Post on 21-Oct-2015
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ES KOMMT DARAUF AN
Texte zur Theorie der politischen Praxis
Herausgegeben von Boris Buden, Jens Kastner, Oliver Marchart, Stefan Nowotny,
Gerald Raunig, Hito Steyerl, Ingo Vavra
Band 6
GAYATRI CHAKRAVORTY SPIVAK
Can the Subaltern Speak?
Postkolonialität und subalterne Artikulation
Aus dem Englischen von
Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny
Mit einer Einleitung von Hito Steyerl
VERLAG TURIA + KANT
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Bibliographie Information published by Die Deutsche Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek lists this publication in thc Deutsche
Nationalbibliografie; detailed bibliographic data is available in
the internet at http://dnb.ddb.de.
ISBN 978-3-85132-506-5
© Gayatri Chakravorty Spivak
©für die deutsche Ausgabe: Verlag Turia +Kant, 2008 A-1010 Wien, Schottengasse 3A/ 5/DG1
info@turia.at 1 www.turia.at
In Kooperation mit translate. Beyond Culture: The Politics of Translation
http://translate.eipcp.net/
Hito Steyerl
Die Gegenwart der Subalternen
5
Inhalt
GAY ATRI CHAKRA VOR TY SPIVAK
Can the Subaltern Speak?
17
Gayatri Chakravorty Spivak
Ein Gespräch über Subalternität 119
Editorische Nachbemerkung der Übersetzer Zur zweiten Fassung von »Can the Subaltern Speak?«
149
same Zuhören verstellt. Das Vermächtnis von Spivaks
Text ist der Hinweis auf diesen Moment des Bruchs -
und die Aufgabe, vor die er uns auch heute stellt, besteht
nicht darin, das autistische »Für-sich-selbst-Sprechen«
der einzelnen Subjekte zu verstärken, sondern vielmehr
darin, ihr gemeinsames Schweigen zu hören.
ANMERKUNGEN
1 In dem Film »La politique et le bonheur« (1972). 2 Ranajit Guha, »Ün Some Aspects of the Historiography of Colonial India«, in: Vinayak Chaturvedi (Hg.), Mapping Subaltern Studies and the Postcolonial, London/ New York: Verso 2000, S. 1-7. 3 Z.B. in Benita Parry, »Problems in Current Theories of Colonial Discourse«, in: Bill Ashcroft / Gareth Griffiths / Helen Tiffin (Hg.), The Post-Colonial Studies Reader, London/ New York: Routledge 1995, S. 36-44. 4 Vgl. in diesem Band S. 106. Die so beantwortete Frage lautete genau: »Wir müssen uns jetzt der folgenden Frage stellen: Auf der anderen Seite der internationalen Abspaltung der Arbeit vom sozialisierten Kapital, innerhalb und außerhalb des Kreislaufs der epistemischen Gewalt des imperialistischen Rechts und der imperialistischen Erziehung, die einen früheren ökonomischen Text supplementieren - können Subalterne sprechen?« (S. 47) 5 Die Entwicklungen im Kunstfeld können in diesem Zusammenhang als ein paradigmatisches Beispiel gelesen werden: Postkolonialität wurde zumeist als Auftrag zur Ausrichtung regionaler Ausstellungen (Balkan, Naher Osten etc.) interpretiert. 6 Vgl. dazu Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld: Transcript 2005, sowie Slavoj Zizek, The spectre is still roaming around, Zagreb: Arkzin 1998, S. 61 f. 7 Peter Hallward, Absolutely Postcolonial. Writing Between the Singular and the Specific, Manchester / New York: Manchester University Press 2001. 8 Alain Badiou, Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, aus dem Französ. übers. v. Jürgen Brankel, Wien: Turia + Kant 2003. 9 Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, aus dem Französ. übers. v. Gisela Febel u. Jutta Legueil, Stuttgart: Edition Patricia Schwarz 1988.
Can the Subaltern Speak? Gayatri Chakravorty Spivak
SIGLEN:
PD »Die Intellektuellen und die Macht: Ein Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze«, aus dem Französ. übers. v. Hans-Dieter Gondek, in: Michel Foucault, Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Bd. II (1970-1975), Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 382-393.
Gr Jacques Derrida, Grammatologie, aus dem Französ. übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, Frankfurt/M.: Suhrkamp 51994.
HD Pandurang Vaman Kane, History of Dharmasastra. Ancient and Medieval Religious and Civil Law in India, Bd. 1-V, Poona: Bhandarkar Oriental Research Institute 1930-1962.
Sehr Michel Foucault, Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Bd. 1-IV, aus dem Französ. übers. v. Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba et al„ Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002-2005.
VG Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France (1975-76), aus dem Französ. übers. v. Michaela Ott, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999.
Hinweise der Übersetzer zu besonderen Schreibweisen:
1. Kursiv gesetzte und mit einem Sternchen versehene Ausdrücke (z.B. darstellen») erscheinen im Original auf Deutsch.
2. Der differenzierenden Schreibweise des englischen Originaltexts entsprechend geben wir »subject« mit »Subjekt« sowie das mit großem Anfangsbuchstaben geschriebene »Subject« mit »Subjekt« (mit kursiv gesetztem Anfangsbuchstaben) wieder. In den vereinzelten Fällen, in denen G. Ch. Spivak eine im Englischen ansonsten unübliche Großschreibung auch an anderen Begriffen (z.B. »Theory«) durchführt, geben wir zusätzlich zur Kursivsetzung des Anfangsbuchstabens (»Theorie«) den englischen Originalbegriff in eckigen Klammern an.
Der ursprüngliche Titel dieses Textes lautete »Macht, Begehren, Interesse« 1• Und tatsächlich, die Macht, über
die diese Meditationen verfügen, mag, worin sie auch besteht, einer politisch interessierten Weigerung geschuldet sein, die grundlegenden Voraussetzungen meines Be
gehrens, soweit sie mir zugänglich sind, an ihre Grenze
zu treiben. Diese grobe dreitaktige Formel, angewandt auf Diskurse von entschiedenstem Engagement wie auch
von größter Ironie, behält im Blick, was Althusser so passend als »Philosophie der Verneinung« 2 bezeichnet
hat. Ich habe meine Positionierung in dieser unbeholfe
nen Art und Weise beschworen, um den Akzent auf die Tatsache zu legen, dass das Hinterfragen des Orts des
Forschers bzw. der Forscherin in vielen jüngeren Kritiken des souveränen Subjekts eine bedeutungslose Frömmig
keit bleibt. Obgleich ich versuchen werde, den prekären Charakter meiner Position durchgehend in den Vorder
grund zu rücken, weiß ich also, dass solche Gesten nie ausreichen.
Dieser Text wird sich, auf einer notwendigerweise umständlichen Route, von einer Kritik an gegenwärtigen
westlichen Bemühungen, das Subjekt zu problematisie
ren, hin zur Frage bewegen, wie das Subjekt der Dritten Welt innerhalb des westlichen Diskurses repräsentiert
wird. Im Zuge dessen werde ich Gelegenheit haben, darzulegen, dass in der Tat sowohl Marx' als auch Derridas
Werk eine noch radikalere Dezentrierung des Subjekts impliziert. Und ich werde, vielleicht überraschend, auf
das Argument zurückgreifen, dass die westliche intellektuelle Produktion in verschiedenen Hinsichten mit inter
nationalen wirtschaftlichen Interessen des Westens kom-
I9
plizenhaft verbunden ist. Am Ende werde ich eine alternative Analyse der Beziehungen zwischen den Diskursen
des Westens und der Möglichkeit, über (oder für) die subalterne Frau zu sprechen, anbieten. Ich werde meine
spezifischen Beispiele aus dem Fall Indiens beziehen und
ausführlich den außergewöhnlich paradoxen Status der britischen Abschaffung des Witwenopfers diskutieren.
Einige der radikalsten Kritiken, die heute aus dem We
sten kommen, sind das Ergebnis eines interessierten Begehrens, das Subjekt des Westens, oder den Westen als
Subjekt, zu erhalten. Die Theorie pluralisierter »SubjektEffekte« erzeugt eine Illusion der Unterminierung sub
jektiver Souveränität, während sie dieses Subjekt des
Wissens zugleich oft mit einem Deckmantel ausstattet. Obgleich die Geschichte Europas als Subjekt über das
Recht, die politische Ökonomie und die Ideologie des Westens narrativisiert wird, gibt dieses verborgene Sub
jekt vor, »keine geopolitischen Bestimmungen« zu haben. Die oft verlautete Kritik am souveränen Subjekt in
auguriert dergestalt ein Subjekt. Um diese Schlussfolge
rung zu argumentieren, werde ich einen Text zweier großer Praktiker dieser Kritik heranziehen: »Die Intel
lektuellen und die Macht: Ein Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze«3
•
Ich habe diesen freundlichen Austausch zwischen zwei
aktivistischen Geschichtsphilosophen ausgewählt, weil
er die Opposition zwischen autoritativer theoretischer Produktion und der ungeschützten Praxis des Gesprächs
auflöst und so einen Blick auf die Wege der Ideologie er
möglicht. Foucault und Deleuze, die beiden Teilnehmer an diesem Gespräch, streichen die wichtigsten Beiträge
französischer poststrukturalistischer Theorie heraus: erstens, dass die Netzwerke von Macht/Begehren/Interesse
dermaßen heterogen sind, dass es kontraproduktiv ist, sie auf ein kohärentes Narrativ zurückzuführen, weshalb
es einer beharrlichen Kritik bedarf; und zweitens, dass Intellektuelle versuchen müssen, den Diskurs des/der An
deren der Gesellschaft zu enthüllen und zu erkennen. Doch die beiden ignorieren systematisch die Frage der
2I
Ideologie sowie ihre eigene Verwicklung in eine intellek
tuelle und ökonomische Geschichte.
Obgleich die Kritik des souveränen Subjekts eine seiner
wesentlichen Voraussetzungen darstellt, bilden zwei mo
nolithische und anonyme Subjekte-in-Revolution den
Rahmen des Gespräches zwischen Foucault und De
leuze: ein »Maoist« (FD, S. 382) sowie der »Arbeiter
kampf« (FD, S. 393). Intellektuelle werden demgegen
über benannt und unterschieden; ein chinesischer Maois
mus spielt im Übrigen nirgendwo eine Rolle. Der
Maoismus erzeugt hier schlicht eine Aura narrativer Be
sonderheit, was eine harmlose rhetorische Banalität dar
stellen würde, ließe nicht die unschuldige Aneignung des
Eigennamens »Maoismus« für das exzentrische Phäno
men des französischen intellektuellen »Maoismus« so
wie der diesem nachfolgenden »Neuen Philosophie« in
symptomatischer Weise »Asien« transparent werden.4
Deleuze' Bezugnahme auf den Arbeiterkampf ist ebenso
problematisch; es handelt sich um einen offensichtlichen
Kniefall: »Und man wird an [die Macht nicht] rühren
können, an einem Punkt welcher Anwendung auch im
mer, ohne dass man sich mit jenem diffusen Ganzen kon
frontiert findet, und folglich wird man zwangsläufig gar
nicht anders können, als dieses [ „.] in die Luft sprengen
zu wollen. Jede Verteidigung oder jede partielle revolu
tionäre Attacke schließt sich auf diese Weise dem Arbei
terkampf an« (FD, S. 393). Die offenkundige Banalität
signalisiert eine Verleugnung. Die Aussage ignoriert die
internationale Arbeitsteilung - eine für die poststruktu
ralistische politische Theorie oftmals charakteristische
Geste.5 Die Anrufung des Arbeiterkampfes ist gerade in
ihrer Unschuld unheilvoll. Sie ist unfähig, mit dem glo
balen Kapitalismus umzugehen: mit der Subjektproduk
tion von Arbeiterlnnen und Arbeitslosen innerhalb na
tionalstaatlicher Ideologien in seinem Zentrum; mit der
zunehmenden Abtrennung der Arbeiterklasse in der Peri-
22
pherie von der Realisierung von Mehrwert und mithin
von einem »humanistischen« Training in Sachen Konsu
mismus; und mit der umfangreichen Präsenz parakapita
listischer Arbeit sowie dem heterogenen strukturellen
Status der Landwirtschaft in der Peripherie. Das Ignorie
ren der internationalen Arbeitsteilung; »Asien« (und ge
legentlich »Afrika«) transparent werden zu lassen (außer
wenn das Subjekt vordergründig die »Dritte Welt« ist);
das Rechtssubjekt des sozialisierten Kapitals wieder ein
zusetzen - dies sind Probleme, die in weiten Teilen der
poststrukturalistischen Theorie ebenso verbreitet sind
wie in der strukturalistischen Theorie. Warum sollte sol
chen Schließungen ausgerechnet im Falle jener Intellek
tuellen zugestimmt werden, die unsere besten Propheten
der Heterogenität und des/der Anderen sind?
Die Anknüpfung an den Arbeiterkampf ist in dem Be
gehren angesiedelt, die Macht an jedem beliebigen Punkt
ihrer Anwendung in die Luft zu sprengen. Diese Veror
tung gründet sich offenkundig auf eine Aufwertung jedweden destruktiven Begehrens gegenüber jedweder Macht. Walter Benjamin kommentiert die damit ver
gleichbare Politik Baudelaires, indem er Marx zitiert:
»Marx fährt in seiner Schilderung der conspirateurs de profession folgendermaßen fort: >[„.] sie [haben] keinen andern Zweck als den nächsten des Umsturzes der bestehenden Regierung und verachten auf>s tiefste die mehr theoretische Aufklärung der Arbeiter über ihre Klasseninteressen. Daher ihr nicht proletarischer, sondern plebejischer Ärger über die habits noirs (schwarzen Röcke), die mehr oder minder gebildeten Leute, die diese Seite der Bewegung vertreten, von denen sie aber, als von den offiziellen Repräsentanten der Partei, sich nie ganz unabhängig machen können.< Die politischen Einsichten Baudelaires gehen grundsätzlich nicht über die dieser Berufsverschwörer hinaus. [„.] Allenfalls hätte er Flauberts Wort >Von der ganzen Politik verstehe ich nur ein Ding: die Revolte< zu seinem eigenen machen können.« 6
Die Anknüpfung an den Arbeiterkampf ist schlicht im Begehren angesiedelt. An anderer Stelle haben Deleuze
und Guattari eine alternative Definition von Begehren zu geben versucht, die diejenige, die von der Psychoanalyse
angeboten wird, revidiert: »Dem Begehren fehlt nichts,
auch nicht der Gegenstand. Vielmehr ist es das Subjekt, das das Begehren verfehlt, oder diesem fehlt ein festste
hendes Subjekt; denn ein solches existiert nur kraft Repression. Das Begehren und sein Gegenstand sind eins,
und das ist die Maschine, als Maschine der Maschine. Das Begehren bildet eine Maschine, wie sein Gegenstand
die ihm angekoppelte Maschine, sodass vom Produzieren das Produkt entnommen wird, vom Produzieren zum
Produkt sich etwas abtrennt, das dem nomadenhaften Vagabundensubjekt einen Rest zuschlagen wird.« 7
Diese Definition ändert nichts an der Spezifität des be
gehrenden Subjekts (oder des übrig bleibenden SubjektEffekts), das sich an spezifische Manifestationen des Be
gehrens oder der Produktion der Begehrensmaschine anschließt. Wenn zudem die Verknüpfung zwischen Be
gehren und dem Subjekt für irrelevant gehalten oder
bloß umgekehrt wird, so ähnelt der Subjekt-Effekt, der sich heimlich herausbildet, stark dem verallgemeinerten
ideologischen Subjekt des Theoretikers. Dieses mag das Rechtssubjekt des sozialisierten Kapitals sein - weder
Arbeit noch Unternehmensführung zugehörig -, das über einen »starken« Pass verfügt, eine »starke« oder
»harte« Währung benutzt und einen vermeintlich unbestrittenen Zugang zu einem ordentlichen Gerichtsverfah
ren hat. Es ist sicherlich nicht das begehrende Subjekt als Andere/r.
Das Scheitern von Deleuze und Guattari daran, die Be
ziehungen zwischen Begehren, Macht und Subjektivität zu denken, setzt sie außerstande, eine Theorie der Interessen zu artikulieren. In diesem Zusammenhang ist ihre
Indifferenz gegenüber der Ideologie (deren Theoretisie-
rung notwendig ist, um zu einem Verständnis von Inter
essen zu gelangen) verblüffend, aber konsistent. Foucaults Festlegung auf eine »genealogische« Spekulation
hindert ihn daran, in »großen Namen« wie Marx und Freud Wendepunkte in einem kontinuierlichen Strom der
intellektuellen Geschichte zu orten. 8 Diese Festlegung hat in Foucaults Werk einen unglücklichen Widerstand
gegen »bloße« Ideologiekritik erzeugt. Westliche Speku
lationen über die ideologische Reproduktion sozialer Verhältnisse gehören jenem Mainstream an, und inner
halb eben dieser Tradition schreibt Althusser, »dass die Reproduktion der Arbeitskraft nicht nur die Reprodukc
tion ihrer Qualifikation erfordert, sondern auch gleichzeitig [ ... ]für die Arbeiter die Reproduktion ihrer Unter
werfung unter die herrschende Ideologie und für die Träger der Ausbeutung und Unterdrückung eine Repro
duktion der Fähigkeit, gut mit der herrschenden Ideologie umzugehen, um auch >durch das Wort< die Herr
schaft der herrschenden Klasse zu sichern.,/ Wenn Foucault über die alles durchdringende Heteroge
nität der Macht nachdenkt, dann verkennt er nicht die
immense institutionelle Heterogenität, die Althusser hier zu schematisieren versucht. Deleuze und Guattari er
schließen eben dieses Feld in ähnlicher Weise, wenn sie von Allianzen und Zeichenregimen, dem Staat und
Kriegsmaschinen (Tausend Plateaus) sprechen. Foucault kann jedoch nicht akzeptieren, dass eine entwickelte
Ideologietheorie ihre eigene materielle Produktion in einem institutionellen Rahmen sowie in den »wirksame[n]
Instrumente[n] der Bildung und Akkumulation von Wissen« (VG, S. 43) begreift. Weil diese Philosophen sich of
fenkundig gezwungen sehen, alle Argumente, die den
Ideologiebegriff im Munde führen, als nur schematisch und nicht textuell zurückzuweisen, sehen sie sich glei
chermaßen dazu genötigt, eine mechanisch-schematische Gegenüberstellung von Interesse und Begehren zu pro-
duzieren. Sie stellen sich damit in eine Reihe mit bürgerlichen Soziologinnen, die den Platz der Ideologie mit ei
nem kontinuistischen »Unbewussten« oder einer parasubjektiven »Kultur« füllen. Das mechanische Verhältnis
zwischen Begehren und Interesse wird in Sätzen wie je
nem deutlich, dass man »nicht gegen sein Interesse« begehren könne, »folgt doch das Interesse stets dem Begeh
ren und findet sich stets da, wo das Begehren es aufstellt« (PD, S. 391 ). Ein undifferenziertes Begehren ist
das Agens, und die Macht schleicht sich herein, um Begehrenseffekte zu erzeugen, indem sie »positive Wirkun
gen auf der Ebene des Begehrens [ ... ] und auch auf der Ebene des Wissens hervorbringt« (Sehr II, S. 937).
Diese parasubjektive, von Heterogenität durchzogene Matrix führt das ungenannte Subjekt ein, wenigstens für
jene intellektuellen Arbeiterlnnen, die von der neuen He
gemonie des Begehrens beeinflusst sind. Das Rennen um »die letzte Instanz« ist nun jenes zwischen Ökonomie
und Macht. Weil die Definition des Begehrens stillschweigend auf einem orthodoxen Modell beruht, wird
Begehren als Einheit einem »Getäuschtsein« gegenübergestellt. Ideologie als »falsches Bewusstsein« (Getäuscht
sein) ist von Althusser in Frage gezogen worden. Sogar Reich vertrat implizit eher Vorstellungen eines Kollek
tivwillens als eine Dichotomie von Täuschung und ungetäuschtem Begehren. »Man muss bereit sein, Reichs
Aufschrei Gehör zu schenken: Nein, die Massen sind
nicht getäuscht worden, sie haben zu jener Zeit den Faschismus begehrt!« (PD, S. 391.)
Diese Philosophen verweigern sich dem Gedanken eines
konstitutiven Widerspruchs - und eben hierin trennen
sie sich eingestandermaßen von der Linken. Im Namen des Begehrens führen sie erneut das ungeteilte Subjekt in den Machtdiskurs ein. Foucault scheint häufig »Indivi
duum« und »Subjekt« durcheinander zu bringen10; und
die Auswirkung davon auf seine eigenen Metaphern ver-
stärkt sich vielleicht noch bei seinen Anhängerlnnen.
Aufgrund der Macht des Wortes »Macht«, so gibt Foucault zu, verwendete er die »Metapher des Punktes [ ... ],
der peu a peu ausstrahlt« (Sehr III, S. 398). Solche Fehll
eistungen werden in weniger sorgfältigen Händen von der Ausnahme zur Regel. Und jener ausstrahlende Punkt, der einen effektiv heliozentrischen Diskurs ani
miert, füllt den leeren Platz des Agens mit der histori
schen Sonne der Theorie, dem Subjekt Europas.11
Foucault artikuliert noch eine weitere Konsequenz, die
sich aus der Verleugnung der Rolle der Ideologie in der Reproduktion gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse
ergibt, und zwar eine unhinterfragte Aufwertung der
Unterdrückten als Subjekt; »[e]s gilt« nämlich, wie Deleuze bewundernd bemerkt, »die Bedingungen bereitzu
stellen, unter denen die Gefängnisinsassen selbst sprechen können«. Foucault fügt hinzu: »[Die Massen] wis
sen vollkommen, klar« - einmal mehr die Thematik des Nicht-getäuscht-Seins - »und viel besser als [die Intellek
tuellen], und sie sagen es auch sehr gut« (PD, S. 383 u.
384; Hervorhebung von G. Ch. S.). Was geschieht in solchen Äußerungen mit der Kritik des
souveränen Subjekts? Die Grenzen dieses repräsentationistischen Realismus werden mit Deleuze erreicht: »Die Wirklichkeit ist das, was sich [ ... ] in einer Fabrik, in ei
ner Schule, in einer Kaserne, in einem Gefängnis oder
auf einem Kommissariat tatsächlich ereignet« (FD, S. 389). Sich der Notwendigkeit der schwierigen Auf
gabe einer gegenhegemonialen ideologischen Produktion
solcherart zu versperren war nicht ratsam. Es hat dem positivistischen Empirismus - der rechtfertigenden Grundlage des fortgeschrittenen kapitalistischen Neo
kolonialismus - dazu verholfen, seine eigene Arena als »konkrete Erfahrung«, als das, was sich »tatsächlich
ereignet«, zu definieren. In der Tat wird die konkrete Erfahrung, die den politischen Reiz von Gefängnisinsas-
sinnen, Soldatinnen und Schulkindern verbürgt, durch
die konkrete Erfahrung der Intellektuellen verlautbart,
jener also, die die Episteme diagnostizieren. 12 Weder De
leuze noch Foucault scheinen sich dessen bewusst zu
sein, dass die Intellektuellen innerhalb des sozialisierten
Kapitals, die die konkrete Erfahrung hochhalten, dazu
beitragen können, die internationale Arbeitsteilung zu konsolidieren.
Der uneingestandene Widerspruch im Inneren einer Posi
tion, die die konkrete Erfahrung der Unterdrückten auf
wertet, während sie dermaßen unkritisch hinsichtlich der
historischen Rolle der Intellektuellen ist, wird durch eine
sprachliche Fehlleistung aufrechterhalten. So äußert De
leuze die bemerkenswerte Behauptung: » [ „.] eine Theo
rie, das ist genauso wie ein Werkzeugkasten. Das hat
nichts zu tun mit dem Signifikanten« (FD, S. 384). Be
denkt man, dass der sprachliche Charakter der theoreti
schen Welt sowie ihres Zugangs zu irgendeiner Welt, die
im Gegensatz zu ihr als »praktisch« definiert wird, irre
duzibel ist, so hilft eine derartige Erklärung nur demjeni
gen Intellektuellen, der unter Beweis stellen möchte, in
tellektuelle Arbeit sei gerade dasselbe wie eine Arbeit mit
den Händen. Sprachliche Fehlleistungen geschehen,
wenn Signifikanten sich selbst überlassen bleiben. Der
Signifikant »Repräsentation« ist ein typisches Beispiel
dafür. Im selben geringschätzigen Tonfall, mit dem das
Band zwischen Theorie und Signifikant aufgetrennt
wird, erklärt Deleuze: »Es gibt keine Repräsentation
mehr, es gibt nur noch Aktion« - »Aktion der Theorie,
Aktion der Praxis in Beziehungen von Verbindungsele
menten oder Netzwerken« (FD, S. 383). Und doch wird
hier ein wichtiger Punkt angesprochen: Die Produktion
von Theorie ist auch eine Praxis; die Gegenüberstellung
zwischen abstrakter, »reiner« Theorie und konkreter,
»angewandter« Praxis ist zu schnell und zu simpel. 13
Mag dies auch das eigentliche Argument von Deleuze
sein, so ist doch die Art und Weise problematisch, wie er
es artikuliert. Zwei Bedeutungen von Repräsentation
werden hier miteinander vermischt: Repräsentation als
»sprechen für«, wie in der Politik, und Repräsentation
als »Re-präsentation«, als »Dar-stellung« bzw. »Vor
stellung«, wie in der Kunst oder der Philosophie. Da
Theorie auch nur »Aktion« ist, repräsentiert der Theore
tiker nicht (spricht nicht für) die unterdrückte Gruppe.
Das Subjekt wird in der Tat auch nicht als ein repräsen
tierendes Bewusstsein gesehen (eines, das die Wirklich
keit adäquat vor-stellt). Diese zwei Bedeutungen von
Repräsentation - im Rahmen der Ausgestaltung von
Staatlichkeit und im Recht einerseits sowie im Zusam
menhang von Subjekt und Prädikation andererseits -
sind aufeinander bezogen, aber es gibt einen irreduziblen
Bruch zwischen ihnen. Den Bruch mit einer Analogie zu
zudecken, die als Beweis präsentiert wird, spiegelt ein
mal mehr eine paradoxe Privilegierung des Subjekts wider.14 Weil die »Person, welche spricht oder handelt«,
»stets eine Mannigfaltigkeit« ist, können » [d]iejenigen,
die handeln und kämpfen«, nicht von einem »lntellektu
elle[n] als Theoretiker [oder] einer Partei oder einer Ge
werkschaft« (FD, S. 383) repräsentiert werden. Sind die
jenigen, die handeln und kämpfen, stumm, im Gegensatz
zu denjenigen, die handeln und sprechen (FD, S. 383)?
Diese immensen Probleme liegen in den Unterschieden
zwischen »ein und denselben« Wörtern begraben: Be
wusstsein [consciousness] und Gewissen [conscience] (beide conscience auf Französisch), Repräsentation und
Re-präsentation. Die Kritik der ideologischen Subjekt
konstitution in staatlichen Gebilden und Systemen der
politischen Ökonomie kann nun also gestrichen werden,
ebenso wie die aktive theoretische Praxis einer »Trans
formation des Bewusstseins«. Die Banalität der von lin
ken Intellektuellen erstellten Listen von um sich selbst
29
wissenden, politisch klugen Subalternen ist offen gelegt;
'indem sie sie repräsentieren, repräsentieren die Intellek
tuellen sich selbst als transparent.
Wenn eine solche Kritik und ein solches Projekt nicht
aufgegeben werden sollen, so dürfen die beweglichen
Unterscheidungen zwischen der Repräsentation im Staat
und in der politischen Ökonomie einerseits sowie in der
Theorie des Subjekts andererseits nicht verwischt wer
den. Führen wir uns das Spiel von vertreten':- (»repräsen
tieren« in der ersten Bedeutung) und darstellen•· (»re
präsentieren« in der zweiten Bedeutung) in einer be
rühmten Passage aus Der achtzehnte Brumaire des Louis
Bonaparte vor Augen, wo Marx »Klasse« als deskripti
ven und transformativen Begriff in einer Weise an
spricht, die etwas komplexer ist, als es Althussers Unter
scheidung zwischen Klasseninstinkt und Klassenposition zugestehen würde.
