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N VERLAG ONE EARTH SPIRIT
1.
eld, so betont Bernard A. Lietaer,
ist keine fixe Größe, sondern eine
Übereinkunft. Es sind die kollektivenEmotionen einer Gesellschaft, die das
Geldsystem formen. Damit bricht er ein
Tabu, denn die westliche Welt, und allenvoran ihre Finanzleute, halten Geld füreine gleichsam naturgegebene Selbstver¬ständlichkeit.
ufbauend auf Carl Gustav JungsKonzept der Archetypen legt Lie¬
taer den emotionalen Ursprung unseres
Geldsystems frei. Der Archetyp der
Großen Mutter, das Symbol für Natur,
Fruchtbarkeit und Überfluß, wurde in
den letzten 500 Jahren gewaltsam unter¬
drückt. Als Schattenwesen dieser GroßenMutter tauchen die Phänomene Gier und
Angst vor Knappheit auf. Die Angst vor
Knappheit erzeugt Gier, und die Gierwiederum bewirkt, daß die Angst vor
Knappheit wohl begründet ist. Es handeltsich somit um eine sich selbst erfüllende
Prophezeiung.ietaers Buch gewährt nicht nur
erhellende Einblicke in die Wir¬
kungsweise von Geldsystemen. Es ist viel¬mehr eine spannende und aufregendeReise zu den großen Mythen der Mensch¬heitsgeschichte. Dieser unkonventionelleAnsatz, der die emotionale Dimensiondes Geldes ins Bewußtsein ruft, läßt un¬
sere Finanzsysteme in einem völlig neuen
Licht erscheinen: Die Heiligkeit desGeldes ist nicht unantastbar. Es liegt an
uns, eine Entscheidung zu treffen unddie Natur unseres Geldes zu verändern.
r1 ,
A ernard A. Lietaer hatte über 25Jahre verschiedene Positionen im
Geld- und Finanzwesen inne, die sich
üblicherweise eher ausschließen: Er
war Zentralbankier und professionellerWährungsspekulant, Berater von multi¬
nationalen Konzernen wie von Regie¬rungen in Entwicklungsländern, er war
Universitätsprofessor für internationalesFinanzwesen und Präsident eines elektro¬
nischen Zahlungssystems.n führender Stelle in der Bel¬
gischen Zentralbank zeichnete er
verantwortlich für die Einführung desECU, des Konvergenzmechanismus, der
zur europäischen Einheitswährung führ¬
te. In seiner Funktion als Geschäfts¬
führer und Währungshändler eines der
erfolgreichsten Offshore-Währungsfonds(1989- 92) kürte ihn „Business Week"zum Top-Welt-Währungshändler.
eine Bücher „Das Geld der Zu¬
kunft" (Riemann Verlag, Oktober1999) sowie „Mysterium Geld" entstan¬
den während eines Forschungsauftragsam Institute for Sustainable Resources an
der Universität Berkeley und einer Gast¬
professur für archetypische Psychologiean der Sonoma State University in Kali¬
fornien.
A
Bildnachweis: Oliver Schmauch
Umschlaggestaltung: Network! München
A.
Mysterium GeldEmotionale Bedeutung und
Wirkungsweise eines Tabus
Aus dem Amerikanischen vonHeike Schlauerer, VerlagsService Mihr
Riemann
BERNARD A. LIETAER
Mysterium GeldEmotionale Bedeutung und
Wirkungsweise eines Tabus
Aus dem Amerikanischen vonHeike Schlauerer, VerlagsService Mihr
Riemann
BERNARD A. LIETAER
Mysterium GeldEmotionale Bedeutung und
Wirkungsweise eines Tabus
Aus dem Amerikanischen vonHeike Schlauerer, VerlagsService Mihr
Riemann
Inhalt
iiVorwort
Teil I
Archetypen und Geld 15
17Zentrale Ideen von Teil I
Kapitel 1
Die Sprache der Archetypen
Konzepte der kollektiven Psychologie
Archetypen
Schatten
20
21
22
25
Yin, Yang und Jung
Der Schatten ist nicht der Feind
28
30
32Eine Karte der menschlichen Psyche
Kapitel 2
Der Fall des verschwundenen Archetyps
Die Große Mutter
Der Archetyp der Großen Mutter
und frühe Währungssysteme
Eine Defmition des Geldes
Vieh - das erste Betriebsmittel
Die allgegenwärtige Kauri-Muschel ....
38
40
45
46
47
53
5
Andere »primitive« Währungen
Frühe Münzen
Die Unterdrückung der Großen Mutter . .
Indogermanische Invasionen
Die mesopotamische Kultur
Die griechische Kultur
Das Judentum
Das Christentum
Männliche Helden und die Unterdrückung
des Weiblichen
Ausnahmen: Historische Nischen des Kultes
um die Große Mutter
Die unterdrückte Große Mutter
und das Währungssystem
55
57
61
63
66
67
68
70
79
83
86
Kapitel 3
Der archetypische Mensch
Geschlechts- und Yin-Yang-Energien
Der archetypische Mensch und die materielle Welt
Die archetypische Fünf
Die Schatten des archetypischen Menschen
Schatten-Resonanz
Fazit
89
90
92
94
96
99
99
6
Teil IIWährungssysteme und Archetypen 103
Zentrale Ideen von Teil II 105
Kapitel 4
Die Untersuchung von Spekulationsphasen
mit Hilfe des Magiers
Das Boom-Bust-Phänomen
111
113
Die Reaktion des Staates 117
Die Reaktion der Wirtschaftsexperten
Der Homo oeconomicus
Leugnung
Erklärungen der WirtschaftswissenschaftEin archetypischer Ansatz
Die Bedeutung von Mythen
Das Apollo-Dionysos-Paar
Die Bedeutung des Apollo-Dionysos-Mythos heute
119
120
121
122
128
128
129
142
Kapitel 5
Ein Fallbeispiel aus dem Hochmittelalter
Eine Verbindung zwischen den Währungen
Demurrage im Mittelalter
Demurrage in Ägypten
Ja und?
Die Spur der Schwarzen Madonna
Welche Bedeutung hat sie für uns Heutige?
Esoterik versus Exoterik
Warum ist sie schwarz?
146
149
149
153
155
156
157
159
162
7
Die Verbindung nach Ägypten
Wirtschaftliche Auswirkungen im mittelalterlichen
Europa - die »erste europäische Renaissance«
Liegegebühren - der unsichtbare Motor?
Expansives WirtschaftswachstumEine Renaissance für das Volk durch das Volk? . . .
