Post on 29-Aug-2019
transcript
1
Was denken die sich eigentlich dabei? Rechtsauffassung von Mehrfachtätern
Paul Brieler
Vortrag DVR Presseseminar ‚Recht und Regelbefolgung’ am 14.
November 2011
Sehr geehrte Damen und Herren,
als ich - in meiner Funktion als Verkehrspsychologe - um einen Beitrag
für dieses DVR-Presseseminar angesprochen wurde, schien es mir ein
Leichtes zum gestellten Thema zu referieren. Jedoch brachte die
notwendige Orientierung in mir fremden Disziplinen wie der
Rechtswissenschaft, der Rechtssoziologie oder der Kriminologie zur
Rechtsauffassung von Autofahrern, die konsequent die Verkehrsregeln
missachten, inhaltlich wenig Nützliches.
Die Rechtsauffassung fand ich definiert als ’die Auffassung, die das
Recht und seine Auslegung betrifft’, was – zumindest auf der Ebene des
Individuums - die Rechtskenntnis, das Rechtsbewusstsein, das
Rechtsgefühl sowie das Rechtsethos einschließt: die Rechtskenntnis als
die mentale Realisation des Inhalts bestimmter Rechtsnormen, das
Rechtsbewusstsein als das Vorherrschen kognitiver Elemente (rational)
in der psychologischen Erscheinungsform des Rechts, das Rechtsgefühl
2
als das Vorherrschen emotionaler Elemente (irrational) in der
psychologischen Erscheinungsform des Rechts, sowie das
Rechtsethos als Akzeptanz der Richtigkeit von Rechtsnormen bei Fehlen
von Rechtskenntnis und Rechtsbewusstsein.
Der Titel führt danach bereits in die Irre, beschränkt dieser doch die
Rechtsauffassung auf die kognitiven Elemente Wissen und Bewusstsein.
Berücksichtigt werden müssten die Emotionen, die immer mit
menschlichem Verhalten einhergehen und dieses wesentlich
mitbestimmen – darauf gründet z.B. die Automobilgestaltung und –
werbung, sowie die moralische Urteilsfähigkeit.
Den Beitrag, den ich zu leisten imstande bin, betrifft die massiv
auffälligen Autofahrer und, in geringerem Maße, auch die
Autofahrerinnen. (Folie Punktesystem) Hintergrund ist eine
verkehrspsychologische Tätigkeit im Rahmen
- der Moderation besonderer Aufbauseminare für Fahrer im Rahmen
des Punktesystems (§ 4 StVG, 8 bis 17 Punkte, darunter eine Fahrt
unter Alkohol- oder Drogeneinfluss)
- einer verkehrspsychologischen Beratung zum Punkteabbau
(Punktestand im VZR 14 bis 17 Punkte),
- der Beratung und verkehrstherapeutischen Intervention zur
Vorbereitung auf eine medizinisch-psychologische Begutachtung
der Fahreignung (MPU) nach Entziehung der Fahrerlaubnis nach
Erreichen von 18 Punkten im Verkehrszentralregister (VZR) u.a.
Wie ist es um das Verhalten im Straßenverkehr in Deutschland bestellt?
Eine Internetumfrage in einem ‚Forum Straßenverkehr – der Verkehrstalk
3
im Web’ ergab zu der Frage ‚Wie haltet ihr euch an die Verkehrsregeln’
folgendes Ergebnis (Folie):
Knapp 3 % behaupteten, dass sie nie einen Strafzettel bekommen
könnten, da sie sich immer zu 100% an die Regeln halten. Knapp 29 %
halten sich zu 100% an die Regeln, allerdings könne es selten einmal
vorkommen, dass sie ein Schild übersehen. 50 % gaben an, häufiger
gegen Regeln zu verstoßen, solange es keine Punkte gebe (20 zu
schnell, durchgezogene Linie, o.ä.). Gut 14 % verstoßen häufiger gegen
Regeln, solange sie ihren Führerschein behalten können (40 zu schnell,
Handy am Steuer, o.ä.). Und mehr als 4 % machen ihre eigenen Regeln
und fahren wie es ihnen passt, mit der Konsequenz: ‚Wenn ich Pech
habe muss ich halt laufen’.
Viele der O-Töne aus dem Talk übrigens decken sich mit den
Äußerungen unserer Kunden.
