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Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen
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Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen
Eine Diskussionsgrundlage zur klimapolitischen Debatte
Stand: Februar 2019
Etwa die Hälfte aller energiebedingten Treibhausgasemissionen in Deutschland sind der
Energiewirtschaft zuzuschreiben [1]. Die Reduktion dieses Bestandteils ist schon seit Jahren ein
zentraler Baustein der energiepolitischen Agenda zur Erreichung der Pariser Klimaschutzziele. Der
Ausbau der Erneuerbaren Energien stellt dabei nur eine Maßnahme zur Reduktion der
Emissionsintensität von Strom dar. Darüber hinaus gilt es den bestehenden, fossilen Kraftwerkspark in
Einklang mit den Emissionsreduktionszielen zu bewirtschaften. Vor dem Hintergrund, dass es sich bei
dem Ausbau von Windturbinen und Photovoltaikanlagen um einen Prozess handelt, der mit
verschiedenen Systemanpassungen wie beispielsweise einem adäquaten Netzausbau einhergeht, wird
dieser Umbau nicht von heute auf morgen geschehen. Der fossile Kraftwerkspark wird noch über viele
Jahre einen sinkenden, aber bedeutsamen Anteil an der Stromerzeugung haben. Aufgrund der
deutlichen Unterschiede in den Emissionsfaktoren der verfeuerten Brennstoffe und der
unterschiedlichen Nutzungsgrade der Kraftwerke ist es aus Emissionssicht nicht unerheblich, welche
Brennstoffe und Kraftwerkstypen zum Einsatz kommen. Zentral ist an dieser Stelle das Prinzip der
„Merit-Order“, der sogenannten Reihung nach Wert. Bei der Merit-Order der Stromerzeugung handelt
es sich um eine Aneinanderreihung der Kraftwerkskapazitäten nach Grenzkosten. In einem perfekten,
liberalisierten Markt könnte der Einsatz der Kraftwerke durch einen senkrechten Schnitt auf Höhe der
Residuallast (Stromnachfrage minus Erzeugung aus fluktuierenden Erneuerbaren) des jeweiligen
Zeitpunktes bestimmt werden. Der reale Strommarkt sieht jedoch anders aus: Technische
Restriktionen, Eigenverbrauchsoptimierungen, Verfeuerung von Abfall oder Reststoffen, Deckung von
Fernwärmebedarfen sowie regulatorische Anreize (z. B. vermiedene Netznutzungsentgelte oder die
Förderung nach KWK-Gesetz) führen zu einem Kraftwerkseinsatz, der nicht allein durch den
Grenzkostenansatz des Merit-Order-Prinzips zu erklären ist. Nichtsdestotrotz besitzt die Merit-Order
als Erklärung für die grundsätzliche Funktionsweise des Strommarkts ihre Gültigkeit. So auch zur
nachfolgenden Analyse von regulatorischen Eingriffen mit dem Ziel einer Treibhausgasminderung der
Stromerzeugung.
Zur Einhaltung der Klimaziele sind häufig Instrumente zur Erhöhung der Kosten für die Emission einer
Tonne CO2 im Gespräch. Für eine Umsetzung sind verschiedene Wege denkbar und finden teilweise in
anderen europäischen Ländern bereits Anwendung:
Anpassung der Zertifikatpreise des EU ETS (European Union Emissions Trading System) durch
eine Verknappung der im Umlauf befindlichen Zertifikatsanzahl
Ein europäischer CO2-Mindestpreis
Eine nationale CO2-Steuer/-Abgabe
All diese Ansätze zielen im Kern darauf ab, die Zertifikatspreise zu erhöhen, um eine stärkere CO2-
Reduktion herbeizuführen. Während sich die Preise im Zeitraum von 2015 bis 2017 in der
Größenordnung 5-10 €/t bewegten, ließ sich in 2018 eine Steigerung auf im Mittel 16 €/t beobachten.