Eine »halbe Renaissance« für Frauen
Die Zeit der Kathedralen
171
172
173
175
181
184
195
Wie alles ein Ende fand 201
Der Rückschlag im fahr 1300
Die Auswirkungen auf die Bevölkerung
Wie es zur Geldknappheit kam
Schlußfolgerung aus einem unbewußtenFinanzexperiment
201
204
212
215
Kapitel 6
Ein Fallbeispiel aus dem alten Ägypten
Die ägyptische Wirtschaft
Der Isis-Kult
Die ägyptische Frau
Eheverträge
Rechtliche Stellung
Herrscherinnen
Frauenberufe
Ein griechisch-römisches Ende
Die Suche nach Gemeinsamkeiten ....
Die Bedeutung für heute
Ein Programm fiir die Forschung
216
216
222
225
226
229
230
231
237
240
241
244
8
Teil IIIWarum jetzt? 247
Die wichtigsten Thesen aus dem
Geld der Zukunft 248
Kapitel 7
Das heutige Geld und die Große Mutter
»Yang«-Währungen
Die Entwicklung des Geldes
im archetypischen Schema
Der archetypische Mensch und das System
der Iÿndeswährungen
Geld als Informationsreplikator
Einige positive Folgen
Negative Folgen
Psychologische Folgen
Die Stärkung des »dominatorischen Prinzips«,
Konsumdenken und Fundamentalismus
252
252
256
259
261
262
263
264
265
268Fazit
Kapitel 8
Wo stehen wir heute? 270
Die Entwicklung des Bewußtseins
Das Werk von Jean Gebser ....
Die Integration Gebsers in die
archetypische Entwicklung ....
Eine Lektion über 30000 Jahrearchetypischer Geschichte ....
271
271
274
277
Und heute? 283
9
Die Traditionalisten 284
Die Modemisten 285
Die kulturell Kreativen 286
Ein archetypisches Schema der drei Subkulturen
Zurück zum Geld
Die Bedeutung unserer Krise
293
298
303
Kapitel 9
Unsere Zukunft, unser Geld
Die Stimme des Herrschers:
Eine Magna Charta für die Zukunft
Die Stimme des Magiers:
Eine Aktualisierung des archetypischen Vokabulars
Die Stimme des Liebhabers: Eine Einladung ....
Die Stimme des Kriegers: 2020VISA
Die Stimme der Großen Mutter:
Ein Märchen aus der Zukunft
305
306
309
314
316
321
Epilog 331
Anhang A: Ein kurzes Glossar
Anhang B: Anmerkungen
335
340
10
Vorwort
Warum hat Geld einen so großen Einfluß in der heutigen Welt?
Warum löst es bei den meisten Menschen so starke und wider¬
sprüchliche Gefühle aus? Und warum werden unsere angeblich so
rationalen Finanzmärkte regelmäßig von außergewöhnlich irra¬
tionalen und destruktiven Hysterien und Krisen geschüttelt?
Während ich an einem Manuskript für denselben Verlag arbeite¬
te - Das Geld der Zukunft1 - wurde mir bewußt, daß diese wichti¬
gen Fragen zum Thema Geld selten aufgegriffen werden und ein
eigenes Buch verdienen. Hier möchte ich Sie zu einer Reise einla-
den, bei der Sie den Schlüssel zum Verständnis der wichtigsten
Emotionen kennenlernen, die unserem Währungssystem zugrun¬
de liegen und es zu einem so mächtigen Druckmittel in unserer
Gesellschaft machen. Die Lektüre dieses Buches ist eine Reise in
unsere Köpfe, bei der uns eines der letzten Tabus der westlichen
Gesellschaft vor Augen geführt wird: unser Geld. Es ist gefährlich,
ein Tabu anzutasten. Wer die Schattenseiten einer Gesellschaft
aufzeigt, riskiert damit, viele Menschen zu verärgern. Eine Arbeit
über Geld, die Gefühle und Archetypen behandelt, ist ziemlich un¬
gewöhnlich. Warum also ein Buch, das sich mit dem Tabu des Gel¬
des befaßt und die damit verbundenen kollektiven Gefühle unter¬
sucht?
Um wirklich zu verstehen, wie Geld die Gesellschaft »von
außen« formt, müssen wir noch weiter gehen und untersuchen,
welche Verbindungen dazu »in uns« entstehen, in unserer eigenen
Psyche. Denn dort verbirgt sich schließlich der Motor, der uns vor¬
antreibt.
Im Buch Das Geld der Zukunft sagte ich, daß das Informations¬
zeitalter nicht nur die Form des Geldes (d. h. E-Cash, Smart Cards
11
usw.) und seine geographische Verbreitung (Euro) grundlegend
verändert hat und noch weiter verändern wird, sondern auch das
eigentliche Konzept des Geldes (wer es emittiert, zu welchem
Zweck, welche Gefühle es auslöst und welche sozialen Verhaltens¬
weisen es fördert). Diese Entwicklung ist bereits in Gang, denn et¬
wa 2500 Gemeinschaften verwenden inzwischen ihre eigenen lo¬
kalen Währungssysteme. Dabei handelt es sich keineswegs um ei¬
nen Ersatz für die konventionellen Landeswährungen, sondern sie
ergänzen diese. Man kann damit Probleme angehen, bei deren Lö¬
sung sich das herkömmliche Geld bis dato als nutzlos erwies. Mit
den lokalen Währungssystemen wird im Idealfall das Gemein¬
schaftsgefühl gestärkt, sinnvolle Arbeit geschaffen, die ökologi¬
sche Nachhaltigkeit gefördert und die Altenpflege in einer zuneh¬
mend älter werdenden Gesellschaft verbessert werden.
Ich kam zu dem Schluß, daß - wenn die besten Modelle syste¬
matisch angewandt werden - solche Währungsinnovationen ei¬
nen »nachhaltigen Wohlstand« innerhalb einer Generation er¬
möglichen. Der nachhaltige Wohlstand wurde als Prozeß defi¬
niert, bei dem die Menschheit die Gelegenheit zu einer materiel¬
len, emotionalen und spirituellen Weiterentwicklung und Blüte
erhält, ohne die Ressourcen der Zukunft zu vergeuden.
Allerdings blieb eine zentrale Frage unbeantwortet: Sollten die
derzeitigen Währungsinnovationen als kurzlebige Mode abgetan
werden, oder sind sie die ersten Anzeichen für einen grundlegen¬
den Wandel in der Natur des Geldes? Warum sollte der Wandel ge¬
rade jetzt eintreten?
