschönen guten Tag, gnädige Königin", sagte die Herzogin
mit leisem, zitternden Stimmchen. "Ich warne dich!", kreischte die
Königin und stampfte dabei mit dem Fuß auf den Boden, "such es
dir aus: entweder verschwindest du auf der Stelle oder dein Kopf
wird verschwinden!", da war die Herzogin ohne auch noch ein
Fünkchen Zeit zu verschwenden oder auch noch den geringsten
Laut von sich zu geben im Nu auf und davon.
Dann wandte sich die Königin Alice zu und sagte: "Hast du schon
die Falsche Suppenschildkröte gesehen?" "Nein, ich weiß nicht
einmal, was eine Falsche Suppenschildkröte ist", antwortete Alice.
"Nun, dann komm, sie soll dir ihre Geschichte erzählen",
bestimmte die Königin. Also verließen Alice und sie das Krocketfeld
und kamen bald zu einem riesigen Vogel Greif, der schlafend in der
Sonne lag. "Steh auf, Faulpelz!", befahl die Königin "…und bringe
diese junge Dame zu der Falschen Suppenschildkröte, damit sie ihr
ihre Geschichte erzählt. Ich muss einige Hinrichtungen
beaufsichtigen, die ich beim Krocketspielen angeordnet habe."
Die Königin ging daraufhin wieder davon und ließ Alice mit dem
Greif allein. Zuerst war Alice etwas unsicher, was denn nun besser
war, hier allein bei dem Greif oder in Gesellschaft der wilden
Königin zu sein. Sie entschied abzuwarten. Der Greif reckte und
streckte sich, dabei kicherte er leise, und als Alice ihn fragte,
warum er denn kicherte, erklärte er ihr, dass in diesem Königreich
niemals jemand geköpft würde und sich die Königin das nur
einbildete. Und tatsächlich erinnerte sich Alice, dass sie beim
Weggehen vom Krocketfeld die leise Stimme des Königs
vernommen hatte, der die Soldaten anwies, alle Strafen zu
erlassen. "Komm mit!", sagte der Greif und Alice ging mit ihm ein
kleines Stück, bis sie zu einem Felsvorsprung kamen auf dem ganz
alleine und herzzerreissend schluchzend eine etwas merkwürdig
aussehende Schildkröte saß.
Sie hatte zwar einen Schildkrötenpanzer, aber auf dem
Schildkrötenkörper saß eine Art Schweinsgesicht. Auch hatte sie
Armflossen wie eine Schildkröte, aber Schweinehaxen anstatt
Fußflossen. "Hier ist ein junges Mädchen, das deine Geschichte
hören möchte", sagte der Greif zu der Falschen Suppenschildkröte.
"Gut, ich werde sie ihr erzählen", seufzte diese tief. "Aber setzt
euch und sagt kein Wort bis ich zu Ende erzählt habe, ja!?" Der
Greif und Alice setzten sich neben sie auf den Felsvorsprung und
warteten. Nach einigen Minuten Schweigen begann sie schließlich:
"Es war einmal vor langer Zeit, da war ich echt. Ja, ich war eine
echte Schildkröte.
Als wir klein waren, gingen wir im Meer zur Schule. Unser Lehrer
war eine uralte Schildkröte mit einem schweren Panzer, wir sagten
immer Sprechpanzer zu ihm. Wir erhielten bei ihm den allerbesten
Unterricht. Wir gingen sogar jeden Tag zur Schule!" "Darauf
brauchst du dir aber nichts einzubilden, das machen wir auch",
sagte Alice. "Auch mit Extraunterricht in Waschen?", fragte die
Falsche Suppenschildkröte neugierig. "Das ist doch nichts
Besonderes", wandte Alice ein, "wir haben auch Extraunterricht,
nämlich in Französisch und Musik. Und Waschen hat dir sicherlich
nicht besonders gefallen, denn du warst ja schon im Meer." "Doch,
das hätte mir gefallen.