Die Ursache dieses Preisanstiegs liegt hauptsächlich in der im November 2017 vom Europäischen Rat
und Parlament verabschiedeten Reform des EU ETS für die vierte Handelsperiode. Die Reform sieht
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u.a. eine Stärkung der Marktstabilitätsreserve sowie einer Erhöhung des linearen Reduktionsfaktors
von 1,74 auf 2,2 % vor und zielt damit auf eine deutlich schnellere Verknappung der ausgegebenen
Emissionszertifikate ab.
Als alternative Maßnahme zur Emissionsreduktion ist seit langem ein Kohleausstieg im Gespräch
gewesen, der eine schrittweise, gesetzlich vorgegebene Außerbetriebnahme von Kohlekraftwerken
beinhaltet. Auch hier hat sich im Laufe des Jahres 2018 einiges getan, so dass Ende Januar 2019 die
von der Bundesregierung beauftragte Kohlekommission einen Kohleausstieg bis in das Jahr 2038 als
Empfehlung ausgesprochen hat [2].
Mit einem Blick auf die Emissionen nach Merit-Order wird deutlich, wieso diese Maßnahme aus Sicht
des Klimaschutzes durchaus seine Berechtigung hat. In Abbildung 1 wird durch die Gegenüberstellung
der Merit-Order nach Grenzkosten und den dazugehörigen Emissionsfaktoren der Kraftwerke das
Emissions-Dilemma der Merit-Order verdeutlicht. Die Berechnung der Grenzkosten und der CO2-
Emissionsfaktoren der Stromerzeugung basiert auf den brennstoffbezogenen Emissionsfaktoren aus
[3] sowie den Brutto-Wirkungsgraden, Brennstoff- und CO2-Kosten aus dem Projekt „Dynamis“ [4].
Abbildung 1: Gegenüberstellung der Merit-Order nach Grenzkosten mit den energie- und
betriebsbedingten CO2-Emissionsfaktoren der Kraftwerke im Jahr 2015; Anmerkung:
Analog zu den Grenzkosten werden auch die Emissionen, die im KWK-Betrieb anfallen,
gänzlich der Stromerzeugung zugeschrieben1. Datenquelle: FfE-Kraftwerksdatenbank
Werden die rein betriebsbedingten Emissionen betrachtet, so zeigt sich, dass – mit Ausnahme der
Kernenergie – emissionsintensive Brennstoffe aufgrund ihrer niedrigen Grenzkosten bevorzugt zur
Stromerzeugung eingesetzt werden. Selbst hocheffiziente Gas- und Dampfturbinenkraftwerke (GuD)
1 Es ist zu beachten, dass nur die energiebedingten CO2-Emissionen im Betrieb berücksichtigt werden, nicht jedoch Emissionen, die für die Brennstoffbereitstellung und die Infrastruktur anfallen. Da in der klassischen Merit-Order-Darstellung die Grenzkosten von Kraft-Wärme-Kopplungs (KWK)-Anlagen nicht auf die Energieträger Strom und Wärme aufgeteilt werden, erfolgt aus Konsistenzgründen auch für die Darstellung der Emissionen keine Allokation auf die Koppelprodukte. Hierdurch erklären sich die hohen Emissionen am Ende der jeweiligen Brennstoffgruppen.
Kraftwerkskapazität in GW
Gre
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n in €
/MW
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kommen nach Merit-Order-Prinzip erst nach emissionsintensiveren Steinkohlekraftwerken zum
Einsatz. Besteht kein weiterer Betriebsanreiz, wie beispielsweise die Versorgung eines
Fernwärmenetzes, können die in den letzten Jahren zurückgehenden Residuallasten auf unter
max. 67 GW (2017) dazu führen, dass diese Kraftwerke aufgrund sinkender Betriebsstunden und
Deckungsbeiträge häufig nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden können. Ein prominentes Beispiel
stellt das GuD Irsching dar. In Anbetracht der verhältnismäßig geringen spezifischen Emissionen dieses
Kraftwerkstyps ist die Motivation für einen regulatorischen Eingriff aus klimapolitischer Sicht gegeben.