Wenn wir abschätzen wollen, ob ein grundlegender Wandel un¬
seres Währungssystems überhaupt denkbar ist, müssen wir uns
zunächst mit den folgenden Fragen auseinandersetzen:
•Woher stammt das Verlangen oder Bedürfnis nach einem derar¬
tigen Währungssystem?
•Sind Gier und Knappheit ein fester Bestandteil der menschli¬
chen Natur und der materiellen Realität, wie es die Wirtschafts¬
wissenschaft und unser Schulwissen behaupten? Oder könnte es
sein, daß unser derzeitiges Währungssystem genau diese kollck-
12
tiven Empfindungen der Gier und der Furcht vor Knappheit
schafft und verstärkt?
•Warum ist Geld ein Tabuthema?
•Kurz gesagt: Wo liegt der Ursprung der emotionalen Dimension
des Geldes, und wie sieht ihr Mechanismus aus?
Nur wenn wir uns bewußt werden, wie Geld unsere kollektiven
Empfindungen formt - bzw. wie kollektive Empfindungen die
Wahl unserer Währungssysteme beeinflussen können wir mei¬
ner Meinung nach eine bewußte Wahl bei den Währungssystemen
für die Zukunft treffen. In einer Zeit, in der Europa sich auf ein
neues Währungssystem (den Euro) einläßt, in der Finanzkrisen die
Volkswirtschaften ganzer Kontinente ins Wanken bringen und in
der unsere Fixierung auf kurzfristige finanzielle Erfolge das Über¬
leben der Menschheit bedrohen kann, hängt von der bewußten
Wahl unserer Währungssysteme so viel ab wie noch nie zuvor.
Die Untersuchung von Währungssystemen aus der Perspektive
des kollektiven Unbewußten ist neu. Daher ist das Material, das
hier vorgestellt wird, noch im Entstehen begriffen, eine erste vor¬
sichtige Sondierung des Prozesses. Ich möchte betonen, daß dieses
Buch mehr als ein Erkundungsgang und nicht als schlüssiger Be¬
weis meiner Thesen betrachtet werden sollte. Die Arbeit bietet die
bisher entdeckten Belege an und lädt dazu ein, Methoden zu defi¬
nieren, mit denen wir die Hypothese bestätigen oder widerlegen
können.
Bernard A. Lietaer
Steyerberg, im Juli 1999
13
Teil I
Archetypen und Geld
»Es ist wesentlich schwieriger, seinen Weg in der
Welt zu finden als darüber hinaus.«
Wallace Stevens
»Das Königreich liegt in euch und vor euch.
Aber ihr seht es nicht.«2 Thomas-Evangelium
Teil I bietet Ihnen alle notwendigen Werkzeuge für dieses Buch.
Zuerst müssen wir uns auf die Sprache einigen, mit der wir unsere
kollektiven Gefühle beschreiben können: die Sprache der Ar¬
chetypen. Dann wollen wir anhand einer historischen Detektiv¬
geschichte herausfinden, was mit dem Archetyp geschah, mit dem
unser Geld am engsten verbunden ist. Schließlich legen wir ein ar¬
chetypisches Schema an, das auf möglichst einfache Art das weite
Feld der menschlichen Gefühle darstellt.
Der hier vorgestellte Ansatz wird auch erklären, wie die drei
großen Tabus der westlichen Gesellschaft-Sex, Tod und Geld- Zu¬
sammenhängen und warum wir nicht überrascht sein sollten, daß
sie sich gemeinsam in der modernen Welt entwickelten. Aus dem¬
selben Grund werden alle drei jetzt innerhalb einer Generation in
Frage gestellt.
Das Schema des archetypischen Menschen wird später in Teil II
anhand von historischen Belegen -aus dem europäischen Mittel-
alter und dem Ägypten der Pharaonen-überprüft. Die Währungs¬
systeme beider Kulturen stammen aus einer Zeit, in welcher der
Archetyp der Großen Mutter geehrt wurde. Sie weisen einige un¬
gewöhnliche Gemeinsamkeiten auf, die unserem System diame¬
tral entgegengesetzt sind.
15
In Teil III schließlich wird die Gültigkeit des Schemas vom arche¬
typischen Menschen anhand einiger aktueller Fragen in Zusam¬
menhang mit unserer gegenwärtigen Währungssituation hinter¬
fragt. Wir untersuchen, welche Auswirkungen es hat, daß der
Schatten der Großen Mutter in unser bestehendes Währungssy¬
stem integriert ist. Außerdem befassen wir uns mit der Frage, ob es
tatsächlich Trends gibt, die auf eine grundlegende Änderung in
unserem Wertesystem hindeuten.
Kästen und Abbildungen
Kästen wie dieser bieten zusätzliche Einblicke oder bemerkenswerte
Anekdoten als Ergänzung zum Haupttext. Gelegentlich finden Sie hier
auch Resümees bzw. Übersichten.
Das Buch bietet außerdem zahlreiche Abbildungen, die einen Kom¬
mentar parallel zum Text enthalten. Der Grund dafür liegt darin, daß
die Sprache, die zur Beschreibung der kollektiven Empfindungen ver¬
wendet wird, die der Archetypen ist, und Archetypen sind in erster Li¬
nie Bilder. Die Assoziation von Text und Bildern wendet zudem das an,
was im Buch vorgeschlagen wird: die Informationen der rechten und
linken Gehirnhälfte, unserer beiden komplementären Informationssy¬
steme, zu integrieren.
16
Zentrale Ideen von Teil I
»Geld ist einzigartig. Neben der Liebe ist es die
größte Freude des Menschen. Und zusammen mit
dem Tod macht es ihm am meisten angst.«
John Kenneth Galbraith
»Der Geist erfindet die Welt,
Und leugnet dann alles.« David Bohrn
Die westliche Gesellschaft ist von drei wesentlichen Tabus geprägt:
Sex, Tod und Geld. Jahrhundertelang wurden diese Themen in
»besserer Gesellschaft« nicht angesprochen. Die sexuelle Revoluti¬
on in den 60er Jahren machte das erste Thema gesellschaftsfähig.
in den 80er Jahren wurden wir durch Aids gezwungen, uns mit
dem l'od in Zusammenhang mit Sex auseinanderzusetzen und dar¬
über sogar mit unseren Kindern zu sprechen. Dieses Buch will nun
das letzte Tabu angehen: das Geld.