Die Entwicklung der Eintragungen im Verkehrszentralregister in
Flensburg entsprechen der Internetumfrage: 2004 waren 7,578 Millionen
Personen im VZR erfasst, dies bedeutet zum Vorjahr einen Anstieg um 6,33%.
Dieser Anstieg fand vor allem im unteren Punktebereich (1-7 Punkte) statt, der
mittlere Punktebereich (8-13 Punkte) vergrößerte sich um 1,6 %, während es im
oberen Punktebereich (ab 14 Punkte) einen Rückgang um 0,2 % gegeben hatte.
2006 setzte sich der Rückgang in den Punktebereichen 8-13 und ab 14 Punkte
weiter fort, allerdings nahm der Anteil der Frauen weiterhin leicht zu. Die 8
Millionengrenze wurde um weitere 200.000 Neuzugänge im VZR ‚stabilisiert’. 2008
gab es insgesamt einen weiteren Anstieg um 2,5% im Vergleich zum Vorjahr. Dieser
Anstieg betraf den unteren Punktebereich (1-7 Punkte), hingegen waren die
Häufigkeiten in den höheren Punkteklassen (8-13 Punkte und ab 14 Punkte) weiter
rückläufig. Der obere Punktebereich ab 14 Punkte weist auch in 2008 wie in 2007
4
lediglich 73.000 Personen auf. Insgesamt waren 2008 bereits 8,865 Millionen
Personen im VZR erfasst.
Personen im Verkehrszentralregister (VZR) nach Anzahl der Punkte und Geschlecht am 01.01.2011** :
% Insgesamt * Männer %
Männer insgesamt
Frauen %
Frauen insgesamt
Personen 100 8,995 Mill. 78,0 7,015 Mill. 22,0 1,976 Mill.
Ohne Punkte 19,6 1,763 Mill. 21,3 1,493 Mill. 13,5 267 Tsd.
1 - 7 Punkte 74,0 6,659 Mill. 71,4 5,005 Mill. 83,6 1,653 Mill.
à 1 Punkt 26,5 2,385 Mill. 24,4 1,710 Mill. 34,1 675 Tsd.
à 2 –3 Punkte 29,6 2,664 Mill. 28,2 1,975 Mill. 34,8 688 Tsd.
à 4 –7 Punkte 17,9 1,610 Mill. 18,8 1,320 Mill. 14,7 290 Tsd.
8 - 13 Punkte 5,1 459 Tsd. 5,8 407 Tsd. 2,5 50 Tsd.
≥ 14 Punkte 0,8 67 Tsd. 0,9 63 Tsd. 0,1 4 Tsd.
à 14-17 Punkte 0,6 53 Tsd. 0,7 50 Tsd. 0,1 3 Tsd.
à über 17 Punkte 0,2 14 Tsd. 0,2 13 Tsd. 0,0 1 Tsd.
Quelle: Jahrespressebericht 2009 des KBA vom 01.04.11
* einschließlich ohne Geschlechtsangabe, sowie zzgl. 2,657 Mio. Personen in der einjährigen Überliegefrist
** Prozentuale Verteilung gemäß Stichprobe zum VZR-Bestand vom 1.1.2010
2010 setzt sich die Zunahme fort (Folie) auf fast 9 Millionen. Insgesamt
zeigt sich die klare Tendenz: je höher die Punktehäufung desto geringer
die Anzahl betroffener Personen im VZR. Auch wenn es nach wie vor
jährlich einen leichten Anstieg der Anzahl der ‚Punktesünder’ gibt (von
2009 zu 2010 + 0,34%), findet dieser Anstieg im unteren Punktebereich
(1 - 7 Punkte) statt, wo mittlerweile 6,7 Millionen Autofahrer registriert
sind. Im mittleren Punktebereich, auf der ersten behördlichen
Eingriffsschwelle von 8 – 13 Punkten, sind knapp eine halbe Millionen
Personen vermerkt. Erfreulicherweise ist im höchsten Punktebereich (14
5
und mehr) im Vergleich zum Vorjahr in 2010 ein Rückgang von -10.000
Personen zu verzeichnen, wobei hier 67.000 Personen eingetragen sind.
Die Männer sind überrepräsentiert, augenfällig im mittleren und
besonders deutlich im oberen Punktebereich.