Marx behauptet hier, dass die deskriptive Definition ei
ner Klasse differenziell sein kann - mithin in ihrer Tren
nung und Unterscheidung von allen anderen Klassen
liegt: »Insofern Millionen von Familien unter ökonomi
schen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise,
ihre Interessen und ihre Bildung von denen der andern
Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen,
bilden sie eine Klasse.« 15 Hier ist nichts dergleichen wie
ein »Klasseninstinkt« am Werk. Vielmehr verhält sich
die Kollektivität der Familienexistenz, die als Schauplatz
des »Instinkts« betrachtet werden mag, diskontinuierlich
zur differenziellen Isolierung von Klassen, obgleich sie
den Einwirkungen der Letzteren untersteht. In diesem
Zusammenhang, der für das Frankreich der 1970er
Jahre weitaus relevanter ist, als er es für die internatio
nale Peripherie sein kann, ist die Formierung einer
Klasse künstlich und ökonomisch, und das ökonomische
Handlungsvermögen oder Interesse ist unpersönlich, da
es systematisch und heterogen ist. Das so verstandene
Handlungsvermögen oder Interesse schließt an die He
gel'sche Kritik des individuellen Subjekts an, denn es
markiert den leeren Ort des Subjekts in jenem subjektlo
sen Prozess, den Geschichte und politische Ökonomie
darstellen. Der Kapitalist wird hier als »bewusster Trä
ger der maßlosen Bewegung des Kapitals« 16 definiert.
Mein Argument ist, dass Marx nicht um die Erschaffung
eines ungeteilten Subjekts bemüht ist, in dem Begehren
und Interesse zusammenfallen. Klassenbewusstsein wirkt
nicht. auf dieses Ziel hin. Sowohl auf ökonomischem Ge
biet (Kapitalist) als auch auf politischem Gebiet (weltge
schichtlicher Akteur) sieht sich Marx genötigt, Modelle
eines geteilten und dislozierten Subjekts zu entwerfen,
dessen Teile keinerlei Zusammenhang oder Kohärenz
aufweisen. Eine gefeierte Stelle wie die Beschreibung des
Kapitals als faustisches Monster führt uns das lebhaft
vor Augen.17
Die folgende Passage, die an das Zitat aus dem Acht
zehnten Brumaire anschließt, geht ebenfalls vom struk
turellen Prinzip eines disparaten und dislozierten Klas
sensubjekts aus: Das (mangelnde kollektive) Bewusstsein
der Klasse von Parzellenbauern findet ihren »Träger« in
einem »Repräsentanten«, einem »Vertreter«, der in je
mandes anderen Interesse zu arbeiten scheint. Das Wort
für »Repräsentant« leitet sich hier nicht von »darstel
len«,,_ ab; dies verschärft den Kontrast, über den Fou
cault und Deleuze hinwegsehen, nämlich den Kontrast,
der, sagen wir, zwischen einer Stellvertreterln und einem
Porträt besteht. Gewiss gibt es eine Beziehung zwischen
beiden, die zudem in der europäischen Tradition eine po
litische und ideologische Zuspitzung erfahren hat, zu
mindest seitdem Dichter und Sophist, Schauspieler und
Redner als gleichermaßen schädlich angesehen wurden.
Im Gewand einer postmarxistischen Beschreibung der
Bühne der Macht begegnen wir auf diese Weise einer viel
älteren Debatte: jener zwischen Repräsentation oder
31
Rhetorik als Tropologie und als Überzeugung. Darstel
len''" gehört der ersten Konstellation an, vertreten''. - mit
stärkeren Anklängen an eine Substitution - der zweiten.
Wiederum sind beide miteinander verbunden, aber sie
ineinander laufen zu lassen, insbesondere um zu sagen,
dass der Ort, wo unterdrückte Subjekte für sich selbst
sprechen, handeln und wissen, jenseits von beiden liege,
führt zu einer essenzialistischen, utopischen Politik. Hier also die Stelle bei Marx, die »vertreten«,,_ verwen
det, wo im Englischen »represent« benutzt wird, und die
ein soziales »Subjekt« diskutiert, dessen Bewusstsein
und Vertretung" (ebenso sehr eine Substitution wie eine
Repräsentation) disloziert und inkohärent sind: Die Par
zellenbauern »können sich nicht vertreten, sie müssen
vertreten werden. Ihr Vertreter muss zugleich als ihr
Herr, als eine Autorität über ihnen erscheinen, als eine
unumschränkte Regierungsgewalt, die sie vor den ande
ren Klassen beschützt und ihnen von oben Regen und
Sonnenschein schickt. Der politische Einfluss [anstelle
des Klasseninteresses, zumal es kein geeintes Klassensub
jekt gibt] der Parzellenbauern findet also darin seinen
letzten Ausdruck [die Implikation einer Kette von Substi
tutionen - Vertretungen''" - ist hier stark], dass die Exe
kutivgewalt sich die Gesellschaft unterordnet.«
Ein solches Modell sozialer Indirektheit - mit notwendi
gen Rissen zwischen der Quelle des »Einflusses« (in die
sem Fall den Parzellenbauern), dem »Vertreter« (Louis
Napoleon) und dem historisch-politischen Phänomen
(Exekutivgewalt) - impliziert nicht nur eine Kritik des
Subjekts als eines individuellen Handlungsträgers, son
dern sogar eine Kritik der Subjektivität einer kollektiven
Handlungsfähigkeit. Die notwendigerweise dislozierte
Maschine der Geschichte ist in Bewegung, weil »die Die~
selbigkeit [der] Interessen« dieser Parzellenbauern
»keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und
keine politische Organisation unter ihnen erzeugt«. Das
32
Ereignis der Repräsentation als Vertretung" (in der Kon
stellation der Rhetorik-als-Überzeugung) verhält sich
wie eine Darstellung''" (oder Rhetorik-als-Trope), sie be
zieht ihren Ort im Zwischenraum zwischen der Formie
rung einer (deskriptiven) Klasse und der Nicht-Formie
rung einer (transformativen) Klasse: »Insofern Millionen
von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen
leben, die ihre Lebensweise [ ... ] trennen, bilden sie eine
Klasse. Insofern [ ... ] die Dieselbigkeit ihrer Interessen
keine Gemeinsamkeit [ ... ] erzeugt, bilden sie keine
Klasse.« Die Komplizität von Vertreten" und Dar
stellen"", ihre Identität-in-Differenz als Ort der Praxis -
denn diese Komplizität ist genau das, was Marxistlnnen
darlegen müssen, wie Marx es im Achtzehnten Brumaire
tut -, kann nur zu Bewusstsein gelangen, wenn die bei
den nicht durch einen Taschenspielertrick in einem Wort
zusammengefasst werden.
Es wäre nur tendenziös, wollte man argumentieren, dass
eine solche Lektüre Marx zu sehr textualisiere und ihn
dem gewöhnlichen Menschen [common »man«] unzu
gänglich mache, der als Opfer des gesunden Menschen
verstands [common sense] so tief in einem Erbe des Posi
tivismus verwurzelt sei, dass die irreduzible Betonung,
die Marx auf die Arbeit des Negativen, die Notwendig
keit einer Entfetischisierung des Konkreten legt, ihm be
harrlich durch die stärkste Widersacherin, die in der Luft
hängende »geschichtliche Tradition«, entrissen werde. 18
Ich habe herauszustellen versucht, dass der ungewöhnli
che Mensch [uncommon »man«], der gegenwärtige Phi
losoph der Praxis, zuweilen denselben Positivism,us zur Schau stellt. "__.
Der Ernst des Problems ist offenkundig, sofern man zu
stimmt, dass die Entwicklung eines transformativen
Klassen-»Bewusstseins« aus einer deskr~tiven Klassen
»Position« bei Marx keine Aufgabe ist, welche die
grundlegende Ebene des Bewusstseins involviert. Klas-
33
senbewusstsein bleibt mit der Gemeinsamkeit verbun
den, die der nationalen Verbindung und politischen Organisationen zugehört, nicht mit jener anderen Gemein
samkeit, deren Strukturmodell die Familie ist. Obwohl sie nicht mit der Natur identifiziert wird, findet sich die
Familie hier in eine Konstellation mit dem gerückt, was Marx unter dem Begriff »Austausch mit der Natur«
fasst, der philosophisch gesprochen einen »Platzhalter« für den Gebrauchswert bildet.19 Der »Austausch mit der Natur« wird durch den »Verkehr mit der Gesellschaft«
kontrastiert, wobei »Verkehr« das von Marx üblicher
weise verwendete Wort für »Handel« ist. Dieser »Verkehr« nimmt also den Platz jenes Austauschs ein, der zur
Mehrwertproduktion führt, und eben im Bereich dieses
Verkehrs muss die Gemeinsamkeit entwickelt werden, die zur Handlungsfähigkeit als Klasse führt. Volle Hand
lungsfähigkeit als Klasse (wenn es dergleichen gäbe) ist keine ideologische Transformation des Bewusstseins auf grundlegender Ebene, keine Begehrensidentität von
Handlungsträgerlnnen und deren Interessen - jene Iden
tität, deren Abwesenheit Foucault und Deleuze Umstände bereitet. Es ist eine streitbare Ersetzung sowie
eine Aneignung (eine Supplementierung) von etwas, das von Anfang an »künstlich« ist- »ökonomische Existenz
bedingungen, die ihre Lebensweise trennen«. Marx' For
mulierungen zeigen eine behutsame Rücksicht auf die
aufkeimende Kritik der individuellen und kollektiven Handlungsfähigkeit. Die Entwürfe des Klassenbewusst
seins und der Transformierung des Klassenbewusstseins sind für ihn getrennte Themen. Umgekehrt stellen gegen
wärtige Beschwörungen einer »libidinalen Ökonomie« und des Begehrens als bestimmendes Interesse - in Kom
bination mit der praktischen Politik der Unterdrückten (unter der Bedingung sozialisierten Kapitals), die »für
sich selbst sprechen« - die Kategorie des souveränen
34
Subjekts im Rahmen jener Theorie wieder her, die diese Kategorie am meisten in Frage zu stellen scheint.
Zweifellos ist der Ausschluss der Familie, und sei es auch einer Familie, die einer spezifischen Klassenformation
angehört, Teil des männlich geprägten Rahmens, inner
halb dessen der Marxismus seine Geburt verzeichnet.20
Historisch wie auch in der globalen politischen Ökonomie unserer Tage stellt sich die Rolle der Familie in patri
archalen gesellschaftlichen Verhältnissen als dermaßen heterogen und angefochten dar, dass die bloße Ersetzung
der Familie in dieser Problematik nicht den Rahmen auf
brechen wird. Ebenso wenig liegt die Lösung in der positivistischen Inklusion einer monolithischen Kollektivität
von »Frauen« in die Liste der Unterdrückten, deren ungebrochene Subjektivität es erlaubt, dass sie - gegen ein
gleichermaßen monolithisches »System der Selbigkeit« [an equally monolithic »same system«] - für sich selbst sprechen.
Im Zusammenhang mit der Entwicklung eines strategi
schen und künstlichen »Bewusstseins«, eines »Bewusstseins« auf zweiter Ebene, verwendet Marx den Begriff
des Patronymischen, und zwar immer im Rahmen des breiteren Begriffs der Repräsentation als Vertretung":
Die Parzellenbauern »sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei
es durch einen Konvent geltend zu machen«. Dem Man
gel an einem nicht-familialen, künstlichen kollektiven Namen wird durch den einzigen Eigennamen abgeholfen, den die »geschichtliche Tradition« bereitstellen kann
- durch das Patronymische selbst, den Namen des Va
ters: »Durch die geschichtliche Tradition ist der Wunderglaube der französischen Bauern entstanden, dass ein
Mann namens Napoleon ihnen alle Herrlichkeit wiederbringen werde. Und es fand sich ein Individuum [an indi
vidual turned up]« - das unübersetzbare »es fand sich« (es fand sich selbst ein Individuum? [there found itself an
35
individual?]) zertrümmert alle Fragen nach der Handlungsfähigkeit oder der Verbindung der Handlungsträge
rinnen mit ihren Interessen - »das sich für diesen Mann ausgibt« (diese Vortäuschung ist im Kontrast dazu seine
einzige eigene Handlungsfähigkeit), »weil es den Namen Napoleon trägt [trägt'' - das Wort, das für das Verhält
nis des Kapitalisten zum Kapital verwendet wird], infolge des Code Napoleon, der anbefiehlt: >La recherche
de la paternite est interdite.< [>Die Erforschung der Vaterschaft ist untersagt.<]« Wenn Marx auch im Rahmen ei
ner patriarchalen Metaphorik zu arbeiten scheint, so
sollte doch auf die textuelle Subtilität der Passage hinge
wiesen werden. Es ist das Gesetz des Vaters (der Code
Napoleon), das paradoxerweise die Suche nach dem natürlichen Vater verbietet. Somit entspricht es einer strikten Einhaltung des historischen Gesetzes des Vaters,
dass dem Glauben der formierten und doch unformierten Klasse an den natürlichen Vater abgeschworen wird.
Ich habe mich deswegen so lange bei dieser Marx-Pas
sage aufgehalten, weil sie die innere Dynamik der Vertre
tung" offen legt, der Repräsentation im politischen Zu
sammenhang. Repräsentation im ökonomischen Zusammenhang ist Darstellung''., gemäß dem philosophischen
Begriff der Repräsentation als Inszenierung oder sogar Bedeutungsgebung, der sich auf indirekte Weise auf das
geteilte Subjekt bezieht. Die offensichtlichste Stelle ist wohlbekannt: »Im Austauschverhältnis der Waren selbst
erschien uns ihr Tauschwert als etwas von ihren Gebrauchswerten durchaus Unabhängiges. Abstrahiert
man nun wirklich vom Gebrauchswert der Arbeitsprodukte, so erhält man ihren Wert, wie er eben bestimmt
ward. Das Gemeinsame, was sich im Austauschverhältnis oder Tauschwert der Ware darstellt [represents itselfj,
ist also ihr Wert.«21
Marx zufolge wird im Kapitalismus der Wert, wie er in
notwendiger Arbeit und Mehrarbeit produziert wird, als
Repräsentation/Zeichen der vergegenständlichten Arbeit
(die von der menschlichen Tätigkeit streng unterschieden
wird) veranschlagt. Umgekehrt muss die kapitalistische Ausbeutung, wo eine Theorie der Ausbeutung als Ex
traktion (Produktion), Aneignung und.Verwirklichung von (Mehr-)Wert als Repräsentation von Arbeitskraft
fehlt, als eine Spielart von Herrschaft (der Mechanik der Macht als solcher) angesehen werden. »[B]esonders der
Marxismus«, sagt Deleuze, »hat das Problem [dass Macht diffuser ist als die Struktur der Ausbeutung und
die Ausformung des Staats] in Interessensbegriffen be
stimmt (die Macht hat eine durch ihre Interessen bestimmte herrschende Klasse inne)« (PD, S. 391).
Gegen diese minimalistische Zusammenfassung von Marx' Entwurf ist nichts einzuwenden, und ebenso we
nig kann ignoriert werden, dass Deleuze und Guattari in Teilen des Anti-Ödipus ihre Argumentation auf einem
brillanten, wenn auch »poetischen« Verständnis von Marx' Theorie der Geldform aufbauen. Wir könnten un
sere Kritik jedoch auf die folgende Art und Weise ver
stärken: Das Verhältnis zwischen dem globalen Kapitalismus (ökonomische Ausbeutung) und nationalstaatlichen Allianzen (geopolitische Herrschaft) ist dermaßen
makrologisch, dass es die mikrologische Textur der Macht nicht erklären kann. Um sich einer solchen Erklärung anzunähern, muss man sich Theorien der Ideo
logie zuwenden - also Theorien von Subjektformationen, die mikrologisch und in oft unberechenbarer Weise
die Interessen betreiben, die zur Verhärtung der Makrologien führen. Solche Theorien können es sich nicht lei
sten, die Kategorie der Repräsentation in ihren zwei Bedeutungen zu übersehen. Sie müssen davon Notiz neh
men, wie die Inszenierung der Welt in der
Repräsentation - die Bühne, auf der sie geschrieben wird, ihre Darstellung" - die Wahl und das Bedürfnis
37
nach »Helden«, väterlichen Stellvertretern, Agenten der
Macht verschleiert - Vertretung''.
Eine radikale Praxis sollte meines Erachtens diesem dop
pelten Modus der Repräsentationen Beachtung schenken, anstatt das individuelle Subjekt über totalisierende
Konzepte von Macht und Begehren erneut einzuführen.
Ebenso bin ich der Ansicht, dass Marx, indem er den Bereich der Klassenpraxis auf einer zweiten Abstraktionsebe
ne beließ, in Wirklichkeit die (Kantische und) Hegel'sche
Kritik des individuellen Subjekts als Handlungsträgerln
offen hielt. 22 Diese Sichtweise zwingt mich nicht zu einer
Verkennung des Umstands, dass sich Marx einer uralten Ausflucht bedient, wenn er Familie und Muttersprache
implizit als grundlegende Ebene definiert, auf der Kultur und Konvention die Art und Weise zu sein scheinen, wie die Natur selbst »ihre« eigene Subversion organisiert.23
Im Zusammenhang poststrukturalistischer Ansprüche
darauf, eine kritische Praxis zu sein, scheint dieses Problem leichter zu beheben als die klammheimliche Wie
dereinsetzung eines subjektiven Essenzialismus. Die Reduktion von Marx auf eine wohlwollende, jedoch
überholte Figur dient zumeist dem Interesse, eine neue
Theorie der Interpretation zu lancieren. Im Gespräch zwischen Foucault und Deleuze scheint es darum zu ge
hen, dass es keine Repräsentation, keinen Signifikanten gibt. (Sollte davon ausgegangen werden, dass der Signifi
kant bereits entsorgt ist? Es gibt mithin keine Zeichen
struktur, die die Erfahrung bestimmt, und wir können also die Semiotik verabschieden?) Die Theorie ist eine Schaltstelle der Praxis (womit Probleme der theoreti
schen Praxis verabschiedet werden), und die Unter
drückten können für sich selbst wissen und sprechen. Dadurch wird das konstitutive Subjekt auf zumindest
zwei Ebenen wieder eingeführt: als Subjekt des Begehrens und der Macht im Sinne einer unhintergehbaren
methodologischen Voraussetzung; sowie als Subjekt der
Unterdrückten, das sich selbst am nächsten, wenn nicht
sogar mit sich selbst identisch ist. Ferner werden die Intellektuellen, die keines dieser S/Subjekte sind, als durch
laufene Schaltstelle transparent, denn sie berichten bloß vom nicht-repräsentierten Subjekt und analysieren (ohne
zu analysieren) die Arbeitsweisen von Macht und Begehren (bzw. von jenem ungenannten Subjekt, das durch
Macht und Begehren irreduzibel vorausgesetzt wird). Die produzierte Transparenz markiert den Ort des »In
teresses«; sie wird durch eine vehemente Verneinung aufrechterhalten: »Nun ist aber diese Position des Schieds
richters, des Richters oder des universellen Zeugen eine
Rolle, der ich mich uneingeschränkt verweigere [ ... ] «
(Sehr III, S. 40). Eine Verantwortung, in der Kritikerin
nen stehen, könnte darin gesehen werden, so zu lesen und zu schreiben, dass die Unmöglichkeit solch interes
segeleiteter individualistischer Verweigerungen gegen
über den dem Subjekt verliehenen institutionellen Privilegien der Macht ernst genommen wird. Die Verweige
rung gegenüber dem Zeichensystem blockiert den Weg zu einer ausgearbeiteten Ideologietheorie. Auch hier lässt sich der eigentümliche Tonfall der Verneinung verneh
men: Auf Jacques-Alain Millers Andeutung, dass »die
Institution [ ... ] etwas Diskursives« sei, antwortet Foucault: »Wenn du so willst, doch für meine Sache mit dem
Dispositiv ist es nicht so sehr wichtig, ob es heißt: Dies da ist diskursiv, dies da ist es nicht. [ ... ] mein Problem
[ist] ja kein sprachliches« (Sehr III, S. 396). Warum diese Verschmelzung von Sprache und Diskurs von Seiten des Meisters der Diskursanalyse?
Edward W. Saids Kritik an Foucaults Machtbegriff als
einer fesselnden und mystifizierenden Kategorie, die es ihm erlaubt, »die Frage zu ignorieren, welche Rolle Klas
sen, welche Rolle die Ökonomie, welche Rolle Aufstand und Rebellion [ ... ] spielen«, ist hier von besonderer Re
levanz. 24 Ich füge der Analyse von Said den Begriff des
39
heimlichen Subjekts von Macht und Begehren hinzu,
markiert durch die Transparenz des Intellektuellen. Selt
sam genug, dass Paul Bove an Said dessen Betonung der
Bedeutung der Intellektuellen beanstandet, während
»Foucaults Projekt im Wesentlichen eine Herausforde
rung gegenüber der führenden Rolle sowohl hegemonia
ler als auch oppositioneller Intellektueller ist« 25• Ich
habe angedeutet, dass diese »Herausforderung« genau
deshalb in die Irre führt, weil sie das verkennt, was Said
unterstreicht - nämlich die institutionelle Verantwortung
der Kritikerlnnen.
Das S/Subjekt, das über Verneinungen auf wundersame
Weise zu einer Transparenz zusammengeflickt wird,
gehört der Seite der Ausbeutung innerhalb der interna
tionalen Arbeitsteilung an. Zeitgenössischen französi
schen Intellektuellen ist es nicht möglich, sich jene Art
von Macht und Begehren vorzustellen, die dem namen
losen Subjekt von Europas Anderem/r innewohnen mag.
Nicht nur dass alles, was sie gelesen haben, sei es kritisch
oder unkritisch, innerhalb der Debatte der Erzeugung
dieses/r Anderen gefangen ist, indem es die Konstitution
des Subjekts als Europa unterstützt oder kritisiert. Es
geht auch darum, dass die textuellen Ingredienzien, mit
denen ein solches Subjekt seinen Werdegang besetzen
konnte, in der Konstitution dieses/r Anderen von Europa
mit großer Sorgfalt verwischt wurden, und zwar nicht
nur durch ideologische und wissenschaftliche Produk
tion, sondern auch durch die Institution des Rechts. Wie
reduktionistisch eine ökonomische Analyse auch immer
scheinen mag, die französischen Intellektuellen vergessen
auf eigene Gefahr, dass diese ganze überdeterminierte
Unternehmung im Interesse einer dynamischen ökono
mischen Situation erfolgte, die danach verlangte, dass Interessen, Motive (Begehren) und Macht (des Wissens)
rücksichtslos disloziert werden. Diese Dislozierung nun
mehr als eine radikale Entdeckung zu beschwören, die
uns zur Diagnose des Ökonomischen (der Existenzbe
dingungen, die »Klassen« auf deskriptiver Ebene sepa
rieren) als Bestandstück einer überholten analytischen
Maschinerie bewegen soll, könnte darauf hinauslaufen,
die Arbeit dieser Dislozierung fortzusetzen und unwis
sentlich zu »einer neuen Balance hegemonialer Beziehun
gen «26 beizutragen. Ich werde auf dieses Argument
gleich noch zurückkommen. Angesichts der Möglichkeit,
dass Intellektuelle zu Komplizinnen in der beharrlichen
Konstituierung des/der Anderen als Schatten des Selbst
werden, könnte eine Möglichkeit der politischen Praxis
für die intellektuelle Welt darin bestehen, das ökonomi
sche als »durchgestrichen« anzusetzen und den ökono
mischen Faktor zugleich als irreduzibel anzusehen, zu
mal er sich, selbst als durchgestrichener und wie unvoll
kommen auch immer, aufs Neue in den sozialen Text
einschreibt, wenn er die letzte Determinante oder das
transzendentale Signifikat zu sein beansprucht.27
II
Das klarste Beispiel für eine solche epistemische Gewalt ist das aus der Distanz orchestrierte, weitläufige und he
terogene Projekt, das koloniale Subjekt als Anderes zu konstituieren. Dieses Projekt bedeutet auch die asymme
trische Auslöschung der Spuren dieses Anderen in seiner
prekären Subjekt-ivität bzw. Unterworfenheit. Bekanntlich siedelt Foucault epistemische Gewalt, eine komplette
Überarbeitung der Episteme, in der Neudefinition von geistiger Gesundheit an, die am Ende des europäischen
18. Jahrhunderts vollzogen wird.28 Aber was wenn diese
partielle Neudefinition nur ein Teil des Narrativs der Geschichte in Europa wie auch in den Kolonien wäre? Was wenn die beiden Projekte einer epistemischen Überarbei
tung als dislozierte und uneingestandene Teile einer immensen zweiarmigen Maschine [two-handed engine] ge
arbeitet hätten? Vielleicht liefe dies lediglich auf die For
derung hinaus, dass der Subtext des palimpsestischen Narrativs des Imperialismus als »unterworfenes Wissen«
anerkannt wird, als »eine ganze Reihe von Wissen, die als nicht-begriffliches Wissen, als unzureichend ausgear
beitetes Wissen abgewertet wurden: naive, am unteren Ende der Hierarchie angesiedelte Wissen, Wissen unter
halb des verlangten Kenntnisstandes und des erforderli
chen Wissenschaftsniveaus« (VG, S. 15). Es geht mir hier nicht um eine Beschreibung dessen, »wie es eigentlich gewesen«, noch auch um die Behauptung,
das Narrativ der Geschichte als Imperialismus sei als be
ste Version der Geschichte zu privilegieren.29 Es geht mir vielmehr darum, zu zeigen, wie eine Erklärung bzw. ein Narrativ der Realität als normativ etabliert wurde. Be
trachten wir, um dies weiter auszuführen, kurz den Un
terbau der britischen Kodifizierung des Hindu-Gesetzes.
42
Zuerst einige Vorbehalte: In den Vereinigten Staaten ist der Diskurs über die »Dritte Welt«, der in den Geistes
wissenschaften vorherrscht, oft offen ethnisch verfasst.
Ich wurde in Indien geboren und habe dort meine Grund- und Sekundarschulausbildung ebenso erhalten
wie meine universitäre Ausbildung samt zwei Jahren postgradualem Studium. Mein indisches Beispiel könnte
also als nostalgische Erforschung der verlorenen Wurzeln meiner Identität angesehen werden. Ich würde den
noch - und obwohl ich weiß, dass man das Dickicht der »Motivationen« nicht ungehindert betreten kann - be
haupten, dass mein primäres Projekt darin besteht, die
positivistisch-idealistische Variante einer solchen Nostalgie herauszustellen. Ich wähle indisches Material, weil
mir der Zufall von Geburt und Bildung, ohne dass ich über eine disziplinenspezifische Ausbildung verfügen
würde, ein Gefühl für den historischen Gesamtzusammenhang sowie die Kenntnis einiger der relevanten Spra
chen an die Hand gibt, die für einen bricoleur hilfreiche Instrumente sind - besonders dann, wenn man mit einem
marxistischen Skeptizismus bezüglich der konkreten Erfahrung als letztgültiger Instanz und einer Kritik an Disziplinenformierungen bewaffnet ist. Dennoch kann der
indische Fall nicht als repräsentativ für alle Länder, Nationen, Kulturen etc. angesehen werden, die als das An
dere von Europa - als Selbst - angeführt werden mögen. Nun zur schematischen Zusammenfassung der epistemi
schen Gewalt, die in der Kodifizierung des Hindu-Gesetzes liegt. Wenn sich der Begriff der epistemischen Gewalt
auf diese Weise verdeutlichen lässt, so kann dies meiner abschließenden Diskussion des Witwenopfers zusätzliche
Signifikanz verleihen. Ende des 18. Jahrhunderts hat das Hindu-Gesetz, sofern
es sich als einheitliches System beschreiben lässt, mit vier Textsorten gearbeitet; diese »inszenierten« eine viertei
lige Episteme, welche durch den Gebrauch des Gedächt-
43
nisses durch das Subjekt definiert wurde: .§ruti (das
Gehörte), smrti (das Erinnerte), Sitstra (das von anderen
Gelernte) und vyavahära (das im Austausch Vollzogene).