Denn auch in Zukunft (siehe Abbildung 2 und Abbildung 3) stellt sich, mit der hinterlegten
Brennstoffpreisentwicklung und einer angenommenen Steigerung der mittleren Zertifikatspreise von
7,6 €/t in 2015 auf 20,1 €/t in 2020 und 41,8 €/t in 2030, noch kein vollständiger Tausch der
Brennstoffe Kohle und Gas (ein sogenannter „Fuel-Switch“) ein. Jedoch lässt sich bereits eine
Verschiebung der Braun- und Steinkohlekraftwerke in der Merit-Order beobachten.
Abbildung 2: Gegenüberstellung der Merit-Order nach Grenzkosten mit den energie- und
betriebsbedingten CO2-Emissionsfaktoren der Kraftwerke im Jahr 2020 für das
„Dynamis Startszenario“ [4]; analog zu Abbildung 1 findet keine Allokation der Kosten
und Emissionen aus dem KWK-Betrieb statt. Datenquelle: FfE-Kraftwerksdatenbank
Für das Jahr 2020 ist zu erkennen, dass der CO2-Zertifikatspreis von 20,1 €/t zu einer deutlichen
Angleichung der Grenzkosten zwischen gas- und kohlebefeuerten Kraftwerke führt. Obwohl kein „Fuel-
Switch“ stattfindet, ist herauszustellen, dass sich die Deckungsbeiträge annähern und vor dem
Hintergrund stärker fluktuierender Residuallasten die frühere Grundlast-Charakteristik der
Kohlekraftwerke nicht mehr für alle Erzeugungseinheiten gegeben ist. Der Vergleich zur Merit-Order
des Jahres 2030 zeigt, dass die Außerbetriebsetzungen besonders alter kohlegefeuerter Anlagen im
Zeitraum 2020 bis 2030 sinnvoll erscheint, da diese unter den getroffenen Annahmen höhere
Grenzkosten als effiziente GuD-Kraftwerke hätten. Würden Sie nicht außer Betrieb genommen,
gelängen sie in einen Betriebsbereich, für den diese Kraftwerkstypen aufgrund der zahlreichen An- und
Abfahrvorgänge nur begrenzt geeignet sind.
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Abbildung 3: Gegenüberstellung der Merit-Order nach Grenzkosten mit den energie- und
betriebsbedingten CO2-Emissionsfaktoren der Kraftwerke im Jahr 2030 für das
„Dynamis Startszenario“ [4]; analog zu Abbildung 1 findet keine Allokation der Kosten
und Emissionen aus dem KWK-Betrieb statt. Datenquelle: FfE-Kraftwerksdatenbank
Vor- und Nachteile der CO2-Reduktion im Stromsektor durch einen
CO2-Preis im Vergleich zu einem Kohleausstieg
Wie eingangs erläutert, bestehen verschiedene Ansätze, um einen emissionsreduzierten Einsatz des
fossilen Kraftwerksparks anzureizen. Mögliche Konsequenzen der beiden Strategien „CO2-Preis“ und
„Kohleausstieg“ werden im Folgenden anhand ihrer Auswirkungen auf die Merit-Order diskutiert.
Vereinfachend werden die verschiedenen Möglichkeiten zur Festsetzung der Kosten für eine emittierte
Tonne CO2, wie bspw. ein nationaler Mindestpreis oder eine CO2-Steuer, als „CO2-Preis“
zusammengefasst.