Die im Verhältnis auffallend geringe Zahl der Mehrfachpunktetäter von
14 Punkten und mehr führt zwangsläufig zu der Annahme, dass nur
Kraftfahrer, die durchgängig gegen Verkehrsvorschriften verstoßen,
überhaupt auf mehrere Eintragungen kommen können. Dies ist umso
bedeutsamer, da bereits Personen mit einer Eintragung im Verkehrs-
zentralregister eine 70 % höhere Wahrscheinlichkeit haben, einen Unfall
zu verursachen. Die Gruppe der mit 14 und mehr Punkten Belasteten ist
viermal häufiger in Unfälle verwickelt als die Kraftfahrer ohne Eintrag.
Personen im Verkehrszentralregister (VZR) nach ausgewählten Regelverstößen (kumulierter Wert) und Geschlecht (2010):
% Insge-samt
Männer %
Männer insgesamt
Frauen %
Frauen insgesamt
Alkoholfahrten
15,2
1,364 Mill.
17,3
1,217 Mill.
7,4
146 Tsd.
Geschwindigkeits-
übertretungen
57,4
5,164 Mill.
57,8
4,053 Mill.
56,2
1,110 Mill.
Vorfahrtsmissach-
tung
10,1
909 Tsd.
9,1
638 Tsd.
13,7
271 Tsd.
Quelle: Jahrespressebericht 2010 des KBA vom 01.04.2011
6
Analysiert man Personen im Verkehrszentralregister (VZR) nach
ausgewählten Regelverstößen (kumulierter Wert) und Geschlecht (2010)
(Folie), so zeigt sich mit weit mehr als der Hälfte aller Eintragungen (57,4
%) das Vorsatzdelikt Geschwindigkeitsübertretungen (mit 21 km/h und
mehr). 15,2 % aller Eintragungen resultieren aus Alkoholfahrten, gefolgt
von 10,2 % Missachtungen der Vorfahrt, ebenfalls ein Vorsatzdelikt.
Bezogen auf die geschlechtsspezifische Verteilung haben
verhältnismäßig mehr Frauen Probleme mit der Vorfahrt, die Männer
dagegen mit dem Alkohol.
Bei zumindest 83 % der Eintragungen im VZR kann eigentlich nicht von
mangelnder Kenntnis der Verkehrsregeln ausgegangen werden – es
handelt sich um die alltäglichen Basics eines motorisierten
Verkehrsteilnehmers! Nach unseren Erfahrungen ist gerade bei den
Mehrfachtätern eine sehr genaue Kenntnis des Verkehrsrechts
vorhanden, insoweit es sich um die punkteträchtigen
Geschwindigkeitsübertretungen, Handynutzung, Überholverbote,
Vorfahrtsregelungen, Lichtzeichenanlagen, Gurtnutzung, Änderungen
am Fahrzeug etc. geht.
Geht es um den Erhalt oder den Wiedererwerb der Fahrerlaubnis
betonen die verkehrsauffälligen Kraftfahrer besonders, dass sie sich
künftig konsequent an die Regeln zu halten gedenken. Auf Nachfrage
zeigt sich eigentlich immer, dass die Regelkenntnis in der Breite sehr
gering ist: eine beliebte Fangfrage nach der Mindestgeschwindigkeit in
geschlossenen Ortschaften wird gerne mit 50 Km/h beantwortet,
manchmal sogar mit 60 Km/h – ein Beispiel, wie mit der Zeit das
Rechtsgefühl die Rechtskenntnis zu bestimmen vermag! Weniger
7
ausgeprägt ist das Wissen um das Verhalten in verkehrsberuhigten
Bereichen, in Tempo 30 – Zonen, in Fahrradstraßen, den
Mindestabstand, etc. Auch der § 1 StVO, wonach die Teilnahme am
Straßenverkehr ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht erfordert,
und sich jeder Verkehrsteilnehmer so zu verhalten hat, dass kein
anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen
unvermeidbar, behindert oder belästigt wird, ist selten erinnerlich. Diese
Grundregeln sind zudem unbestimmt formuliert, und damit der persönlich
z.T. sehr weit gefassten Interpretation unterworfen.