Aber leider durfte ich diesen Unterricht nicht besuchen",
antwortete die Falsche Suppenschildkröte, "weil ich mir das nicht
leisten konnte. Ich durfte nur zu den Pflichtfächern." "Welche
Fächer waren das?", fragte Alice. "Zu Anfang natürlich Lösen und
Schreiten und dann die verschiedenen Methoden der Arithmetik,
Add-Tieren, Suppen-Tieren, Multi-Plissieren und Divi-Tieren." "Von
Divi-Tieren habe ich noch nie etwas gehört", wagte Alice die
Erzählung zu unterbrechen. "Was?", rief da der Greif entrüstet aus
und schlug beide Vordertatzen über seinem Kopf zusammen. "Du
hast noch nie etwas von Divi-Tieren gehört? Ich nehme aber an, du
weißt doch bestimmt, was Harmo-Tieren ist!", sagte der Greif
entrüstet. "Ja", antwortete Alice zögernd. "Das ist doch, wenn man
alles aufeinander abstimmt und schöner gestaltet." "Na also! Wenn
du also noch nichts von Divi-Tieren gehört hast, bist du ein
ziemlicher Einfaltspinsel!", fuhr der Greif fort. Alice beschloss, jetzt
dem Greif nicht weiter zu folgen und erst einmal ruhig die Falsche
Suppenschildkröte weiter anzuhören. Deshalb fragte sie diese:
"Welche Fächer hattet ihr denn sonst noch?" Diese zählte jetzt mit
ihren Flossen alle weiteren Fächer auf: "Gerichte, alte und neue
Gerichte, dann Erdbeerkunde, Meerography, und einmal die Woche
hatten wir Unterricht im Malersaal - der Lehrer war ein Zitteraal -:
Er unterrichtete Teich-nen, Aalen und Dehnen in Öl." "Was habt ihr
da gemacht?", fragte Alice. "Das kann ich dir nicht zeigen, weil ich
zu steif bin, und der Greif hat das nicht gelernt", sagte die Falsche
Suppenschildkröte. "Ich hatte keine Zeit. Ich war bei dem alten
Meister, einer alten Krabbe. Der unterrichtete Latein und
Griechisch", sagte der Greif.
"Und wieviele Stunden Unterricht hattet ihr pro Tag?", fragte Alice.
"Zehn Stunden am ersten Tag", zählte die Falsche
Suppenschildkröte auf, "dann wurden es von Tag zu Tag weniger:
neun am zweiten und so weiter." "Deshalb nennt man es auch
Unter-richt, weil die Stunden immer unter dem Richtwert des
Vortags lagen", erklärte der Greif jetzt noch genauer. "Das ist ja
eine interessante Planung", erwiderte Alice, "dann hattet ihr ja am
elften Tag schon frei! Und was habt ihr dann am zwölften Tag
gemacht?" "Genug über Schule und Unterricht geredet",
unterbrach der Greif die Unterhaltung. Stattdessen solle die
Falsche Suppenschildkröte Alice lieber noch andere Dinge aus
ihrem Schulalltag erzählen: "Jetzt erzähl ihr etwas über unsere
Spiele!"
Vogel Greif und die Falsche Suppenschildkröte erzählen vom Hummertanz
Die Schildkröte hielt ihre Flosse über die Augen, schaute Alice
seufzend an und sagte: "Du kennst Dich sicherlich nicht im Meer
aus und weißt daher auch nicht über das Leben der Hummer
Bescheid. Deshalb kannst Du auch nicht wissen, wie wunderschön
ein Hummertanz ist." "Nein, tatsächlich kenne ich mich nicht damit
aus. Was ist das für ein Tanz?", wollte Alice wissen.
Der Greif, der gerade sein Gefieder geputzt hatte, begann jetzt
geschäftig zu erzählen: "Zuerst stellen sich alle Tänzer in einer
Reihe entlang einer Sandbank auf." "In zwei Reihen!", unterbrach
ihn die Schildkröte und fuhr fort: "Seehunde, Schildkröten, Lachse
und so weiter. Wenn dann alle Quallen aus dem Weg geräumt sind,
gehen die Tänzer zwei Schritte vor. Jeder hat einen Hummer als
Tanzpartner. Also, zwei Schritte vor, dann den Hummer-
Tanzpartner wechseln, und in gleicher Weise zurück. Dann, weißt
du, dann wirfst du…" "Den Hummer!", rief der Greif dazwischen.
"Ja, den Hummer", fuhr die Schildkröte fort, "…mit Schwung aus
dem Meer in die Luft, so hoch du nur kannst, du schwimmst dann
im Meer hinterher, machst einen Purzelbaum unter Wasser, fängst
anschließend den Hummer wieder auf und schwimmst mit ihm an
Land. Das ist die erste Tanzformation des Hummertanzes."