CO2-Preis:
Ausgehend von dem Startszenario aus dem Projekt „Dynamis“ mit einem CO2-Preis von 41.8 €/t im
Jahr 2030 zeigt Abbildung 3, wie sich die Merit-Order bei einer Erhöhung des CO2-Preises auf 60 €/t
bzw. 90 €/t verschiebt. Dabei ist zu beachten, dass die Analysen aus dem Projekt „MOS 2030“ [5]
zeigen, dass im Jahr 2030 Residuallasten größer als 50 GW nur an weniger als 500 Stunden im Jahr zu
erwarten sind. Werden Im- und Exporte mitberücksichtigt, so reduziert sich dieser Wert auf unter
10 Stunden. Um Gaskraftwerken einen nennenswerten Anteil an der Stromerzeugung nach Merit-
Order zu ermöglichen, wäre somit eine weitere Erhöhung des CO2-Preises nötig. So tauschen bei 60 €/t
bereits ein Teil der Kohle- und Gaskraftwerke ihre Positionen in der Merit-Order. Bei einer weiteren
Erhöhung des CO2-Preises auf 90 €/t stellen GuD-Kraftwerke die Technologie mit den niedrigsten
Grenzkosten dar.
Die CO2-Preiserhöhung hat gleichzeitig den Effekt, dass die Steigung der Merit-Order-Kurve im linken
und mittleren Bereich abflacht. Aufgrund des Preisbildungsmechanismus des einheitlichen
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Markträumungspreises am Strommarkt führt dies zunächst zu sinkenden Deckungsbeiträgen (DB) der
Kohlekraftwerke, wie es in der schematischen Darstellung in Abbildung 4 für eine erzeugende
Kapazität von 30 GW beispielhaft dargestellt ist. Daher ist es wahrscheinlich, dass ein Teil der
Kohlekraftwerke bei steigenden CO2-Preisen noch vor dem eigentlichen „Fuel-Switch“ aus dem Markt
fallen, da die gegenüber anderen Kraftwerkstypen verhältnismäßig hohen Fixkosten nicht mehr
gedeckt werden können. Zudem führt ein Abflachen der Merit-Order zu einer Verringerung der
typischen Preisunterschiede im zeitlichen Verlauf („Spreads“) und damit zu niedrigeren Anreizen für
den Betrieb von klassischen Strom- zu Strom-Speichern wie beispielsweise Pumpspeicherkraftwerken.
Diese These gilt jedoch nur so lange, bis Erneuerbare an vielen Stunden im Jahr zu den preissetzenden
Einheiten werden. Analysen aus dem Projekt Dynamis zeigen jedoch, dass dies im europäischen
Kontext selbst bei einem EE-Anteil von über 80 % nur an weniger als 1000 Stunden im Jahr der Fall sein
wird.
Ein großer Vorteil des CO2-Preises besteht in der Marktorientierung und Kraftwerksneutralität, da kein
direktes Betriebsverbot für einzelne Betreiber gilt, sondern der Eingriff über ein Preissignal im
bestehenden Markt erfolgt. Eine kosteneffiziente Marktlösung wird damit ermöglicht. Jedoch gilt es zu
beachten, dass nach aktuellem Marktdesign die Grenzkosten des letzten, laufenden Kraftwerks
preissetzend sind. Dies bedeutet, dass eine Erhöhung des CO2-Preises auch mit einer
Strompreissteigerung einhergeht. Gegenläufig würde durch diesen Effekt die EEG-Umlage sinken, da
die Erneuerbaren bei ihrer Vermarktung höhere Erlöse erzielen und die durch die EEG-Abgabe zu
schließende Lücke zur zugesicherten Förderung verringert wird. Um eine Netto-Kostensteigerung für
den Stromendkunden zu vermeiden, müsste ein Rückfluss der staatlichen Erlöse durch den CO2-Preis
in den Strommarkt gewährleistet sein. Dies kann beispielsweise durch eine entsprechende Reduktion
der Stromsteuer oder anderer Abgaben und Umlagen geschehen.
Würde es sich um eine nationale CO2-Abgabe handeln, würden ausländische Kraftwerke einen
Kostenvorteil am europäischen Strommarkt sehen und damit Strom aus CO2-intensiver Erzeugung im
Ausland für den deutschen Markt attraktiver werden. Die Einsatzzeiten von Kraftwerken im Inland
würden entsprechend abnehmen. Ein Teil der Emissionen wäre aus europäischer Sicht nur verlagert.