Hier sehe ich eine breite Gemeinsamkeit aller Autofahrer: Grundsätzlich
halten diese ihr verkehrsbezogenes Wissen für hoch. Laut einer Forsa-
Umfrage im Jahr 2010 gaben 72 % der befragten Autofahrer an, beim
Thema Verkehrsregeln topfit zu sein. Im Test dagegen wurde jede 3.
Verkehrssituation falsch eingeschätzt.
Eine Auffrischung wird nicht unbedingt als notwendig angesehen – die
entsprechenden Informationen in der ADAC-Motorwelt oder der
Tagespresse werden, weil augenscheinlich wenig relevant für die
gewohnten Fahrten, ignoriert. Oder sie werden zwar gelesen, aber: ‚Wer
kann sich all die Änderungen merken, die die sich in Berlin wieder haben
einfallen lassen?‘
Trotzdem halten sich zumindest unsere Kunden für sehr gute Autofahrer
- was auch immer diese darunter verstehen.
Erstmalig wurde auch das Alter der im VZR eingetragenen Personen
statistisch erfasst, hierbei fällt auf, dass 57,5% aller im VZR erfassten
Personen unter 44 Jahre alt sind, die verbleibenden 42,5% verteilen sich
auf die Altersgruppen ab 45 Jahre und höher. Ein ‚punkteträchtiges’
Verkehrsverhalten ist offenbar eher bei jüngeren Fahrern vorzufinden.
Bei den ganz jungen Fahrern erhöht das Anfängerrisiko in Kombination
8
mit dem Jugendlichkeitsrisiko die Wahrscheinlichkeit eines die
Verkehrssicherheit gefährdenden Verhaltens signifikant. Bei den 18- bis
25-Jährigen mit einem Eintrag im VZR verdoppelt sich bereits die
Unfallwahrscheinlichkeit im Vergleich zu den gleichaltrigen unbelasteten
Fahrern. Bei 2-3 Einträgen erhöht sich das Unfallrisiko auf das 4-fache
im Vergleich zu den Gleichaltrigen ohne Eintrag.
Fahranfänger müssen bereits bei einer schwerwiegenden Eintragung an
einem Aufbauseminar in der Fahrschule teilnehmen, in 2010 waren es
immerhin xx bei xx Ersterteilungen der Fahrerlaubnis. Die Zahlen
verweisen darauf, dass auch frisch in der Fahrschule gelerntes und
geprüftes Regelwissen nicht verhaltenswirksam ist – Wissen bedeutet
nicht Tun!
9
(Folie) 83%, hier die hellen Autos, aller geschätzten 53 Millionen
Fahrerlaubnisinhaber sind ohne Eintrag im Verkehrszentralregister, 17
%, hier die dunklen Autos, aller Fahrerlaubnisinhaber haben Einträge im
VZR. Nur 0,74% (hier das kleine Auto) hiervon haben „14 und mehr“
Punkte - das sind, bezogen auf alle Fahrerlaubnisinhaber, nur 0,13%
aller Fahrerlaubnisinhaber.
Das Übertreten verkehrsregelnder Bestimmungen scheint aus der Mitte
der Gesellschaft zu kommen, ist ein weit verbreitetes Phänomen,
vergleichbar vielleicht mit dem Umgang mit dem Finanzamt, der sog.
