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Chronische Schmerzen einige Aspekte
Dr. Grégoire Gremaud
Symposium 3.9.2015
Wieso über Schmerz reden?
Häufigster Beweggrund für einen Arztbesuch
~ 20% der europäischen Bevölkerung leiden
unter chronischen Schmerzen
(Breivik H, 2006)
Therapien häufig unwirksam oder nicht/falsch
verordnet
Definition von Schmerz
“Schmerz ist eine sensorisch und
emotional unangenehme Erfahrung, die
mit echten oder potenziellen
Gewebeverletzungen einhergeht oder so
beschrieben wird, als würden diese
Läsionen existieren.“
Internat. Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP 1986)
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Akuter Schmerz
•Tritt plötzlich und unerwartet auf
•Macht betroffen
•Schnelle Schmerzbehandlung
•Mit einer Läsion assoziiert (symptomatisch)
•Anerkannt
•Oft rasche Versorgung
•Wenig stigmatisierend
Chronischer Schmerz
•Unbestimmbar, schlecht systematisiert,
dumpf
•Anhaltend (ab 3 bis 6 Monaten)
•Wenig identifizierbare Läsionen
•Geringe Heilungsrate
•Wenig glaubwürdig
•Schlecht anerkannt
•Begrenztes therapeutisches Arsenal
•Stark stigmatisierend
Schmerzmechanismen
1. Nozizeptive
Schmerzen
2. Neurogene
Schmerzen
Zwei bedeutende pathophysiologische
Mechanismen
Meist gemischt
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Schmerz durch exzessive
Nozizeption
Merkmale
Mechanischer Reiz
oder entzündlich
Neurologische
Untersuchung
normal
Stimulierung der
Nozizeptoren
Regionale
Topographie
Neurogener Schmerz
Merkmale Schädigung des
peripheren oder
zentralen
Nervensystems
Neurologische
Untersuchung:
Unterempfindlichkeit (Hypästhesie,
Anästhesie) oder
Überempfindlichkeit (Allodynie, Hyperpathie)
Anhaltende
Komponente
(brennender
Dauerschmerz)
Dysästhesien
(Kribbelgefühl,
„Nadelstiche“)
Stechende
Komponente,
intermittierend
(Elektroschock)
Ist Schmerz nützlich?
JA
Schutzmechanismus
Seine Hand von einer heissen Platte wegziehen
Falls nicht vorhanden:
Mutation des Natriumkanals Nav1.7
Verletzungen
– Verbrennungen
– Frakturen
– Auf die Lippe beissen
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Die „Red Flags“ ausschliessen Prise en charge contemporaine de la douleur chronique Dr Ph. Mavrocordatos la gazette médicale info@gériatrie Forum médical vol4 n-
47.2015 pp16-18
Krebs
Fraktur
Infektion
Ist Schmerz nützlich?
NEIN
Chronische Schmerzen
Akute Schmerzen nach Operationen
Fehlanpassung des Organismus?
Was sind die Mechanismen der
Chronifizierung?
Periphere Sensibilisierung
Zentrale Sensibilisierung
Nervenentzündung (Glia)
Baron R. Lancet Neurology 2010
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Glauben und Angst im
Zusammenhang mit Schmerz
Therapiert werden Schmerzen, die nicht auszuhalten sind
Die Therapie wirkt nicht, wenn sie zu früh begonnen wird
Droge Abhängigkeit
Nebenwirkungen ++
Verdrängung / „Mauer des Schweigens“
Stoizismus
D. Anwar, 2004
Nach ANDEM, Okt 95, www.anaes.fr
Prädiktive Faktoren
einer schlechten Schmerzkontrolle Neurogene Schmerzen
Gelegentlich auftretende Schmerzen
Somatisierung
Psychologische Probleme
Krebs an manchen Lokalisationen (HNO, Kopf, Hals, Pankreas, Damm...)
Alkoholabhängigkeit
Andere Drogenabhängigkeiten
Kognitive Störungen
Opioid-Verträglichkeit
Stadieneinteilung für Krebsschmerzen (Edmonton Staging System)
Tabelle 1 Typen des chronischen Schmerzes (chronic pain) nach AETMIS
(Quebec).