Erfolgt die Erhöhung des CO2-Preises außerhalb des EU ETS, z. B. durch eine CO2-Steuer, ist zudem die
Wechselwirkungen dieses Instruments mit den Mechanismen des EU ETS zu berücksichtigen. So
könnte eine CO2-Steuer zunächst zu sinkenden Zertifikatspreisen führen und damit der
emissionsmindernde Effekt abgeschwächt werden.
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Abbildung 4: Effekt einer Erhöhung des CO2-Preises auf die Merit Order im Jahr 2030; analog zu
Abbildung 1 findet keine Allokation der Kosten und Emissionen aus dem KWK-Betrieb
statt. Datenquelle: FfE-Kraftwerksdatenbank
Kohleausstieg:
Im Gegensatz zu einer Veränderung der CO2-Bepreisung, welche sich auf die Höhe der Grenzkosten
auswirkt und damit zu einer Neuordnung der Kraftwerksreihenfolge führt, wirkt sich ein Kohleausstieg
ausschließlich auf die installierten Kraftwerkskapazitäten aus. Das Ziel dieser Maßnahme ist – analog
zu einem CO2-Preis – eine Verschiebung emissionsärmerer Kraftwerke nach links in der Merit-Order
und damit in den Bereich höherer Volllaststunden.
In Abbildung 5 wird der Effekt einer Abschaltung gemäß des Kohleausstiegspfades nach
Kohlekommission [2] gegenüber dem „Dynamis Startszenario“, welches sich auf den
Netzentwicklungsplan (Szenario B) stützt, aufgezeigt.
CO2-Preis: 42 €/t
CO2-Preis: 60 €/t
CO2-Preis: 90 €/t
Deckungsbeitrag (DB)
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Abbildung 5: Effekt eines Kohleausstieges (unten) auf die Merit Order; analog zu den vorherigen
Abbildungen findet keine Allokation der Kosten und Emissionen aus dem KWK-Betrieb
statt. Datenquelle: FfE-Kraftwerksdatenbank
Der Kohleausstieg stellt eine gut steuerbare Maßnahme zur CO2-Verminderung dar, da dieser eine
gezielte Auswahl der ineffizientesten Kraftwerke und die Berücksichtigung struktureller
Besonderheiten ermöglicht. Bei der Außerbetriebsetzung von Kraftwerken nördlich der Main-Linie –
was für alle deutschen Braunkohlekraftwerke gilt – führt der Kohleausstieg zudem zu einer
Verringerung von Engpassmanagementmaßnahmen wie z.B. Redispatch. Dies ist durch die regionale
Umverteilung der Kraftwerkseinsätze zu erklären, die nun lastnäher stattfinden.
Jedoch ist zu beachten, dass das Merit-Order-Emissionsdilemma zwar umgangen, aber nicht
grundsätzlich behoben wird, da die verbleibenden emissionsintensiven Kraftwerke weiterhin vorne in
der Merit-Order stehen und somit hohe Einsatzzeiten erreichen. Bei der Auswahl der abzuschaltenden
Kraftwerke ist die Sonderstellung von KWK-Anlagen zu berücksichtigen, da durch die
Wärmeauskopplung der Gesamtwirkungsgrad der Kraftwerke erhöht und an anderer Stelle Emissionen
für die Wärmebereitstellung eingespart werden.
Auch in diesem Fall gilt, dass sich die Strompreise aufgrund der Verschiebung der Kraftwerke erhöhen
und günstiger, ausländischer Strom häufiger importiert werden würde. Zudem sind die
Rückkopplungseffekte mit dem EU ETS zu beachten.