‚Steuergestaltung‘, wo nach Umfragen bis einem Viertel der
Steuerpflichtigen angeben, schon einmal Einkommen verheimlicht oder
steuerliche Abzüge überhöht angegeben zu haben. Sehr häufig hören
wir Aussagen wie: Alle fahren doch so! Man habe sich an den fließenden
Verkehr angepasst, dadurch sogar Gutes getan, indem man eben kein
Verkehrshindernis gewesen sei. „Wenn alle immer alles nach Vorschrift
machen, geht doch gar nichts mehr …“ Dieser Haltung entsprechen die
Bezeichnungen ‚Punktesünder’ oder ‚Verkehrssünderkartei‘ – mit
Erstaunen bis Empörung, dass nicht rechtzeitig Absolution erteilt worden
sei … Punkteverlosung in Flensburg
Eine Darstellung aus dem Bereich der Unfallpsychologie „macht jedoch
die Relevanz einer kritischen Betrachtung gerade von
verkehrsrechtlichen Verstößen deutlich (Folie). So kommt auf ein
auffälliges Ereignis (in der Pyramidenspitze als ‚tödlicher Unfall‘
bezeichnet) eine geradezu riesige Anzahl von sicherheitswidrigen
Verhaltensweisen. Zum Glück ereignen sich im Straßenverkehr nur
relativ wenige Unfälle mit Todesfolge. Aber auch Ereignissen mit weniger
10
dramatischem Ausgang liegt eine große Anzahl von
Fehlverhaltensweisen zugrunde. Bezeichnet man (zugegeben etwas
gewagt) das Geblitzt werden in einer Radarfalle aus Sicht der
Betroffenen als ‚leichten Unfall‘, wird deutlich, wie viele
Geschwindigkeitsüberschreitungen sich hinter einem erkannten Delikt
verbergen.“ (Kiegeland 2011, 221) Abgesehen davon, dass hier ein leitender Fahreignungsgutachter in einem Fachbuch
wie selbstverständlich den Begriff der ‚Radarfalle‘ verwendet, müsste für den Bereich
des Straßenverkehrs die Pyramide erweitert werden: 100.000-mal
Ordnungswidrigkeiten (Geldbußen mit Punkten), 1.000.000-mal
Ordnungswidrigkeiten (Geldbußen ohne Punkte) und 10.000.000-mal Regel
missachtendes Verhalten.
Abb. 1: Zusammenhang zwischen Unfällen, kritischen Ereignissen und Fehlverhalten von Bamberg & Mohr (nach
Kiegeland 2011).
11
Wir versuchen, die Entwicklung eines solchen Fehl-Verhaltens
lerntheoretisch zu erklären (Folie):
- Lernen am Modell, durch Beobachtung und Nachahmung (Folie):
Der Mülheimer Verkehrspsychologe Dr. Kalwitzki hat einmal
dargelegt, wie wir von Kindesbeinen an uns an den motorisierten
Individualverkehr gewöhnt haben bzw. gewöhnt wurden. Und bei
Vater und Mutter im Auto sitzend erleben, wie sich ein
Erwachsener hinter dem Steuer verhält: der Vater vielleicht in
legerer Sitzposition, eine Hand am Steuer, und, wie oben
ausgeführt, regelmäßig die Regeln eigenmächtig interpretierend!
Oder die Mutter, morgens, hektisch und unter Zeitdruck auf dem
Weg zur Arbeit noch eben bei der Schule vorbeifahrend,
schimpfend auf den vielen behindernden Verkehr. Als Jugendliche
dann wird das Verhalten in der Bezugsgruppe bedeutsam oder
vermeintlich coole Vorbilder werden nachgeahmt! Und was früher
die Carrera-Bahn gewesen ist, wird heute mit den Kumpels bei
Need for Speed ausgelebt! (Fahrlehrer-Vater in Kurs,
Fahrlehrerschein vorzeigen)
- Lernen durch die Folgen des Verhaltens (Folie): am besten
natürlich durch angenehme Folgen, wie eine positive Verstärkung,
eine Belohnung, oder das etwas Negatives aufhört: bei schnellem
Fahren z.B. Selbstbestätigung, Lust an der Geschwindigkeit oder
Verschwinden von Langeweile. Wir lernen aber auch durch
unangenehme Folgen, wie Bestrafung, Schmerzen, hohe
Anspannung, oder weil etwas Positives aufhört, z.B. beim
Fahrerlaubnisentzug (unbeschränkte Mobilität ist nicht mehr
möglich, dafür vielerlei Abhängigkeiten). Selbstverständlich treten
12
bei einem Verhalten zumeist beide Varianten von Folgen auf,
positive wie negative. Für das Lernen von Verhalten ist jedoch
entscheidend, welche Variation für den Handelnden subjektiv
bedeutsamer ist.
Wichtig sind noch drei Prinzipien (Folie):
Je später eine Folge auftritt, desto geringer ist ihre Wirkung auf das
Verhalten – die Unmittelbarkeit (Zustellung des behördlichen
Schreibens mit dem kleinen schlechten Foto erst vier Wochen
nach dem Vorfall).
Je unwahrscheinlicher das Auftreten einer Folge ist, desto geringer
ist ihre Wirkung – die Wahrscheinlichkeit (fast alle meine
Übertretungen der Verkehrsregeln werden nicht entdeckt; wenn ich
dann einmal auffällig geworden bin, dann war‘s halt Pech).