Die Ursprünge dessen, was gehört und erinnert wurde,
bildeten nicht notwendigerweise einen Zusammenhang
oder eine Identität. Technisch gesehen rezitierte jede An
rufung von .fruti das Ereignis des ursprünglichen
»Hörens« oder der Offenbarung (bzw. eröffnete dieses
Ereignis aufs Neue). Die letzteren beiden Texte - das Ge
lernte und das Vollzogene - wurden als in einem dialek
tischen Zusammenhang stehend angesehen. Rechtstheo
retiker und Leute, die das Recht zur Anwendung brach
ten, waren sich in keinem Fall sicher, ob diese Struktur
das Gesetzeskorpus beschrieb oder vier Arten der
Schlichtung von Auseinandersetzungen. Die Legitima
tion der polymorphen Struktur der Rechtsausübung, die
»in ihrem Inneren« nicht-kohärent und aufgrund einer
binären Sichtweise offen an beiden Enden ist, bildet das
Narrativ der Kodifizierung, das ich als ein Beispiel für
epistemische Gewalt anbiete.
Das Narrativ der Stabilisierung und Kodifizierung des
Hindu-Gesetzes ist weniger bekannt als die Geschichte
des indischen Erziehungssystems, weshalb es vielleicht
sinnvoll ist, hiermit anzufangen. 30 Betrachten wir die oft
zitierten programmatischen Zeilen aus Macaulays
berüchtigtem »Minute on Indian Education« (1835):
»Wir müssen gegenwärtig unser Bestes tun, um eine
Klasse von Menschen hervorzubringen, die zwischen uns
und den Millionen, die wir regieren, übersetzen können;
eine Klasse von Personen, die in Blut und Farbe indisch
sind, aber englisch in ihrem Geschmack, ihren Meinun
gen, ihrer Moral und ihrem Intellekt. Dieser Klasse kön
nen wir es überlassen, die Landesdialekte zu verfeinern,
diese Dialekte mit wissenschaftlichen, der westlichen
Nomenklatur entlehnten Begriffen anzureichern und sie
nach und nach zu einem guten Instrument für die Ver-
44
mittlung von Wissen an die breite Bevölkerungsmasse zu
machen.« 31 Die Erziehung der kolonialen Subjekte er
gänzt die Produktion dieser Subjekte durch das Gesetz.
Ein Effekt der Etablierung einer Variante des britischen
Systems bestand in der Entwicklung einer instabilen
Trennung zwischen der Wissens- und Ausbildungsdiszi
plin der Sanskritstudien und der nativen - nunmehr al
ternativen - Tradition der Sanskrit-»Hochkultur«. In
nerhalb der Ersteren entsprachen die durch autoritative
Gelehrte hervorgebrachten kulturellen Erklärungen der
epistemischen Gewalt des Rechtsprojekts.
Hierin verorte ich die Gründung der Asiatic Society of
Bengal im Jahr 1784 und des Indian Institute in Oxford
1883 sowie die analytische und taxonomische Arbeit
von Gelehrten wie Arthur Macdonnell und Arthur Ber
riedale Keith, die beide Kolonialbeamte und für die
Frage des Sanskrit zuständig waren. Aus ihren zuver
sichtlichen utilitaristisch-hegemonialen Plänen für Sans
kritstudenten und -forscher sind weder die aggressive
Repression des Sanskrit im allgemeinen Schulsystem
noch die zunehmende »Feudalisierung« des performati
ven Gebrauchs von Sanskrit im Alltagsleben des brah
manisch-hegemonialen Indien auch nur zu erahnen.32
Nach und nach wurde eine Version der Geschichte eta
bliert, in der die Brahmanen so dargestellt wurden, als
hätten sie dieselben Intentionen wie die kodifizierenden
Briten (die auf diese Weise legitimiert wurden): »Um die
Hindu-Gesellschaft intakt zu halten, mussten [die] Nach
folger [der ursprünglichen Brahmanen] alles auf Schrift
reduzieren und sie immer rigider machen. Und das ist es,
was die Hindu-Gesellschaft erhalten hat, trotz einer
Reihe von politischen Aufständen und Invasionen von
außen.« 33 Das ist das 1925 geäußerte Urteil des indi- -·
sehen Sanskritgelehrten Mahamahopadhyaya Harapra
sad Shastri, eines hervorragenden Repräsentanten der in
digenen Elite innerhalb der kolonialen Produktion, der
45
gebeten worden war, mehrere Kapitel einer »Geschichte
Bengalens« zu schreiben, entworfen 1916 vom Privatsekretär des Generalgouverneurs von Bengalen. 34 Um die
Asymmetrie in der Beziehung zwischen Autorität und Erklärung anzudeuten (abhängig von der »Rasse«
Klasse der Autorität), werfen wir noch einen vergleichenden Blick auf die folgende Bemerkung von Edward
Thompson, einem englischen Intellektuellen, aus dem Jahr 1928: »Der Hinduismus war, was er zu sein schien.
[„.] Eine höhere Zivilisation hat ihn besiegt, sowohl im Falle Akbars als auch im Falle der Engländer.« 35 Und zu
sätzlich sei noch der Brief eines englischen Soldaten-Ge
lehrten aus den 1890ern erwähnt: »Das Studium des Sanskrit, >der Sprache der Götter<, hat mir in meinen
letzten 25 Jahren in Indien großes Vergnügen bereitet, aber es hat mich, wie ich dankbar sagen kann, nicht -
wie so manche andere - dahin geführt, meinen herzlichen Glauben an unsere eigene große Religion aufzugeben. «36
Diese Autoritäten sind die allerbesten der Quellen, die
den nicht-spezialisierten französischen Intellektuellen als Zugang zur Zivilisation der Anderen zur Verfügung stehen. 37 Ich beziehe mich hier indes nicht auf Intellektuelle
und Wissenschaftler der postkolonialen Produktion wie
Shastri, wenn ich sage, dass der/die Andere als Subjekt Foucault und Deleuze unzugänglich bleiben. Ich denke
an die allgemeine nicht-spezialisierte, nicht-akademische
Bevölkerung quer durch das Klassenspektrum, für die die Episteme ihre lautlose programmierende Funktion
ausübt. Ohne die Landkarte der Ausbeutung zu berücksichtigen, auf welchem Raster der »Unterdrückung«
würden sie diesen bunten Haufen einordnen? Wenden wir uns nun einer Betrachtung der Ränder (man
könnte genauso gut sagen, des lautlosen, zum Schweigen gebrachten Zentrums) des Kreislaufs zu, der durch diese
epistemische Gewalt angezeigt wird, nämlich den Män-
nern und Frauen der illiteraten bäuerlichen Bevölkerung, den Stammesangehörigen, der untersten Schicht des
städtischen Subproletariats. Laut Foucault und Deleuze
können (in der Ersten Welt, in einer Situation der Standardisierung und Reglementierung von sozialisiertem
Kapital, obwohl sie das nicht zu erkennen scheinen) die Unterdrückten, sofern ihnen die Möglichkeit dazu gege
ben wird (das Problem der Repräsentation kann hier nicht umgangen werden), und auf dem Weg zu einer durch Allianzpolitik geschaffenen Solidarität (eine mar
xistische Thematik ist hier am Werk), ihre Verhältnisse
aussprechen und erkennen. Wir müssen uns jetzt der folgenden Frage stellen: Auf der anderen Seite der interna
tionalen Abspaltung der Arbeit vom sozialisierten Kapital, innerhalb und außerhalb des Kreislaufs der epistemi
schen Gewalt des imperialistischen Rechts und der
imperialistischen Erziehung, die einen früheren ökonomischen Text supplementieren - können Subalterne sprechen?
Antonio Gramscis Arbeit über die »subalternen Klas
sen« erweitert die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Klassenposition und Klassenbewusstsein, die im Achtzehnten Brumaire isoliert vollzogen wird. Gramsci
beschäftigt, vielleicht weil er die avantgardistische Position des leninistischen Intellektuellen kritisiert, die Rolle
des Intellektuellen in der auf Hegemonie zielenden kultu
rellen und politischen Bewegung der Subalternen. Diese Bewegung ist notwendig, um die Hervorbringung von
Geschichte als Narrativ (der Wahrheit) zu bestimmen. In Texten wie »Einige Gesichtspunkte zur Frage des Sü
dens« betrachtet Gramsci die Bewegung der historisch
politischen Ökonomie in Italien in einem Rahmen, der
als eine Allegorie des Lesens angesehen werden kann, welche auf die internationale Arbeitsteilung hinweist
oder diese ankündigt.38 Dennoch wird eine Bestandsaufnahme der stufenweisen Entwicklung der Subalternen
47
nicht gelingen, wenn die Anwendung von Gramscis kul
tureller Makrologie dem Einfluss der rechtlichen und
disziplinenspezifischen Definitionen, die das imperialisti
sche Projekt begleiten, auch nur im Entferntesten episte
misch ausgesetzt bleibt. Wenn ich mich am Ende dieses
Aufsatzes der Frage der Frau als Subalterner zuwende,
werde ich behaupten, dass die Möglichkeit von Kollekti
vität selbst beharrlich durch die Manipulation weibli
cher Handlungsfähigkeit abgesperrt wird. Mit dem ersten Teil meiner Feststellung - dass die stufen
weise Entwicklung der Subalternen durch das imperiali
stische Projekt kompliziert wird - setzt sich eine Gruppe
von Intellektuellen auseinander, die als »Subaltern Stu
dies«-Gruppe bezeichnet werden kann.39 Sie müssen fra
gen: Können Subalterne sprechen? Wir befinden uns hier
in Foucaults eigenster Disziplin, der Geschichte, und ha
ben es mit Leuten zu tun, die seinen Einfluss anerkennen.
Ihr Projekt besteht darin, die indische Kolonialge
schichtsschreibung aus der Perspektive der diskontinu
ierlichen Kette von Bauernaufständen zu überdenken,
die während der kolonialen Besetzung stattfanden. Hier
stehen wir in der Tat vor dem Problem der »Erlaubnis zu
erzählen«, wie es von Said erörtert wurde.40 Ranajit
Guha meint dazu:
»Die Historiographie des indischen Nationalismus war lange Zeit von Elitismus dominiert: einem kolonialistischen Elitismus und einem bürgerlich-nationalistischen Elitismus [ ... ],die das Vorurteil teilen, dass die Herausbildung der indischen Nation und die Entwicklung des Bewusstseins - des Nationalismus -, das diesen Prozess bekräftigte, ausschließlich oder überwiegend eine Elitenleistung darstellten. In den kolonialen und neokolonialen Historiographien werden diese Leistungen den britisch-kolonialen Herrschern, Administratoren und Institutionen, ihrer Politik und Kultur zugeschrieben; in den nationalistischen und neonationalistischen Schriften dagegen Persönlichkeiten, Institutionen, Aktivitäten und Ideen der indischen Elite.« 41
Einige Spielarten der indischen Elite werden im besten
Fall von einheimischen Informantinnen für Intellektuelle
aus der Ersten Welt, die sich für die Stimme des/der An
deren interessieren, gebildet. Dennoch gilt es darauf zu
bestehen, dass das kolonisierte subalterne Subjekt un
wiederbringlich heterogen ist.
Der indigenen Elite könnten wir die von Guha so ge
nannte »Politik des Volkes« [»the politics of the people«] entgegenstellen, und zwar sowohl außerhalb (»es handelte sich um einen autonomen Bereich, da sie
weder durch Elitenpolitik geschaffen wurde noch in ih
rer Existenz von Letzterer abhing«) als auch innerhalb
(»sie hat trotz des [Kolonialismus] weiterhin kraftvoll
funktioniert, indem sie sich an die unter dem Raj beste
henden Verhältnisse angepasst hat und in vieler Hinsicht
völlig neue Typen entwickelt hat, sowohl was die Form
als auch was den Inhalt betrifft«) des Kreislaufs kolonia
ler Produktion.42 Ich kann dieses Beharren auf einer fest
stehenden Vitalität und voller Autonomie nicht ganz un
terschreiben, da praktische historiographische Anforde
rungen eine solche Privilegierung des subalternen
Bewusstseins nicht zulassen. Gegen den möglichen Vor
wurf, ein solcher Zugang sei essenzialistisch, präsentiert
Guha eine Definition des Volkes [the people] (als des Or
tes einer solchen Essenz), die nur als Identität-im-Diffe
renten verstanden werden kann. Er schlägt ein dynami
sches Stratifikationsraster vor, das die koloniale soziale
Produktion umfassend beschreibt. Die dritte Gruppe auf
der Liste, die sozusagen die Puffergruppe zwischen dem
Volk und den großen makrostrukturellen, dominanten
Gruppen bildet, ist sogar selbst als ein Ort des Dazwi
schen definiert, mithin als das, was Derrida als »antre«
beschrieben hat43:
49
Elite 1. Dominante ausländische Gruppen. 2. Dominante einheimische Gruppen auf indienweiter Ebene. 3. Dominante einheimische Gruppen auf regionaler und lokaler Ebene. 4. Die Begriffe »Volk« und »subalterne Klassen« wurden hier durchgehend synonym benutzt. Die sozialen Gruppen und Elemente, die in dieser Kategorie enthalten sind, repräsentieren den demographischen Unterschied zwischen der indischen Gesamtbevölkerung und all ;enen, die wir als „Elite" beschrieben haben.
Betrachten wir den dritten Punkt der Liste - das antre ei
ner situationsbedingten Unbestimmtheit, das diese vorsichtigen Historikerlnnen voraussetzen, während sie mit der Frage ringen: Können Subalterne sprechen? »Als
Ganzes und im Abstrakten genommen war [„.] diese
Kategorie [.„] in ihrer Zusammensetzung heterogen und aufgrund des ungleichen Charakters regionaler ökono
mischer und sozialer Entwicklungen je nach Gebiet unterschiedlich. Dieselbe Klasse oder dasselbe Element, das
in einer Gegend dominant war [„.], konnte in einer anderen zu den Dominierten gehören. Das konnte viele
Zweideutigkeiten und Widersprüche in den Haltungen und Allianzen erzeugen und tat es auch, besonders in der
untersten Schicht des ländlichen Adels, bei verarmten
Gutsherren, reichen Bauern und Bauern aus der oberen Mittelklasse, die idealtypisch gesprochen allesamt zur Kategorie des Volkes oder der subalternen Klassen
h.. 44 ge orten.«
»Die Aufgabe der Forschungen«, die hier entworfen
wird, besteht darin, »die spezifische Natur und das Maß der Abweichung der [Punkt 3 konstituierenden] Ele
mente vom Ideal zu untersuchen, zu identifizieren und zu
vermessen, sowie sie historisch zu situieren. « »Das Spezifische untersuchen, identifizieren und vermessen«:
essenzialistischer und taxonomischer könnte ein Pro-
gramm kaum sein. Dennoch ist hier ein eigenartiger methodologischer Imperativ am Werk. Ich habe argumen
tiert, dass sich im Gespräch zwischen Foucault und
Deleuze hinter einem postrepräsentationistischen Vokabular eine essenzialistische Programmatik versteckt. Im
Falle der Subaltern Studies muss - aufgrund der Gewalt der epistemischen, sozialen und disziplinären Einschrei
bung des Imperialismus - ein in essenzialistischen Begriffen konzipiertes Projekt mit radikalen Textpraxen der
Differenz arbeiten. Der Untersuchungsgegenstand der Gruppe, der in diesem Fall nicht einmal das Volk als sol
ches, sondern die flottierende Pufferzone einer regionalen subalternen Elite betrifft, ist eine Abweichung von ei
nem Ideal - dem Volk oder den Subalternen-, das seinerseits als Differenz zur Elite definiert ist. Die
Forschungen sind auf diese Struktur hin ausgerichtet und
lassen ein heikles Problem zutage treten, das sich von der selbst-diagnostizierten Transparenz linker Intellektueller der Ersten Welt einigermaßen unterscheidet. Welche Ta
xonomie kann einen solchen Raum fixieren? Ob dies in
nerhalb der Subaltern Studies selbst wahrgenommen wird oder nicht (in Wahrheit verortet Guha seine Definition »des Volks« innerhalb einer Herr-Knecht-Dialek
tik): ihr Text artikuliert die schwierige Aufgabe, seine
eigenen Unmöglichkeitsbedingungen als Bedingungen seiner Möglichkeit neu zu schreiben.
»Auf den regionalen und lokalen Ebenen haben [die dominanten indigenen Gruppen] [„.], wenn sie sozialen
Schichten angehörten, die jenen der dominanten indienweiten Gruppen hierarchisch untergeordnet waren, im
Interesse der letzteren und nicht in Übereinstimmung mit Interessen, die ihrem sozialen Wesen wirklich ent
sprochen hätten, gehandelt.« Wenn diese Autorlnnen in ihrer essenzialisierenden Sprache von einer Kluft zwi
schen Interesse und Handeln in der Zwischengruppe
sprechen, dann stehen ihre Schlussfolgerungen Marx
51
näher als der bewussten Naivität der diesbezüglichen
Äußerungen von Deleuze. Wie Marx spricht Guha von
Interesse eher im Sinne der sozialen als der libidinösen
Existenz. Die Vorstellung des Namens-des-Vaters im
Achtzehnten Brumaire kann hilfreich sein, wenn es um
die Betonung der Tatsache geht, dass eine »wirkliche
Übereinstimmung mit der eigenen Existenz« auf der
Ebene von Klassen- und Gruppenhandlungen so künst
lich oder sozial ist wie das Patronym.
So viel zur Zwischengruppe, die unter Punkt 3 angespro
chen wird. Was die »wahre« subalterne Gruppe anbe
langt, deren Identität ihre Differenz ist, so gibt es hier
kein nicht-repräsentierbarcs subalternes Subjekt, das
selbst wissen und sprechen kann; die Lösung der Intel
lektuellen besteht nicht darin, sich der Repräsentation zu
enthalten. Das Problem ist, dass der Werdegang des Sub
jekts nicht in einer Weise verzeichnet worden ist, die es
den repräsentierenden Intellektuellen als Objekt der Ver
führung anböte. In der etwas veralteten Sprache der in
dischen Gruppe wird die Frage folgendermaßen formu
liert: Wie können wir an das Bewusstsein von Menschen
rühren, während wir doch ihre Politik untersuchen? Mit
welchem Stimmbewusstsein [voice-consciousness] kön
nen Subalterne sprechen? Das Projekt der Gruppe be
steht letztendlich darin, die Entwicklung des Bewusst
seins der indischen Nation neu zu schreiben. Die plan
volle Diskontinuität des Imperialismus unterscheidet
dieses Projekt, wie altmodisch auch immer es artikuliert
sein mag, rigoros von dem Vorhaben, »die medizinische
und gerichtliche Maschinerie sichtbar [zu] machen [ ... ],
die [die] Geschichte [von Pierre Riviere] umgab« (Sehr
II, S. 927). Korrekterweise führt Foucault aus: »[ ... ]das
sehen zu lassen, was nicht gesehen wurde, das kann
heißen, dass man die Ebene verschiebt, sich an eine
Ebene wendet, die bis dahin historisch nicht einschlägig
war, die keine Bewertung hatte, weder moralisch noch
ästhetisch, noch politisch, noch historisch« (Sehr II, S. 928).
Es ist die Verschiebung vom Sichtbarmachen eines Me
chanismus zum Stimmhaftmachen des Individuums - in
beiden Fällen »eine psychologische, psychoanalytische
oder linguistische Analyse [des Subjekts]« (Sehr II, S.927)
vermeidend-, die durchwegs problematisch ist.
Die Kritik von Ajit K. Chaudhury, einem westbenga
lischen Marxisten, an Guhas Suche nach einem sub
alternen Bewusstsein kann als Moment des Produk
tionsprozesses gesehen werden, der die Subalternen mit
einschließt. Chaudhurys Beobachtung, dass die marxisti
sche Sicht der Veränderung des Bewusstseins das Wissen
um soziale Beziehungen beinhaltet, scheint mir im Prin
zip durchaus scharfsinnig zu sein. Dennoch nötigt ihm
das Erbe der positivistischen Ideologie, die sich den
orthodoxen Marxismus angeeignet hat, den folgenden
Zusatz ab: »Damit soll nicht heruntergespielt werden,
dass es wichtig ist, das Bewusstsein der Landbevölke
rung oder das Arbeiterbewusstsein in seiner reinen Form
zu verstehen. Es bereichert unser Wissen über Bauern
und Arbeiter und wirft möglicherweise ein Licht darauf,
wie ein bestimmter Modus in unterschiedlichen Regio
nen unterschiedliche Gestalten annimmt, was im klassi
schen Marxismus als zweitrangiges Problem betrachtet wird.« 45
Diese Spielart des »internationalistischen« Marxismus,
die an eine reine, wiederzuerlangende Form des Bewusst
seins glaubt, nur um sie wieder zu verwerfen, und damit
das verschließt, was bei Marx Momente des produktiven
Staunens sind, kann den Gegenstand der Foucault'schen
und Deleuze'schen Ablehnung des Marxismus bilden
und zugleich die Quelle der kritischen Motivation der
Subaltern-Studies-Gruppe. Alle drei sind in der An
nahme vereint, dass es eine reine Form des Bewusstseins
tatsächlich gibt. In Frankreich erleben wir ein Herum
schieben der Signifikanten: »Das Unbewusste« oder
53
»das Subjekt-in-der-Unterdrückung« füllen klammheim
lich den Raum der »reinen Form des Bewusstseins« aus. Im orthodoxen »internationalistischen« Marxismus, ob
in der Ersten oder in der Dritten Welt, bleibt die reine
Form des Bewusstseins ein idealistisches Grundgestein,
das ihm - zumal es als zweitrangiges Problem abgetan wird - oftmals den Vorwurf des Rassismus oder Sexis
mus einbringt. In der Subaltern-Studies-Gruppe bedarf dieses Bewusstsein einer weiteren Ausarbeitung, die den
unbedachten Begriffen seiner eigenen Artikulation Rech
nung trägt. Hinsichtlich einer solchen Artikulation ist eine entwickelte Ideologietheorie erneut sehr hilfreich. In einer
Kritik wie jener Chaudhurys führt die Verknüpfung von »Bewusstsein« und »Wissen« zur Auslassung des ent
scheidenden Mittelbegriffs der »ideologischen Produktion«: »Bewusstsein verbindet sich laut Lenin mit einem
Wissen über die Wechselbeziehungen zwischen verschie
denen Klassen und Gruppen; also einem Wissen über die materiellen Grundlagen der Gesellschaft. [ ... ]Diese Defi
nitionen nehmen nur im Rahmen der Problematik eines
eindeutig bestimmten Wissensobjekts eine Bedeutung an - um den Wandel in der Geschichte, oder genauer: den Wechsel von einem Modus zu einem anderen, zu verste
hen, während die Frage nach der Besonderheit eines bestimmten Modus nicht in Betracht gezogen wird.« 46
Pierre Macherey bietet für die Interpretation von Ideolo
gie folgende Formel an: »Wichtig in einem Werk ist das, was es nicht sagt. Das läuft nicht auf dasselbe hinaus wie
die voreilige Formulierung >was es zu sagen verweigert<, obwohl bereits das interessant wäre: Darauf könnte eine
Methode aufbauen, die die Aufgabe hätte, das Schweigen zu vermessen, ob dieses Schweigen eingestanden
oder uneingestanden ist. Wichtig ist jedoch vielmehr das, was das Werk nicht sagen kann, denn hier, in einer Art
Reise ins Schweigen, spielt sich die Ausformung der
54
Rede ab.<.47 Machereys Ideen lassen sich in Richtungen weiterentwickeln, denen er wohl kaum folgen würde.
Vordergründig ist er mit der Literarizität der Literatur europäischer Provenienz beschäftigt, und doch artiku
liert er eine Methode, die auf den sozialen Text des Im
perialismus angewandt werden kann, und zwar gegen den Strich seiner eigenen Argumente. Mag auch bezüg
lich eines literarischen Werks die Vorstellung von etwas, »was es zu sagen verweigert«, unvorsichtig sein, so kann doch so etwas wie eine kollektive ideologische Verweige
rung für die kodifizierende Rechtspraxis des Imperialis
mus diagnostiziert werden. Das würde das Feld öffnen für eine politisch-ökonomische und multidisziplinäre
ideologische Neuschreibung des Terrains. Da dies ein »Welten der Welt« auf einer zweiten Abstraktionsebene
bedeutet, wird ein Konzept der Verweigerung hier plau
sibel. Die archivalische, historiographische, disziplinenkritische und unvermeidlich interventionistische Arbeit,
die das mit sich bringt, stellt in der Tat eine Aufgabe dar, die es erfordert, »das Schweigen zu vermessen«. Dies
lässt sich als eine Beschreibung dessen verstehen, was es heißt, die »Abweichung[ ... ] zu untersuchen, zu identifi
zieren und zu vermessen, sowie sie historisch zu situieren «,und zwar die Abweichung von einem Ideal, das
unhintergehbar differenziell ist. Kommen wir zur Frage des Bewusstseins der Subalter
nen, die sich in diesem Zusammenhang stellt, so wird die
Vorstellung davon, was eine Arbeit nicht sagen kann, wichtig. In den Semiosen sozialer Texte stehen Darstellungen von Aufständen an der Stelle der »Äußerung«.
Der Sender - »der Bauer« - markiert nur den Hinweis
auf ein unwiederbringliches Bewusstsein. Bezüglich des Empfängers müssen wir fragen: Wer ist »der wirkliche
Empfänger« eines »Aufstandes«? Historikerinnen, die »Aufstand« in einen »Text, der für ein Wissen bestimmt ist«, umwandeln, bilden nur eine Art von »Empfängerin-
55
nen « eines jeglichen kollektiv intendierten sozialen Akts.
Historikerlnnen, die nicht über die Möglichkeit einer
Nostalgie für verlorene Ursprünge verfügen, müssen (so
gut wie möglich) das Geschrei ihres eigenen Bewusst
seins (oder des Bewusstseinseffekts, der durch eine diszi
plinenspezifische Ausbildung bewirkt wird) außer Kraft
setzen, damit die Beschreibung des Aufstands, beladen
mit einem Aufstandsbewusstsein, sich nicht zu einem
»Untersuchungsobjekt« oder - schlimmer noch - einem
nachzuahmenden Modell verfestigt. Das von den Texten
des Aufstands implizierte »Subjekt« kann nur als eine
Gegenmöglichkeit zu der narrativen Billigung dienen, die
den kolonialen Subjekten in den dominanten Gruppen
gewährt wird. Die postkolonialen Intellektuellen lernen,
dass ihr Privileg ein Verlust ist, den sie erleiden. Darin ist
ihr Fall für die Intellektuellen paradigmatisch.
Es ist wohlbekannt, dass die Idee des Weiblichen (mehr
als jene der Subalternen des Imperialismus) innerhalb
der dekonstruktiven Kritik sowie bestimmter Spielarten
feministischer Kritik auf eine ähnliche Art und Weise
verwendet wurde.48 Im ersteren Fall steht eine Figur der
»Frau« zur Diskussion; die Minimalaussage, diese Figur
sei unbestimmt, steht bereits der phallozentrischen Tra
dition zur Verfügung. Subalterne Geschichtsschreibung
wirft Fragen der Methode auf, die sie davon abhalten
würden, sich einer solchen List zu bedienen. Für die »Fi
gur« der Frau gilt, dass die Beziehung zwischen Frauen
und Schweigen durch Frauen selbst dargestellt werden
kann; »Rassen«- und Klassendifferenzen werden unter
dieses Problem subsumiert. Subalterne Geschichtsschrei
bung muss sich der Unmöglichkeit solcher Gesten stel
len. Die enge epistemische Gewalt des Imperialismus gibt
uns eine unvollkommene Allegorie für die allgemeine
Gewalt, die die Möglichkeit einer Episteme ausmacht.49
Innerhalb des ausgelöschten Werdegangs des subalternen
Subjekts ist die Spur der sexuellen Differenz doppelt aus-
gelöscht. Dabei geht es nicht um eine Beteiligung von
Frauen am Aufstand oder um die grundlegenden Regeln
der geschlechtlichen Arbeitsteilung; für beides gibt es
»Beweise«. Vielmehr geht es darum, dass die ideologi
sche Konstruktion des Geschlechts, sowohl als Objekt
kolonialistischer Geschichtsschreibung als auch als Sub
jekt des Aufstands, das Männliche in seiner Dominanz
belässt. Wenn die Subalternen im Kontext kolonialer
Produktion keine Geschichte haben und nicht sprechen
können, dann ist die Subalterne als Frau sogar noch tie
fer in den Schatten gedrängt.