Das Tabu des Geldes existiert sowohl auf der persönlichen als
auch auf der kollektiven Ebene. Es gilt als »unanständig«, jeman¬
den zu fragen, wieviel Geld er besitzt oder woher er es hat. Darüber
hinaus besteht eine bemerkenswert weit verbreitete Unkenntnis
darüber, wie unser Geld aus dem Nichts geschaffen wird. Auch daß
die Währungsform, die wir zur Zeit verwenden, eine bestimmte
kollektive und individuelle Programmierung bewirkt oder daß Ge¬
fühle und Verhalten überhaupt durch Geld programmiert werden,
ist nur wenigen bekannt.
Was kann ein Fisch über die Natur des Wassers wissen? Er kann
es nicht begreifen, weil er darin schwimmt, darin lebt, weil ihn das
Wasser ganz und gar umgibt. Er muß herausspringen, um es zu
17
sehen. Ähnlich wie in dieser Metapher verhält es sich mit unserer
Einstellung gegenüber dem Geld.
Geld ist nicht greifbar, es ist eine Übereinkunft in einer Gemein¬
schaft, etwas als Tauschmittel zu verwenden. Verschiedene Kultu¬
ren benutzten eine unglaubliche Vielfalt an Gegenständen oder
Konventionen als Geld. Dennoch hielt jeder sein eigenes Wäh¬
rungssystem stets für selbstverständlich. Wir haben es übernom¬
men und hinterfragten es nie. Das ist auch heute noch der Fall,
selbst bei den meisten Wirtschaftswissenschaftlern und Finanz¬
experten. Anders ausgedrückt handelt es sich bei Geld um eine un¬
bewußte Vereinbarung. Wir »schwimmen« darin. Daher müssen
wir uns auf der Suche nach dem Ursprung der mit Geld verbun¬
denen Gefühle mit dem kollektiven Unbewußten einer Gesell¬
schaft befassen.
Die Arbeit von C. G. Jung und seinen Schülern auf dem Gebiet
der Archetypenpsychologie bietet uns ein fundiertes und aner¬
kanntes konzeptuelles Rahmenwerk zur Untersuchung des kollek¬
tiven Unbewußten. Mit dieser Methode werden wir erkennen, daß
ein Währungssystem ein wichtiges Spiegelbild der Art und Weise
ist, wie eine Gesellschaft die materielle1 Welt wahrnimmt und vor
allem mit dem Weiblichen umgeht.
In Gesellschaften, in denen das Weibliche nicht unterdrückt
wurde, unterlagen Sex, Tod und Geld auch keinem Tabu, wie es in
der modernen Welt der Fall ist. Wurde das Weibliche dagegen nie¬
dergehalten, verschwanden diese Themen aus dem Blickfeld. Wie
Jung es ausdrückte, erscheint in unserem Leben als Schicksal, was
wir nicht ins Bewußtsein rufen können. Daher sind wir in unserer
Welt »vom Schicksal dazu verdammt«, daß unser Dasein von Emo¬
tionen gesteuert wird, die um diese drei Themen kreisen. Bezeich¬
nenderweise handelt es sich bei Sex, Tod und Geld um die drei
Hauptattribute eines einzigen Archetyps: der »Großen Mutter«. Sie
wurde in der westlichen Geschichte jahrtausendelang unter¬
drückt.
Ich behaupte, daß wir diese abgetrennten Energien in unser Be¬
wußtsein reintegrieren müssen, um wieder »ganz« zu sein, also
18
persönlich und kollektiv gesund zu werden. Bei dem Versuch,
Licht in unser Verhältnis zum Geld zu bringen, verfolgt dieses
Buch denn auch letztlich das Ziel, Geld dadurch zu unserem »Die¬
ner« zu machen, anstatt es weiterhin als unseren »Herrn« zu er¬
dulden.
Zu Anfang müssen wir uns jedoch mit den Mitteln unserer Un¬
tersuchungsmethode vertraut machen - mit der Sprache der Ar¬
chetypen und ihrer Bedeutung für das Geld.
19
Kapitel 1
Die Sprache der Archetypen
»Der Traum, den man alleine träumt, ist nur ein
Traum. Doch der Traum, den wir gemeinsam
träumen, ist Realität.« Yoko Ono
»Das gefährlichste Tier der Welt.«
Schild unter einem Spiegel in einem Zoo
Wir gehen davon aus, daß die in einer Gesellschaft verwendete
Währungsform ein Spiegelbild des kollektiven Unbewußten dieser
Gesellschaft ist. Die Untersuchung der unbewußten Dimension
des Geldes ist kein müßiger Zeitvertreib. Selbst erfahrene Psycho¬
logen scheinen dieses Problem für sich selbst nicht immer gelöst
zu haben (s.Kasten).
Wenn wir diese emotionalen Mechanismen offenlegen, trägt das
hoffentlich dazu bei, uns von dem »Schicksal« zu befreien, das
Jung für alles prophezeit, was wir im Unbewußten vergraben ha¬
ben. Daher müssen wir herausfinden, wie und warum unser
Währungssystem uns an der Nase hemmführt und an Orte bringt,
an die niemand bewußt hinwill.
Kapitel 1 bietet eine Synthese des Vokabulars, das wir für die Un¬
tersuchung dieser Dimension des Geldes brauchen. Die beste Me¬
thode zur Erforschung des kollektiven Unbewußten bietet bisher
die archetypische Psychologie. Wir werden zwei Konzepte ken¬
nenlernen: Archetypen und Schatten. Sie erklären, wie Menschen
dazu neigen, sich auf bestimmte vorhersehbare Art zu fühlen und
zu verhalten. Mit den Archetypen und Schatten als Bausteinen
können wir ein Schema erstellen, das zeigt, wie sich Menschen nor¬
malerweise zueinander und gegenüber ihrer Umwelt verhalten.
20
Konzepte der kollektiven Psychologie
Pionier auf dem Feld der archetypischen Psychologie war C.G.
Jung. Weiterentwickelt wurde diese Disziplin von Wissenschaft¬
lern wie Erich Neumann,Joseph Campbell,JolandeJacobi, Edward
Edinger, Christine Downing und Jean Shinoda Bohlen. James Hill¬
man begründete schließlich offiziell eine Schule der Archetypen-
Psychologie.6 Zu den bekannteren Anwendungen der Jungschen
kollektiven Psychologie gehören die Vorhersage des Faschismus in
Europa, den Jung in den 20er Jahren kommen sah, oder die pro¬
phetische Beschreibung der Dynamik, die dem kalten Krieg zu¬
grunde lag. Für unsere Zwecke müssen wir jedoch nur zwei Schlüs¬
selkonzepte begreifen: »Archetypen« und »Schatten«, die im fol¬
genden definiert werden.