Bei der Beschreibung waren die Falsche Suppenschildkröte und der
Greif wild herumgesprungen. Jetzt hatten sie sich beide wieder
hingesetzt und schauten Alice erwartungsvoll an. "Möchtest du den
Tanz lernen?", fragte die Falsche Suppenschlidkröte. "Ja, sehr
gerne!", sagte Alice. "Dann lass uns die erste Figur jetzt genau
vormachen", forderte die Falsche Suppenschildkröte den Greif auf.
"Wir können sie ohne Hummer machen, nicht wahr? Und wer soll
singen?" "Sing du, ich habe den Text vergessen!", antwortete der
Greif. Dann machten beide Tiere den Tanz vor und tanzten um
Alice herum, und die Falsche Suppenschildkröte sang getragen und
mit tiefer Stimme:
"Kannst du ein wenig schneller schwimmen?",
fragt der Schellfisch schnell die Schneck,
"Kommt ein Tümmler, gleich dahinten, fängt meinen Schwanz, das
ist sein Zweck!
Schau! Die Schildkröten und Hummer flugs vorausgegleitet sind,
Warten schon am Kieselufer - tanzt du mit mir wie der Wind?
Willst du, magst du, willst du, magst du, willst du tanzen wie der
Wind?
Willst du, magst du, willst du, magst du, willst du tanzen wie der
Wind?
Stell dir vor, mal dir das aus, wie entzückend es wird sein,
Wenn sie in die Luft uns werfen in das weite Meer hinein!"
Doch die Schnecke sagt: "Zu weit!", schaut den Schellfisch
skeptisch an,
"Danke gnädigst, nett gemeint, will nicht tanzen nach diesem
Plan."
Möcht nicht, kann nicht, möcht nicht, kann nicht, möcht nicht
tanzen nach diesem Plan.
Möcht nicht, kann nicht, möcht nicht, kann nicht, möcht nicht
tanzen nach diesem Plan."
"Was macht's schon aus wie weit wir fliegen?" antwortet ihr
shupp'ger Freund,
"Ist doch noch ein anderes Ufer auf der and'ren Seit.
Je weiter weg wir sind von hier, desto näher sind wir dort.
Drum mach nicht schlapp, geliebte Schneck, und tanze mit mir
fort!
Willst du, magst du, willst du, magst du, willst du tanzen wie der
Wind?
Willst du, magst du, willst du, magst du, willst du tanzen wie der
Wind?"
Schließlich waren beide ganz außer Atem, setzten sich wieder hin
und forderten Alice auf, auch von ihren Erlebnissen und
Abenteuern zu erzählen.
"Komm, jetzt erzähle du uns von deinen Abenteuern!", sagte der
Greif und Alice begann also damit, ihre Geschichte zu erzählen.
Doch sie musste zuerst sagen, sie könne nur die Geschichten von
heute erzählen und nicht die von gestern oder von davor, denn sie
sei ja seit dem heutigen Tag eine andere Person. "Was meinst Du
mit anderer Person? Erkläre uns das!", wollte die Schildkröte
wissen. "Nein, zuerst die Abenteuer!", rief der Greif. Alice begann
also von Anfang an alle Abenteuer zu erzählen, die sie erlebt hatte,
seit sie dem Weißen Kaninchen begegnet war, und als sie bei der
Geschichte mit der Raupe angekommen war, erzählte sie, dass ihr
die Worte beim Gedichtaufsagen alle falsch aus dem Mund
gekommen waren. Da unterbrach die Schildkröte ihre Erzählung
mit einem tiefen Atemzug. "Das ist interessant. Ich würde gerne
hören, wie sie etwas aufsagt. Sag ihr, sie soll etwas vortragen!",
sagte sie zu dem Greif.
"Steh auf und sag >Hier spricht die Schnecke< auf!", forderte der
Greif also Alice auf. "Wie einen hier die Tiere herumkommandieren
und Gedichte aufsagen lassen!", dachte Alice wieder einmal, "ich
komme mir vor wie in der Schule!" Doch sie stand trotzdem auf
und begann mit dem Gedichtvortrag. Ihr Kopf war voll mit dem
zuvor gehörten Hummertanzlied, so dass sie sich kaum
konzentrieren konnte und die Wörter wieder völlig verquer aus
ihrem Mund sprudelten:
"Hier spricht der Hummer", hört' ich ihn sagen,
"Muss zuckern mein Haar. Du hast mich zu braun gebraten!"