Die heutige internationale Arbeitsteilung stellt eine Ver
schiebung jenes unterteilten Feldes dar, das durch den
territorialen Imperialismus des 19. Jahrhunderts abge
steckt wurde. Einfach gesagt: Eine Gruppe von Ländern,
die im Allgemeinen der Ersten Welt angehören, ist in der
Position, Kapital zu investieren; eine andere Gruppe, in
der Regel der Dritten Welt angehörend, bildet das Feld
für mögliche Investitionen, und zwar sowohl durch die
indigenen Kapitalisten, die die Rolle von Kompradoren
übernehmen, als auch durch die schlecht geschützte und
in Veränderung begriffene Arbeitskraft in diesen Län
dern. Im Interesse einer Aufrechterhaltung von Zirkula
tion und Wachstum des Industriekapitals (sowie der
damit einhergehenden Aufgabe, die die Verwaltung in
nerhalb des territorialen Imperialismus des 19. Jahrhun
derts darstellte) wurden Transportsysteme, ein Gesetzes
werk und standardisierte Bildungssysteme entwickelt -
während lokale Industrien zerstört, die Landverteilung
neu gestaltet und Rohstoffe in die kolonisierenden Län
der gebracht wurden. Angesichts der sogenannten Deko
lonisierung, des Anwachsens von multinationalem Kapi
tal sowie der Erleichterung des Verwaltungsaufwands
impliziert »Entwicklung« heute weder eine umfassende
Gesetzgebung noch die Errichtung von Bildungssyste
men in vergleichbarer Art und Weise. Das behindert die
57
Entwicklung des Konsumismus in den Kompradorländern. Vor dem Hintergrund moderner Telekommunika
tion und des Aufkommens fortgeschrittener kapitalistischer Ökonomien an den beiden Rändern Asiens dient
die Aufrechterhaltung der internationalen Arbeitsteilung
dazu, das Angebot an billiger Arbeitskraft in den Kompradorländern zu erhalten.
Es liegt natürlich nicht im Wesen menschlicher Arbeitskraft, »billig« oder »teuer« zu sein. Die Abwesenheit ar
beitsrechtlicher Regelungen (bzw. deren diskriminierende Umsetzung), totalitäre Staaten (die oftmals die
Folge von Entwicklung und Modernisierung in der Peripherie sind) und minimale Subsistenzanforderungen auf
der Seite der Arbeiterlnnen werden dieses Angebot auch weiterhin sicherstellen. Um dieses Schlüsselelement in
takt zu halten, darf das urbane Proletariat in den Kom
pradorländern nicht systematisch in der (als Philosophie einer klassenlosen Gesellschaft auftretenden) Ideologie
des Konsumismus ausbildet werden, die gegen alle Wahrscheinlichkeit den Boden dafür bereitet, dass es
durch die von Foucault (FD, S. 392 f.) erwähnte Koalitionspolitik zur Ausformung von Widerstand kommt.
Diese Abtrennung von der Ideologie des Konsumismus wird durch das wuchernde Phänomen des internationa
len Subunternehmertums zunehmend verschlimmert. »Durch diese Strategie vergeben Produzentlnnen, die in
den entwickelten Ländern ansässig sind, Unterverträge
für die arbeitsintensivsten Phasen der Produktion, wie etwa Näharbeit oder Montage, an Nationen der Dritten
Welt, in denen die Arbeitskraft billig ist. Sobald die Güter fertig gestellt sind, reimportiert der multinationale
Konzern sie unter großzügigen Zollbefreiungen in die entwickelten Länder, anstatt sie auf dem lokalen Markt zu verkaufen.« Hier wird die Verbindung zum Training
in Sachen Konsumismus fast vollständig zerrissen.
»Während die globale Rezession seit 1979 Handel und
Investitionen weltweit signifikant verlangsamt hat, flo
rierte das internationale Subunternehmertum. [ ... ] In diesen Fällen haben multinationale Konzerne mehr Frei
heit, um militanten Arbeiterinnen, revolutionären Aufständen und sogar wirtschaftlichen Abschwüngen stand
zuhalten. «50
Die Klassenmobilität ist in den Kompradorsettings zu
nehmend träge. Es überrascht nicht, dass einige Mitglie
der der indigenen dominanten Gruppen in Kompradorländern, die Mitglieder der lokalen Bourgeoisie sind, die
Sprache der Allianzpolitik attraktiv finden. Die Identifikation mit Formen des Widerstandes, die in fortgeschrit
tenen kapitalistischen Ländern plausibel sind, passt oft gut mit jener elitistischen Tendenz bürgerlicher Ge
schichtsschreibung zusammen, die Ranajit Guha be
schrieben hat. Der Glaube an die Plausibilität globaler Allianzpolitik
findet in den Kompradorländern unter Frauen, die dominanten sozialen Gruppen angehören und am »internationalen Feminismus« interessiert sind, weite Verbreitung.
Auf der anderen Seite des Spektrums bilden Frauen aus
dem urbanen Subproletariat jene Gruppe, der jegliche Möglichkeit einer Allianz zwischen »Frauen, Gefängnis
insassen, wehrpflichtigen Soldaten, Kranken in den Krankenanstalten und Homosexuellen« (FD, S. 393) am
meisten versperrt bleibt. In ihrem Fall werden die Ver
weigerung und Vorenthaltung des Konsumismus sowie die Ausbeutungsstruktur noch durch patriarchale soziale
Verhältnisse verstärkt. Auf der anderen Seite der internationalen Arbeitsteilung angesiedelt, ist das ausgebeutete
Subjekt nicht in der Lage, den Text weiblicher Ausbeutung zu erkennen und auszusprechen, selbst wenn nicht
repräsentierende Intellektuelle sich absurderweise dazu
versteigen, diesen Frauen einen Raurn zu schaffen, um
selbst zu sprechen. Die Frau ist doppelt in den Schatten
gerückt.
59
/ Auch das aber ist noch keine umfassende Darstellung
des/der heterogenen Anderen. Außerhalb (wenn auch
nicht gänzlich) des Kreislaufs der internationalen Arbeits
teilung gibt es Menschen, deren Bewusstsein wir nicht
erfassen können werden, solange wir unser Wohlwollen
mit Konstruktionen eines homogenen Anderen verrie
geln, die lediglich auf unseren eigenen Platz an der Stätte
des Selben oder des Selbst verweisen. Hier geht es um
Subsistenzbauern und -bäuerinnen, unorganisierte Land
arbeiterlnnen, Stammesangehörige sowie um die Ge
meinschaften derer, die überhaupt nicht arbeiten, ob auf
der Straße oder auf dem Land. Ihnen ins Auge zu sehen
heißt nicht, sie zu repräsentieren (uertreten''), sondern zu
lernen, uns selbst zu repräsentieren (darstellen"). Dieses
Argument würde zu einer Kritik der Anthropologie als
Disziplin sowie der Beziehungen zwischen elementarer
Pädagogik und disziplinenspezifischer Ausbildung
führen. Es würde auch die implizite Forderung nach ei
nem Subjekt, das durch die Geschichte hindurch als per
spektivische Erzählung der Produktionsweise hervortritt,
in Frage stellen, die von jenen Intellektuellen erhoben
wird, die für ein »natürlich artikulationsfähiges« Subjekt
der Unterdrückung optieren.
Dass Deleuze und Foucault sowohl die epistemische Ge
walt des Imperialismus als auch die internationale Ar
beitsteilung ignorieren, wäre von geringerer Bedeutung,
wenn sie nicht - in solcher Verschließung - an Themen
der Dritten Welt rühren würden. Doch in Frankreich ist
es unmöglich, die Probleme der tiers monde, der Be
wohnerinnen der ehemaligen französischen Kolonien in
Afrika zu ignorieren. Deleuze beschränkt seine Überle
gungen zur Dritten Welt auf jene alten, lokalen und re
gionalen indigenen Eliten, die - idealtypisch gesehen -
subaltern sind. Verweise auf die Aufrechterhaltung der
industriellen Reservearmee verfallen in diesem Zusam
menhang einer umgekehrten ethnischen Sentimentalität.
60
Da er vom Erbe des territorialen Imperialismus des 19.
Jahrhunderts spricht, bezieht er sich mehr auf den Na
tionalstaat als auf das globalisierende Zentrum: »Der
französische Kapitalismus hat einen großen Bedarf an ei
ner >frei verfügbaren< Masse von Arbeitslosen[ ... ]. Unter
diesem Gesichtspunkt bilden die Begrenzung der Ein
wanderung - sobald einmal anerkannt wird, dass die
härtesten und undankbarsten Arbeiten an die Emigran
ten vergeben wurden-, die Repression in den Fabriken -
sollen doch die Franzosen wieder auf den >Geschmack<
an einer immer härteren Arbeit gebracht werden - und
der Kampf gegen die Jugendlichen und die Repression in
der Ausbildung [ ... ] eine Einheit« (FD, S. 388). Das ist
eine akzeptable Analyse. Dennoch zeigt sich erneut, dass
sich die Dritte Welt am Widerstandsprogramm einer Al
lianzpolitik, die gegen eine »vereinheitlichte Repression«
gerichtet ist, nur dann beteiligen kann, wenn sie auf
Gruppen der Dritten Welt beschränkt wird, die der Er
sten Welt direkt zugänglich sind. 51 Diese wohlwollende,
seitens der Ersten Welt erfolgende Aneignung und Wie
dereinschreibung der Dritten Welt als Andere ist die
grundlegende Charakteristik eines großen Teils des heu
tigen Diskurses über die Dritte Welt in den US-amerika
nischen Humanwissenschaften. Foucault setzt die Kritik des Marxismus fort, indem er
die geographische Diskontinuität ins Spiel bringt. Wirk
lich bezeichnend für »geographische (geopolitische) Dis
kontinuität« ist die internationale Arbeitsteilung. Doch
Foucault verwendet den Begriff, um zwischen Ausbeu
tung (Extraktion und Aneignung des Mehrwerts; sprich,
das Feld marxistischer Analyse) und Herrschaft
( »Macht«-Analysen) zu unterscheiden, und behauptet,
mit Letzterer verbände sich ein größeres, auf Allianzpoli
tik gegründetes Widerstandspotenzial. Er kann nicht ein
räumen, dass solch ein monistischer und vereinheitlich
ter Zugang zu einer Konzeption von »Macht« (die me-
6r
thodologisch ein Subjekt-der-Macht voraussetzt} durch
ein gewisses Stadium der Ausbeutung möglich gemacht
wurde, denn sein Blick auf die geographische Diskonti
nuität ist geopolitisch eigentümlich für die Erste Welt:
»Diese geographische Diskontinuität, von der Sie sprechen, bedeutet vielleicht Folgendes: Sobald man gegen die Ausbeu
tung kämpft, führt das Proletariat nicht nur den Kampf, sondern bestimmt auch die Zielscheiben, Methoden, Orte und Instrumente des Kampfes; sich mit dem Proletariat verbünden heißt, sich ihm in seinen Positionen und seiner Ideologie anschließen, heißt, die Motive seines Kampfes übernehmen. Heißt, darin aufzugehen [im marxistischen Projekt]. Doch wenn der Kampf gegen die Macht gerichtet ist, dann können auch alle diejenigen, [ ... ] die sie als unerträglich ansehen, dort, wo sie sich befinden, und von ihrer eigenen Aktivität (oder Passivität) her den Kampf aufnehmen. Indem sie diesen Kampf aufnehmen, der ihr eigener ist, dessen Zielscheibe ihnen vollends bekannt ist und dessen Methoden sie festlegen können, treten sie in den revolutionären Prozess ein. Mit dem Proletariat verbündet, versteht sich, denn so wie die Macht ausgeübt wird, wird sie ausgeübt, um die kapitalistische Ausbeutung aufrechtzuerhalten. Der Sache der proletarischen Revolution erweisen sie einen wirklichen Dienst, wenn sie genau da kämpfen, wo die Unterjochung an ihnen ausgeübt wird. Zur Zeit haben die Frauen, die Gefängnisinsassen, die wehrpflichtigen Soldaten, die Kranken in den Krankenanstalten und die Homosexuellen ihren spezifischen Kampf gegen die jeweilige Form von Macht, Zwang und Kontrolle aufgenommen, der sie unterliegen«. (FD, S. 392 f.). [Kursivsetzung von G. Ch. Spivak; Anm. d. Übers.]
Das ist ein bewunderungswürdiges Programm des lokali
sierten Widerstands. Wo immer es möglich ist, bildet die
ses Modell des Widerstands nicht etwa eine Alternative
zu »marxistisch« orientierten makrologischen Kämpfen,
sondern kann diese ergänzen. Wird diese Situation aller
dings universalisiert, so beherbergt sie eine uneingestan
dene Privilegierung des Subjekts. Ohne Ideologietheorie
kann das zu einem gefährlichen Utopismus führen.
62
Foucault ist ein brillanter Denker der Macht-zwischen
den-Zeilen, aber das Bewusstsein der topographischen
Wiedereinschreibung des Imperialismus findet in seine
Vorraussetzungen keinen Eingang. Er fällt auf die einge
schränkte Version des Westens herein, die durch eine sol
che Wiedereinschreibung hervorgebracht wird, und trägt
so zur Verfestigung ihrer Effekte bei. Bemerkenswert ist
auch - in der im Folgenden zitierten Passage - die Aus
lassung der Tatsache, dass der neue Machtmechanismus
im 17. und 18. Jahrhundert (in der marxistischen Be
schreibung: die Extraktion von Mehrwert ohne außer
ökonomischen Zwang) »andernorts« durch den territo
rialen Imperialismus - die Erde und ihre Produkte - ab
gesichert wurde. Die Repräsentation von Souveränität
ist an diesen Schauplätzen von entscheidender Bedeu
tung: »Im 17. und 18. Jahrhundert trat dann ein bedeu
tendes Phänomen auf den Plan: die Erscheinung - oder
besser Erfindung - eines neuen Machtmechanismus mit
ganz besonderen Verfahren, [ ... ] der, wie ich denke, mit
den Souveränitätsverhältnissen völlig inkompatibel ist.
Dieser neue Machtmechanismus bezieht sich zunächst
auf die Körper und mehr auf das, was diese tun, als auf
die Erde und ihr Produkt« (VG, S. 45).
Aufgrund des blinden Flecks bezüglich der ersten Welle
»geographischer Diskontinuität« kann Foucault deren
zweiter Welle in den mittleren Jahrzehnten des 20. Jahr
hunderts, die er einfach mit »dem Zusammenbruch des
Nazismus [und dem] Rückgang des Stalinismus« (VG, S.
23) identifiziert, unzugänglich bleiben. Dazu die alterna
tive Sicht von Mike Davis: »Es war vielmehr die globale
Logik konterrevolutionärer Gewalt, die die Bedingungen
für die friedliche ökonomische Interdependenz eines ge
zügelten atlantischen Imperialismus unter amerikani
scher Führung geschaffen hat. [ ... ] Eine multinationale
militärische Integration unter dem Schlagwort der kol
lektiven Sicherheit gegenüber der UdSSR ging der wech-
selseitigen Durchdringung der wichtigsten kapitalisti
schen Ökonoillien voraus und hat diese beschleunigt;
dies hat die n;ue Ära des kommerziellen Liberalismus,
der zwischen 1958 und 1973 aufgeblüht ist, möglich gemacht.«52
Die Fixierung auf nationale Schauplätze, der Widerstand
gegen das Wirtschaftsdenken sowie die Betonung von
Begriffen wie Macht und Begehren, die die Mikrologie
privilegieren, müssen im Rahmen des Aufkommens die
ses »neuen Machtmechanismus« gelesen werden. Davis
fährt fort: »Diese quasi-absolutistische Zentralisierung
strategischer Militärmacht durch die Vereinigten Staaten
sollte ihren hauptsächlichen Satrapen eine aufgeklärte
und flexible Unterwerfung erlauben. Sie hat sich insbe
sondere den verbleibenden imperialistischen Ansprüchen
Frankreichs und Großbritanniens gegenüber als höchst
gefällig erwiesen [„.], währenddessen beide eine starke
ideologische Mobilisierung gegen den Kommunismus
weiterbetrieben. « Vorbehalte gegenüber solch vereinheit
lichenden Begriffen wie »Frankreich« sind angebracht;
und doch muss gesagt werden, dass Davis' Narrativ eine
Interpretation solch vereinheitlichender Begriffe wie
»der Arbeiterinnenkampf« zuzulassen scheint, oder auch
solch vereinheitlichender Aussagen wie: »[Der Wider
stand] ist also wie [die Macht] selbst vielgestaltig und
lässt sich in globale Strategien integrieren« (Sehr III, S. 547). Ich behaupte nicht wie Paul Bove, dass »für ein
vertriebenes und heimatloses Volk [die Palästinenserin
nen], das militärischen und kulturellen Angriffen ausge
setzt ist, [„.] eine Frage [wie jene, die Foucault an
spricht, wenn er sagt: >Politik betreiben [„.] heißt, mit
der größtmöglichen Ehrlichkeit herauszufinden versu
chen, ob die Revolution wünschenswert ist<] ein alberner
Luxus westlichen Wohlstandes ist« 53 . Vielmehr behaupte
ich: Einer gezügelten Version des Westens aufzusitzen
heißt, dessen Hervorbringung durch das imperialistische
Projekt zu ignorieren. Manchmal hat es den Anschein, als ob gerade die Bril
lanz von Foucaults Analyse der Jahrhunderte des eu
ropäischen Imperialismus eine Miniaturversion dieses
heterogenen Phänomens produzieren würde: Organisa
tion von Raum - aber durch Ärzte; Entwicklung von
Verwaltungsapparaten - aber in Irrenanstalten; Überle
gungen zur Peripherie - aber in Bezug auf Geisteskranke,
Gefängnisinsassen und Kinder. Die Klinik, die Irrenan
stalt, das Gefängnis, die Universität - sie alle scheinen
Deckallegorien zu sein, die eine Beschäftigung mit den
größeren Narrativen des Imperialismus verhindern.
(Eine ähnliche Diskussion könnte bezüglich des Furcht
erregenden Motivs der »Deterritorialisierung« bei De
leuze und Guattari eröffnet werden.) »Man kann sehr
wohl über etwas einfach nur deshalb nicht sprechen,
weil man es nichf kennt«, würde Foucault vielleicht
murmeln (Sehr III, S. 41). Wir haben indessen bereits
von der sanktionierten Ignoranz gesprochen, die jede/r
Kritikerin des Imperialismus zu dokumentieren hat.
111
Auf der unspezifischen Ebene, auf der Akademikerinnen und Studierende in den USA »Einflüsse« aus Frankreich
beziehen, begegnet man der folgenden Auffassung: Foucault beschäftigt sich mit wirklicher Geschichte, wirkli
cher Politik und wirklichen sozialen Problemen; Derrida ist unzugänglich, esoterisch und textualistisch. Den Lese
rinnen ist diese überkommene Idee wahrscheinlich wohlbekannt. »Dass [Derridas] eigenes Werk«, schreibt Terry
Eagleton, »gröblich unhistorisch, politisch schwammig
und praktisch ohne Beziehung zur Sprache als >Diskurs< [Sprache in Funktion] ist, kann nicht in Abrede gestellt
werden [ ... ].«54 Im Weiteren empfiehlt Eagleton Foucaults Untersuchung »diskursiver Praktiken«. Perry An
derson konstruiert eine ähnliche Geschichte: »Mit Derrida vollendet sich die Selbstauflösung des Strukturalis
mus, die im Rekurs auf die Musik oder den Wahnsinn bei Levi-Strauss oder Foucault latent angelegt ist. Der
rida ließ jegliches Engagement bezüglich der Erforschung sozialer Realitäten vermissen und hatte wenig
Bedenken, die Entwürfe dieser beiden einer sehr grundsätzlichen Kritik zu unterziehen, indem er beide ei
ner - rousseauistischen respektive vorsokratischen ->Nostalgie der Ursprünge< beschuldigte und die Frage
aufwarf, mit welchem Recht sie angesichts der je eigenen Prämissen von der Geltung ihrer Diskurse ausgehen konnten.« 55
Der vorliegende Text ist dem Gedanken verpflichtet, dass eine Nostalgie der Ursprünge, ob in Verteidigung Derridas oder nicht, der Erforschung sozialer Realitäten
im Rahmen einer Imperialismuskritik abträglich sein
kann. Tatsächlich wird Anderson durch seine glanzvolle Fehllektüre nicht davon abgehalten, das von mir an Foucault hervorgehobene Problem genau zu sehen: »Fou-
66
cault schlug einen charakteristisch prophetischen Tonfall
an, als er 1966 erklärte: >Der Mensch ist in dem Maße im Begriff zu verschwinden, wie das Sein der Sprache im
mer heller an unserem Horizont leuchtet.< Aber wer ist
dieses >Wir<, das einen solchen Horizont wahrnehmen oder besitzen soll?« Anderson übersieht die Inan
spruchnahme des uneingestandenen Subjekts des Westens beim späteren Foucault, eines Subjekts, das seine
Autorität auf Verleugnung gründet. Er betrachtet Foucaults Haltung auf die übliche Art und Weise, nämlich
als Verschwinden des wissenden Subjekts als solchen; und er erblickt des Weiteren in Derrida die letzte Aus
prägung dieser Tendenz: »In der Leerstelle des Prono
mens [wir] liegt die Aporie des Programms beschlossen.« 56 Nehmen wir schließlich Saids klagenden Apho
rismus hinzu, der ein gründliches Missverstehen des Begriffs der » Textualität« erkennen lässt: »Die Kritik im
Sinne Derridas führt uns in den Text hinein, die Foucaults hinein und hinaus.«57
Ich habe darzulegen versucht, dass die substanzielle Sorge um die Politik der Unterdrückten, die den Reiz
Foucaults oft ausmacht, über eine Privilegierung des Intellektuellen sowie des »konkreten« Subjekts der Unter
drückung hinwegtäuschen kann, die den Reiz in der Tat verstärkt. Umgekehrt, und obwohl ich hier nicht die Ab
sicht verfolge, dem von diesen einflussreichen Autoren beförderten spezifischen Blick auf Derrida entgegenzu
treten, werde ich einige Aspekte von Derridas Werk diskutieren, die eine langfristige Nützlichkeit für Menschen
außerhalb der Ersten Welt bewahren. Dies ist keine Apologie. Derrida ist schwierig zu lesen; sein eigentlicher Un
tersuchungsgegenstand ist die klassische Philosophie. Er
ist jedoch, sofern er verstanden wird, weniger gefährlich als die Intellektuellen der Ersten Welt, die sich die Maske
abwesender Nicht-Repräsentierer anlegen und die Unterdrückten für sich selbst sprechen lassen.
Ich werde mich mit einem Kapitel auseinander setzen,
das Derrida vor 20 Jahren verfasst hat: »Grammatologie
als positive Wissenschaft« (Gr, S. 130-170). In diesem
Kapitel beschäftigt sich Derrida mit der Frage, ob die
» Dekonstruktion « zu einer angemessenen - sei 's kriti
schen, sei's politischen - Praxis führen kann. Das Pro
blem dabei ist, wie das ethnozentrische Subjekt davon
abgehalten werden kann, sich selbst zu etablieren, indem
es selektiv eine/n Andere/n definiert. Es handelt sich
nicht um ein Programm für das Subjekt als solches; eher
geht es um ein Programm für wohlwollende westliche In
tellektuelle. Für jene unter uns, die dessen gewahr sind,
dass das »Subjekt« eine Geschichte hat und dass die Auf
gabe, die sich dem Wissenssubjekt der Ersten Welt in un
serem historischen Augenblick stellt, darin besteht, sich
der über »Assimilierung« erfolgenden »Anerkennung«
der Dritten Welt zu widersetzen und sie zu kritisieren, ist
diese Besonderheit zentral. Im Sinne einer weniger pathe
tischen als sachbezogenen Kritik des ethnozentrischen
Impulses europäischer Intellektueller räumt Derrida ein,
dass er die »ersten« Fragen, die beantwortet werden
müssen, um die Grundlagen für seine Argumentation be
reitzustellen, nicht stellen kann. Er erklärt nicht, die
Grammatologie könne sich »über« einen bloßen Empi
rismus »erheben« (gemäß der Formulierung von Frank
Lentricchia); denn wie der Empirismus kann sie keine er
sten Fragen stellen. Derrida richtet das »grammatologi
sche« Wissen anhand der gleichen Probleme aus, die
auch die empirische Forschung hat. »Dekonstruktion«
ist mithin kein neues Wort für »ideologische Demystifi
zierung«. Wie im Falle der »empirischen Forschung«
verpflichtet der »Schutzbereich des grammatologischen
Wissens« dazu, »mit >Beispielen< zu arbeiten« (Gr,
s. 131 f.). Die Beispiele, die Derrida ausbreitet - um die Grenzen der
Grammatologie als positive Wissenschaft zu zeigen -,
68
entstammen der einschlägigen ideologischen Selbstrecht
fertigung eines imperialistischen Projekts. Im europäi
schen 17. Jahrhundert, schreibt er, waren in verschiede
nen Konstruktionen einer Geschichte der Schrift drei Ar
ten von »Vorurteilen« am Werk, die ein »Symptom der
Krise des europäischen Bewusstseins« (Gr, S. 133) bilde
ten: das »theologische Vorurteil«, das »chinesische Vor
urteil« und das »hieroglyphistische Vorurteil«. Das erste
kann mit dem folgenden Index versehen werden: Gott
schrieb eine ursprüngliche oder natürliche Schrift - He
bräisch oder Griechisch. Das zweite: Chinesisch ist ein
perfekter Entwurf für die philosophische Schrift, aber es
ist nur ein Entwurf. Wahre philosophische Schrift ist
durch ihre »Unabhängigkeit gegenüber der Geschichte«
(Gr, S. 140) charakterisiert und wird das Chinesische in
eine leicht zu lernende Schrift aufheben, die das eigentli
che Chinesisch ablösen wird. Das dritte: Die ägyptische
Schrift ist zu erhaben, um entziffert zu werden. Das erste
Vorurteil bewahrt die »Aktualität« des Hebräischen
oder Griechischen; die letzteren beiden (die »rational«
respektive »mystisch« sind) spielen zusammen, um das
erste zu unterstützen, innerhalb dessen das Zentrum des
Logos als der jüdisch-christliche Gott angesehen wird
(die Aneignung des hellenischen Anderen durch Assimi
lierung ist eine frühere Geschichte) - ein »Vorurteil«, das
in Bemühungen, der Kartographie des jüdisch-christli
chen Mythos den Status geopolitischer Geschichte zu
verleihen, nach wie vor aufrechterhalten wird:
»Der Begriff der chinesischen Schrift wirkte also wie eine Art europäische Halluzination [ ... ]:seine Wirkung gehorchte ei-ner strengen Notwendigkeit.[ ... ] Das[ ... ] Wissen, das damals über die chinesische Schrift zur Verfügung stand, vermochte sie nicht zu unterbrechen. [ ... ] Zur gleichen Zeit wie das »chinesische Vorurteil« hatte ein »hieroglyphistisches Vorurteil« dieselbe Wirkung hervorgerufen, nämlich interessierte Ver
blendung. Die Verdunkelung, die [ ... ] überhaupt nichts mit
ethnozentrischer Verachtung zu tun hat, nimmt die Gestalt übertriebener Bewunderung an. Wir sind mit der Verifikation der Notwendigkeit dieses Schemas noch nicht zu Ende. Auch unser Jahrhundert konnte sich nicht von 'ihm lösen: immer, wenn der Ethnozentrismus mit viel Eile und Lärm gestürzt wird, lauert hinter dem Spektakel im Stillen irgendein Vorstoß in der Absicht, das Drinnen zu festigen und aus alledem seinen Nutzen zu ziehen« (Cr, S. 142; Derrida hob nur »hieroglyphistisches Vorurteil« hervor).