Psychologen und Geld
Freud setzte Geld mit Exkrementen gleich. Allerdings »ist es nicht so
klar, daß die Gebühr für die Psychoanalyse, diese Säule der Freudschen
Analyse, klinisch so selbstverständlich war, wie es der Begründer vor¬
gab«.4
Bei einer Umfrage unter amerikanischen Psychiatern wurde nach dem
größten beruflichen Tabu in der Beziehung zu den Patienten gefragt.
Es war nicht »die Preisgabe von vertraulichen Patienteninformationen«
und auch nicht »die sexuelle Beziehung zu Patienten«. Das größte Ta¬
bu war, »Patienten Geld zu leihen«.
»Geld ist so tief und weit wie der Ozean, das ursprüngliche Unbe¬
wußte ... Wenn Sie Vorstellungskraft bei sich oder einem Patienten fin¬
den wollen, müssen Sie sich nur mit Verhaltensweisen und Phantasien
rund um das Geld befassen. Sie werden sich beide schnell in der Un¬
terwelt wiederfinden (zu deren Eintritt man Charon Geld bezahlen
muß) ... Daß wir die Geldfrage in der Analyse nicht klären können,
weist Geld als einen Weg aus, mit dem die Vorstellungskraft unsere
Seelen phantasieren läßt. Wer die Seele des modernen Mannes und der
modernen Frau finden will, muß bei den unauslöschlich peinlichenFakten des Geldkomplexes nachforschen, jener verrückten Krabbe, die
am Boden stiller Ozeane entlangtrippelt.«5
21
Archetypen
Meine Arbeitsdefinition von Archetypen ist einfach: Ein Archetyp
ist ein wiederkehrendes Bild, das die Gefühle und das Verhalten
des Menschen strukturiert. Ein Archetyp läßt sich unabhängig vonZeit und Kultur beobachten.
Wichtig ist in dem Zusammenhang, daß wir mit dieser Defini¬
tion nicht alle Lehrsätze des Jungschen psychologischen Systems
akzeptieren müssen (der Kasten enthält einige klassische Defini¬
tionen im Sinne Jungs).7 Dennoch ist der archetypische Wort¬
schatz nützlich zur Beschreibung von Verhaltensmustern. Auch
das Verhältnis der Menschen untereinander sowie zwischen
Mensch und Umwelt läßt sich so besser ausdrücken.
Klassische Definitionen des Archetyps
Archetypen »sind eher Metaphern als Dinge ... Alle Beschreibungen für
Archetypen sind Metaphern, die mit anderen Metaphern übersetzt
werden ... Ein Aspekt ist allerdings für den Begriff des Archetyps un¬
verzichtbar: ihr emotional besitzergreifender Effekt, die Blendung des
Bewußtseins.«8
Einige eigene Metaphern Jungs in diesem Bereich verdeutlichen das:
•»Archetypen sind eben wie Flußbetten, die das Wasser verlassen hat,
die es aber nach unbestimmt langer Zeit wieder auffinden kann. Ein
Archetypus ist etwas wie ein alter Stromlauf, in welchem die Wasser
des Lebens lange flössen und sich tief eingegraben haben. Und je län¬
ger sie diese Richtung behielten, desto wahrscheinlicher ist es, daß
sie früher oder später wieder dorthin zurückkehren.«9
•»Archetypen sind Erlebniskomplexe, die schicksalsmäßig eintreten,
und zwar beginnt ihr Wirken in unserem persönlichen Leben. Die
Anima tritt uns nicht mehr als Göttin entgegen, sondern unter Um¬
ständen als unser allerpersönlichstes Mißverständnis, oder unser be¬
stes Wagnis. Wenn zum Beispiel ein alter, hochverdienter Gelehrter
noch mit siebzig Jahren seine Familie stehenläßt und eine zwanzig¬
jährige, rothaarige Schauspielerin heiratet, dann -wissen wir- haben
sich die Götter wieder ein Opfer geholt.«10
•»Archetypen sind für die Seele das, was die Instinkte für den Körper
sind.« 11
22
Ich betrachte den Prozeß, durch den Archetypen eine Rolle in der
Entwicklung des Menschen spielen, ähnlich wie der Historiker Ar¬
nold Toynbee: als Teil einer kulturellen Strategie, auf kollektive hi¬
storische Herausforderungen reagieren zu können, indem man die
emotionale Dimension des Lebens organisiert.
Es gibt Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Archetypen.
Jede mythologische Figur beschreibt beispielsweise einen Ar¬
chetyp. Alle unsere überlieferten Geschichten enthalten derartige
Urbilder.So erkannte etwaJoseph Campbell den »Heros in tausend
Gestalten«12 als eine universale und grundlegende Geschichte.
Dieser Held findet sich bei den Sumerern (Gilgamesch) und Grie¬
chen (Herakles), im Mittelalter (Galahad, Gawain oder jeder an¬
dere »Ritter in schimmernder Rüstung«), als »Superman« bei den
Amerikanern oder als eine Figur, die nur Amazonasindianer ken¬
nen. »Die Heldenmythen variieren im Detail außerordentlich,
aber ihre Strukturen sind einander sehr ähnlich. Das heißt, sie ha¬
ben ein universelles Muster, obgleich sie von Gruppen oder Indi¬
viduen entwickelt wurden, die keinen direkten kulturellen Kon¬
takt miteinander hatten - zum Beispiel von afrikanischen Neger¬
oder nordamerikanischen Indianerstämmen, von den Griechen
oder den peruanischen Inkas. Man hört immer wieder Geschich¬
ten, die die wunderbare, wenn auch armselige Geburt eines Hel¬
den beschreiben, die frühen Anzeichen seiner übermenschlichen
Stärke, seinen raschen Aufstieg zu Ansehen oder Macht, seinen
siegreichen Kampf mit den Mächten des Bösen, seine Anfälligkeit
für die Sünde des Stolzes (Hybris) und seinen Sturz durch Verrat
oder durch ein >heldenhaftes< Opfer, das mit seinem Tod endet.«13
Andere Archetypen sind genauso universal. Die biblischen Figu¬
ren des Königs Salomo und der Königin von Saba (s. Abb.) verkör¬
pern beispielsweise den Archetyp des weisen Herrschers. Romeo
und Julia oder das Leben Marilyn Monroes stehen für die tragisch
Liebenden.
ln unseren Träumen besuchen wir alle regelmäßig das Reich der
Archetypen. In der Reklame, im Wahlkampf und in Hollywoodfil¬
men benutzt man sie, um bei den Rezipienten bestimmte Gefüh-
23
König Salomo und die Königin von
\ Saba. Beide repräsentieren den Ar-
» chetyp des Herrschers. (Buntglas-
P fenster aus der Canterbury Cathe-
& dral, 13. Jahrhundert; ZeichnungC von Moreno Tomasetig.)
n 5?r- -
HF?