Muskel-/Skelettsystem Neuropathisch Kopfschmerzen Andere
-Dorsalgie - Gürtelrose/ -Migräne -Reizdarm
-Arthrose postherpetic -Spannungs- -Sichelzellanämie
-Schmerzen des - Phantomschmerzen kopfschmerzen -Hämophilie
Kieferapparats - Diabetische Neuropathie -Horton-Neuralgie
-Fibromyalgie - Karpaltunnel-Syndrom
-Myofazialer Schmerz - komplexes regionales
Schmerzsyndrom
Tabelle nachgestellt mit Erlaubnis zur Vervielfältigung: Agence d’évaluation des technologies et des modes
d’intervention en santé. Behandlung von chronischem Schmerz (kein Krebs). Organisation des services de
santé. Montréal: AETMIS ; 2006
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Postoperative chronische Schmerzen
Ursachen: Andauernde Entzündungsreaktion
Intra-operative Nervenverletzungen
Auftreten neuropathischer Schmerzen
3-6 Monate nach einer Operation
Lancet 2006; 367: 1618–25
Persistent postchirurgical pain:risk factors and prevention
H. Kehlet, TS Jensen, CJ Woolf
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Postoperative chronische Schmerzen
Inzidenz chronischer
Schmerzen Stark VAS>5
Amputation 30-50% 5-10%
Brustchirurgie 20-30% 5-10%
Thorakotomie 30-40% 10%
Hernia inguinalis 10% 2-4%
Kaiserschnitt 10% 4%
Koronare Bypass-
Operation 30-50% 5-10%
Der Schmerz
„Der Schmerz ist das, was eine bestimmte
Person sagt, das er ist, und er tritt auf, wenn
diese Person sagt, dass er auftritt.“
Mac Caffery M.
Nursing management of the patient with pain.
1972
Lokalisierung des Schmerzes und sein Hauptcharakter
/ elektrisierend / bohrend / schneidend / dumpf
/ brennend / stechend / quälend / hämmernd
/ andere
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Skalen zur Bewertung
der Schmerzintensität
Visuelle Analogskala
Numerische Skala
Einfache verbale Skala
Kein Schmerz Nicht stärker
vorstellbarer Schmerz
Kein Schmerz 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Nicht stärker
vorstellbarer Schmerz
Kein Leichter Mässiger Starker Sehr starker Extremer
Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz
Beobachtung schmerzbedingter Veränderungen
bei älteren, nicht kommunizierenden Patienten
“Die Auswirkung von Schmerz auf das Verhalten
ist unbestreitbar der objektivste Indikator des
Ausmasses der Behinderung, der Invalidität und
damit der Stärke des Schmerzes.“ De F. Boureau. L’appréciation de la sévérité d’une douleur en clinique.
Médecine et Hygiène 1987; 45: 1560-66.
Beispiel: Doloplus-Skala
www.doloplus.com
Schmerzbeurteilung Prise en charge contemporaine de la douleur chronique (zeitgenössische Behandlung chronischer Schmerzen) Dr Ph. Mavrocordatos la
gazette médicale info@gériatrie Forum médical vol4 n-47.2015 pp16-18
Lokalisierung
Intensität (VAS)
Qualität des Schmerzes (DN4. Fragebogen St-Antoine)
Kinesiophobie (TAMPA)
Behinderung (Oswestry)
Angst und Depression
Lebensqualität
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Auswirkung chronischer
Schmerzen?
•Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Lustlosigkeit
•Emotionale Auswirkung
•Soziale Funktionsfähigkeit
•Berufsleben
•Beziehungsaspekte
(pp S. Saillant HNE 2014)
Schlafstörungen
•50-70% der Personen, die unter chronischen
Schmerzen leiden
•Schmerzen erhöhen die Einschlaflatenz
•Schmerzen mindern die Schlafqualität
•Zunahme der leichten Schlafphasen (weniger
tiefer bzw. erholsamer Schlaf)
Teufelskreis:
gestörte Nachtruhe tagsüber Schmerzen
tagsüber Schmerzen gestörte Nachtruhe
Nyr et al 2011 (pp S. Saillant HNE 2014)
Was wir wissen
•20-40% der Patienten mit chronischen Schmerzen
zeigen die Merkmale einer ernsthaften depressiven
Episode
Smith 1992
•50% der depressiven Patienten leiden unter
Schmerzen
Demyttenaere 2006
(pp S. Saillant HNE 2014)
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Auswirkungen der Depression beim
Schmerzpatienten …
•Anstieg der Intensität, der Anzahl und der Dauer der
Schmerzsymptome
•Zunehmend funktionelle Einschränkungen
•Zunehmendes Nichterscheinen am Arbeitsplatz
•Zunahme der Arztbesuche und Untersuchungen
•Vermindertes Ansprechen auf Schmerztherapien
Bair 2003 (pp S. Saillant HNE 2014)
…und Auswirkungen des Schmerzes
bei depressiven Patienten
•Der Schweregrad der Depression korreliert mit
der Stärke der Schmerzen
•Verschlechtert die depressive Symptomatik
•Schlechte Prognose für die Depression
•Anstieg des Suizid-Risikos
Kroenke 2008 (pp S. Saillant HNE 2014)
Schwarzmalerei?