Derrida führt im Weiteren zwei charakteristische Lö
sungsmöglichkeiten für das Problem des europäischen
Subjekts an, das eine/n Andere/n zu produzieren sucht,
der/die ein Drinnen und damit den eigenen Subjektstatus
zu festigen erlaubt. Es folgt eine Darstellung der Kompli
zität zwischen der Schrift, den Anfängen einer Binnenge
sellschaft oder zivilen Gesellschaft sowie den Strukturen
von Begehren, Macht und Kapitalisierung. Derrida legt
anschließend die Verletzlichkeit seines eigenen Begehrens
offen, etwas zu bewahren, das paradoxerweise sowohl
unaussprechlich als auch nicht-transzendental ist. Im
Zuge der Kritik an der Produktion des kolonialen Sub
jekts wird dieser unaussprechliche, nicht-~ranszendentale (»historische«) Ort durch das subalterne Subjekt besetzt.
Derrida schließt das K~pitel ab, indem er erneut zeigt,
dass das Projekt der Grammatologie sich zwangsläufig
innerhalb des Diskurses der Präsenz entwickelt. Es han
delt sich nicht nur um eine Kritik der Präsenz, sondern
um eine Bewusstheit bezüglich des Verlaufs, den der Dis
kurs der Präsenz in der eigenen Kritik nimmt, eine Wach
samkeit gerade gegenüber einem allzu großen Anspruch
auf Transparenz. Das Wort »Schrift« als Name des
Gegenstands und Modells der Grammatologie ist eine
Praxis »nur in der historischen Geschlossenheit, das
heißt in den Grenzen der Wissenschaft und der Philosophie« (Gr, S. 169).
Derrida trifft hier nietzscheanische, philosophische und
psychoanalytische, und nicht spezifisch politische Ent
scheidungen, um eine Kritik des europäisohen Ethnozen- ·
trismus in der Konstitution des/der Anderen vorzuschla
gen. Es stört mich nicht, dass er mich nicht auf den spe
zifischen Pfad führt (wie es europäische Intellektuelle
unvermeidlich zu tun scheinen), den eine solche Kritik
notwendig macht. Wichtiger ist mir, dass er, als europ~i
scher Philosoph, die Tendenz des europäischen Subjekts
artikuliert, den/die Andere/n als Randphänomen eines
Ethnozentrismus zu konstituieren, und darin das Pro
blem aller logozentrischen und daher auch aller gram
matologischen Bemühungen (zumal di~ Hauptthese des
Kapitels in der Komplizität zwischen beiden besteht) ver
ortet. Nicht ein allgemeines Problem, sorfdern ein eu
ropäisches Problem. Eben innerhalb des Zusammen
hangs dieses Ethnozentrismus versucht er verzweifelt,
das Subjekt des Denkens oder Wissens zu degradieren,
bis hin zur Aussage: » [ ... ] Denken [ist]. leerer Zwi
schenraum im Text« (Gr, S. 170); das, was Denken ist,
ist, wenn auch unbeschrieben oder leer, noch immer im Text und muss dem/der Anderen der Geschichte ausge
liefert werden. Diese unzugängliche Leere, umschrieben durch einen interpretierbaren Text, ist es, was postkolo
niale Kritikerlnnen des Imperialismus innerhalb der eu
ropäischen Einhegung als den Ort der Produktion von
Theorie entwickelt sehen möchten. Postkoloniale Kriti
kerlnnen und Intellektuelle können nur dadurch versu
chen, ihre eigene Produktion zu verschieben, dass sie
diese dem Text eingeschriebene Leere voraussetzen. Das
Denken oder das denkende Subjekt transparent oder un
sichtbar zu machen scheint im Kontrast dazu über die
unerbittliche Anerkennung des/der Anderen durch Assi
milierung hinwegzutäuschen. Im Interesse solcher Vor
sichtsmaßnahmen beruft sich Derrida nicht darauf,
»den/die andere(n) für sich selbst sprechen zu lassen«,
71
sondern vielmehr auf den »Appell« oder »Ruf« nach
dem »ganz anderen« (tout-autre, im Gegensatz zu einem sich selbst verfestigenden anderen), darauf, »die innere
Stimme, die Stimme des anderen in uns, delirieren [zu] lassen« 58
•
Derrida nennt den Ethnozentrismus der europäischen
Wissenschaft der Schrift im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert ein Symptom der allgemeinen Krise des eu
ropäischen Bewusstseins. Es handelt sich sicherlich um einen Teil eines größeren Symptoms, oder vielleicht um
die Krise selbst, nämlich die langsame Wende vom Feudalismus zum Kapitalismus im Zuge der ersten Wellen
des kapitalistischen Imperialismus. Die Wege der Aner
kennung durch Assimilierung des/der Anderen können meines Erachtens in der imperialistischen Konstitution
des kolonialen Subjekts auf interessantere Art und Weise nachgezeichnet werden als in Gestalt wiederholter Aus
flüge in die Psychoanalyse oder zur »Figur« der Frau, auch wenn die Bedeutung dieser beiden Interventionen
innerhalb der Dekonstruktion nicht heruntergespielt werden sollte. Diesen Schauplatz hat Derrida nicht be
treten (und kann es vielleicht nicht). Welche Gründe es für diese spezifische Lücke auch geben
mag - nützlich scheint mir die anhaltende und sich entwickelnde Arbeit am Mechanismus der Konstitution
des/der Anderen; wir können uns ihrer mit viel größerem
analytischem und interventionistischem Gewinn bedienen, als dies im Falle von Anrufungen der Authentizität des/der Anderen möglich ist. Auf dieser Ebene nützlich bei Foucault bleibt der Mechanismus der Disziplinierung
und Institutionalisierung, der gewissermaßen die Konstitution der Kolonisierenden beschreibt. Foucault bezieht
sie auf keinerlei Version (ob früh oder spät, proto- oder post-) des Imperialismus. Seine Themen sind von großem
Nutzen für Intellektuelle, die mit dem Verfall des Westens beschäftigt sind. Die Verführungskraft, die sie auf
72
diese ausüben - und das, was uns zugleich bange werden
lässt-, liegt darin beschlossen, dass sie es der komplizenhaften Verstrickung des Forschersubjekts (männlicher
oder weiblicher Berufswissenschaftlerinnen) erlauben, sich selbst zu verschleiern, indem es sich in Transparenz
hüllt.
IV
K_önnen Subalterne sprechen? Was muss die Elite tun, um der andauernden Konstruktion der Subalternen Be
achtung zu schenken? Die Frage der »Frau« scheint am problematischsten in diesem Zusammenhang. Es ist klar,
dass arm, schwarz und weiblich sein heißt: es dreifach abbekommen. Wenn diese Formulierung jedoch aus dem
Zusammenhang der Ersten Welt in einen postkolonialen Zusammenhang (was nicht gleichbedeutend mit der
Dritten Welt ist) verschoben wird, dann verliert die Beschreibung als »schwarz« oder »of color« ihre Überzeu
gungskraft und Signifikanz. Die notwendige Stratifizie
rung der kolonialen Subjektkonstitution in der ersten Phase des kapitalistischen Imperialismus macht »Farbe«
als emanzipatorischen Signifikanten unbrauchbar. Konfrontiert mit dem Furcht erregenden standardisierenden
Wohlwollen des Großteils der humanwissenschaftlichen Linken in den USA und Westeuropa (Anerkennung
durch Assimilierung), dem fortschreitenden, aber uneinheitlichen Rückzug des Konsumismus in der Kompra
dor-Peripherie sowie dem Ausschluss der Ränder sogar der Bindeglieder zwischen Zentrum und Peripherie (der
»wahren und differenziellen Subalternen«), scheinen sich
Rechte wie Linke dem Analogon eines Klassenbewusstseins anstelle eines »Rassen« -Bewusstseins gleicher
maßen zu versperren, und zwar historisch ebenso wie hinsichtlich der Disziplinenordnung und auf praktischer
Ebene. Es geht hier nicht nur um die Frage einer doppelten Verschiebung, denn das Problem besteht nicht ein
fach in der Auffindung einer psychoanalytischen Allegorie, die es erlauben würde, die Frau der Dritten Welt mit
jener der Ersten Welt zusammenzudenken.
Die Vorbehalte, die ich gerade ausgesprochen habe, sind nur gültig, wenn wir vom Bewusstsein - oder angemesse-
74
ner: vom Subjekt - der subalternen Frau sprechen. Über
die antisexistische Arbeit unter warnen of color oder Frauen, die einer Klassenunterdrückung unterliegen, zu
berichten oder sich - besser noch - an dieser Arbeit zu beteiligen steht unbestreitbar auf der Tagesordnung, in
der Ersten Welt ebenso wie in der Dritten Welt. Wir sollten auch alle Kenntnisse über diese zum Schweigen gebrachten Bereiche begrüßen, die in Anthropologie, Poli
tikwissenschaft, Geschichte und Soziologie erarbeitet werden. Die Annahme und Konstruktion eines Bewusst
seins oder Subjekts erhält jedoch eine solche Arbeit auf
recht und wird sich auf lange Sicht mit dem Werk der imperialistischen Subjektkonstitution verbinden, episte
mische Gewalt mit der Beförderung von Lernen und Zi
vilisation vermischend. Und die subalterne Frau wird so
stumm bleiben wie eh und je.59
In einem dermaßen befrachteten Feld ist e~ nicht leicht,
die Frage nach dem Bewusstsein der subalternen Frau zu
stellen; umso notwendiger ist es, pragmatische Linke daran zu erinnern, dass eine solche Frage kein idealisti
sches Ablenkungsmanöver darstellt. Auch wenn nicht alle feministischen und antisexistischen Projekte auf sie
reduziert werden können: das Ignorieren dieser Frage ist
eine uneingestandene politische Geste, die eine lange Geschichte hat und mit einer männlichen linken Haltung kollaboriert, die den Ort des Forschers transparent
macht. Indem die postkolonialen Intellektuellen zu ler
nen versuchen, zu dem historisch zum Verstummen gebrachten Subjekt der subalternen Frau zu sprechen (anstatt ihm zuzuhören oder für es zu sprechen), »verler
nen« sie systematisch die Privilegierung des Weiblichen.
Dieses systematische Verlernen schließt auch mit ein, dass man den postkolonialen Diskurs mit den besten Mitteln, die er zur Verfügung stellt, zu kritisieren lernt,
anstatt einfach die verlorene Figur der Kolonisierten ein
zusetzen. Das unhinterfragte Zum-Verstummen-Bringen
75
der subalternen Frau in Frage zu stellen, das sogar inner
halb des anti-imperialistischen Projekts der Subaltern
Studies stattfindet, bedeutet nicht, wie Jonathan Culler
behauptet, »Differenz [„.] durch Differieren [zu erzeu
gen]« oder »sich auf eine als wesentlich definierte sexu
elle Identität [zu berufen] und Erfahrungen [zu privile
gieren], die mit dieser Identität in Zusammenhang stehen«60.
Cullers Version des feministischen Projekts ist innerhalb
dessen möglich, was Elizabeth Fox-Genovese als »den
Beitrag der bürgerlich-demokratischen Revolutionen
zum gesellschaftlichen und politischen Individualismus
der Frauen« bezeichnet hat. 61 Viele von uns haben das
feministische Projekt zwangsläufig so verstanden, wie
Culler es jetzt beschreibt, als wir noch als US-Akademi
kerlnnen agitiert haben. 62 Das war sicherlich eine not
wendige Phase in meiner eigenen Entwicklung in Sachen
»Verlernen« und hat meinen Glauben bestärkt, dass die
Hauptströmung des westlichen Feminismus den Kampf
um das Recht auf Individualismus, der zwischen Frauen
und Männern in einer Situation aufsteigender Klassen
mobilität stattfindet, sowohl weiterführt als auch ver
schiebt. Es ist zu vermuten, dass die Debatte zwischen
dem US-amerikanischen Feminismus und der europäi
schen »Theorie« (bzw. der Vorstellung von Theorie, die
Frauen aus den USA oder Großbritannien gewöhnlich
haben) einen bedeutenden Teil genau dieses Terrains be
trifft. Im Allgemeinen habe ich Sympathien für die For
derung, den US-Feminismus »theoretischer« zu machen.
Es hat jedoch den Anschein, dass dem Problem des zum
Verstummen gebrachten Subjekts der subalternen Frau,
wenn es auch durch eine »essenzialistische« Suche nach
verlorenen Ursprüngen nicht gelöst werden kann, durch
einen Ruf nach mehr Theorie in Angloamerika ebenso wenig gedient ist.
Diese Forderung wird oft im Namen einer Kritik am
»Positivismus« vorgebracht, der mit einem » Essenzialis
mus « identifiziert wird. Hegel, dem modernen Erfinder
der »Arbeit des Negativen«, war die Idee der Essenzen
jedoch nicht fremd. Für Marx bildete die eigentümliche
Beharrlichkeit des Essenzialismus innerhalb der Dialek
tik ein profundes und produktives Problem. Die strikte
binäre Gegenüberstellung von Positivismus/Essenzialis
mus (soll heißen, dem US-amerikanischen) und »Theo
rie« (soll heißen, der französischen oder französisch
deutschen, die durch die angloamerikanische vermittelt
wird) ist möglicherweise nicht gerechtfertigt. Abgesehen
davon, dass diese Gegenüberstellung die ambivalente
Komplizität zwischen dem Essenzialismus und bestimm
ten Kritiken am Positivismus unterdrückt (die von Der
rida in dem Kapitel »Grammatologie als positive Wis
senschaft« anerkannt wird), liegt sie auch hinsichtlich
der impliziten Behauptung falsch, der Positivismus sei
keine Theorie. Diese Bewegung ermöglicht das Hervor
treten eines Eigennamens, einer positiven Essenz, näm
lich der Theorie [Theory]. Einmal mehr bleibt die Posi
tion des Forschers bzw. der Forscherin unhinterfragt.
Und: Wendet sich diese territoriale Debatte der Dritten
Welt zu, so lässt sich in der Frage der Methode keinerlei
Veränderung feststellen. Diese Debatte vermag dem Um
stand nicht Rechnung zu tragen, dass sich im Falle der
Frau als Subalterner keine Elemente sammeln lassen, aus
denen sich der Verlauf der Spur eines vergeschlechtlich
ten Subjekts zusammensetzen lassen würde, um so die
Möglichkeit der Dissemination zu verorten.
Dennoch bleibe ich im Allgemeinen einer Ausrichtung
des Feminismus an Positivismuskritik sowie einer Defeti
schisierung des Konkreten verbunden. Ich habe auch
keinerlei Abneigung dagegen, von der Arbeit westlicher
Theoretikerlnnen zu lernen, obgleich ich darauf zu be
stehen gelernt habe, dass ihre Positionalität als Subjekte,
77
die die Untersuchung durchführen, gekennzeichnet werden muss. Unter diesen Voraussetzungen - und als Lite
raturkritikerin - wende ich mich taktisch dem immensen Problem des Bewusstseins der Frau als Subalterner zu.
Ich habe das Problem in einem Satz neu gefasst und es in
den Gegenstand einer einfachen Semiose umgestaltet. Was bedeutet dieser Satz? Die Analogie verläuft hier zwischen der ideologischen Viktimisierung eines Freud und
der Positionalität der postkolonialen Intellektuellen, insofern sie als Subjekte, die die Untersuchung durchführen, auftreten.
Wie Sarah Kofman gezeigt hat, ist die tiefe Ambiguität, die in Freuds Verwendung von Frauen als Sündenbock
liegt, eine Reaktionsbildung auf ein ursprüngliches und anhaltendes Begehren, der Hysterikerin eine Stimme zu
verleihen und sie in ein Subjekt der Hysterie zu verwan
deln. 63
Die männlich-imperialistische ideologische Formation, die dieses Begehren in eine »Verführung der
Tochter« umgeformt hat, ist ein Teil derselben Formation, die die monolithische »Frau der Dritten Welt« kon
struiert. Als postkoloniale Intellektuelle bin ich durch
diese Formation ebenfalls beeinflusst. Ein Teil unseres
Projekts des » Verlernens« besteht darin, diese ideologische Formation in den Gegenstand der Untersuchung einzugliedern - wenn nötig, indem wir das Schweigen
vermessen. Wenn wir also mit den Fragen »Können Subalterne sprechen?« und »Kann die Subalterne (als Frau)
sprechen?« konfrontiert werden, dann bleiben unsere Bemühungen, den Subalternen eine Stimme in der Ge
schichte zu geben, den Gefahren des Freud'schen Diskurses doppelt ausgesetzt. Als Resultat dieser Überlegungen
habe ich den ..Satz »Weiße Männer retten braun@ Frauen
vor braunen Männern« zusammengestellt, und zwar in einem Sinn, der demjenigen nicht unähnlich ist, dem wir in Freuds Untersuchungen zu dem Satz »Ein Kind wird geschlagen« begegnen. 64
Die Bezugnahme auf Freud impliziert hier nicht, dass eine isomorphe Analogie zwischen der Subjektformation
und dem Verhalten sozialer Kollektive entworfen würde
- was in dem Gespräch zwischen Deleuze und Foucault, oft von Verweisen auf Reich begleitet, eine wiederkeh
rende Praxis darstellt. Ich behaupte also nicht, der Satz »Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Män
nern« verweise auf eine kollektive Fantasie, die für einen kollektiven Verlauf s_adomasochistischer Verdrängung in
einem kollektiven imperialistischen Unternehmen symptomatisch ist. Es liegt eine hinreichende Symmetrie in
dieser Allegorie, aber ich würde die Leserlnnen dazu einladen, dies eher als ein Problem »wilder Psychoanalyse«
denn als umfassende Lösung zu sehen.65 So wie Freuds Beharren darauf, die Frau in »Ein Kind wird geschla
gen« und anderswo zum Sündenbock zu machen, seine
politischen Interessen offen legt - und sei es auf noch so unvollkommene Art und Weise -, genauso legt mein Beharren auf der imperialistischen Subjektproduktion als
Anlass dieses Satzes meine Politik offen.
Des Weiteren versuche ich die allgemeine methodologische Aura zu entlehnen, die Freuds Strategie gegenüber
diesem Satz umgibt, den er als Satz aus einer Vielzahl von ähnlichen, substanziellen Berichten seiner Patienten konstruierte. Das heißt nicht, dass ich einen Fall von
Übertragung-in-der-Analyse als ein isomorphes Modell
für die Vorgänge zwischen Leserlnnen und Text (meinem Satz) anbieten will. Die Analogie zwischen Übertragung
einerseits und Literaturkritik oder Geschichtsschreibung andererseits ist nicht mehr als eine produktive
Katachrese. Zu sagen, dass das Subjekt ein Text ist, berechtigt nicht zur gegenteiligen Aussage: dass nämlich
der sprachliche Text ein Subjekt sei. Ich bin eher davon fasziniert, wie Freud zur Behauptung
einer Geschichte der Verdrängung gelangt, die den Satz schließlich hervorbringt. Es ist eine Geschichte mit einem
79
doppelten Ursprung, der eine im Erinnerungsverlust des
Kindes versteckt, der andere in unserer archaischen Ver
gangenheit beherbergt - womit die implizite Annahme
eines vorursprünglichen Bereichs einhergeht, in dem
Menschen und Tier noch nicht unterschieden waren. 66
Wir sehen uns dazu getrieben, eine Homologie dieser
Freud'schen Strategie über die marxistische Erzählung zu
legen, um die ideologische Verschleierung der imperiali
stischen politischen Ökonomie zu erklären und eine Ge
schichte der Verdrängung zu umreißen, die einen Satz
wie jenen, den ich skizziert habe, hervorbringen kann.
Auch diese Geschichte hat einen doppelten Ursprung,
der sich zum einen hinter dem Manöver der britischen
Abschaffung des Witwenopfers im Jahr 1829 verbirgt67
und der zum anderen in der klassischen und vedischen
Vergangenheit des hinduistischen Indien, dem ~gveda
und dem DharmaSästra, angesiedelt ist. Ohne Zweifel
gibt es auch hier einen undifferenzierten, vorursprüngli
chen Raum, der diese Geschichte abstützt.
Der Satz, den ich konstruiert habe, bildet eine unter
zahlreichen Verschiebungen, die die Beziehung zwischen
braunen und weißen Männern (in die mitunter braune
und weiße Frauen eingearbeitet sind) beschreiben. Er fin
det seinen Platz unter so manchen Sätzen jener »übertrie
benen Bewunderung« oder frommen Schuld, die Derrida
in Verbindung mit dem »hieroglyphistischen Vorurteil«
anspricht. Die Beziehung zwischen dem imperialistischen
Subjekt [imperialist subject] und dem Subjekt/Untertan
des Imperialismus [subject of imperialism] ist zumindest mehrdeutig.
Die Hindu-Witwe steigt auf den Scheiterhaufen des toten
Ehemannes und opfert sich selbst auf diesem. Das ist das
Witwenopfer. (Die gebräuchliche Transkription des
Sanskritwortes für die Witwe wäre satt. Die frühen kolo
nialen Briten haben es als suttee transkribiert.) Der Ritus
wurde nicht durchgängig praktiziert, und er war nicht
80
kasten- oder Jdassenspezifisch festgeschrieben. Die Ab
schaffung des Ritus durch die Briten wurde weithin als
ein Fall von »weißen, Männern, die braune Frauen vor
braunen Männern retten «,verstanden. Weiße Frauen -
von den britischen Missionarregistern des 19. Jahrhun
derts bis zu Mary Daly - haben kein alternatives Ver
ständnis hervorgebracht. Dagegen steht das indische na
tivistische Argument, das eine Parodie auf die nostalgi
sche Suche nach verlorenen Ursprünge darstellt: »Die
Frauen wollten tatsächlich sterben.«
Die beiden Sätze reichen aus, um einander über weite
Strecken legitimieren. Niemals trifft man auf das Zeug
nis eines Stimmbewusstseins der Frauen. Ein solches
Zeugnis würde natürlich nicht jenseits der Ideologie ste
hen oder »völlig« subjektiv sein, aber es hätte die Ele
mente für die Produktion eines Gegen-Satzes [counter
sentence] bereitgestellt. Wenn man in den Polizeiberich
ten der East India Company die auf groteske Weise
falsch transkribierten Namen dieser Frauen, der geopfer
ten Witwen, durchgeht, so lässt sich daraus keine
»Stimme« zusammensetzen. Allenfalls lässt sich die im
mense Heterogenität erahnen, die sich selbst durch das
dürre und ignorante Skelett dieser Berichte Bahn bricht
(Kasten werden zum Beispiel regelmäßig als Stämme be
schrieben). Angesichts der dialektisch ineinander greifen
den Sätze, die sich als »Weiße Männer retten braune
Frauen vor braunen Männern« und »Die Frauen wollten
sterben« konstruieren lassen, wirft die postkoloniale In
tellektuelle die Frage nach der einfachen Semiose (die
Frage: Was bedeutet das?) auf und macht sich daran,
eine Geschichte zu entwerfen. Um den Moment zu markieren, in dem aus inneren Wir
ren eine nicht nur zivile, sondern gute Gesellschaft her
vorgeht, werden oft einzelne Ereignisse beschworen, die
den Buchstaben des Gesetzes brechen, um dessen Geist
zur Wirkung zu bringen. Der Schutz von Frauen durch
81
Männer bietet sich oft als ein solches Ereignis an. Wenn
wir uns daran erinnern, dass sich die Briten ihrer absoluten Unparteilichkeit und Nichteinmischung in Bezug auf
die einheimischen Bräuche/Gesetze rühmten, so lässt sich eine Beschwörung dieser sanktionierten Transgression
des Buchstaben im Namen des Geistes an der folgenden
Bemerkung J. M. Derretts ablesen: »Die allererste Gesetzgebung zum Hindu-Gesetz wurde ohne die Zustimmung eines einzigen Hindu durchgeführt.« Das Gesetz
wird hier nicht genannt. Der nächsten Satz, in dem die
Maßnahme benannt wird, ist ähnlich interessant, wenn man bedenkt, was er für das überleben einer kolonial etablierten »guten« Gesellschaft nach der Dekolonisa
tion impliziert: »Die Wiederkehr von satt im unabhängi
gen Indien ist wahrscheinlich ein obskurantistisches Wiederaufleben, das selbst in sehr rückständigen Teilen des Landes nicht lange überleben kann.« 68
Unabhängig davon, ob diese Beobachtung korrekt ist oder nicht, gilt mein Interesse dem Umstand, dass der
Schutz der Frau (heute der »Frau der Dritten Welt«) zu
einem Signifikanten für die Errichtung einer guten Gesellschaft wird, die in solchen inaugurativen Momenten
die reine Legalität oder Unparteilichkeit der Rechtspolitik überschreiten muss. In diesem besonderen Fall hat je
ner Prozess es auch gestattet, etwas, was davor als Ritual geduldet und bekannt war oder gepriesen wurde, als
Verbrechen zu redefinieren. In anderen Worten, dieses eine Element des Hindu-Gesetzes hat die Grenze zwi
schen privatem und öffentlichem Bereich übersprungen.
Obwohl Foucaults historisches Narrativ, allein auf Westeuropa konzentriert, lediglich eine Toleranz gegenüber
Kriminellen sieht, die der Entwicklung der Kriminalistik im späten 18. Jahrhundert vorausgeht (Sehr II, S. 917 f.), ist seine theoretische Beschreibung der »Episteme« hier
relevant: »[Die Episteme] ist das Dispositiv, welches
nicht das Wahre vom Falschen, aber das wissenschaftlich
Nicht-Qualifizierbare vom Qualifizierbaren zu trennen gestattet« (Sehr III, S. 396) - das Ritual in seinem Ge
gensatz zum Verbrechen, das eine durch Aberglauben
fixiert, das andere durch die Rechtswissenschaft. Der Sprung des suttee vom Privaten zum Öffentlichen
unterhält eine klare und komplexe Beziehung zum Übergang von einer merkantilen und kommerziellen zu einer
territorialen und administrativen britischen Präsenz; dies lässt sich in der Korrespondenz nachvollziehen, die zwi
schen Polizeistationen, niedrigeren und höheren Gerichten, dem Court of Directors der East India Company,
dem Gericht des Prinzregenten und ähnlichen Stellen geführt wurde. (Es ist interessant, zu beobachten, dass aus
der Perspektive des einheimischen »kolonialen Sub
jekts«, das ebenfalls aus dem Übergang zwischen Feudalismus und Kapitalismus hervorgeht, satt ein Signifikant
mit umgekehrter sozialer Aufladung ist: »Gruppen, die psychologisch an den Rand gedrängt wurden, weil sie
westlichem Einfluss ausgesetzt waren [ ... ], sahen sich unter Druck gesetzt, anderen wie auch sich selbst ihre ri
tuelle Reinheit und Treue zur traditionellen Hochkultur zu beweisen. Für viele von ihnen wurde satt ein wichtiger
Beweis für ihre Übereinstimmung mit älteren Normen in einer Zeit, in der diese Normen von innen her ins Wan-
69 ken geraten waren.« Wenn dies der erste historische Ursprung meines Satzes
ist, so geht er offensichtlich verloren in einer Geschichte der Menschheit verstanden als Geschichte der Arbeit, in
der Geschichte der kapitalistischen Expansion und der
langsamen Freisetzung von Arbeitskraft als Ware, in der Erzählung von den Produktionsweisen sowie im Über
gang vom Feudalismus über den Merkantilismus zum Kapitalismus. Die prekäre Normativität dieser Erzäh
lung wird jedoch durch den vermeintlich unveränderlichen Lückenbüßer einer »asiatischen« Produktionsweise
abgestützt, der - um die Erzählung aufrechtzuerhalten -
jedes Mal dann eingeschaltet wird, wenn uns vor Augen
treten könnte, dass die Geschichte der Kapitallogik die
Geschichte des Westens ist, dass es der Imperialismus ist,
der die Universalität der Erzählung von den Produkti
onsweisen etabliert, und dass die Subalternen zu ignorie
ren heute wohl oder übel bedeutet, das imperialistische
Projekt weiterzuführen. Der Ursprung meines Satzes
liegt also in einer Mischung aus anderen, mächtigeren
Diskursen verborgen. Wenn wir davon ausgehen, dass
die Abschaffung von satt an sich zu befürworten ist - ist
es dann dennoch möglich, sich zu fragen, ob eine Ein
sicht in den Ursprung meines Satzes Möglichkeiten der
Intervention beinhalten könnte?