Dekarbonisierung in Deutschland: Kurzfristig ein Kohleausstieg und
langfristig ein wirkungsvoller europäischer Emissionshandel
Die Analyse der Merit-Order-Effekte eines Kohleausstieges und einer CO2-Preiserhöhung in
Deutschland zeigt, dass beide Ansätze mit verschiedenen Vor- und Nachteilen einhergehen. Dabei ist
der Effekt nationaler Klimaschutzinstrumente auf die Gesamtemissionen zu berücksichtigen, da es
unter Umständen zu einer Verlagerung der Emissionen ins Ausland kommen kann und nur zu kleinen
Teilen die angestrebte Emissionsminderung erzielt wird. Die Strompreissteigerung im deutschen
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Kraftwerkspark führt zu einem strommarktbedingten Rebound-Effekt im europäischen Ausland (vgl.
auch [6]). Zudem würden – zumindest in der Theorie – durch die Senkung der Emissionen im deutschen
Kraftwerkspark EU ETS Zertifikate frei. Die im November 2018 verabschiedeten Richtlinie (EU)
2018/410 ermöglicht es den Mitgliedstaaten Zertifikate von durch nationalen Maßnahmen
stillgelegten Stromerzeugungskapazitäten vollumfänglich zu löschen. Die Verlagerung der Emissionen
ins Ausland durch den sogenannten „Waterbed“-Effekt kann somit verhindert werden. Die
diesbezügliche Löschung der Zertifikate stellt ebenfalls eine Empfehlung der Kohlekommission [2] dar.
Ein mit den europäischen Partnern abgestimmtes Vorgehen ist für einen effektiven Klimaschutz somit
unerlässlich.
Aufgrund der großen nationalen Unterschiede hinsichtlich des aktuellen Standes und der
Erreichbarkeit der Klimaschutzziele können die auf europäischer Ebene getroffenen Vereinbarungen
nur einen Minimalkonsens darstellen. Die dargestellten Szenarien zu CO2-Preisen und deren
Auswirkung auf den deutschen Kraftwerkspark (Abbildung 4) zeigen, dass extrem hohe CO2-Preise
nötig sind, damit die Reihung der Emissionen auch der Reihung der Grenzkosten entspricht. Die
Einführung solch hoher CO2-Preise auf europäischer Ebene wird kurzfristig als sehr unwahrscheinlich
angesehen. Der in der Diskussion befindliche Mindestpreis im Bereich von 25-30 €/t [7] hätte auf den
deutschen Kraftwerkspark nur eine indirekte Wirkung durch ein Absenken der Deckungsbeiträge.
Auch wenn der aktuelle Kohleausstiegspfad einigen am Diskurs beteiligten Parteien als zu wenig
ambitioniert und langsam erscheint, so gewährleistet er dennoch, dass ein gezieltes Abschalten
emissionsintensiver Kraftwerke bei gleichzeitig netzentlastendem Effekt stattfindet. Weiterhin wird
durch einen transparenten Ausstiegsplan Planungs- und Investitionssicherheit für Beschäftigte,
Betreiber und Investoren unter Berücksichtigung eines sozialverträglichen Strukturwandels
sichergestellt. Demgegenüber besteht bei einer Erhöhung des CO2-Preises über das Instrument des
EU ETS hinaus, die Möglichkeit, dass sich unter den Betreibern ein Wettbewerb nach dem Motto „Wer
hat den längsten Atem“ einstellt. Denn das Ausscheiden der Konkurrenten führt zu steigenden
Marktpreisen und damit höheren Deckungsbeiträgen für die verbleibenden Kraftwerksbetreiber. In
diesem Umfeld ist es nicht zwingend gegeben, dass das ineffizienteste und älteste Kraftwerk zuerst
aus dem Markt gedrängt wird. Ein Ausstieg einzelner Kraftwerke würde unter kürzeren Vorlaufzeiten
stattfinden und damit den Handlungsspielraum für politische Begleitmaßnahmen für einen
Strukturwandel verringern.