•Negativer kognitiver Vorgang mit:
-Verstärkung der Schmerzsymptome
-Gefühl der Ohnmacht
-Pessimismus Edwards 2006, Sullivan 2001
•Häufig bei Schmerzpatienten
•Es wird mehr auf den Schmerz geachtet, negative
Auswirkungen auf die soziale Funktionsfähigkeit,
Ausweitung des Schmerzes über das ZNS?
•Interessante Zielgruppe für die Behandlung (pp S. Saillant HNE 2014)
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Frappierende Ähnlichkeiten (DD)
•Symptome
•Neurobiologische Aspekte
•Gemeinsame genetische Prädisposition
•Risikofaktoren, Population
•Gewaltbetroffenheit = gemeinsamer Risikofaktor
Sachs-Ericsson 2007
•Wirksamkeit einiger Medikamente in beiden Situationen (pp S. Saillant HNE 2014)
Somatisierung?
„(…) medizinisch ungeklärte chronische
Schmerzen gelten in den westlichen Gesellschaften
als häufigster Modus der Somatisierung.“
Allaz A.-F., Le messager boiteux: approche pratique des douleurs
chroniques, Genève, Médecine et Hygiène, 2003.
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In der Schweiz: Evolution der Behandlungstage zwischen 2000 und 2010
Theiler R, Dudler J. Rev Med Suisse 2013;9:1846-1853 Cours SSED 2013, Dr V. Piguet
Schmerztherapie
0
5
10
15
20
25
30
35
40
Sans analg.
75-84 ans 85 ans
Niv. 1 Niv. 2 Niv. 3
% d
e p
ati
en
ts
13 625 Patienten, die an einer Krebserkrankung leiden und in
Pflegeheimen wohnen; 4003 Patienten mit Schmerzen (30%)
Bernabei R et al., JAMA;1998:279:1877-1882
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Was ändert sich durch die Verschreibung von Opioiden?
Lang wirksame Formen (CP und Patch) werden bei nicht malignen mässigen chronischen Schmerzen nicht mehr empfohlen.
Indikation: bei Schmerzen, die so stark sind, dass eine kontinuierliche Einnahme nötig ist und für die keine andere adäquate Therapie verfügbar ist.