Und wie eine Ente ihr Gefieder, putzt er mit der Nase
Sich Gürtel und Knöpfe und stellt die Schwanzzeh ins Grase.
"Kannst Du mir das erklären?", fragte die Falsche
Suppenschildkröte. "Nein, sie kann das nicht erklären!", antwortete
der Greif und wandte sich dann Alice zu: "Fahr fort mit der
nächsten Strophe! Sie beginnt mit >Ich ging durch seinen Garten
Alice fuhr also fort:
Ich ging durch seinen Garten, will gerade verweilen,
Da seh ich wie sich Eule und Panther einen Kuchen teilen.
Alice brach ihren Vortrag gleich wieder ab, seufzte tief und nach
einigen Sekunden Stille fragte der Greif: "Sollen wir dir noch die
zweite Figur vom Hummertanz zeigen, oder willst du lieber, dass
die Schildkröte dir ein Lied vorsingt?" "Oh ja, ein Lied! Bitte, wenn
die Schildkröte so freundlich wäre!", sagte Alice so eifrig, dass der
Greif in beleidigtem Ton antwortete: "Nun ja, gegen Geschmack ist
kein Kraut gewachsen", und er forderte die Schildkröte auf, sie
solle das Lied von der Schildkrötensuppe singen. Während die
Schildkröte ihr trauriges Lied sang, tönte eine laute Stimme zu
ihnen: "Der Gerichtsprozess beginnt!"
"Komm, wir gehen!", sagte der Greif jetzt eilig zu Alice und zog sie
an der Hand mit sich fort, ohne noch das Ende des Liedvortrags der
Schildkröte abzuwarten. "Was ist das für ein Gerichtsprozess?",
fragte Alice atemlos. "Los, komm!", antwortete der Greif kurz
angebunden und rannte noch schneller mit ihr fort, während der
Wind ihnen die traurigen Liedverse der Schildkröte hinterher
wehte.
Alices Abenteuer im königlichen Gerichtssaal oder ist Herzbube der Kuchendieb?
Als Alice und der Greif ankamen, saßen der König und die Königin
bereits auf ihrem Thron und im Gerichtssaal war eine große
Menschenmenge versammelt. Alle waren anwesend: verschiedene
Vogel- und Kleintierarten, darunter einige Meerschweinchen, sowie
das gesamte Kartenspiel. Direkt vor dem Richterstuhl und dem
Königspaar stand der in Ketten gelegte Herzbube, rechts und links
von ihm zwei Wachsoldaten. Auch das Weiße Kaninchen war da,
mit einer Trompete in der einen und einer Pergamentrolle in der
anderen Hand.
In der Mitte des Saales, direkt vor dem Richterstuhl, war ein langer
Tisch aufgebaut, auf dem ein Tablett mit kleinen Kuchen stand.
Das Gebäck sah so appetitlich aus, dass Alice hoffte, der Prozess
wäre schnell zu Ende und es würden bald die Erfrischungen
gereicht.
Aber das würde noch eine Weile dauern, also verbrachte sie ihre
Zeit damit, sich umzuschauen.
"Das ist bestimmt der Richter, ich erkenne ihn an seiner langen
weißen Richterperücke", sagte sie bei sich. Der Richter war im
Übrigen der König selbst, der sich auf die Perücke noch seine Krone
gesetzt hatte und damit ziemlich unbequem aussah. "Aha!, hier
auf der langen Bank an der Seite saßen also die Geschworenen",
stellte Alice weiter fest. Es waren alles kleine Tiere und
verschiedene Vogelarten. Alice wunderte sich, was die zwölf
Geschworenen schon schrieben, bevor der Prozess überhaupt
begonnen hatte. Deshalb fragte sie flüsternd den Greif: "Was tun
sie denn?" "Sie schreiben sich ihre Namen auf, weil sie Angst
haben, dass sie die bis zum Ende des Prozesses wieder vergessen
haben", antwortete der Greif leise. "Blödsinn", platzte da Alice
ganz laut heraus. Doch sie war sofort wieder still, denn schon
hatten sich alle nach ihr umgedreht, um zu sehen, wer es gewagt
hatte, im Gerichtssaal ohne Aufforderung zu sprechen, und das
Weiße Kaninchen rief streng: "Ruhe im Gerichtssaal!" "Verlies die
Anklage!", forderte der König jetzt das Weiße Kaninchen auf. Das
blies zuerst drei Mal in die Trompete und rollte anschließend
gewichtig die Pergamentrolle auf:
"Herzkönigin buk Törtchen
An einem Sommertag,
Herzbube stahl sie alle,
Weil er sie so sehr mag!"