Vor dem Hintergrund, dass Deutschland auch mit dem vorgeschlagenen Kohlekompromiss hinter den
gesteckten Klimaschutzzielen zurückliegt, sind zusätzliche Maßnahmen zur CO2-Reduktion dringend
notwendig. Neben den geforderten begleitenden Maßnahmen der Kommission, wie einem
beschleunigten Ausbau Erneuerbarer Energien, ist auf lange Sicht und im europäischen Kontext eine
weitere Optimierung des EU ETS nötig. Dabei ist eine europaweite und sektorübergreifende
Verknappung der Anzahl der in den Markt eingebrachten Zertifikate, und eine daraus resultierende
einheitliche CO2-Preiserhöhung anzustreben. Die angestrebte Reform für Phase vier führt zu einer
Verringerung der ausgegebenen Zertifikate und durch die erstarkte Marktstabilitätsreserve zu einer
dynamischeren Anpassung des Überschusses und einer de facto Löschung von etwa 2,5 bis 3 Mrd.
Zertifikaten. Dennoch zeigen verschiedene Analysen, dass die Reform zu kurz greift und nicht wie
erhofft zu einem nachhaltigen Abbau des strukturellen Überschusses führen wird [8,9]. Die nötigen
Instrumente im EU ETS sind bereits vorhanden, jedoch gilt es diese zielgerichtet weiterzuentwickeln
und anzuwenden. Nur so kann der Emissionshandel seine zugedachte Rolle als zentraler
Steuerungsmechanismus zur Erreichung der Klimaziele erfüllen, und das bei gleichzeitiger Einhaltung
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der Grundsätze der europäischen Strommarktliberalisierung und Schaffung von stabilen
Rahmenbedingungen für Energieversorger.
Die Identifikation von kosteneffizienten CO2-Verminderungsoptionen auch in anderen Sektoren ist
eine große Herausforderung, bei der die Energiesystemforschung einen wichtigen Beitrag liefern kann.
Diese Themen sind Gegenstand des Projektes „Dynamis - Dynamische und intersektorale
Maßnahmenbewertung zur kosteneffizienten Dekarbonisierung des Energiesystems“
(Förderkennzeichen: 03ET4037A), im Rahmen dessen das vorliegende Arbeitspapier entstanden ist.
Autoren:
Felix Böing, Anika Regett, Constanze Kranner, Dr.-Ing. Christoph Pellinger, Steffen Fattler, Jochen Conrad
Wissenschaftliche Begleitung:
Prof. Dr.-Ing. Ulrich Wagner, Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Mauch, Dr.-Ing. Serafin von Roon
Kontakt: www.ffe.de; info@ffe.de; 089 158121-0
[1] Nationale Trendtabellen für die deutsche Berichterstattung atmosphärischer Emissionen - 1990 - 2015. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt, 2017
[2] Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ - Abschlussbericht. Berlin: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), 2019
[3] Berichterstattung unter der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen und dem Kyoto-Protokoll 2016 - Nationaler Inventarbericht zum Deutschen Treibhausgasinventar 1990 - 2014. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt (UBA), 2016
[4] Laufendes Projekt: Dynamis – Dynamische und intersektorale Maßnahmenbewertung zur kosteneffizienten Dekarbonisierung des Energiesystems. München: Forschungsstelle für Energiewirtschaft e.V., Forschungsgesellschaft für Energiewirtschaft mbH und Technische Universität München, 2019
[5] Pellinger, Christoph; Schmid, Tobias; et al.: Merit Order der Energiespeicherung im Jahr 2030 - Hauptbericht. München: Forschungsstelle für Energiewirtschaft e.V., 2016
[6] Klimaschutz im Stromsektor 2030 - Vergleich von Instrumenten zur Emissionsminderung in: Climate Change 02/2017. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt (UBA), 2017
[7] Macrons Klimaplan hilft Frankreichs Wirtschaft - Von einem höheren CO2-Preis profitieren das Klima und die Atomstromerzeuger in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 28.9.2017, S. 16. Frankfurt am Main: FAZ, 2017
[8] Perino, Grischa: New EU ETS Phase 4 rules temporarily puncture waterbed. In: Nature Climate Change Vol. 8, 2018.
[9] Osterman et al.: Analysen zum EU-ETS und Bewertung von CO2 Verminderungsmaßnahmen. In: 11. Internationale Energiewirtschaftstagung (IEWT). Wien: TU Wien, 2019