Und je bedeutsamer eine Folge ist, desto größer ist ihre Wirkung –
die Bedeutsamkeit (ich baue einen Auffahrunfall im Regen,
Zeitverlust, Ärger, hohe Kosten, (noch mehr) Punkte, nur weil
meine Reifen abgefahren sind; 40,- € sind ein Klacks dafür, dass
ich ja die ganze Zeit über viel schneller voran gekommen bin …).
- Lernen durch vorausgehende Ereignisse, ein in der Regel
unbewusst ablaufender Lernprozess (Folie): immer wenn ich im
Hamburger Westen auf der Straße aufgehalten worden bin, war‘s
ein Pinneberger, das nervte total. Auf der Autobahn bei Neustadt-
Glewe taucht vor mir ein Fahrzeug mit Pennt Immer auf, an dem
muss man so schnell wie möglich vorbei, wer weiß was sonst noch
kommt, also ohne weitere Gedanken zu verschwenden trotz
Überholverbot und Geschwindigkeitsbegrenzung mit Schwung
vorbei.
13
Diese drei sogenannten Lerngesetze stehen miteinander in Verbindung,
sie spielen bei jedem Verhalten eine Rolle. Jedem Verhalten (Reaktion)
geht immer ein Auslöser (Stimulus) voraus. Und hat dann eine Folge
(Konsequenz), die wiederum gleichzeitig Auslöser für das nächste
Verhalten ist, usw. Also der Zurechtweisung durch den Disponenten,
jetzt mal hinne zu machen (Auslöser) folgt ein beschämtes, ängstliches
Schlucken (Verhalten), mit der Folge niedergeschlagen zu sein, sich
schlecht zu fühlen, Angst um den Arbeitsplatz (gute Schicht, neue
Aufträge) zu haben. Das löst Verunsicherung aus, Ärgergefühle, …
Das Punktsystem wirkt anscheinend bei vielen Autofahrern, es wirkt
abschreckend. Der Lernerfolg nach den ersten Punkten ist doch so, dass
die antizipierten negativen Folgen die zu großzügigen subjektiven
Regelauslegungen insoweit beeinflussen, dass zumindest die höheren
Punkteränge nicht mehr erreicht werden. Prinzipiell sind der
überwiegende Teil der Autofahrer zur Einhaltung von Regeln eben doch
befähigt. Auch die Mehrfachtäter, wobei diese allerdings allzuoft ihr
selbst aufgestelltes System mit extremen Regeln befolgen!
Schaut man sich die Auszüge aus dem Verkehrszentralregister z.B. im
Rahmen der Verkehrspsychologischen Beratung (ab 14 Punkte) an, stellt
man fest, dass niemand an derselben Stelle noch einmal aufgefallen ist.
Aus der negativen Folge wird zumindest gelernt, zukünftig genau dort
regelgerecht zu fahren. Eine Generalisierung dagegen findet bei den
Problemfällen nicht statt. Nicht nur dies spricht für eine deutlich stärkere
und konsequentere Überwachung, und zwar gerade der
gefahrenträchtigen Verstöße: die kommunale Parkraumüberwachung ist
vielerorts ein vielfaches intensiver als die
Geschwindigkeitsüberwachung!
14
Ergebnisse einer Wirksamkeitsuntersuchung eines Kurses zur
Wiederherstellung der Kraftfahreignung belegen zum einen, dass wir es
mit verschiedenen Problemgruppen zu tun haben (Folie): überwiegend
reine Punktetäter (ca. 40 %), ein Drittel Aggressionstäter bzw. Straftäter,
und jeweils zu ca. 12% Auffällige in der Probezeit und Punktetäter, die
auch mit Alkohol und/oder Drogen aufgefallen sind; innerhalb dieser
Gruppen müssten auch noch heterogene Tatprofile unterschieden
werden.
(Folie) Nur 16 % der Teilnehmer war älter als 40 Jahre, über die Hälfte
dagegen 30 Jahre und jünger! (Folie) Es handelte sich überwiegend um
Männergruppen! „Ja, ich habe mehr Unfälle verursacht, auch mehr
Ordnungswidrigkeiten begangen als meine Frau. Wenn man aber
genauso berücksichtigen würde, dass ich dreimal so viel fahre wie sie,
sähe die Statistik wohl ganz anders aus.“ So kommentierte Werner
Frömming aus Verlbert jüngst in der ADAC Motorwelt eine Meldung, das
Frauen laut Sündenregister in Flensburg weniger Ordnungswidrigkeiten
und Straftaten im Straßenverkehr begehen als Männer. Ein sehr häufig
gehörtes Erklärungsmuster verbirgt sich dahinter: Wer viel fährt, muss
zwangsläufig viele Fehler machen.