"Jetzt fällt das Urteil!", sagte der König zu den Geschworenen.
"Nein! Noch nicht, noch nicht! Zuerst kommen noch andere Dinge",
erinnerte ihn das Weiße Kaninchen. "Gut, ruf den ersten Zeugen!",
forderte ihn also der König stattdessen auf, und das Weiße
Kaninchen blies wieder drei Trompetenstöße. Danach rief es: "Der
erste Zeuge in den Zeugenstand!" Der erste Zeuge war der
Hutmacher.
Er kam mit seinem riesengroßen Zylinderhut auf dem Kopf, einer
Tasse Tee in der einen Hand und einem Butterbrot in der anderen
in den Gerichtssaal gestürzt. Hinter ihm folgten Arm in Arm die
zierliche Schlafmaus und der Märzhase. Die Schlafmaus hatte eine
ganz spitze Schnauze und große Augen und Ohren. Der Hutmacher
erklärte seinen sonderbaren Auftritt damit, dass er noch beim
Teetrinken gewesen war, als er gerufen wurde. "Mach deine
Aussage!", forderte ihn der König kurz angebunden auf. "Und sei
nicht so nervös oder ich lasse dich auf der Stelle hinrichten!"
Tatsächlich konnte der Hutmacher vor Aufregung nicht still stehen,
zappelte von einem Bein auf das andere, ja biss sogar in seine
Teetasse anstatt in sein Butterbrot und linste stets zur Königin
hinüber. Noch schlimmer aber wurde seine Aufregung, als ihn die
Königin, nun aufmerksam geworden, genauer ins Visier nahm. Da
wurde er sogar blass vor Angst und begann, am ganzen Leib zu
zittern.
Alice schaute diesem eigenartigen Auftritt interessiert zu, dabei
hatte sie selbst zunehmend ein sehr komisches Gefühl. Sie merkte,
dass sie wieder zu wachsen begann. Die neben ihr sitzende
Haselmaus beschwerte sich schon, dass es ihr zu eng würde und
sie kaum mehr atmen könne, wechselte dann sogar ihren Sitzplatz,
doch Alice wuchs und wuchs und konnte nichts dagegen
unternehmen. Die Königin hatte den Hutmacher unterdessen
pausenlos beobachtet. Gerade als die Haselmaus soeben den Platz
wechselte, sagte die Königin zu einem der Gerichtsdiener: "Bring
mir doch mal die Namensliste der Sänger vom letzten Hofkonzert!"
Da bebte und schüttelte es den Hutmacher dermaßen, dass seine
Füße sogar aus seinen Schuhen herausschlotterten und er nun
noch viel weniger imstande war, auf die erneute Frage des
königlichen Richters zu antworten. Dann begann er stotternd: "Ich
hatte gerade meinen Tee ausgetrunken", dabei warf er schnell
noch einen ängstlichen Blick auf die Königin, die mittlerweile
bereits die Namensliste der Sänger durchschaute. Dann warf er
sich auf die Knie und sagte: "Ich kann mich nicht mehr erinnern!".
Die Meerschweinchen grunzten Beifallsrufe und der gesamte
Gerichtssaal wurde unruhig. Sofort schritten die Gerichtsdiener ein,
steckten die Meerschweinchen in Säcke, banden sie über dem Maul
der Tiere mit Schnüren zusammen und setzten sich anschließend
darauf, so dass sofort wieder Ruhe einkehrte. "Du kannst gehen,
du bist ein sehr schlechter Redner", sagte der König zum
Hutmacher. Das ließ sich der Hutmacher natürlich nicht zweimal
sagen. Er lief sogleich aus dem Saal und war auch schon auf und
davon.
Nur seine Schuhe blieben da zurück, wo er im Gerichtssaal
gestanden hatte. "Haut ihm seinen Kopf ab!", rief die Königin ihren
draußen postierten Gerichtsdienern zu, doch der Hutmacher war
schon außerhalb der Sichweite auf und davon. "Rufe den nächsten
Zeugen!", forderte der König wieder das Kaninchen auf. Jetzt kam
die Köchin der Herzogin herein mit ihrer Pfefferdose in der Hand.