Die Wirksamkeit sollte nach der Lebensqualität und der Funktionalität bewertet werden und nicht nach der Intensität. Die FDA verlangt von Firmen eine Studie zur Bewertung des Abhängigkeits- Missbrauchsrisikos sowie der unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) bei langfristiger Einnahme
Cours SSED 2013, Dr V. Piguet
Langfristige Wirksamkeit von Opioiden und chronische Schmerzen
27 Studien (Lumbalgie, Arthrose, neuropathischer Schmerz), Dauer≥ 6 Monate Therapie
Wirksamkeit: Gute Schmerztherapie, aber grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Studien Keine eindeutigen Ergebnisse bezüglich Lebensqualität und Aktivität (ATL)
Absetzen aufgrund von UAW: oral 23%; Patch 12%; intrathekal 9%
Absetzen wegen ungenügender Analgesie:
oral: 10%; Patch 6%; intrathekal: 8%
Noble M. et al. Cochrane Database Syst Rev. 2010 Jan 20;(1):CD006605
Cours SSED 2013, Dr V. Piguet
PEG Skala 3 Dimensionen zur Bewertung der Intensität der Schmerzen und ihren
Auswirkungen Krebs EE / J Gen Intern Med 2009; 24:733-8
Krebs EE et al. J Gen Intern Med 2009;24:7
Validée auprès de patients ambulatoires souffrant de douleurs
musculosquelettiques chroniques en médecine générale
Cours SSED 2013, Dr V. Piguet
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Opioide und Niereninsuffizienz
Bourquin V et al. Rev Med Suisse 2008 ; 4 : 2218
Cours SSED 2013, Dr V. Piguet
Après avoir éliminé d'autres causes potentiellement traitables à l’origine des
effets indésirables ou de l'inefficacité thérapeutique
Roulet at al. Rev Méd Suisse – www.revmed.ch – 29 juin
2011
Opioide und neurogene Schmerzen ref. N.B. Finnerup et al / pain xx(2005) 1-17
Periphere neurogene Schmerzen
Trizyklische Antidepressiva
Valproat
Carbamazepine/Lamotrigin/Phenytoin
Opioide
Tramadol
Gabapentin/Pregabalin
Mxiletin
Antidepressiva, SNRI
NMDA-Antagonisten
Capsaicine
Antidepressiva, SSRI
Topiramat
Topisches Lidokain
0 2 4 6 8 10 12
397
83
109
149
150
1057
120
193
466
389
81
214
NA
NNT
Finnerup NB et al. Pain 2005
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Opioide und neurogene Schmerzen ref. N.B. Finnerup et al / pain xx(2005) 1-17
Cannabinoide: Schmerztherapie?
•Cannabinoide (natürliche, synthetische und
endogene) haben gut dokumentierte
schmerzlindernde Wirkungen bei akutem und
chronischem Schmerz
•Mögliche Mechanismen:
–Entzündungshemmender Effekt
–Spasmolytischer Effekt
–Verbesserung des Schlafs
–Beeinflussung der Schmerzwahrnehmung Cannabinoids for treatment of chronic non-cancer pain; a systematic review of
randomized trials. Br J Clin Pharmacol. 2011; 72(5):735-44
Einige spezialisierte und
spezifische Therapien
Rolle des Ketamin
Spezifische Psychotherapie: die EMDR*-Methode
*Eye Movement Desensitization and Reprocessing
Spezifische Physiotherapie: TENS
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Therapie Prise en charge contemporaine de la douleur chronique Dr Ph. Mavrocordatos la gazette médicale info@gériatrie Forum médical vol4 n-
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Interdisziplinär
Kommunikation verbessern
Selbsthilfegruppe
Beratung durch eine Pflegefachperson
Die Therapie den zugrundeliegenden Mechanismen
anpassen
Die psychosozialen Faktoren berücksichtigen
Schlüsselelemente
• Weder Wunder noch Heilung erwarten!
• Den Schmerz erkennen und legitimieren
• Die Depression behandeln!
• Ressourcen zu identifizieren ist besser als Defizite
aufzuzählen
• Multidisziplinäre Arbeit: NIE ALLEIN!
• Nicht zu schnell an den Psychiater überweisen
• Einen Psychiater zu Rate ziehen, auch ohne dass er den
Patienten sieht
• Unterstützung durch den praktizierenden Arzt: Super
visionen, Balint, Austausch (pp S. Saillant HNE 2014)
Terminkalender anlegen
Schwierige Patienten, daher …
•Regelmässige Termine: lieber 2 kurze als 1 langer
•Genügend Zeit
• „Schwache“ Stunden vermeiden (12 Uhr, Ende des
Tages)
•1 Thema pro Sprechstunde
•Regelmässige Abschätzung der psychosozialen
Dimension
•Die Bemühungen und die funktionalen Aspekte des
Patienten anerkennen (pp S. Saillant HNE 2014)
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Jene, die sich unter Therapie verschlechtern
Jene, die unter Therapie an unerträglichen Nebenwirkungen
leiden
Patienten mit neuropathischen Schmerzen
Onkologische Schmerzpatienten oder bei Schmerzen unter
onkologischer Therapie
Anhaltende Schmerzen nach Operationen
Unsichere Diagnose
Welche Fälle sollen an ein
Schmerzzentrum überwiesen werden? Prise en charge contemporaine de la douleur chronique Dr Ph. Mavrocordatos la gazette médicale info@gériatrie Forum médical vol4 n-
47.2015 pp16-18
DANKE