Si
le zu wecken oder Verhaltensweisen auszulösen. Jede Geschichte
in den Medien, die »die Phantasie der Massen beflügelt«, enthält
unweigerlich zahlreiche Archetypen. Die Tatsache, daß über eine
Milliarde Menschen auf der ganzen Welt unabhängig von ihrer
kulturellen Zugehörigkeit das Begräbnis von Prinzessin Diana am
Bildschirm verfolgten, zeigt die archetypische Natur des Märchens
von der tragischen Prinzessin. Geschichten, die die Aufmerksam¬
keit einer ganzen Nation fesseln, deuten auf Aspekte des kollekti¬
ven Unbewußten der entsprechenden Kultur hin - beispielsweise
weist die Faszination, mit der die amerikanische Öffentlichkeit
den Prozeß von O.J. Simpson verfolgte, auf eine Wunde in der
amerikanischen Geschichte hin: auf den Rassenkonflikt. Die Me¬
dienhysterie angesichts der sexuellen Eskapaden des amerikani¬
schen Präsidenten wirft ein Licht auf den Schatten der Unter¬
drückung des Sexuellen in einer puritanischen Kultur.
C.G. Jung erklärte: »Alle stärksten Ideen und Vorstellungen der
Menschheit gehen auf Archetypen zurück. Besonders deutlich ist
dies bei religiösen Vorstellungen der Fall. Aber auch wissenschaft¬
liche, philosophische und moralische Zentralbegriffe machen da¬
von keine Ausnahme. Sie sind in ihrer gegenwärtigen Form durch
bewußte Anwendung und Anpassung entstandene Varianten der
Urvorstellungen, denn es ist die Funktion des Bewußtseins, nicht
24
nur die Welt des Äußeren durch die Sinnespforten aufzunehmen
und zu erkennen, sondern auch die Welt des Inneren schöpferisch
in das Außen zu übersetzen.«14
Dieses Buch will zeigen, daß das Währungssystem jeder Gesell¬
schaft - auch unserer eigenen - ebenfalls eine Methode ist, »die
Welt des inneren in das Außen zu übersetzen«, d. h. größtenteils
unbewußte archetypische Kräfte auf die sichtbare Realität zu pro¬
jizieren bzw. ihr aufzuzwingen.
SchattenNeben den Archetypen brauchen wir zur Erkundung des kollekti¬
ven Unbewußten des Geldes noch ein weiteres Konzept, nämlich
den Begriff des »Schattens«. Dieses Konzept hat seinen Ursprung
in einem Traum, den Jung in seiner Autobiographie beschreibt
(s. Kasten).
Jungs »Schattentraum«15
»Es war Nacht an einem unbekannten Ort, und ich kam nur mühsam
voran gegen einen mächtigen Sturmwind. Zudem herrschte dichter
Nebel. Ich hielt und schützte mit beiden Händen ein kleines Licht, das
jeden Augenblick zu erlöschen drohte. Es hing aber alles davon ab, daß
ich dieses Lichtlein am Leben erhielt. Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß
etwas mir nachfolgte. Ich schaute zurück und sah eine riesengroße
schwarze Gestalt, die hinter mir herkam ... Als ich erwachte, war es mir
sofort klar: Es ist mein eigener Schatten auf den wirbelnden Nebel¬
schwaden, verursacht durch das kleine Licht, das ich vor mir trug. Ich
wußte auch, daß das Lichtlein mein Bewußtsein war; es ist das einzige
Licht, das ich habe.«
Ich definiere einen Schatten als die Art, in der sich ein Archetyp
manifestiert, wenn er unterdrückt wird.16 Archetypen und Schat¬
ten ist gemeinsam, daß sie Menschen dazu veranlassen, sich auf
bestimmte, vorhersehbare Weise zu verhalten.
Am einfachsten versteht man die Verbindung zwischen einem
Archetyp und seinen Schatten anhand eines Beispiels: Der Ar-
25
chetyp, der das Höhere Selbst verkörpert, ist der Herrscher, darge¬
stellt durch den König für Männer oder die Königin für Frauen.
Wenn jemand aus irgendeinem Grund sein Höheres Selbst - also
den Herrscher im Inneren - unterdrückt, neigt er zum Verhalten
eines Tyrannen oder eines Schwächlings, den beiden Schatten des
Herrschers.17 Der Tyrann besitzt ein Übermaß der Gefühls- und
Verhaltensattribute eines normalen Herrschers, der Schwächling
dagegen weist ein Defizit dieser Eigenschaften auf. Es gibt immer
eine direkte Beziehung der Angst zwischen den beiden Schatten ei¬
nes Archetyps. Ein Tyrann fürchtet sich, Schwäche zu zeigen, und
ein Schwächling fürchtet sich, tyrannisch zu wirken.
Darüber hinaus ist bekannt, daß man nur ein wenig an der Ober¬
fläche eines Tyrannen kratzen muß, um einen Schwächling zu fin¬
den. Ungekehrt wird ein schwacher Mensch, wenn er Macht über
jemand anderen hat, oft zum Tyrannen. Abb.1 verdeutlicht diese
Beziehung graphisch.
Angst
TyrannSchatten
> SchwächlingSchatten
4-
7
Herrscher(König/Königin)
Abb. 1: Der Archetyp des Herrschers und seine beiden Schatten18
Das Schaubild zeigt für den Fall des Herrschers das »Aufspalten« ei¬
ner archetypischen Energie, das eintritt, wenn eine Angst verin¬
nerlicht wird. Graphisch ist dargestellt, daß sich ein Archetyp, der
in einer Einzelperson oder in einer Gesellschaft unterdrückt wird,
26
in Form seiner Schatten manifestiert. Die Aufspaltung in polare
Schatten kann bei jedem Archetyp stattfinden. Der Krieger bei¬
spielsweise hat den Sadisten und den Masochisten als Schatten.
Der unterdrückte Liebhaber wird abhängig oder impotent. In allen
Fällen sind die beiden Schatten die zwei Seiten ein und derselben
Münze, die eine Seite exzessiv, die andere ohne die notwendige
Energie des Archetyps selbst. Alle Schatten haben die Angst vor der
anderen Polarität gemeinsam. So ist beispielsweise die Angst vor
Impotenz die treibende Kraft, die jemanden abhängig von Sex
macht.