Sogleich begannen einige am Eingang sitzende Besucher laut zu
niesen. "Mach Deine Aussage!", befahl der König der Köchin. "Mag
nicht!", sagte die Köchin. Der König schaute ängstlich das Weiße
Kaninchen an, das ihm leise zuflüsterte: "Diese Zeugin müssen sie
ins Kreuzverhör nehmen." "Nun gut, was sein muss, muss sein",
sagte der König. Er verschränkte umständlich seine Arme auf der
Brust und schaute die Köchin dann lange und finster an. Schließlich
fragte er sie mit tiefernster Stimme: "Aus welchen Zutaten wird
Kuchen zubereitet?" "Hauptsächlich aus Pfeffer", antwortete die
Köchin. "Karamell", sagte die schläfrige Stimme der Maus hinter
ihr. "Packt die Haselmaus am Kragen!", kreischte die Königin, "und
werft sie aus dem Gerichtssaal! Stecht sie! Kopf ab! Weg mit ihren
Schurrbarthaaren, hinaus mit dem Störenfried!" Eine Weile lang
war jetzt der gesamte Gerichtssaal in heller Aufregung, um die
Schlafmaus aus dem Saal zu befördern. Als sich endlich alle wieder
beruhigt hatten, war mittlerweile die Köchin verschwunden. "Nun
gut, das macht nichts, ruf den nächsten Zeugen!", sagte der König
großzügig zum Kaninchen.
Alice beobachtete das Weiße Kaninchen, wie es mit seiner
Zeugenliste herumhantierte und war neugierig, wer als nächstes in
den Zeugenstand kommen würde, denn sie dachte bei sich, dass
das Gericht bisher ja mit der Aufklärung des Falles überhaupt nicht
weitergekommen war. Da vernahm sie das schrill klingende
Stimmchen des Weißen Kaninchens: "Alice, bitte in den
Zeugenstand!"
Alice deckt die Karten auf
"Hier bin ich!", rief Alice und war bereits aufgestanden. Sie hatte in
der Aufregung vergessen, wie groß sie in den letzten Minuten
gewachsen war. Leider hatte sie jetzt nämlich mit ihrem Rocksaum
die ganze Geschworenenbank umgeworfen, so dass alle Tiere auf
die Versammlung heruntergepurzelt waren und kreuz und quer am
Boden lagen.
Sie erinnerte sich an ihre Goldfische, die sie vergangene Woche
zuhause aus Versehen aus dem Goldfischglas geworfen hatte, als
es umgefallen war. "Oh, das tut mir leid!", entschuldigte sie sich
bestürzt und half allen, wieder aufzustehen. Sie hatte das Gefühl,
dass sie ihnen schnell helfen müsste, damit sie nicht starben.
"Die Verhandlung wird unterbrochen, bis alle, ich sagte, alle
Geschworenen, wieder auf ihren Plätzen sind", sagte der König in
strengem Ton und mit einem bösen Seitenblick auf Alice. Endlich
hatten alle ihre Plätze wieder eingenommen, ihre Täfelchen und
ihre Kreidestückchen wieder in der Hand, und der Prozess konnte
fortgesetzt werden. Die Geschworenen waren bereits eifrig damit
beschäftigt, den genauen Unfallhergang zu protokollieren, da
begann der König mit der Befragung: "Was weißt Du über diese
Sache mit dem Kuchen?", fragte der König Alice. "Nichts, gar
nichts", erwiderte Alice.
"Das ist sehr wichtig!", sagte da der König zu den Geschworenen.
Sie schrieben es eifrig auf ihre Täfelchen, da unterbrach das Weiße
Kaninchen respektvoll und sagte: "Unwichtig, meint Eure Majestät
natürlich!" "Ja, unwichtig!", berichtigte der König hastig und fuhr
leise fort, vor sich hinzusagen: "Wichtig, unwichtig, wichtig,
unwichtig!?", als ob er ausprobieren wollte, welches Wort besser
klang. Jeder Geschworene notierte jetzt etwas anderes,
entsprechend dem, was er gerade hörte.
Dann rief der König: "Ruhe im Saal! Verordnung Nummer
zweiundvierzig: 'Jeder, der größer ist als einen Kilometer, muss den
Gerichtssaal verlassen'." Alle Augen richteten sich auf Alice. "Ich
bin doch keinen Kilometer groß", sagte Alice. "Doch!", sagte der
König. "Sogar mehr als zwei Kilometer!", fügte jetzt die Königin
hinzu.