(Folie) Fast 80% verfügten über einen einfachen bis mittleren
Bildungsabschluss, 12% hatten Abitur. Das bedeutet aber nicht, dass
Fahrer mit Abitur sich eher an die Regeln halten – vielmehr ist bei dem
damals noch durch die Fahrerlaubnisbehörden angewendeten
Rechtskraftsprinzip davon auszugehen, dass diese eher über das
Wissen und die Ressourcen verfügen, gegebene Möglichkeiten zur
Abwendung rechtlicher bzw. behördlicher Maßnahmen zu nutzen. Oder
sich doch unter dem Druck drohender behördlicher Maßnahmen zu einer
temporären Modifizierung ihrer Regeln herabgelassen haben.
15
(Folie) Bei den Rückfallquoten zeigte sich deutlich, dass die reinen
Punktetäter in den drei Jahren nach der Maßnahme am wenigsten
hatten profitieren können, 72% hatten eine neue Eintragung, und fast
30% hatten 7 und mehr Punkte auf ihr zuvor leeres Punktekonto
gesammelt. Begünstigt sicherlich durch die Erwartung, bevor 8 Punkte
erreicht sind, würde die Fahrerlaubnisbehörde nicht tätig werden. Ähnlich
wie bei der Fahrerlaubnis auf Probe sollte bei einer Neuerteilung nach
Entzug die behördliche Eingriffsschwelle deutlich abgesenkt werden.
(Folie) Interessant, und nicht unerwartet, ein weiteres Ergebnis: Je höher
die Leistung des früher gefahrenen Fahrzeugs, desto wahrscheinlicher
eine erneute Auffälligkeit. Nur bei einer erneuten Entziehung fiel die
Quote der über 150 kW – motorisierten Fahrer am geringsten aus, was
die oben geäußerte Vermutung der Bedeutung des Bildungsgrads um
die Bedeutung der sozioökonomischen Leistungsstärke erweitert.
Hier kommen wir zu weiteren Erklärungsansätzen für eine abweichende
Karriere im Straßenverkehr:
- Glaubenssätze: alle anderen haben genauso viele Punkte wie ich
auch, oder sogar noch mehr – ich bin also gar nichts besonders,
ich bin wie die anderen auch ein Opfer der Verhältnisse, der
Wegelagerei, der Staat braucht eben Geld, das holt er sich bei mir,
der Melkkuh der Nation …
- Oder der Glaubenssatz: Schnell bringt mehr Geld, bei Taxifahrern
oder Kurierfahrern öfters gehört, wobei letztere unter z.T
erbärmlichen finanziellen Rahmenbedingungen liefern müssen.
- Oder: Das Leben ist ein immerwährender Kampf! Ich bin
erfolgreich, wenn ich ein Geschäft abgeschlossen habe, und
meinem Konkurrenten den Auftrag weggeschnappt habe. Und
16
wenn ich durch gewagtes Überholen einen Platz weiter nach vorne
gekommen bin … So ist eben die Leistungsgesellschaft …
- Oder: Ich schaffe alles, ich habe alles im Griff! Auffällige mit
diesem Lebensmotto haben in der Regel eine zu enge Zeitplanung
bei völlig unrealistischer Einschätzung der notwendigen
Fahrtdauer. Zeitpuffer sind vertane Lebenszeit, auch weil sie mit
der vermeintlich entstehenden Leere so gar nichts anzufangen
wissen.
- Sensation seeking: die Lust am extremen, riskanten Autofahren,
wie z.B. die Teilnahme an illegalen Autorennen oder der Versuch,
auf der linken Autobahnspur konsequent die 250 km/h zu halten,
zeigt ein gelassenes Verhältnis zum eigenen Überleben und
verweist auf latente Suizidalität (die dann häufig unter
Alkoholeinfluss zu realisieren versucht wird).