Das Image des Imperialismus als Begründer der guten
Gesellschaft trägt die Markierung des Eintretens [espou
sal] für die Frau als Objekt des Schutzes vor ihrer eige
nen Art. Wie lässt sich jene Verschleierung der patriar
chalen Strategie untersuchen, die den Frauen dem An
schein nach die freie Wahl als Subjekt zugesteht? In
anderen Worten, wie lässt sich der Schritt von »Großbri
tannien« zum »Hinduismus« setzen? Bereits der bloße
Versuch zeigt, dass der Imperialismus nicht mit einer
Farbenlehre oder einem einfachen Vorurteil gegen people
of color identisch ist. Um diese Frage anzugehen, werde
ich kurz das DharmaSästra (die erhaltenden Schriften)
und den f!.gveda (das Wissen um die Lobpreisungen)
streifen. In meiner Homologie zu Freud repräsentieren
sie den archaischen Ursprung. Natürlich ist meine Be
trachtung nicht erschöpfend. Meine Lektüren sind viel
mehr die interessierte Laienuntersuchung einer postkolo
nialen Frau, die sich der Frage widmet, wie Verdrängung
fabriziert wird; sie sind eine konstruierte Gegenerzäh
lung über das Bewusstsein der Frau, also das Sein der
Frau, also das Gutsein der Frau, also das Begehren der
guten Frau, also das Begehren der Frau. Paradoxerweise
bezeugen wir damit gleichzeitig den nicht-fixierten Ort
l 1
I f
der Frau als ·Signifikant in der Einschreibung des sozia
len Individuums.
Die zwei Momente im Dharmasastra, die mich interes
sieren, sind der Diskurs über di~ sanktionierten Selbst
morde und die Beschaffenheit der Totenriten. 70 In den
Rahmen dieser beiden Diskurse gestellt, erscheint die
Selbstopferung der Witwen als Ausnahme von der Regel.
Die allgemeine Doktrin der Schriften besagt, dass Selbst
mord verwerflich ist. Es wird jedoch Raum für be
stimmte Arten des Selbstmordes geschaffen, die als an
Formeln gebundene Handlungen ihre phänomenale
Identität als Selbstmord verlieren. Die erste Kategorie
des sanktionierten Selbstmordes geht aus tattvajiiana,
dem Wissen um die Wahrheit, hervor. Hier erkennt das
wissende Subjekt die Substanzlosigkeit oder reine Phä
nomenalität (was möglicherweise auf dasselbe hinaus
läuft wie Nicht-Phänomenalität) seiner Identität. Zu ei
nem bestimmten Zeitpunkt wurde tat tva als »das du«
interpretiert, aber auch ohne diese Erklärung bezeichnet
tattva die Washeit oder Quiddität. Somit erkennt das er
leuchtete Selbst wahrhaft die » Was«-heit seiner Identität.
Wenn es diese Identität zerstört, so ist dies nicht
iitmaghiita (eine Tötung des Selbst). Das Paradox eines
Wissens um die Grenzen des Wissens liegt darin be
schlossen, dass die stärkste Geltendmachung von Hand
lungsfähigkeit, nä~lich die Negierung der Möglichkeit
von Handlungsfähigkeit, kein Beispiel für sich selbst ab
geben kann. Merkwürdigerweise wird die Selbstopfe
rung der Götter nicht durch ein Selbst-Wissen sanktio
niert, sondern durch eine natürliche Ökologie; sie ist
nützlich, damit die Ökonomie der Natur und des Uni
versums ihr Werk verrichten kann. In diesem logisch
vorgängigen Stadium jener spezifischen Kette von Ver
schiebungen, das den Göttern, nicht den Menschen vor
behalten ist, erscheinen Selbstmord und Opfer (iitma
ghiita und iitmadana) so wenig unterschieden wie eine
»innerliche« (Selbst-Wissen) und eme »äußerliche« (Ökologie) Sanktionierung.
Dieser philosophische Raum beherbergt jedoch nicht die
sich selbst opfernde Frau. Was sie betrifft, gilt es herauszufinden, wo ein Raum geschaffen wird, der Selbst
morde sanktioniert, die sich nicht auf ein Wissen um die
Wahrheit berufen können - im Sinne eines jedenfalls leicht überprüfbaren Zustands, der in den Zusammen
hang von .§ruti (dem Gehörten) und nicht smrti (dem Erinnerten) gehört. Diese Ausnahme zur allgemeinen Regel
bezüglich des Selbstmords hebt die phänomenale Iden
tität der Selbstopferung auf, sofern diese an bestimmten Orten - und nicht in einem bestimmten Zustand der Er
leuchtung - durchgeführt wird. Wir gehen also von einer innerlichen Sanktionierung (dem Wissen um die Wahr
heit) zu einer äußerlichen Sanktionierung (dem Ort der Pilgerfahrt) über. Diese Art von (Nicht-)Selbstmord zu verüben ist Frauen möglich.71
Doch selbst das ist noch nicht der eigenste Ort [proper
place] für Frauen, um den Eigennamen [proper name] des Selbstmordes durch die Zerstörung ihres eigenen Selbst [proper seif] außer Kraft zu setzen. Ihnen allein ist
die Selbstopferung auf dem Scheiterhaufen des toten Ehemannes erlaubt. (Die wenigen männlichen Beispiele
für eine Selbstopferung auf dem Scheiterhaufen eines anderen, die im hinduistischen Altertum zitiert werden und
den Enthusiasmus und die Hingabe an einen Meister oder eine höhergestellte Person unter Beweis stellen soll
ten, legen die dem Ritus innewohnende Herrschafts
struktur offen). Dieser Selbstmord, der keiner ist, kann als Simulakrum sowohl für ein Wissen um die Wahrheit
als auch für eine ortsbezogene Frömmigkeit gelesen werden. Im ersteren Fall verhält es sich so, als würde das in einem Subjekt angesiedelte Wissen um seine eigene Substanzlosigkeit und bloße Phänomenalität dramatisiert,
sodass der tote Ehemann zum externalisierten Beispiel
86
und Ort des ausgelöschten Subjekt,s wird und die Witwe zu jener (Nicht-)Handelnden, die dies »ausagiert«. Im
letzteren Fall ist es, als könne die Metonymie für alle heiligen Orte nun in jenem brennenden, gemäß einem sorg
fältigen Ritual aufgebauten Holzbett erblickt werden,
auf dem das rechtmäßig aus sich selbst vertriebene Subjekt der Frau aufgezehrt wird. Vermittels dieser tief grei
fenden Ideologie des dislozierten Ortes des weiblichen Subjekts kommt das Paradox der freien Wahl ins Spiel.
Geht es um das männliche Subjekt, so wird das im Selbstmord liegende Glück vermerkt - eine Glückselig
keit, die dessen Status als Selbstmord außer Kraft setzt, anstatt ihn festzuschreiben. Für das weibliche Subjekt
bringt die sanktionierte Selbstopferung - selbst wenn sie den Effekt eines »Falles« (pätaka) beseitigt, der uner
laubten Selbstmorden anhaftet - als selbst gewählter Akt
Lobpreisungen ein, die sich in einem anderen Register halten. Die unerbittliche ideologische Produktion des vergeschlechtlichten Subjekts gibt dem weiblichen Sub
jekt einen solchen Tod als außergewöhnlichen Signifi
kanten des eigenen Begehrens zu verstehen, der die allgemeine Regel für das Verhalten einer Witwe überschreitet.
Zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Gegenden wurde diese Ausnahmeregel zur allgemeinen Regel in ei
nem klassenspezifischen Sinn. Ashis Nandy bezieht ihre markante Verbreitung im Bengalen des 18. und frühen
19. Jahrhunderts auf Faktoren, die von Maßnahmen zur
Bevölkerungskontrolle bis zu kommunaler Frauenfeindlichkeit reichen.72 Zweifelsohne erklärt sich diese Ver
breitung in früheren Jahrhunderten daraus, dass Witwen in Bengalen - im Unterschied zu anderen Regionen Indi
ens - Eigentum erben konnten. Wo die Briten arme, zu Opfern gemachte Frauen sahen, die zur Schlachtbank
gingen, haben wir es also in Wirklichkeit mit einem ideologischen Schlachtfeld zu tun. Wie P. V. Karre, der große
Historiker des Dharmasastra, zutreffend bemerkt hat:
»In Bengalen muss [der Umstand, dass] der Witwe eines
sohnlosen Familienmitglieds selbst in einer zusammengesetzten Hindu-Familie praktisch dieselben Rechte über
gemeinsames Familieneigentum verliehen waren, wie sie ihr verstorbener Ehemann gehabt hätte, [„.] die verblei
benden Familienmitglieder oft dazu verleitet haben, sich
der Witwe zu entledigen, indem sie in einem besonders schmerzlichen Moment an ihre Hingabe und Liebe zu
ihrem Ehemann appellierten« (HD II.1, S. 635). Dennoch zeigten und zeigen wohlwollende und aufgeklärte Männer Sympathien für den »Mut«, den sie in
dieser Angelegenheit in der freien Entscheidung der Frau erblicken. Sie akzeptieren somit die Produktion des vergeschlechtlichten subalternen Subjekts: »Das moderne
Indien rechtfertigt die Ausführung von satt nicht, aber es
ist eine verzerrte Mentalität, die moderne Inder dafür verurteilt, dass sie ihrer Bewunderung und Ehrfurcht vor
dem kühlen und unbeirrbaren Mut indischer Frauen Ausdruck verleihen, die satts werden oder den jauhar
durchführen, um ihre Ideale weiblichen Verhaltens in
Ehren zu halten« (HD II.1, S. 636). Was Jean-Frarn;:ois Lyotard als » diff erend «, als »Widerstreit«, bezeichnet hat, nämlich die Unzugänglichkeit oder Unübersetzbarkeit eines im Rahmen einer Auseinandersetzung auftre
tenden Diskursmodus. in einen anderen, wird hier lebhaft veranschaulicht. 73 Im Zuge der diskursiven Aufhebung
(nicht aber Übersetzung, wie Lyotard argumentieren würde) dessen, was die Briten als heidnisches Ritual
wahrnahmen, in etwas, was die Briten als Verbrechen
wahrnahmen, wurde eine Diagnose des freien Willens von Frauen durch eine andere ersetzt. Natürlich war die Selbstopferung von Witwen keine un
veränderliche Ritualvorschrift. Wenn die Witwe aller
dings einmal tatsächlich beschlossen hatte, über den Buchstaben des Rituals auf diese Weise hinauszugehen,
so bedeutete jedes Umkehren eine Transgression, für die
88
eine besondere Art der Buße vorgeschrieben ist.74 In An
wesenheit eines lokalen britischen Polizeibeamten, der
die Opferung beaufsichtigte, galt es hingegen als ein Zeichen echter freier Wahl, einer Wahl der Freiheit, wenn eine Frau nach erfolgter Entscheidung wieder davon ab
gebracht wurde. Die Mehrdeutigkeit der Position der in
digenen Elite offenbart sich in der nationalistischen Romantisierung der Reinheit, Stärke und Liebe dieser sich
selbst opfernden Frauen. Zwei klassische Beispiele dafür sind Rabindranath Tagores Loblied auf die »Selbstver
zicht übenden väterlichen Großmütter Bengalens« und Ananda Coomaraswamys Lobrede auf suttee als »diesen
letzten Beweis der vollkommenen Einheit von Körper
und Seele«75•
Natürlich befürworte ich nicht die Tötung von Witwen.
Ich weise darauf hin, dass im Rahmen der beiden konkurrierenden Versionen von Freiheit die Konstituierung
des weiblichen Subjekts im Leben der Ort des differend ist. Im Falle der Witwenselbstopferung wird das Ritual
nicht als Aberglaube, sondern als Verbrechen neu defi
niert. Die Anziehungskraft von satt lag in der ideologischen Besetzung als »Belohnung« begründet, genauso wie die Anziehungskraft des Imperialismus in dessen ideologischer Besetzung als »soziale Mission« begründet
lag. Thompsons Verständnis von satt als »Strafe« ist
folglich vollkommen verfehlt:
»Es könnte ungerecht und unlogisch erscheinen, dass die Moguln, die unbehindert gepfählt und bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen haben, oder europäische Staatsangehörige, deren Länder so grausame Strafgesetzbücher hatten und kaum ein Jahrhundert, bevor Suttee das englische Gewissen zu schockieren begann, Orgien der Hexenverbrennung und religiösen Verfolgung gekannt hatten, gegenüber Suttee die Gefühle hatten, die sie hatten. Aber der Unterschied schien ihnen folgender zu sein: Die Opfer ihrer Grausamkeiten wurden durch ein Gesetz gefoltert, dass sie als Straftäter ansah, wo-
hingegcn die Opfer von Suttee nicht hir ein Vergehen hcstrc1ft
wurden, abgc,chcn voll der physischei1 Schwiiche, die sie der
Gnade der Männer [man's mercy] ausgeliefert hatte. Der Ritus schien eine Verdorbenheit und Arroganz unter Beweis zu stellen, wie sie kein anderes menschliches Vergehen an den Tag gelegt hatte.« 76
Im Geiste der Kodifizierung des Gesetzes haben die Bri
ten in Indien das gesamte mittlere und späte 18. Jahr
hundert hindurch mit gelehrten Brahmanen zusammen
gearbeitet und sich mit ihnen beraten, um zu einem Ur
teil darüber zu gelangen, ob suttee gemäß ihrer
homogenisierten Version des Hindu-Gesetzes rechtmäßig
war. Die Zusammenarbeit war oft idiosynkratisch, etwa
im Falle der Diskussion darüber, wie es zu beurteilen
war, wenn die Witwe von ihrer Entscheidung abgebracht
wurde. Manchmal, wenn es etwa um das allgemeine fas
trische Verbot der Opferung von Witwen mit kleinen
Kindern ging, schien die Zusammenarbeit auf britischer
Seite irritiert.77 Am Anfang des 19. Jahrhunderts wiesen
die britischen Behörden und besonders die Briten in Eng
land wiederholt darauf hin, dass die Zusammenarbeit
den Anschein erwecke, als würden die Briten diese Pra
xis stillschweigend dulden. Als das Gesetz schließlich
niedergeschrieben wurde, wurde die Geschichte der lan
gen Periode der Zusammenarbeit ausgelöscht, und die
Sprache feierte nun die edlen Hindus, die sich gegen die
schlechten Hindus richteten, wobei Letztere zu wilden Grausamkeiten tendierten:
»Die Ausübung von Suttee [ ... ] ist für das Empfinden der menschlichen Natur abscheulich. [ ... ] In vielen Fällen wurden Grausamkeiten verübt, die für die Hindus selber schockierend waren. [ ... ] Angetrieben von diesen Überlegungen hat der Generalgouverneur im Council, ohne von den ersten und wichtigsten Prinzipien des britischen Regierungssystems in Indien abrücken zu wollen, nämlich dass allen Bevölkerungsklassen die Befolgung ihrer religiösen Gebräuche zugesichert wird, so-
lange dem bctrdfendcn S\·stem ohne Verletzung der olwrstcn
Ccbote voll Ccrechtigkeit ulld l lumallitiit Folge geleistet wer
den kann, es für richtig erachtet, die folgenden Regeln festzulegen[ ... ]« (HD II.1, S. 624 f.).
Es wurde natürlich nicht verstanden, dass es sich hierbei
um eine alternative Ideologie der abgestuften Sanktionie
rung des Selbstmordes als Ausnahme handelte, und we
niger um dessen Kennzeichnung als Sünde. Vielleicht
hätte satt in einen Zusammenhang mit dem Märtyrer
tum gestellt werden sollen, wobei der verstorbene Ehe
mann den Platz des transzendentalen Einen einnähme;
oder mit dem Krieg, wobei der Ehemann den Platz des
Souveräns oder des Staates einnähme. In Wirklichkeit
wurde satt in dieselbe Kategorie eingeordnet wie Mord,
Kindestötung und die tödliche Aussetzung der sehr Al
ten. Der zweifelhafte Ort des freien Willens, über den
das als Frau konstituierte vergeschlechtlichte Subjekt
verfügte, wurde erfolgreich ausgelöscht. Es gibt keinen
Weg, der hier nachvollzogen werden könnte. Da die an
deren erlaubten Selbstmorde mit der Bühne dieser Kon
stituierung nichts zu tun hatten, betraten sie weder das
am archaischen Ursprung - der Tradition des Dhar
masästra - angesiedelte ideologische Schlachtfeld noch
die Bühne der Neueinschreibung von Ritualen als
Verbrechen - also ihrer Abschaffung durch die Briten.
Die einzige verwandte Transformation war Mahatma
Gandhis Neueinschreibung des Begriffs satyägraha, oder
des Hungerstreiks, als Widerstand. Aber das ist nicht der
Ort, um die Details dieser grundlegenden Veränderung
zu besprechen. Ich möchte die Leserlnnen lediglich dazu
einladen, die Aura des Witwenopfers mit jener von
Gandhis Widerstand zu vergleichen. Satt und der erste
Teil des Wortes satyägraha haben dieselbe Wurzel.
Seit dem Beginn der puranischen Periode (ca. 400 n.
Chr.) haben gelehrte Brahmanen über die doktrinäre An-
gcmcsscnhcit sowohl von s<11! ~ils auch von sanktionier
ten Selbstmorden an heiligen Orten im Allgemeinen de
battiert. (Diese Diskussion wird auf akademischer Ebene
noch immer weitergeführt.) Manchmal stand zur De
batte, aus welcher Kaste die Praxis hervorgegangen war.
Das allgemeine Gesetz für Witwen, das vorsah, dass sie
brahmacarya befolgen sollten, wurde allerdings kaum je
erörtert. Es ist unzureichend, brahmacarya als »Keusch
heit« zu übersetzen. Man sollte den Umstand anerken
nen, dass brahmacarya unter den vier Seinsaltern, die in
der hinduistischen (oder brahmanischen) regulativen
Psychobiographie unterschieden werden, jene soziale
Praxis bildet, die der verwandtschaftlichen Einschrei
bung der Ehe vorausgeht. Der Mann - Witwer oder Ehe
mann - geht durch vanaprastha (das Waldleben) hin
durch, um in die reife Keuschheit und Enthaltsamkeit
von samnyäsa (dem Beiseiteliegen) einzutreten. 78 Die
Frau als Ehefrau ist unverzichtbar für garhasthya, die
Haushaltsführung, und darf ihren Ehemann ins Waldle
ben begleiten. Sie hat (gemäß der brahmanischen Sank
tionierung) keinen Zugang zur endgültigen Keuschheit
der Askese, dem samnyasa. Die Frau als Witwe muss
laut dem allgemeinen Gesetz der heiligen Doktrin in ei
nen vorherigen Zustand zurückkehren, der sich in eine
Stasis gewandelt hat. Die mit diesem Gesetz verbunde
nen institutionellen Übel sind wohlbekannt; meine Über
legungen hier beziehen sich auf den asymmetrischen Ef
fekt, den es auf die ideologische Formierung des verge
schlechtlichten Subjekts hatte. Es ist in dieser Perspektive
von viel größerer Bedeutung, dass es über dieses keine
Ausnahme darstellende Schicksal von Witwen keinerlei
Diskussion gab - und zwar weder unter Hindus noch
zwischen Hindus und Briten -, als dass die Ausnahme
vorschrift der Selbstopferung aktiv bekämpft wurde. 79
Hier wird die Möglichkeit der Rekonstruktion eines (ge-
92
schlcchtlich) sub~ilternen Subjekts aufs Neue vertan und
überdetermi1liert.
Diese rechtlich programmierte Asymmetrie im Status des
Subjekts, welche die Frau effektiv als Objekt eines Ehe
mannes definiert, arbeitet ganz offensichtlich im Inter
esse des rechtlich symmetrischen Subjektstatus des Man
nes. Die Selbstopferung der Witwe wird somit zum ex
tremen Fall des allgemeinen Gesetzes, anstatt eine
Ausnahme zu ihm darzustellen. Es überrascht daher
nicht, wenn man von himmlischen Belohnungen für satt
liest, wobei die Eigenschaft, das Objekt eines einzigen
Besitzers zu sein, an der Rivalität mit anderen Frauen de
monstriert und unterstrichen wird, nämlich mit jenen ek
statischen himmlischen Tänzerinnen - Ausbünde weibli
cher Schönheit und männlicher Genüsse -, die die Witwe
lobpreisen: »Sie, die einzig ihrem Ehemann ergeben ist
und von Gruppen von apsaräs [himmlischen Tänzerin
nen] gepriesen wird, vergnügt sich im Himmel mit ihrem
Ehemann, so lange, wie vierzehn Indras herrschen« (HD
II.1, S. 631). Die gründliche Ironie, die darin liegt, den freien Willen
der Frau in einer Selbstopferung anzusiedeln, wird ein
mal mehr in einem Vers deutlich, der die zuvor zitierte
Passage begleitet: »Solange die Frau [als Ehefrau: strt]
sich nicht anlässlich des Todes ihres Ehemannes im Feuer
verbrennt, wird sie niemals von ihrem weiblichen Körper
[strisarir - das heißt, im Kreislauf der Geburten] entbun
den werden [mucyate].« Der speziell für Frauen vorgese
hene sanktionierte Selbstmord mag von individuellem
Handeln auf subtilste und allgemeine Weise entbinden,
doch bezieht er seine ideologische Kraft daraus, dass er
individuelles Handeln mit dem Überindividuellen identi
fiziert: Töte dich jetzt selbst, auf dem Scheiterhaufen dei
nes Ehemannes, und du kannst deinen weiblichen Kör
per im gesamten Kreislauf der Geburten töten.
93
In einer weiteren Wendung des P,ir,1doxes sch1-ciht diese
Betonung des freien Willens das besondere Unglück fest,
einen weiblichen Körper zu haben. Das Wort für das
Selbst, das eigentlich verbrannt wird, ist der Standard
ausdruck für den Geist im edelsten Sinn (ätman), während das Verb »entbinden«, aus der Wurzel für Erlö
sung im edelsten Sinn (muc -> mok~a) gebildet, im Passiv steht (mucyate) und das Wort für das, was im Kreis
lauf der Geburten ausgelöscht wird, der alltagssprachliche Ausdruck für den Körper ist. Die ideologische
Botschaft liest sich in der wohlwollenden Bewunderung eines männlichen Historikers des 20. Jahrhunderts fol
gendermaßen: »Der Jauhar [die Gruppenselbstopferung aristokratischer rajputischer Frauen, die Kriegswitwen
waren oder kurz davor standen, es zu werden], den rajputische Frauen aus Chitor und anderen Orten durch
führten, um sich vor unaussprechlichen Gräueltaten in
den Händen der siegreichen Muslime zu retten, ist allzu gut bekannt, als dass er längerer Aufmerksamkeit bedürfte« (HD 11.1, S. 629).
Obwohl jauhar streng genommen kein Akt von satt ist
und obwohl ich nicht der sanktionierten sexuellen Gewalt männlicher Eroberungsarmeen - ob »muslimische«
oder andere - das Wort reden möchte, stellt die im Angesicht solcher Gewalt vollzogene Selbstopferung von
Frauen eine Legitimation von Vergewaltigung als »natürliches« Geschehen dar und bedient auf lange Sicht
das Interesse einer einzigartigen geschlechtlichen Inbesitznahme des Weiblichen. Die von den Eroberern be
gangene Gruppenvergewaltigung ist eine metonymische Feier der territorialen Aneignung. So wie das allgemeine
Gesetz für Witwen unhinterfragt blieb, so behauptet sich dieser Akt eines weiblichen Heroismus unter jenen pa
triotischen Geschichten, die Kindern erzählt werden,
und tut seine Wirkung auf der plumpesten Ebene ideologischer Reproduktion. Er hat ebenfalls, und zwar präzise
94
<lls Liberdctcrminierter Signifikant, eine enorme Rolle in
der Ausgestaltung des Hindu-Komrnunalisrnus gespielt.
Gleichzeitig wird die breitere Frage nach der Konstitu
tion des vergeschlechtlichten Subjekts verschleiert, indem die sichtbare Gewalt von satt in den Vordergrund
gerückt wird. Die Aufgabe der Rekonstruktion eines (geschlechtlich) subalternen Subjekts verliert sich in einer
institutionellen Textualität, die am archaischen Ursprung
angesiedelt wird. Wie oben erwähnt, wurde dann, wenn der Status des Rechtssubjekts als Besitzhalter der weiblichen Hin
terbliebenen temporär gewährt werden konnte, die Wit
wenselbstopferung zwingend durchgesetzt. Raghunandana, der Rechtsgelehrte des späten 15. und 16. Jahr
hunderts, dessen Interpretationen in dem Ruf stehen, einer solchen Durchsetzung die größte Autorität zu ver
liehen zu haben, bezieht sich auf eine merkwürdige Stelle aus dem ßgveda, dem ältesten der heiligen Hindu-Texte,
dem ersten der Srutis. Dabei folgt er einer jahrhundertealten Tradition und ruft eine eigentümliche und offen
kundige Fehllektüre in Erinnerung, die unmittelbar den Ort der Sanktionierung betrifft. Hier ist der Vers, der be
stimmte Maßnahmen innerhalb der Totenriten umreißt. Selbst bei einfacher Lektüre wird klar, dass er sich »über
haupt nicht an Witwen richtet, sondern an Frauen im Haushalt des verstorbenen Mannes, deren Ehemänner
am Leben waren«. Warum aber wurde er dann für autoritativ gehalten? Dies, der stillschweigende Austausch
des toten Ehemanns für den lebenden, stellt eine Ordnung des Mysteriums am archaischen Ursprung dar, die
von den bislang diskutierten verschieden ist: »Lasst jene,
deren Ehemänner ehrenwert sind und leben, das Haus mit flüssiger Butter in den Augen betreten. Lasst diese Ehefrauen als Erste ins Haus eintreten, ohne Tränen, ge
sund und reich verziert« (HD 11.1, S. 634). Aber diese
zentrale Vertauschung ist nicht der einzige Irrtum. Die
95
Autorit:it ist in einer umstrittenen Passage sowie einer al
ternativen Lesart angesiedelt. In der zweiten Zeile, hier
übersetzt mit »Lasst diese Ehefrauen als Erste ins Haus eintreten«, lautet das Wort für »Erste«: agre. Manche
haben es als agne, »oh Feuer«, gelesen. Wie Kane indes
deutlich macht, »Stützen sich Apararka und andere selbst ohne diese Veränderung für die Praxis von satt auf diesen Vers« (HD IV, S. 199). Ein weiteres Mal wird
hier ein Ursprung der Geschichte des subalternen weibli
chen Subjekts verdunkelt. Angesichts einer Aussage wie der folgenden: »Es muss daher zugestanden werden, dass
entweder die Manuskripte falsch überliefert wurden oder aher Raghunandana eine unschuldige Fehlleistung
unterlaufen ist« (HD II.1, S. 634) - sollte da nicht eine historische Traumdeutung unternommen werden? Es
sollte erwähnt werden, dass der Rest des Gedichts ent
weder mit dem allgemeinen Gesetz von brahmacarya als Stasis befasst ist, dem Witwen unterliegen und zu dem satt eine Ausnahme bildet, oder mit niyoga - also damit,
»einen Bruder oder irgendeinen nahen Verwandten zu
bestimmen, der einem verstorbenen Ehemann Nachkommen verschafft, indem er dessen Witwe heiratet«80
•
Wenn P. V. Kane die Autorität bezüglich der Geschichte des Dharmasästra ist, so stellen Mullas Principles of
Hindu Law den praktischen Leitfaden dar. Es ist ein Teil
des historischen Texts dessen, was Freud die »Logik des
Kessels« (die wir hier entwirren) nennt, dass Mullas Lehrbuch in ebenso definitiver Weise behauptet, der fragliche Vers aus dem ßgveda belege, dass »die Wieder
verheiratung von Witwen und die Scheidung in manchen der alten Texte anerkannt werden« 81
•
Man kann sich nur wundern über die Rolle des Wortes
yonl. Im Kontext, gemeinsam mit dem lokalisierenden Adverb agre (vorne), heißt es »Wohnstätte«. Aber sein
primärer Sinn als »Geschlechtsteil« (wenn auch vielleicht noch nicht spezifisch: weibliches Geschlechtsteil) wird
dadurch nicht ,1usrndiert. Wie kann als Autoritiit dafür,
dass eine Witwe die Selbstopferung wählt, eine Passage
herangezogen werden, die den Eintritt geschmückter
Frauen in eine Wohnstätte feiert, welche bei dieser Gelegenheit über ihren yont-Namen beschworen wird,
sodass das ikonische Bild außerhalb des gegebenen Kontexts fast eines des Eintritts in die das Gemeinwesen be
treffende Produktion oder die Geburt ist? Paradoxerweise verleiht der bildliche Zusammenhang von Vagina und Feuer dem Autoritätsanspruch eine bestimmte
Kraft. 82 Dieses Paradox wird durch Raghunandanas
Abänderung des Verses verstärkt, die folgendermaßen lautet: »Lass sie zuerst die fliissige Bleibe [oder den Ur
sprung, natürlich mit dem yont-Namen bezeichnet - ä
rohantu jalayonimagne] hinaufsteigen, oh Feuer [oder:
des Feuers J «. Warum sollten wir akzeptieren, dass dies
»wahrscheinlich bedeutet: >Möge das Feuer ihnen so kühl sein wie Wasser<« (HD II.1, S. 634)? Das flüssige Geschlechtsteil des Feuers, eine schlechte Formulierung,
könnte eine sexuelle Unbestimmtheit darstellen, die ein
Simulakrum für die intellektuelle Unbestimmtheit von tattvajiiäna (Wissen um die Wahrheit) anbietet.