C.G. Jung weist darauf hin, daß der moderne, rational denken¬
de Mensch dazu neigt, die Macht archaischer Symbole und Ar¬
chetypen zu verneinen. »... es ist töricht, sie einfach abzutun, nurweil sie, rational betrachtet, bedeutungslos erscheinen. Sie sind
wichtige Bestandteile unserer geistigen Struktur und lebenswichti¬
ge Kräfte im Aufbau der menschlichen Gesellschaft, sie können
nicht ohne ernsten Schaden ausgerottet werden. Wo man sie un¬
terdrückt oder vernachlässigt, da verschwindet ihre spezifische
Energie mit unberechenbaren Folgen ins Unbewußte. Die psychi¬
sche Energie, die auf diese Weise verlorengegangen zu sein scheint,
dient in Wirklichkeit dazu, das, was im Unbewußten zuoberst
liegt, wieder zu beleben und zu intensivieren - Tendenzen viel¬
leicht, die bis dahin keine Gelegenheit gehabt hatten, sich auszu¬drücken, oder denen wenigstens eine unbehinderte Existenz in
unserem Bewußtsein nicht gestattet war. Solche Tendenzen bilden
einen immer gegenwärtigen und potentiell zerstörerischen >Schat-
ten< unseres Bewußtseins. Selbst Tendenzen, die unter Umständen
einen positiven Einfluß ausüben könnten, werden in Dämonen
verwandelt, wenn man sie unterdrückt. Deshalb haben viele Leu¬
te verständlicherweise Angst vor dem Unbewußten und gleichzei¬
tig vor der Psychologie.«19
Auf diese Weise hat uns die Hypothese eines hyperrationalen
Wirtschaftsmenschen, die all unseren Wirtschaftstheorien zu¬
grunde liegt, blind gemacht gegenüber dem Prozeß, mit dem Geld
unsere kollektiven Gefühle programmiert. Das Geheimnis der »ir-
27
rationalen« Spekulationsphasen, die regelmäßig auch die fundier¬
testen Finanzmärkte erschüttern, wird später mit diesem über¬
mäßigen Vertrauen in die totale Rationalität erklärt.
Yin, Yang und Jung
Das Schema der beiden polaren Schatten wird von mir mit dem
jahrhundertealten Konzept von Yin-Yang verknüpft. In diesem
Kontext bezieht sich Yin-Yang u.a. auf die Polaritäten Zusam¬
menarbeit-Rivalität, egalitär-hierarchisch, intuitiv-logisch, weib¬
lich-männlich usw. Der Nutzen dieses Konzepts zeigt sich deutli¬
cher, wenn das archetypische Schema verallgemeinert wird (Kapi¬
tel 3), wenn es zur Unterscheidung verschiedener Währungssyste¬
me in der Geschichte benutzt wird (Kapitel 6 und 7) oder im
Zusammenhang mit anderen Währungssystemen, die derzeit wie¬
der entstehen (Kapitel 8).
Hier soll zunächst das Yin-Yang-Konzept ausdrücklich20 in das
Schema derJungschen Theorie der Schatten integriert werden, wie
es in Abb.2 dargestellt wird. Es zeigt, daß die zwei Schatten eine
Polarität bilden, wobei der Tyrann unter taoistischen Gesichts¬
punkten eine »übermäßige Yang-Abweichung« vom Archetyp ist,
wohingegen der Schwächling ein »übermäßiges Yin-Ungleichge-
wicht« aufweist. Psychologen beziehen sich auf denselben Prozeß,
wenn sie sagen, daß die archetypische Energie im ersten Fall das
Ich »aufbläht« und im zweiten Fall das Ich »schwächt«.
Das Bewußtsein kann als ein persönliches Theater gesehen wer¬
den, in dem das Ich (d. h. die bewußte Wahrnehmung des Selbst),
das persönliche Unbewußte und die kollektiven Archetypen ihre
entsprechenden Rollen spielen. Da sich das Ich der anderen Dar¬
steller nicht bewußt ist, lebt es normalerweise mit der Illusion, daß
es allein verantwortlich ist und nach seinem eigenen »freien Wil¬
len« handelt. Solange jemand allerdings Angst vor einem Schatten
hat, verharrt das Ich im allgemeinen auf der angstdiktierten Ach¬
se zwischen den beiden Schatten und lebt unweigerlich einen da¬
von aus. Kurz gesagt, ein Ich, das nicht gelernt hat, wie man rich¬
tig mit dem Schatten eines Archetyps umgeht und sich ihm
28
nähert, wird von diesem Schatten besessen. In Abb.2 wird dies
anhand des Archetyps des Herrschers und seiner Schatten darge¬
stellt.
Angst
Tyrann(Yang-Schatten)
> Schwächling(Yin-Schatten)
4-
OIch
Herrscher(König/Königin)
Abb. 2: Das Ich mit dem Archetyp des Herrschers
und seiner Yin-Yang-Schatten
Wer bei einem Schatten verharrt, zieht normalerweise automatisch
Menschen an, die den entgegengesetzten Schatten verkörpern. Ein
Tyrann ist meist von Schwächlingen umgeben und umgekehrt. All
das illustriert das bekannte psychologische Dilemma, daß wir alles,
was wir nicht in uns akzeptieren (d.h. unsere Schatten), im allge¬
meinen auf andere und unsere Umgebung projizieren.
Die einzige Möglichkeit, der Kontrolle der Schatten zu entkom¬
men, liegt darin, sie anzunehmen, sie also nicht mehr länger zu
fürchten. König Salomo beispielsweise-der biblische Archetypus,
der für einen vollendeten Herrscher steht - hatte keine Angst da¬
vor, in einer Situation zu hart oder zu nachsichtig aufzutreten. Die
Geschichte, in der er droht, ein Kind in zwei Teile zu schneiden,
um herauszufinden, welche der beiden streitenden Frauen die
wirkliche Mutter ist, verdeutlicht diese Fähigkeit.
Abb.3 zeigt, was geschieht, wenn jemand die beiden Schatten
annehmen kann: Das Ich ist frei, kann sich in Richtung auf eine
29
Angst
Tyrann(Yang-Schatten)
> Schwächling(Yin-Schatten)
4-
Ich
O
Integration
Herrscher(König/Königin)
Abb. 3: Integration des Herrscherarchetyps
Integration des Archetyps entwickeln und diese fortsetzen, bis es
sich mit dem Archetyp deckt.