- Autofahrer, die von Recht und Gesetz gar nichts halten, und die
bereits auf eine Vielzahl anderer krimineller Delikte und
entsprechende Verurteilungen zurückblicken können. Prof.
Schubert hat auf dem letzten DVR – Presseseminar ausführlich zu
dissozialen und antisozialen Persönlichkeitsstörungen Stellung
genommen: bei mangelnder Fähigkeit zur Perspektivenübernahme
bleiben diese auf einer der beiden unteren Stufen in der
Entwicklung des moralischen Urteilens stehen: ich unterwerfe mich
dem Mächtigeren bzw. ‚Wie du mir so ich dir’. Der Straßenverkehr
als notwendig soziale Veranstaltung mutiert für diesen
Personenkreis zu einem Raum für die Durchsetzung eigener
Interessen, es geht um Macht - Verkehrsschilder haben darin
vielleicht noch einen dekorativen Wert …
- Zu nennen sind auch diejenigen, die vom Recht vermeintlich sehr
viel halten. Wenn sie das Gefühl haben, der andere habe sie nicht
17
geachtet oder habe ihnen Unrecht getan, sind sie bereit, das Recht
in die eigenen Hände zu nehmen, z.B. andere Fahrer
auszubremsen oder zu bedrohen – „Ich wollte ihn nur zur Rede
stellen und darauf hinweisen …“.
- Mangelnde Impulskontrolle aufgrund einer ADHS ist nicht nur bei
vielen jungen Fahrern festzustellen, sondern auch bei älteren: sie
fahren unaufmerksam, lassen sich leicht ablenken, ärgern sich
schneller, sind angespannt, und werden häufig auch aufgrund von
Selbstmedikationsversuchen alkoholisiert oder nach
Drogenkonsum im Straßenverkehr auffällig.
All diese denken sich nichts weiter dabei, sie fahren wie sie leben, d.h.
auch in anderen Lebensbereichen werden sich ähnliche Verhaltens- und
Einstellungsmuster finden! Schwierigkeiten und Folgen werden selektiv
wahrgenommen, kognitiv Dissonantes wird passend argumentiert. Ein
Unrechtsbewusstsein ist nur selten festzustellen.
Im gerade veröffentlichten Verkehrssicherheitsprogramm 2011 wird die
Einhaltung der Verkehrsregeln als elementare Grundvoraussetzung für
einen sicheren Straßenverkehr benannt. Richtigerweise wird bei den
zuständigen Bundesländern die erforderliche Überwachung und
Sanktionierung von Verstößen angemahnt, ohne die das notwendige
Umlernen geringe Realisierungschancen hat. Hier beschleicht mich
jedoch nicht nur gelegentlich das Gefühl, eine gesamtgesellschaftliche
Koalition aus Autofahrern verhindert erfolgreich entsprechende
Versuche, und freut sich insgeheim, dass die Überwachungstätigkeit im
Navigationsgerät oder Radio enttarnt wird.
Für Regelakzeptanz zu werben halten wir nicht nur bei dem hier zur
Rede stehenden kleinen Kreis der Mehrfachtäter für wenig
18
aussichtsreich. Für die vielen anderen wären verstärkt Angebote zur
freiwilligen Regelauffrischung zu bedenken, z.B. über Fahrschulen/VHS,
redaktionell eingebunden über die Presse oder warum nicht darüber
nachdenken, so etwas wie den 7. Sinn auf allen Kanälen neu zu
verankern. Wenn die Vielen regelachtender fahren, fällt den Wenigen ihr
extremes Verhalten im Straßenverkehr schwerer.
Bei der im Koalitionsvertrag vereinbarten Reformierung des
Punktesystems sollen vereinfachte, transparentere und
verhältnismäßigere Regelungen zur Akzeptanz von Eintragungen
beitragen und damit die Präventivwirkung in Hinblick auf die Vermeidung
von Verkehrsverstößen erhöhen. Die kurzzeitig durch die Medien
geisternde neue 20-Punkte-Grenze wäre aus unserer Sicht der absolut
falsche Weg. Eher sollten die Eingriffsschwellen deutlich gesenkt
werden, ergänzt durch frühzeitigere Angebote zur angeleiteten Reflexion
und Veränderung von Einstellung und Verhalten im Straßenverkehr, z.B.
durch die verkehrspsychologische Beratung.