"Nun, ich mag jedenfalls nicht weggehen", sagte Alice, "abgesehen
davon ist das keine gültige Vorschrift, denn sie wurde eben erst
erfunden." "Es ist im Gegenteil die älteste Verordnung im ganzen
Buch", verteidigte der König seine Forderung. "Na, dann müsste es
ja die Verordnung Nummer eins sein", bestand Alice auf ihrer
Meinung.
Der König wurde kreideblass und klappte eilig sein Notizbuch zu.
"Wie lautet euer Urteil?", fragte er dann die Geschworenen. Da
sprang das Weiße Kaninchen auf und bemerkte hastig: "Es wurde
neues Beweismaterial gefunden. Einer der Geschworenen hat
einen Brief bei sich, der das Geheimnis zu lüften verspricht!" "Nun
gut, was enthält er?" fragte die Königin. "Ich habe ihn noch nicht
geöffnet und es steht nichts auf dem Briefumschlag. Doch ist es
offenbar ein Brief, den der Angeklagte an jemanden geschrieben
hat." "An wen ist er denn adressiert?", wollte einer der
Geschworenen wissen. "Er ist an niemanden adressiert…",
antwortete das Kaninchen, während es den Brief bereits
auseinanderfaltete, "…und auch nicht in der Handschrift des
Angeklagten verfasst. Ach!", sagte es da, als es den Umschlag
geöffnet hatte: "Es ist auch nicht einmal ein Brief, sondern nur eine
Ansammlung von Versen." "Der Angeklagte wird die Handschrift
eines anderen imitiert haben. Lies vor!", forderte der König. Das
Weiße Kaninchen setzte seine Brille auf und wollte vorlesen, da
meldete sich der Herzbube zu Wort: "Ihre Majestät, mit Verlaub!
Ich habe diesen Brief nicht verfasst und niemand kann beweisen,
dass ich es getan habe, weil er nicht unterschrieben ist!" "Du hast
den Brief nicht unterschrieben? Dann ist es umso schlimmer!",
sagte der König nur. "Hättest Du also keinen Unfug im Sinn gehabt,
hättest Du ihn unterschrieben, wie jeder andere ehrliche Mann!"
Alle Anwesenden im Gerichtsaal klatschten Beifall, denn das war
der erste lange Satz, den der König an diesem Tag gesagt hatte.
"Das beweist erst recht seine Schuld!", meldete sich die Königin
wieder zu Wort. "Nein, das stimmt nicht. So geht das nicht! Das
beweist überhaupt nichts. Ihr wisst ja noch nicht einmal was drin
steht!", protestierte Alice. "Lies ihn vor!", forderte jetzt der König
das weiße Kaninchen auf. Das schob seine Brille höher auf die Nase
und fragte den König: "Mit Verlaub, wo soll ich anfangen zu lesen,
Eure Majestät?" "Beginne am Anfang", antwortete der König ernst,
und lies bis zum Ende. Dort hörst Du auf."
Dies waren die Verse, die das Weiße Kaninchen verlas:
Sie sagten mir, du warst bei ihr
Und erwähntest Folgendes bei ihm:
Sie gab ein freundlich Wesen mir,
Doch ich kann nicht schwimmen.
Er gab sein Wort, ich sei nicht fort,
(Wir wissen, das trifft zu!)
Falls sie die Sache weitertreibt,
Was machst denn dann du?
Ich gab ihr ein, sie gaben ihm zwei Stück,
Du gabst uns drei und mehr;
Sie alle kamen zu dir zurück
Sind dein jetzt wieder.
Wenn ich, wenn sie, also verwickelt sei,
Verwickelt sei in die Affär',
Bittet er dich, lass sie frei
Wie uns, nichts weiter sonst, nichts mehr.
Mein Eindruck war, dass du damals,
(Als sie den Anfall hatte),
Ein Hindernis gebildet hast
Für ihn und uns und es.
Erzähl's ihm nicht, sie mocht sie sehr!