Ich habe weiter oben von einer konstruierten Gegenerzählung über das Bewusstsein der Frau geschrieben, also
das Sein der Frau, also das Gutsein der Frau, also das Begehren der guten Frau, also das Begehren der Frau. Diese
gleitenden Verschiebungen lassen sich an dem Bruch nachvollziehen, der in das Wort satt selbst, die weibliche
Form von sat, eingeschrieben ist. Sat transzendiert jeglichen genderspezifischen Begriff von Männlichkeit und
erhebt sich in eine nicht nur menschliche, sondern spirituelle Universalität. Es ist das Präsenspartizip des Verbs
»sein« und heißt als solches nicht nur »seiend«, sondern
bezeichnet das Wahre, das Gute, das Richtige. In den heiligen Texten steht es für das Wesen, den universellen Geist. Sogar als Präfix zeigt es die Bedeutungen »ange-
97
messen", »treffend", »passend« an. Es ist edel genug,
um in den privilegiertesten Diskurs der modernen westli
chen Philosophie Eingang gefunden zu haben: Heideg
gers Meditation über das Sein.83 Satt, das Femininum dieses Wortes, heißt einfach: »gute Ehefrau«.
Es ist nun an der Zeit, offen zu legen, dass satt bzw. suttee - als Eigenname für den Ritus der Witwenselbstopfe
rung - das Gedächtnis eines grammatikalischen Fehlers seitens der Briten in sich trägt, ungefähr so, wie die Bezeichnung »American Indian« (»Indianer«) das Ge
dächtnis eines faktischen Irrtums von Kolumbus in sich
trägt. Der Ausdruck, der in den verschiedenen indischen Sprachen dafür verwendet wird, lautet: »die Verbren
nung der satt«, bzw. der guten Ehefrau, die auf diese Weise der regressiven Stasis der in brahmacarya eintre
tenden Witwe entkommt. Dieser Umstand veranschaulicht die »Rasse«-Klasse-Gender-Überdeterminierungen
der Situation. Er lässt sich vielleicht noch dann erfassen, wenn er glatt gebügelt wird: Weiße Männer, die braune
Frauen vor braunen Männern retten wollen, unterwer
fen diese Frauen einer größeren ideologischen Verengung, und zwar durch die absolute Identifikation innerhalb der diskursiven Praxis des Gute-Ehefrau-Seins mit
der Selbstopferung auf dem Scheiterhaufen des Ehemanns. Auf der anderen Seite einer solchen Konstitu
ierung des Objekts, dessen Abschaffung (oder Beseiti
gung) Gelegenheit zur Errichtung einer guten - im Unterschied zu einer bloß zivilen - Gesellschaft bieten wird,
steht die hinduistische Manipulation weiblicher SubjektKonstituierung, die ich zu diskutieren versucht habe.
(Edward Thompsons Suttee, veröffentlicht im Jahre 1928, habe ich bereits erwähnt. Ich kann diesem Mu
sterbeispiel für eine Rechtfertigung des Imperialismus als zivilisierende Mission hier nicht gerecht werden. Nir
gendwo in diesem Buch - das von jemandem geschrieben wurde, der bekennenderweise »Indien liebt« - gibt es ir-
gcndeine lnfragestellung der »nutzbringenden Rück
sichtslosigkeit« der Briten in Indien, wie sie durch einen
territorialen Expansionismus oder das Management in
dustriellen Kapitals motiviert wurde.84 Das Problem mit seinem Buch ist in der Tat ein Problem der Repräsenta
tion, nämlich die Konstruktion eines kontinuierlichen und homogenen »Indien« in Begriffen von Staatsober
häuptern und britischen Verwaltern, entworfen aus der Perspektive »eines Mannes von gesundem Menschenver
stand«, der sich als transparente Stimme vernünftiger Humanität ausgibt. »Indien« kann nunmehr im anderen
Sinn repräsentiert - vertreten - werden, nämlich von sei
nen imperialen Herren. Der Grund für die Bezugnahme auf Suttee hier ist Thompsons geschicktes Manöver, das Wort satt im allerersten Satz des Buches als »treu« wie
derzugeben, eine ungenaue Übersetzung, die nichtsdesto
weniger einen englischen Passierschein für die Einführung des weiblichen Subjekts in den Diskurs des 20.
Jahrhunderts darstellt.85)
Nehmen wir Thompsons Lobpreis auf General Charles
Herveys Anerkennung des satt-Problems: »Bei Hervey gibt es einen Passus, der das Beklagenswerte an einem
System hervorhebt, das lediglich nach Hübschheit und Standhaftigkeit in der Frau suchte. Er sammelte die Na
men von Satis, die auf den Scheiterhaufen von Bikanir Rajas gestorben waren; es waren solche Namen wie:
>Strahlenkönigin, Sonnenstrahl, Glück der Liebe, Kranz,
Gefundene Tugend, Echo, Sanftauge, Trost, Mondstrahl, Liebesverlassene, Liebherz, Augenspiel, In-der-Laube
Geborene, Lächeln, Liebesknospe, Glückliches Omen, Nebelumhüllte oder Wolkenentsprungene - der letzte ist
besonders beliebt<.« Indem er die typischen Ansprüche eines der Oberschicht zugehörigen Viktorianers an
»seine Frau« (seine bevorzugte Formulierung) ansetzt, eignet sich Thompson einmal mehr die Hindu-Frau als
seine eigene an, die vor dem »System« zu retten ist. Bika-
99
ncr liegt in R<1jasth<rn; und jegliche Diskussion über \V'ir
wenverbrennungen in Rajasthan, speziell in der herr
schenden Schicht, war aufs Engste mit der positiven oder
negativen Konstruktion eines hinduistischen (oder ari
schen) Kommunalismus verbunden.
Ein Blick auf die erbärmlich falsch geschriebenen Namen
der satts aus handwerklichen, bäuerlichen, dorfpriesterli
chen, Geldverleih betreibende,n, geistlichen und ver
gleichbaren sozialen Gruppen in Bengalen, wo satts am
meisten verbreitet waren, hätte keine solche Ernte er
bracht (Thompsons bevorzugtes Adjektiv für Bengalis ist
»schwachköpfig«). Oder vielleicht hätte er es. Es gibt
keinen gefährlicheren Zeitvertreib, als Eigennamen in
allgemeine Begriffe zu transponieren, sie zu übersetzen
und als soziologische Belege zu verwenden. Ich habe ver
sucht, die Namen auf dieser Liste zu rekonstruieren, und
begann Hervey/Thompsons Arroganz zu empfinden.
Wie zum Beispiel mag der mit »Trost« [Comfort] wie
dergegebene Name gelautet haben? »Shanti«? Das Wort
erinnert an die letzte Zeile von T. S. Eliots Waste Land.
Dort trägt es die Markierung einer bestimmten Art und
Weise, Indien zu stereotypisieren - durch die Größe der
ökumenischen Upanishaden. Oder »Swasti«? Dies wie
derum erinnert an die svastika, das rituelle brahmani
sche Zeichen für. den häuslichen Trost, die häusliche
Ruhe (wie in »Gott segne unser Haus«), das zur krimi
nellen Parodie arischer Hegemonie stereotypisiert
wurde. Wo zwischen diesen beiden Aneignungen findet
sich unsere hübsche und standhafte verbrannte Witwe?
Die Aura der Namen ist weniger soziologischer Genauig
keit geschuldet als vielmehr Schriftstellern wie Edward
FitzGerald, dem »Übersetzer« der Rubayyat von Omar
Khayyam, der über die vermeintliche »Objektivität« der
Übersetzung zur Konstruktion eines bestimmten Bildes
der orientalischen Frau beitrug. (Saids Orientalism aus
dem Jahr 1978 bleibt hier der autoritative Text.) Vermit-
100
tels dieser Art von Kalkiil wiirden die übersetzten Eigen
namen einer beliebigen Anzahl französischer Gcgcn
wartsphilosophinnen oder der Mitglieder von Direkti
onsgremien prestigeträchtiger südlicher US-Unterneh
men einer Furcht erregenden Selbstverschreibung an eine
erzengelhafte und hagiozentrische Theokratie Evidenz
verleihen. Solche Taschenspielertricks können auch über
»gewöhnliche Nomen« weitergeführt werden, aber der
Eigenname ist dafür am anfälligsten. Und es ist der satt
betreffende britische Trick, den wir hier diskutieren.
Nach einer solchen Zähmung des Subjekts kann Thomp
son, unter der Überschrift »Die Psychologie von >Sati«<,
schreiben: »Ich trug mich mit der Absicht eines Ver
suchs, dies zu erforschen; aber die Wahrheit ist, dass es
mir nicht länger als Rätsel erscheint.« 86
Zwischen Patriarchat und Imperialismus, Subjektkonsti
tuierung und Objektformierung, verschwindet die Figur
der Frau, und zwar nicht in ein unberührtes Nichts hin
ein, sondern in eine gewaltförmige Pendelbewegung, die
in der verschobenen Gestaltwerdung der zwischen Tradi
tion und Modernisierung gefangenen »Frau der Dritten
Welt« besteht. Diese Erwägungen würden eine Revision
jedes einzelnen Details von Urteilen mit sich bringen, die
für eine Geschichte der Sexualität im Westen Gültigkeit
zu haben scheinen: »Das Eigentümliche der Repression,
das, was sie von den einfachen Verboten des Strafgeset
zes unterscheidet, soll demnach darin bestehen, dass sie
zugleich als Verbannungsurteil und als Befehl zum
Schweigen funktioniert, als Behauptung der Nicht-Exi
stenz und - konsequenterweise - als Feststellung, dass. es
bei alledem überhaupt nichts zu reden, zu sehen oder zu
wissen gibt.« 87 Der Fall von suttee als Beispiel für die
Frau-im-Imperialismus würde diese Gegenüberstellung
von Subjekt (Gesetz) und Objekt-des-Wissens (Repres
sion) in Frage stellen und dekonstruieren; und der Ort
des »Verschwindens« wäre durch anderes gekennzeich-
101
ner ~1ls durch Schweigen und Nichr-Existc111, n:imlich
eine gewaltformigc Aporie zwischen Subjekt- und Objektstatus.
Satt als Eigenname von Frauen ist in Indien heute ziemlich weit verbreitet. Ein weibliches Kind »gute Ehefrau«
zu nennen hat seine eigene vorausgreifende Ironie, und die Ironie ist umso größer, als diese Bedeutung des ge
wöhnlichen Nomens nicht das primäre Element im Eigennamen ist.88 Hinter dem Namen, der dem Kind gege
ben wird, steht die Satt der Hindu-Mythologie, nämlich Durga in ihrer Erscheinungsform als gute Ehefrau. 89 In
einem Teil der Geschichte kommt Satt - sie wird bereits
so genannt - uneingeladen, und sogar in Ermangelung einer Einladung an ihren göttlichen Ehemann Siva, am
Hof ihres Vaters an. Ihr Vater beginnt Siva zu beschimpfen, und Satt stirbt vor Schmerz. Voller Wut trifft Siva
ein und tanzt mit Satts Leiche auf seiner Schulter über
das Universum. Vi~l).U zerstückelt ihren Körper, und dessen Teile werden über die Erde gestreut. Um jeden Teil dieser Überreste gibt es einen bedeutenden Pilgerort.
Figuren wie die Göttin Athene - »Töchter eines Vaters,
die nach eigener Erklärung nicht durch den Mutterleib verunreinigt sind« - sind nützlich, um die ideologische
Selbstherabsetzung von Frauen zu etablieren, was von einer dekonstruktiven Einstellung gegenüber dem essen
zialistischen Subjekt zu unterscheiden ist. Die Geschichte
der mythischen Satt, die jedes Erzählelement des Ritus umkehrt, übt eine ähnliche Funktion aus: Der lebende Ehemann rächt den Tod der Ehefrau, eine Transaktion
zwischen großen männlichen Göttern vollendet die Zer
störung des weiblichen Körpers und schreibt so der Erde eine heilige Geographie ein. Dies als einen Beweis für
den Feminismus des klassischen Hinduismus bzw. den göttinnenzentrierten und daher feministischen Charakter
der indischen Kultur anzusehen ist ideologisch ebenso sehr durch einen Nativismus oder umgewendeten Ethno-
102
zcnrrisrnus kontaminiert, wie es imperialistisch war. cbs
Bild der glanzvoll kiimpfendcn 1'vluttcr Durga auszu
radieren und den Eigennamen Satl mit keiner anderen
Bedeutung auszustatten als jener der rituellen Verbrennung der sich als Opfer darbietenden hilflosen Witwe,
die dann gerettet werden kann. Es gibt keinen Raum, von dem aus das vergeschlechtlichte subalterne Subjekt
sprechen kann.
Wenn die vom sozialisierten Kapital Unterdrückten keinen notwendig unvermittelten Zugang zu »korrektem«
Widerstand haben, lässt sich die Ideologie von satt, die aus der Geschichte der Peripherie kommt, dann in ir
gendein Modell interventionistischer Praxis aufheben?
Da dieser Essay sich auf den Gedanken stützt, dass solch fest umrissene, auf verlorene Ursprünge gerichtete
Nostalgien allesamt verdächtig sind, und zwar insbesondere als Grundlage für eine gegenhegemoniale ideologi
sche Produktion, muss ich anhand eines Beispiels fortfahren.90
(Das Beispiel, das ich hier anführe, ruft nicht nach einer gewaltförmigen hinduistischen Schwesternschaft der
Selbstzerstörung. Die im Hindu-Gesetz verankerte Definition der britischen Inderlnnen als Hindus bildet einen
der Marksteine des ideologischen Krieges der Briten gegen die muslimischen Moguln, die in Indien herrsch
ten; eine signifikante Auseinandersetzung in jenem bis heute unbeendeten Krieg war die Teilung des Subkonti
nents. Im Übrigen sind individuelle Beispiele dieser Art als Modelle für eine interventionistische Praxis meines
Erachtens tragische Fehlschläge, da ich die Produktion von Modellen als solche in Frage stelle. Andererseits
können sie, als Gegenstände einer Diskursanalyse für
nicht selbstabdankende Intellektuelle, einen Ausschnitt des sozialen Texts erhellen, und sei es auch auf unsyste
matische Art und Weise.)
103
Als junge Frau von 16 oder 17 Jahren erhiingte sich Bhu
vaneswari Bhaduri im Jahre 1926 in der bescheidenen
Wohnung ihres Vaters im Norden Kalkuttas. Der Selbstmord gab Rätsel auf, handelte es sich doch, zumal Bhu
vaneswari zu dieser Zeit menstruierte, offenkundig nicht
um einen Fall von unerlaubter Schwangerschaft. Fast ein. Jahrzehnt später fand man heraus, dass sie Mitglied ei
ner der vielen Gruppen war, die in den bewaffneten Kampf für die indische Unabhängigkeit involviert waren. Schlussendlich war sie mit der Durchführung eines
politischen Mordes betraut worden. Da sie sich nicht in
der Lage sah, die Aufgabe zu übernehmen, und sich doch · über das praktische Vertrauenserfordernis im Klaren war, tötete sie sich selbst.
Bhuvaneswari hatte gewusst, dass ihr Tod als Folge einer
verbotenen Leidenschaft beurteilt werden würde. Sie
hatte daher auf den Beginn ihrer Menstruation gewartet. Während sie wartete, schrieb Bhuvaneswari, die brahmacärini, die ohne Zweifel auf ein Dasein als gute
Ehefrau vorausblickte, den sozialen Text des satt-Selbst
mordes vielleicht auf interventionistische Weise um. (Ein Erklärungsversuch sah ihre unbegreifliche Tat in einer
möglichen Melancholie begründet, hervorgerufen durch die wiederholten Sticheleien ihres Schwagers, sie sei zu
alt, um noch unverheiratet zu sein.) Sie verallgemeinerte das sanktionierte Motiv für den weiblichen Selbstmord,
indem sie immense Anstrengungen unternahm, um
durch die physiologische Einschreibung ihres Körpers eine Verschiebung (und nicht nur Verleugnung) der an einen einzelnen Mann gebundenen Gefangenschaft die
ses Körpers innerhalb der legitimen Leidenschaft zu be
wirken. Im unmittelbaren Kontext geriet ihre Handlung zu etwas Absurdem, zu einem Fall von Delirium und
nicht der geistigen Gesundheit. Die Geste der Verschiebung - nämlich auf die Menstruation zu warten - ist
zunächst eine Umkehrung des Verbots, das menstru-
ierenden Witwen das Recht versagt. sich selbst zu op
fern; die unreine Witwe muss, und zwar öffentlich, bi, zum reinigenden Bad des vierten Tages, wenn sie nicht mehr menstruiert, warten, um ihr zweifelhaftes Privileg
in Anspruch zu nehmen. In dieser Lesart ist der Selbstmord von Bhuvaneswari Bhaduri eine unausdrückliche, ad hoc erfolgende, subal
terne Weise, den sozialen Text des satt-Selbstmordes ebenso umzuschreiben wie die hegemoniale Darstellung
der lodernden, kämpfenden, familialen Durga. Die auftauchenden Abweichungsmöglichkeiten jener hegemo
nialen Darstellung der kämpfenden Mutter sind gut dokumentiert und durch den Diskurs der männlichen
Anführer und Teilnehmer an der Unabhängigkeitsbewegung im populären Gedächtnis gut verankert. Die Subal
terne als Frau kann nicht gehört oder gelesen werden.
Ich weiß von Bhuvaneswaris Leben und Tod durch Familienverbindungen. Bevor ich genauere Nachforschun
gen anstellte, fragte ich eine bengalische Frau, eine Philosophin und Sanskritologin, deren frühe intellektuelle
Produktion mit der meinigen fast identisch ist, ob sie damit beginnen könne. Zwei Antworten: (a) Warum bist
du an der unglückseligen Bhuvaneswari interessiert, wenn ihre beiden Schwestern, Saileswari und Raseswari,
so erfüllte und wunderbare Leben geführt haben? (b) Ich
habe ihre Nichten gefragt. Es scheint, dass es sich um einen Fall von unerlaubter Liebe gehandelt hat.
Ich habe versucht, von der Derrida'schen Dekonstruktion, die ich nicht als solche als Feminismus feiere, Ge
brauch zu machen und über sie hinauszugehen. Im Zusammenhang der Problematik, die ich behandelt habe,
finde ich seine Morphologie jedoch sehr viel gewissenhafter und brauchbarer als Foucaults und Deleuze' un
vermittelte, substanzielle Befasstheit mit klarer »politischen« Themen - etwa die Einladung des Letzteren zum »Frau-Werden« -, die ihren Einfluss für US-Akademike-
rTnnen, die enthusiastische Linke sind, gefährlicher ma
chen kann. Dcrrida markiert die Gefahr einer Aneignung
des/der Anderen durch Assimilierung, die in linker Kritik
angelegt ist. Er liest die Katachrese am Ursprung. Er ruft
nach einer Neuschreibung des utopischen strukturellen Impulses als Impuls, »die innere Stimme, die Stimme des
anderen in uns, delirieren [zu] lassen«. Ich muss hier einen langfristigen Nutzen im Werk Derridas anerkennen,
den ich bei den Autoren von Sexualität und Wahrheit und den Tausend Plateaus offensichtlich nicht länger finde. 91
Die Subalterne kann nicht sprechen. Es liegt kein Wert in
globalen Endlosaufzählungen, die »Frau« als frommen
Begriff anführen. Repräsentation ist nicht abgestorben. Die weibliche Intellektuelle hat als Intellektuelle eine
klar umrissene Aufgabe, die sie nicht mit Pauken und Trompeten verleugnen darf.
ANMERKUNGEN
1 Ich danke Khachig Tololyan für eine sorgfältige erste Lektüre dieses Essays. 2 Louis Althusser, Lenin und die Philosophie, aus dem Französ. übers. v. Klaus-Dieter Thieme, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1974, S. 43. [Die deutsche Ausgabe übersetzt mit »Philosophie der Negierung«; Anm. d. übers.] 3 Ich habe die englische Version dieses Textes, wie auch anderer englischsprachiger Übersetzungen, modifiziert, soweit Treue zum Original dies zu verlangen schien. [Anm. d. übers.: Entsprechend sind auch die hier verwendeten deutschsprachigen Übersetzungen, orientiert an den Wiedergaben Spivaks sowie unter Berücksichtigung der französischen Originaltexte, teilweise modifiziert. Spivak zitiert das oben angeführte Gespräch sowie andere Texte Foucaults nach den folgenden beiden Foucault-Sammelbänden: Language, Counter-Memory, Practice: Selected Essays and Interviews, Ithaca: Cornell University Press 1977, sowie Power/Knowledge: Selected Interviews and Other Writings 1972-77, New York: Pantheon 1977.]
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den USA durch Aufsatzsammlungen und nicht durch Übersetzungen langer Bücher zustande kommt. Und innerhalb dieser Sammlungen sind es verständlicherweise die stärker mit aktuellen Themen befassten Texte, die eine größere Verbreitung finden (Derridas »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel« ist ein gutes Beispiel dafür). Unter der Perspektive theoretischer Produktion und ideologischer Reproduktion ist das hier betrachtete Gespräch daher nicht notwendigerweise durch andere Texte verdrängt wor
den. 4 Es liegt hier eine implizite Bezugnahme auf die Welle des Maoismus im Frankreich nach 1968 vor. Vgl. M. Foucault, »Über die Volksjustiz. Eine Auseinandersetzung mit Maoisten«, in: Sehr II, S. 424-461. Die Explikation dieser Bezugnahme stärkt mein Argument, indem sie den Mechanismus der Aneignung blofüegt. Der Status Chinas in dieser Diskussion ist exemplarisch. Während Foucault sich beharrlich mit der Aussage »Ich weiß nichts über China« unschuldig hält, legen seine Gesprächspartner gegenüber China eine Haltung an den Tag, die Derrida als das »chinesische Vorurteil« bezeichnet hat. 5 Dies ist Teil eines viel weiter reichenden Symptoms, wie Eric Wolf in Europe and the People without History (Berkeley: University of California Press 1982) ausführt. 6 Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, in: Ders„ Abhandlungen. Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 514 f. 7 Gilles Deleuze / Felix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, aus dem Französ. übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt/M.: Suhrkamp 71995, S. 36 [die deutsche Übersetzung des Anti-Ödipus gibt das französische »desir« mit »Wunsch« wieder; wir folgen hier späteren Deleuze/Guattari-Übersetzungen, v. a. der Tausend Plateaus, und übersetzen mit »Begehren«; Anm.
d. übers.]. 8 Der Austausch mit Jacques-Alain Miller in Sehr III, S. 391-429 (»Das Spiel des Michel Foucault«) ist in diesem Punkt aufschlus
sreich. 9 L. Althusser, »Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung)«, in: Ders„ Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Staatstheorie, aus dem Französ. übers. v. Rolf Loper, Klaus Riepe u. Peter Schottler, Hamburg/Berlin: VSA 1977, S. 108-153, hier:
S.118. 1° Für ein Beispiel unter vielen vgl. VG, S. 39.
11 F, id1c·1-,-,1,ch1chhl'I'11ichr, d,1" hn1c·'1ulr, \\1crk - eh' f1·iihl' 11ic·
das späte - durch eine allzu simple Vorstellung von Unter
drückung bzw. Repression [repression] abgestützt wird. Der Antagonist ist hier Freud, nicht Marx, wenn Foucault etwa davon spricht, »worin und wie dieser Begriff der Unterdrückung, der heute bei der Charakterisierung der Mechanismen und Machteffekte so gerne verwendet wird, hinten und vorne zu ihrer Erfassung nicht ausreicht« (VG, S. 29). Die Delikatheit und Subtilität von Freuds Vorschlag - nämlich dass unter der Bedingung von Verdrängung [repression] die phänomenale Identität von Affekten unbestimmt ist, weil etwas Unlustvolles als Lust begehrt werden kann, womit das Verhältnis von Begehren und »Interesse« radikal neu verankert wird - scheint hier ziemlich entleert zu sein. Für eine Ausarbeitung dieses Begriffs von Repression vgl. J. Derrida, Grammatologie, S. 157 ff.; sowie J. Derrida, Umited Tnc, aus dem Franz. übers. v. Werner Rapp! unter Mitarbeit v. Dagmar Tavner, Wien: Passagen 2001, S. 121 f. 12 Althussers Version dieser besonderen Situation mag allzu schematisch sein, aber sie wirkt in ihrer Programmatik nichtsdestoweniger sorgfältiger als das hier in Frage stehende Argument. »Der Klasseninstinkt«, schreibt Althusser, »ist subjektiv und spontan. Die Klassenposition ist objektiv und rational. Um zu proletarischen Klassenpositionen zu gelangen, ist es lediglich notwendig, den Klasseninstinkt von Proletariern zu schulen; der Klasseninstinkt des Kleinbürgertums, und mithin von Intellektuellen muss hingegen revolutioniert werden.« (L. Althusser, »La philo'. sophie comme arme de la revolution«, in: La Pensee, 138 [März/April 1968], S. 26-34; hier zit. nach: L. Althusser, Lenin and Philosophy and Other Essays, aus dem Französ. übers. v. Ben Brewster, New York: Monthly Review Press 1971, S. 13.) 13 Foucaults anschließende Erklärung (Sehr III, S. 550) dieser Deleuze'schen Aussage kommt der Vorstellung Derridas näher, dass Theorie keine erschöpfende Taxonomie sein kann und stets durch eine Praxis gestaltet wird. 14 Vgl. die überraschend unkritischen Vorstellungen von Repräsentation in Sehr III, S. 545 u. 304. Meine kritischen Bemerkungen am Ende dieses Abschnitts bezüglich der Repräsentationen subalterner Gruppen durch Intellektuelle sollten streng von einer Koalitionspolitik unterschieden werden, die ihrem Eingefasstsein innerhalb des sozialisierten Kapitals Rechnung trägt und Menschen nicht deshalb vereinigt, weil sie unterdrückt werden sondern weil sie ausgebeutet werden. Dieses Modell funktionie~t am besten in einer parlamentarischen Demokratie, wo Repräsenta-
ro8
rinn nicht nur nicht verbannt ist, sondern in ausgeklügelter \'\leise
111~1.c11icrt \\'ird. 15 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx/Engels-Werke (MEW), Bd. 8, Berlin: Dietz 1960, S. 198. 16 Vgl. K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, MEW, Bd. 23, Berlin: Dietz 191998, S. 167. [Spivak zitiert sehr frei; Anm. d. übers.] 17 Vgl. ebd., S. 209. 18 Vgl. die exzellente kurze Definition und Diskussion des com
mon sense bei Errol Lawrence, »Just Plain Common Sense: The •Roots< of Racism«, in: Hazel V. Carby et al., The Empire Strikes Back: Race and Racism in 70s Britain, London: Hutchinson 1982, s. 48. 19 Es lässt sich zeigen, dass der »Gebrauchswert« bei Marx eine »theoretische Fiktion« ist - er hat ebenso viel von einem potenziellen Oxymoron wie der »Austausch mit der Natur«. Ich habe dies auszuführen versucht in »Scattered Speculations on the Question of Value«, einem bei der Zeitschrift Diacritics eingereichten Manuskript. [Der Text erschien in: Diacritics, Winter 1985, 15 (4), S. 73-93; Wiederabdruck in: G. Ch. Spivak, In Other Worlds: Essays in Cultural Politics, New York: Methuen 1987, S. 154-175; Anm. d. übers.] 20 Derridas »Der Genfer Linguistenkreis«, bes. S. 147 f., kann eine Methode bereitstellen, um den irreduziblen Platz der Familie in Marx' Morphologie der Klassenbildung zu beurteilen; in: J. Derrida, Randgänge der Philosophie, aus dem Französ. übers. v. Günther R. Sigi et al., Wien: Passagen 1988, S. 143-157. 21 K. Marx, Das Kapital. Erster Band, S. 53. 22 Ich bin mir darüber im Klaren, dass das Verhältnis zwischen Marxismus und Neokantianismus politisch befrachtet ist. Ich selbst sehe nicht, wie eine durchgehende Linie zwischen den Texten von Marx und dem Kantischen ethischen Moment gezogen werden kann. Sehr wohl bin ich jedoch der Auffassung, dass Marx' Infragestellung des Individuums als Agent der Geschichte im Kontext des Aufbrechens des individuellen Subjekts gelesen werden sollte, das durch Kants Kritik an Descartes eingeleitet
wurde. 23 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie,
MEW, Bd. 42, Berlin: Dietz 22005, S. 91. 24 Edward W. Said, Die Welt, der Text und der Kritiker, aus dem Engl. übers. v. Brigitte Flickinger, Frankfurt/M.: S. Fischer 1997, s. 288. 25 Paul Bove, »Intellectuals at War: Michel Foucault and the Analysis of Power«, in: Sub-Stance, 36137 (1983), S. 44.
26 11. V. C1d11 c·t cil .• "fhe /111/>irc Stril~es /l,1cf~. S .. H.
'. Diesn Argurnc:nt wird ncihcr ausgcfohrr in G. Ch. Spivak,
»Scattered Speculations«. Nochmals, der Anti-Ödipus hat den ökonomischen Text nicht ignoriert, auch wenn die entsprechende Auseinandersetzung vielleicht zu allegorisch geraten ist. In dieser Hinsicht war die Bewegung von der Schizo- hin zur Rhizo-Ana~~se in Tausend Plateaus (Berlin: Merve 1992) unglücklich.
Vgl. M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, aus dem Franz. übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 111995, S. 510, 521, 527. 29
Obwohl ich Fredric Jamesons Buch Das politische Unbewusste für einen Text von großem kritischem Gewicht halte, oder vielleicht gerade weil ich das tue, möchte ich mein Programm hier von einem Ansatz unterschieden wissen, der die Relikte eines privilegierten Narrativs wieder instand zu setzen versucht: »Gerade hierin findet die von mir vorgeschlagene Theorie des politischen Unbewussten ihre Funktion und Notwendigkeit, indem sie die Spuren dieser ununterbrochenen Erzählung ausfindig macht, indem sie die unterschlagene und verschüttete Wirklichkeit dieser grundlegenden Geschichte wieder an der Oberfläche des Textes ablesbar werden lässt« (F. Jameson, Das politische Unbewusste. Literatur als Symbol sozialen Handelns, aus dem Engl. übers. v. Ursula Bauer, Gerd Burger u. Bruni Böhm, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988, S. 15 f.). 30
Unter den vielen verfügbaren Werken zitiere ich Bruce Tiebout McCully, English Education and the Origins of Indian Nationalism, New York: Columbia University Press 1940. 31
Zit. nach Thomas Babington Macaulay, Speeches by Lord Macaulay: With His Minute on Indian Education, hg. v. G. M. Young, Oxford: Oxford University Press/ AMS Edition 1979 s. 359. ' 32
Keith, der an der Erstellung des Vedic Index beteiligt war, Autor von Sanskrit Drama in Its Origin, Development, Theory, and Practice und gelehrter Herausgeber des Krsnayajurveda für Harvard University Press, war auch der Herausgeber der vier Bände der Selected Speeches and Documents of British Colonial Policy (1763-1937), von International Affairs (1918-1937) sowie von British Dominions (1918-1931). Er schrieb Bücher über die Souveränität der britischen Dominions und über die Theorie der Staatensukzession, mit besonderer Bezugnahme auf das englische und koloniale Recht. 33 h Ma amahopadhyaya Haraprasad Shastri, A Descriptive Cata-logue of Sanskrit Manuscripts in the Government Collection un-
IIO
der thc Carc of thc Asi,1tic Societv of llc11g,d, l\d .. \. K:ilkurra: .-\siatic Socicry of lkngal ['>25, S. VIII. 34 Dinesh Chandra'Sen, Brhat Banga, Bd. 1, Kalkutta: Calcutta University Press 1925, S. 6. 35 Edward Thompson, Suttee: A Historical and Philosophical Enquiry into the Hindu Rite of Widow-Burning, London: George Allen and Unwin 1928, S. 130 u. 47. 36 Eigenhändig geschriebener Brief (von G. A. Jacob an einen ungenannt bleibenden Adressaten), angeheftet an die Umschlaginnenseite der in der Sterling Memorial Library (Yale University} befindlichen Ausgabe von Colonel G. A. Jacob (Hg.), The Mahanarayana-Upanishad of the Atharva-Veda with the Dipika of Narayana (Bombay: Government Central Books Department 1888); die Kursivsetzung im Zitat stammt von mir. Die dunkle Beschwörung der Gefahren dieses Lernens, die sich an anonymen Glaubensabtrünnigen manifestieren, verstärkt diese Asymmetrie. 37 Ich habe diese Frage detaillierter sowie unter Bezugnahme auf Julia Kristevas Buch Die Chinesin. Die Rolle der Frau in China (aus dem Französ. übers. v. Annette Lallemand, München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung 1976) diskutiert in: »French Feminism in an International Frame«, in: Yale French Studies, 62 (1981), S. 154-184 [Wiederabdruck in: G. Ch. Spivak, In Other Worlds, S. 134-153; Anm. d. übers.]. 38 Antonio Gramsci, »Einige Gesichtspunkte zur Frage des Südens«, in: Ders„ Zu Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewählte Schriften, aus dem Italien. übers. v. Marie-Louise Döring, Erich Salewski et al., Frankfurt/M.: Röderberg 1986, S. 188-218. Ich verwende »Allegorie des Lesens« im Sinne von Paul de Man, Allegorien des Lesens, aus dem Engl. übers. v. Werner Hamacher u. Peter Krumme, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988. 39 Vgl. die von Ranajit Guha herausgegebenen Bände Subaltern Studies: Writings on South Asian History and Society, Delhi: Oxford University Press 1982, und Subaltern Studies II: Writings on South Asian History and Society, Delhi: Oxford University Press 1983, sowie Ranajit Guha, Elementary Aspects of Peasant Insurgency in Colonial India, Delhi: Oxford University Press 1983. 40 E. Said, »Permission to Narrate«, in: London Review of Books, 16. Feb. 1984 [wiederveröffentlicht in: The Edward Said Reader, hg. v. Moustafa Bayoumi u. Andrew Rubin, New York: Vintage 2000, S. 243-266; Anm. d. Übers.]. 41 R. Guha, Studies I, S. 1. 42 Ebd„ S. 4. 43 Vgl. J. Derrida, »Die zweifache Seance«, in: Ders„ Dissemination, aus dem Französ. übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien: Pas-
III
sagcn I 995, S. 193-322. fDcrridas Text <Hbcitct mir der Homo
phonie dn fr,rn1.(),i,chl'!l \X\inn ,111/rc idt. „}-löhlc") und c11/rc
(dt. »zwischen«); Anm. d. übers.] 44 R. Guha, Studies I, S. 8 (alle außer der ersten Kursivsetzung stammen vom Autor). 45 Ajit K. Chaudhury, »New Wave Social Science«, Frontier, 16-24 (28. Jan. 1984), S. 10 (Kursivsetzung von mir). 46 Ebd„ S. 10. 47 Pierre Macherey, Pour une theorie de la production litteraire, Paris: Maspero 1966, S. 107 [dt. Teilübers.: Zur Theorie der literarischen Produktion. Studien zu Tolstoj, Verne, Defoe, Balzac, aus dem Französ. übers. v. Johanna Wördemann et al., Darmstadt: Luchterhand 1974; Anm. d. übers.]. 48 Ich habe diese Frage in den folgenden Aufsätzen diskutiert: »Displacement and the Discourse of Woman«, in: Mark Krupnick (Hg.), Displacement: Derrida and After, Bloomington: Indiana University Press 1983, S. 169-195; sowie »Love Me, Love My Ombre, Elle: Derrida's >La carte postale<«, in: Diacritics 14, 4 (1984), S. 19-36. 49
Diese Gewalt im allgemeinen Sinn, welche die Möglichkeit einer Episteme bildet, ist das, was Derrida als »Schrift« im allgemeinen Sinn bezeichnet. Das Verhältnis zwischen Schrift im allgemeinen Sinn und Schrift im engen Sinn (Markierungen auf einer Oberfläche) lässt sich nicht sauber zum Ausdruck bringen. Die Aufgabe der Grammatologie (Dekonstruktion) besteht darin, eine Notation bezüglich dieses gleitenden Verhältnisses bereitzustellen. Auf eine bestimmte Weise ist die Kritik des Imperialismus folglich Dekonstruktion als solche. so »Contracting Poverty«, Multinational Monitor, 4, Nr. 8 (Aug. 1983 ), S. 8. Dieser Bericht bildet einen Beitrag von John Cavangh und Joy Hackei, die am International Corporations Project am Institute for Policy Studies arbeiten. Die Kursivsetzung stammt von mir. 51 Auf den Mechanismus der Erfindung des Signifikanten »Dritte Welt« lässt sich jene Art von kritischer Analyse anwenden, wie sie in H. V. Carby et al., The Empire Strikes Back, in Bezug auf die Konstituierung des Signifikanten »Rasse« entwickelt wird. 52 Mike Davis, »The Political Economy of Late-Imperial America«, New Left Review, 143 (Jan./Feb. 1984), S. 9. 53 P. Bove, »Intellectuals at War«, S. 51. 54 Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, aus dem Engl. übers. v. Elfi Bettinger u. Elke Hentschel, Stuttgart: Metzler 41997, s. 134.
II2
"Pcrr' .\mlcT,011, /11 //Je Tr.1,-/~s u/ / listuri(,/f \l<1/,„1,i/1,111. 1 ,,,, don: Verso 1983, S. 53. 56 Ebd„ S. 52. 57 E. Said, Die Welt, der Text und der Kritiker, S. 206. 58 J. Derrida, »Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie«, in: Ders„ Apokalypse, aus dem Französ. übers. v. Michael Wetze!, Graz/Wien: Passagen 1985. S. 9-90, hier: S. 31. 59 Sogar in so ausgezeichneten Reportage- und Analysetexten wie Gail Omvets We will Smash This Prison! Indian Women in Struggle (London: Zed Press 1980) ist die Annahme nicht unbedenklich, die Reaktion einer Gruppe von Frauen aus dem urbanen Subproletariat in Maharashtra auf eine linke weiße Frau, die »das indische Schicksal zu teilen beschlossen hatte«, sei repräsentativ für »indische Frauen« oder berühre die Frage des »weiblichen Bewusstseins in Indien«; eine solche Annahme ist dann nicht unbedenklich, wenn sie innerhalb eines Gesellschaftsgefüges der Ersten Welt thematisiert wird, in der die Ausbreitung von Kommunikation in einer internationalen Hegemonialsprache alternative Berichte und persönliche Zeugnisse selbst Studierenden im Grundstudium sofort zugänglich macht. Ein typisches Beispiel ist auch die folgende Bemerkung von Norma Chinchilla, geäußert auf einem Panel über »Dritte-WeltFeminismen: Unterschiede in Form und Inhalt« (»Third World Feminisms: Differences in Form and Content«, UCLA, 8. März 1983): Antisexistische Arbeit im indischen Kontext sei nicht genuin antisexistisch, sondern antifeudal. Definitionen von Sexismus könnten demnach erst entstehen, nachdem eine Gesellschaft in eine kapitalistische Produktionsweise eingetreten ist, wodurch Kapitalismus und Patriarchat eine bequeme Kontinuität verliehen wird. Die Bemerkung beschwört zudem die ärgerliche Frage nach der Rolle der >»asiatischen< Produktionsweise« herauf, indem sie die Erklärungsmacht der normativen Narrativisierung von Geschichte durch die Beschreibung der Produktionsweisen( auf welch ausgeklügelte Weise eine solche Geschichtschreibung auch konstruiert wird) aufrechterhält. Die eigenartige Rolle des Eigennamens »Asien« in dieser Angelegenheit bleibt nicht auf Beweis oder Widerlegung der empirischen Existenz der tatsächlichen Produktionsweise beschränkt (ein Problem, das zum Gegenstand heftiger Gefechte innerhalb des internationalen Kommunismus wurde); sie bleibt sogar in theoretisch so subtilen und wichtigen Arbeiten wie Barry Hindess' und Paul Hirsts Pre-Capitalist Modes of Production (London:
Routkdgc J 975) Lllld Frcdric .J<ll11CS011S Dc1s r)()litischc [/11/J('ll!IISS
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phologie der Produktionsweisen gegenüber jedem Verdacht eines historischen Determinismus gerettet und in einer poststrukturalistischen Theorie des Subjekts verankert wird, behält die »asiatische« Produktionsweise in Gestalt des »orientalischen Despotismus« als der entsprechenden Ausformung von Staatlichkeit eine Funktion. Sie spielt auch in der von Grund auf veränderten Erzählung der Produktionsweise im Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari eine signifikante Rolle. In der sowjetischen Debatte, die in der Tat weit von diesen gegenwärtigen theoretischen Projekten entfernt ist, wurde die Hinlänglichkeit einer »asiatischen« Produktionsweise in doktrinären Angelegenheiten meist bezweifelt; stattdessen wurden mehrere Versionen und Nomenklaturen der feudalen, auf Sklavenarbeit aufbauenden und kommunalen Produktionsweise geschaffen. (Diese Debatte wird in Stephen F. Dunn, The Fall and Rise of the Asiatic Mode of Production, London: Routledge 1982, detailliert dargestellt.) Es wäre interessant, dies mit der Verdrängung [repression] des imperialistischen »Moments« in Beziehung zu setzen, die in den meisten der langen Debatten über den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus innerhalb der westlichen Linken zu beobachten ist. Noch wichtiger ist hier, dass eine Bemerkung wie jene Chinchillas eine weit verbreitete Hierarchisierung innerhalb des Feminismus der Dritten Welt (viel mehr als des westlichen Marxismus) widerspiegelt, die diesen in der langen Geschichte des Umgangs mit der imperialistischen Konzeptmetapher »Asien« verortet. Ich sollte hinzufügen, dass ich Madhu Kishwar I Ruth Vanita (Hg.), In Search of Answers: Indian Women's Voices from Manushi (London: Zed Books 1984), noch nicht gelesen habe. 60 Jonathan Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, aus dem Engl. übers. v. Manfred Momberger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988, S. 53. 61 Elizabeth Fox-Genovese, »Placing Woman's History in History«, in: New Left Review, 133 (Mai/Juni 1982), S. 21. 62 Ich habe diese Idee gewissermaßen autobiographisch zu entwickeln versucht in »Finding Feminist Readings: Dante-Yeats«, in: Ira Konigsberg (Hg.), American Criticism in the Poststructuralist Age, Ann Arbor: University of Michigan Press 1981. 63 Sarah Kofman, L'enigme de la femme: La femme dans /es textes de Freud, Paris: Galilee 1980. 64 Sigmund Freud, »>Ein Kind wird geschlagen<: Beitrag zur Kenntnis der Entstehung sexueller Perversionen«, in: Zwang, Pa-
114
ranoia 1111d Pcrl'crsion. St11dic11a11sgabe, ßd. VII, Frankfurt/1\!l.:
S. Fiochn l '17.), S. 22'1-254. 65 S. Freud, »Über >wilde< Psychoanalyse«, in: Schriften zur Behandlungstechnik. Studienausgabe, Ergänzungsband, Frankfurt/M.: S. Fischer 1989, S. 133-143. 66 S. Freud, »Ein Kind wird geschlagen«, S. 239 f. 67 Für eine brillante Darstellung der Art und Weise, wie die »Wirklichkeit« des Witwenopfers während der kolonialen Periode konstituiert oder »textualisiert« wurde, vgl. Lata Mani, »The Production of Colonial Discourse: Sati in Early Nineteenth Century Bengal« (M.A.-Abschlussarbeit, University of California at Santa Cruz 1983). Ich habe von Diskussionen mit Frau Mani am Beginn dieses Projekts profitiert. 68 J. D. M. Derrett, Hindu Law Past and Present: Being an Account of the Controversy Which Preceded the Enactment of the Hindu Code, and Text of the Code as Enacted, and Some Comments Thereon, Kalkutta: A. Mukherjee and Co. 1957, S. 46. 69 Ashis Nandy, »Sati: A Nineteenth Century Tale of Women, Violence and Protest«, in: V. C. Joshi (Hg.), Rammohun Roy and the Process of Modernization in India, Delhi: Vikas Publishing House 1975, S. 68. 70 Die folgende Darstellung stützt sich stark auf Pandurang Vaman Kane, History of Dharmasastra (im Folgenden als HD zitiert [vgl. Siglenliste; Anm. d. übers.]). 71 Upendra Thakur, The History of Suicide in India: An Introduction (Delhi: Munshi Ram Manohar Lai 1963), S. 9, enthält eine nützliche Liste von Sanskrit-Primärquellen über heilige Orte. Dieses angestrengt anständige Buch verrät alle Zeichen der Schizophrenie des Kolonialsubjekts: bourgeoisen Nationalismus, patriarchalen Kommunalismus sowie eine »aufgeklärte Vernünftigkeit«. 72 Vgl. A. Nandy, »Sati«. 73 Jean-Frarn;:ois Lyotard, Der Widerstreit, aus dem Französ. übers. v. Joseph Yogi, München: Fink 1987. 74 HD II.1, S. 633. Es gibt Behauptungen, dass über diese »vorgeschriebene Buße« in der sozialen Praxis weit hinausgegangen wurde. In der untenstehenden Passage, 1938 publiziert, verdienen die hinduistisch-patristischen Annahmen über die weibliche Willensfreiheit Beachtung, die etwa in Ausdrücken wie »Mut« und »Charakterstärke« am Werk sind. Die ungeprüften Vorannahmen des Absatzes könnten darin bestehen, dass die völlige Objektivierung der Witwen-Konkubine nur eine Strafe für den Verzicht auf das Recht zum Mut war, das den Subjektstatus kennzeichnet: »Einige Witwen jedoch hatten nicht den Mut, durch diese Feuer-
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probe zu gehen: noch h<ittcn sie gcniigend Ccistcs- und Char:1k
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zu werden, das ihnen vorgeschrieben war. Traurigerweise ist festzuhalten, dass sie dazu getrieben wurden, das Leben einer Konkubine oder avaruddha stri [eingesperrten Frau] zu führen.« A. S. Altekar, The Position of Women in Hindu Civilization: From Prehistoric Times to the Present Day, Delhi: Motilal Banarsidass 1938, s. 156. 75 Zit. nach D. Sen, Brhat Banga, Bd. 2, S. 913 f. 76 E. Thompson, Suttee, S. 132. 77 Vgl. zu diesem Punkt sowie zur brahmanischen Debatte über satt: L. Mani, »The Production of Colonial Discourse«, S. 71 f. 78 Wir sprechen hier von den regulativen Normen des Brahmanismus und nicht davon, »wie die Dinge gewesen sind«. Vgl. Robert Lingat, The Classical Law of India, aus dem Französ. übers. v. J. D. M. Derrett, Berkeley: University of California Press 1973, S.46. 79 Sowohl die minimale Möglichkeit einer Wiederverheiratung, die Witwen im alten Indien blieb, als auch die rechtliche Einführung der Wiederverheiratung von Witwen im Jahr 1856 waren eine Angelegenheit unter Männern. Die Wiederverheiratung von Witwen bildete eine große Ausnahme, vielleicht weil sie das Programm der Subjektformierung unberührt ließ. In der ganzen »Lehre« von der Wiederverheiratung der Witwen waren es Vater und Ehemann, die den Beifall ernteten - für ihren reformistischen Mut und ihre Selbstlosigkeit. 80 Sir Manier Manier-Williams, Sanskrit-English Dictionary, Oxford: Clarendon Press 1899, S. 552. Historikerinnen sind oft ungeduldig, wenn Modernistinnen den Versuch zu unternehmen scheinen, »feministische« Urteile in alte Patriarchate zu importieren. Die eigentliche Frage ist natürlich, warum Strukturen patriarchaler Herrschaft unhinterfragt festgehalten werden sollten. Historische Sanktionierungen eines nach sozialer Gerechtigkeit strebenden kollektiven Handelns können nur dann entwickelt werden, wenn Menschen außerhalb der Disziplin Standards von »Objektivität« befragen, die als solche von der hegemonialen Tradition konserviert werden. Es scheint nicht unangemessen zu sein, darauf hinzuweisen, dass ein so »objektives« Instrument wie ein Wörterbuch den zutiefst sexistisch-parteiischen Ausdruck »einem verstorbenen Ehemann Nachkommen verschaffen [raise up issue to a deceased husband]« zur Erklärung verwenden kann. 81 Sunderlal T. Desai, Mulla: Principles of Hindu Law, Bombay: N. M. Tripathi 1982, S. 184.
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''Ich cLrnkc l'rol'c"or :\lison Finlcv vo111 Tri11i11 l oll,-_,:,· 1 l l.111
ford, Cunn.) dafür, die Passage mit mir diskutiert zu haben. l'ru
fessor Finley ist eine Expertin für den ]J.gveda. Ich füge schnell hinzu, dass sie meine Lesarten wohl so unverantwortlich »literaturkritisch« fände, wie Althistorikerinnen sie für »modernistisch« halten würden. 83 Vgl. Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen: Niemeyer 41976, S. 54. 84 E. Thompson, Suttee, S. 37. 85 Ebd„ S. 15. Für den Status des Eigennamens als »Marke« vgl. J. Derrida, Meine Chancen. Rendez-vous mit einigen epikureischen Stereophonien, aus dem Französ. übers. v. Elisabeth Weber, Berlin: Brinkmann & Base 1994. 86 E. Thompson, Suttee, S. 137. 87 M. Foucault, Der \X/ille zum Wissen. Sexualität und Wlahrheit 1, aus dem Französ. übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 12. 88 Der Umstand, dass das Wort auch als eine Form der Anrede für Frauen aus vornehmer Familie verwendet wurde (»Lady«), kompliziert die Angelegenheit. 89 Man sollte sich daran erinnern, dass diese Beschreibung angesichts ihrer vielen Erscheinungsformen innerhalb des Pantheons nicht erschöpfend ist. 90 Eine Position, die sich gegen Nostalgie als Grundlage für eine gegenhegemoniale ideologische Produktion wendet, kann ihre negative Verwendung nicht gutheißen. Innerhalb der Komplexität der gegenwärtigen politischen Ökonomie wäre es beispielsweise in hohem Maße fragwürdig, darauf zu dringen, dass das aktuelle indische Arbeiterklassenverbrechen der Verbrennung von Bräuten, die unzureichende Mitgiften einbringen, sowie der anschließenden Verschleierung des Mordes als Selbstmord entweder ein Gebrauch oder ein Missbrauch der Tradition des sati-Selbstmordes sei. Das Äußerste, was behauptet werden kann, ist, dass es sich um eine Verschiebung auf einer Kette der Semiosis handelt, mit dem weiblichen Subjekt als Signifikant, was uns zu dem von uns entwirrten Narrativ zurückführt. Klarerweise ist daran zu arbeiten das Verbrechen der Brautverbrennung zu beenden, und zwar auf jegliche Art und Weise. Wenn sich diese Arbeit jedoch über ungeprüfte Nostalgie oder ihr Gegenteil vollzieht, wird sie aktiv dazu beitragen, dass » Rasse«/Ethnos oder ein schierer Genitalismus als Signifikant anstelle des weiblichen Subjekts eingesetzt wird.
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''1 Ich hatte Peter Dcws, „J'm\Tr and Suhjccti,·it\' in Fouc1ult" (in:
New Left Review, 144 [1984J), nicht gelesen, bis ich diesen Essay fertig gestellt hatte. Ich freue mich auf sein Buch zum gleichen Thema. Es gibt viele Punkte, die seine und meine Kritik gemeinsam haben. Allerdings schreibt er, soweit ich dies ausgehend von dem kurzen Essay einschätzen kann, aus einer Perspektive, die unkritisch bleibt gegenüber der kritischen Theorie sowie der intersubjektiven Norm, die in ihrer Verortung des »epistemischen Subjekts« allzu leicht »Individuum« für »Subjekt« austauschen kann. Dews' Lesart der Verbindung zwischen »marxistischer Tradition« und dem »autonomen Subjekt« ist nicht die meine. Des Weiteren wird seine Darstellung »der Sackgasse der gesamten zweiten Phase des Poststrukturalismus« dadurch beeinträchtigt, dass er Derrida nicht berücksichtigt, der sich von seiner frühesten Arbeit an, der Einleitung zu Edmund Busserls »Ursprung der Geometrie« (J. Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, München: Fink 1987), gegen die Privilegierung der Sprache gewandt hat. Was seine exzellente Analyse von meinen Anliegen ziemlich weit absetzt, ist natürlich, dass das Subjekt, in dessen Geschichte [History] er Foucaults Werk stellt, das Subjekt der europäischen Tradition ist.
Ein Gespräch über Subalternität 1
D 0 N NA LAND R Y und GERA L D MAC L E AN:
Wie verstehen Sie die unterschiedlichen Reaktionen, die
»Can the Subaltern Speak?« ausgelöst hat?
GAYATRI CHAKRAVORTY SPIVAK: Ichhabe
nicht alle Reaktionen gelesen, die der Aufsatz provoziert hat. Der allgemeine Tenor der Reaktionen war, glaube
ich, ich hätte nicht erkannt, dass die Subalternen doch sprechen. Von einigen wurde sogar behauptet, ich erlaube es dem Widerstand nicht, zu sprechen. Nun, ich glaube doch, dass mein Aufsatz zu kompliziert ist. Als
ich ihn fertig geschrieben hatte, hielt ich ihn für so unkontrolliert, dass nur jemand anderer ihn kürzen konnte.
Ich habe ihn den Herausgebern mit dieser Bitte ge
schickt. Ich war erstaunt zu sehen, dass die gedruckte Version ungekürzt herausgekommen ist. Andererseits
denke ich, dass er, so wie er dasteht, etwas von dem inneren Kampf widerspiegelt, den ich durchlebt habe, als
ich den Text zu schreiben versuchte. Ich war lange Zeit blockiert, bevor ich wirklich daran weiterschreiben
konnte. Ich hatte das Gefühl, dass ich die Lehre, die aus dem Suizid dieser jungen Frau [Bhubaneswari Bhaduri]
zu ziehen war, über Foucault und Deleuze stellte. So habe ich das damals wahrgenommen, und ich war da
mals noch nicht genug in mein momentanes Projekt involviert, um für meine Überzeugungen einzustehen. Ich
stand am Anfang von etwas. Es hatte davor bereits eine Art Anfang gegeben, über den ich mehrfach gesprochen
habe: als ich von den Herausgeberinnen einer dem fran
zösischen Feminismus gewidmeten Nummer der Yale
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