Deshalb auf ewig sei versprochen,
Ein Geheimnis bleibt's,
Zwischen Dir und mir, das nie gebrochen…
"Das ist das wichtigste Beweisstück, das uns bisher vorgelegen
hat. Das Gericht soll nun sein Urteil fällen", sagte der König
zufrieden, indem er sich die Hände rieb. "Wie lautet also euer
Urteil?", fragte er die Geschworenen. "Wenn irgendjemand der hier
Anwesenden erklären kann, was in diesen Versen steht, dann
heiße ich Egon", mischte sich jetzt Alice ein, die mittlerweile so
gross gewachsen war, das sie überhaupt kein bisschen Angst mehr
hatte, "es steckt kein Deut Sinn in dem Text, ja, es ist sogar
kompletter Unsinn!" Die Geschworenen fuhren unterdessen fort,
alles aufzuschreiben, was gesagt wurde, und keiner machte einen
weiteren Kommentar oder versuchte, den Text zu erklären.
"Also", sagte der König, während er die Verse studierte und
gleichzeitig vor sich hinmurmelte: ">Ich gab ihr eins, sie gaben
ihm zwei<, das ist es doch, was er mit den Törtchen gemacht hat,
jetzt weißt du es!" "Aber es geht noch weiter: >Sie kamen alle von
ihm zu dir zurück<", verteidigte Alice den Herzbuben weiterhin.
"Na, hier sind sie ja auch", triumphierte der König, indem er auf die
große Platte voller kleiner Kuchen zeigte. Er ließ nun seinen Blick
durch den ganzen Saal schweifen und lächelte milde. Dann sagte
er ungefähr zum zwanzigsten Mal am heutigen Tage: "Hiermit
fordere ich die Geschworenen auf, ihr Urteil zu sprechen!" "Nein,
nein, zuerst die Strafe, dann das Urteil!", kreischte die Köngin
dazwischen.
"Jetzt aber Schluss mit dem Gefasel! Wo gibt es denn so etwas!
Zuerst muss natürlich das Urteil kommen!", unterbrach Alice jetzt
mit lauter, sicherer Stimme. "Halt die Klappe!", erwiderte die
Königin, die über und über purpurrot angelaufen war. "Das werde
ich nicht tun!", entgegnete ihr Alice fest. Außer sich vor Wut, schrie
da die Königin: "Ab mit ihrem Kopf!"
"Ach, wer schert sich denn schon um Euch. Ihr seid doch nur ein
Haufen Karten!", setzte ihr Alice diesmal noch entschlossener
entgegen, denn mittlerweile war sie zu ihrer vollen Grösse
emporgewachsen und hatte kein bisschen mehr Angst. "Raus,
hinweg mit ihr!", schrie die Königin mit sich überschlagender
Stimme. Aber niemand bewegte sich im Saal. Dann ging plötzlich
ein Luftzug durch den Raum und im gleichen Moment erhob sich
das gesamte Kartenheer, es flog in die Luft, sammelte sich dort
und stürzte sich dann auf Alice. Alice versuchte, die Karten
wegzuscheuchen, schlug nach ihnen, rannte aus dem Gerichtssal
auf und davon, purzelte, schwamm, flog und stieß dann einen
Schrei aus, halb aus Angst, halb aus Wut, weil sie die Karten nicht
los wurde und eine schon ihre Wange streifte.
Alice wieder auf der Wiese bei ihrer Schwester Celia
Alice spürte eine Hand in ihrem Gesicht. Es war die Hand ihrer
älteren Schwester, die sie weckte und ihr gerade ein paar vom
Baum gefallene Blätter aus dem Gesicht strich. "Wach auf!", sagte
sie zu Alice. "Wie lange du geschlafen hast!" Alice fand sich im
Schoß ihrer Schwester Celia auf der Wiese liegend wieder.
Sie hörte das Gras im Wind wiegen und sah, wie sich das Wasser
im Fluss kräuselte und das Schilfrohr am Ufer sich hin- und herbog.
In der Ferne hörte sie Schafschellen klingen und das Muhen von
Kühen, das von einem nahe gelegenen Bauernhof herüberdrang.
"Ich hatte einen sonderbaren Traum!", sagte Alice und erzählte
ihrer Schwester von ihren Abenteuern, die ihr eben gehört habt.
War das alles ein Traum gewesen? Oder hatte sie diese Abenteuer
wirklich erlebt? Alice grinste wie ein Honigkuchenpferd.
Jedenfalls hat keiner bisher das Wunderland auf unserem Globus
entdeckt, und doch waren nach Alice noch viele Kinder und
Erwachsene dort und haben danach von zauberhaften Erlebnissen
berichtet.