Inwiefern ist diese Yin-Yang-Polarität der Schatten nun für das
Währungssystem von Bedeutung? Die beiden Schlüsselemotio¬
nen, die alle modernen Finanzmärkte an den Tag legen -Gier und
Angst vor Knappheit -, sind eindeutig durch Angst miteinander
verbunden. Darüber hinaus ist die Gier-das Bedürfnis, unaufhör¬
lich Reichtum anzuhäufen - definitiv eine Yang-Energie, Knapp¬
heit dagegen wird von Yin bestimmt. Diese Gefühle weisen daher
alle Eigenschaften der Schatten auf. Sie sind in der heutigen Welt
so allgegenwärtig, daß wir sie als selbstverständlich hinnehmen.
Das nächste Kapitel erklärt die Gründe dafür.
Der Schatten ist nicht der Feind
Es liegt nahe, den Schatten als »den Feind« zu betrachten. Er ist de¬
finitionsgemäß das Problem, von dem wir uns am liebsten befrei¬
en würden, das Gesicht, das wir nicht anerkennen wollen, der
Aspekt von uns, der in unserer Kultur, unserer Familie und uns
selbst auf das größte Mißfallen stößt. Zu den paradoxen Eigen¬
schaften des »Bewußtseinswachstums« zählt es jedoch, daß der
30
Schatten auch unser strenger Lehrmeister ist, der uns rücksichtslos
piesackt, damit wir das nächsthöhere Entwicklungsstadium errei¬
chen (s. Kasten). Wenn das Ich die Bandbreite unserer Gefühle auf
ein »akzeptables Maß« verringert hat, auf das, was richtig und an¬
gemessen ist, wenn unsere gesamte persönliche Energie dafür auf¬
gewandt wird, dieses Bild zu erhalten oder vorzuspiegeln, dann
fangen die Schatten an, uns zu verfolgen. Sie bringen uns an Orte,
die wir lieber nicht kennenlernen möchten. Doch sie verbinden
uns auch wieder mit unser Verwundbarkeit, eröffnen uns neue Tie¬
fen, deren Existenz wir vergessen haben. Daher ist der Schatten
nicht unser Feind. Vielleicht ist der Feind paradoxerweise unser
Zögern, uns dem Schatten zu stellen und ihn anzunehmen.
James Hillman weist darauf hin, daß Schattenarbeit Seelenarbeit
ist. Die dabei entstehenden Leiden bilden den Auftakt für das Wie¬
dererwachen des Heiligen im Alltag, in unseren Beziehungen und
unserer Arbeit. Diese Idee ist nicht neu, sie wurde schon von vie¬
len weisen Menschen in der Vergangenheit ausgesprochen (s. Ka¬
sten »Schattenarbeit aus Sicht der >Laien<«).
Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir mit Geld und sei¬
nen Schatten umgehen, ist daher eine seelenvolle Aufgabe. Das
»Darth Vader« aus George Lukas'
Filmreihe »Krieg der Sterne« verkör¬
pert in neuer Aufmachung einen der
Schatten des Herrscherarchetyps:
den Tyrannen. Selbst Vaders Name
ist ein Wortspiel, das auf das Thema
verweist (»die dunkle Seite der
Macht«). Wenn die Maske schlie߬
lich entfernt wird, kommt eine leere
menschliche Hülle zum Vorschein,
die keine Verbindung zum Höheren
Selbst hat. Jeder unterdrückte Ar¬
chetyp manifestiert sich in Form ei¬
nes seiner beiden polaren Schatten:
ein Übermaß oder Mangel an der
Energie des Archetyps.
31
Der Herr, der Diener und die Handlanger21
Der Herr eines großen Hauses muß für unbestimmte Zeit verreisen. Er
beschließt, seinem getreuen und fähigen Diener die Verantwortung für
seine Geschäfte zu übertragen. Nach vielen Jahren kehrt der Herr
zurück und muß feststellen, daß ihn der Diener nicht mehr erkennt;
der Diener glaubt, er selbst sei der Herr des Hauses. Er hat sogar ver¬
gessen, wie er zu seiner Aufgabe kam, und setzt alles daran, um seine
Position zu behalten.
Daher muß der Herr nach seinen Handlangern schicken. Dem Diener
erscheinen sie als Behinderung bei der Arbeit, als Ängste aller Art.
Schließlich ist der Diener nach langen und schmerzhaften Kämpfen ge-
demütigt und muß sich der größeren Macht des Herrn beugen - der
Stimme der Seele, des Höheren Selbst.
Das falsche Ich (der Diener) kann nicht mehr länger unangefochten
über den Haushalt herrschen. Die Schatten (Handlanger) zwingen ihn,
sich zu ergeben. Daher sind die Schatten trotz der Zusammenbrüche
und Leiden, die sie mit sich bringen, nicht unsere Feinde.
»Die Erfahrung des Höheren Selbst ist stets eine Niederlage des Ich.«
C. G. jung
Wachstum unseres kollektiven und persönlichen Bewußtseins läßt
sich durch diese Auseinandersetzung genauso erreichen, wie wenn
wir daran arbeiten, die Schatten unserer Beziehungen, unserer Ge¬
meinschaft und uns selbst anzunehmen. Was wir aus der Beschäf¬
tigung mit diesen anderen Schatten lernen, können wir darauf ver¬
wenden, im Umgang mit dem Tabu des Geldes Klarheit und Weis¬
heit zu finden.
Eine Karte der menschlichen Psyche
Eine Karte ist ein vereinfachtes Abbild der Realität. Sie hebt be¬
stimmte Aspekte hervor und vernachlässigt Überflüssiges. So liegt
etwa der Schwerpunkt einer Straßenkarte auf wichtigen Informa¬
tionen für Autofahrer und läßt die Geologie, das Pflanzenleben
32
und viele andere Merkmale der Umgebung, die für diesen Zweck
keine wesentliche Bedeutung haben, außer acht. Von der mensch¬
lichen Psyche, dem komplexesten aller Gebiete, wurden schon vie¬
le Karten angefertigt. Jean Shinoda Bolen beispielsweise legte
gleich zwei umfassende Pläne vor, die auf der griechischen My¬
thologie basieren, die eine für Frauen und die andere für Männer.22
Ich will versuchen, eine Karte des archetypischen Menschen zu
zeichnen, also ein einziges Schema, das die wesentlichen Aspekte
der männlichen und der weiblichen Energie ausgeglichen wieder¬
gibt. Bei der Auswahl der »Urbilder« für dieses Schema wurde ver¬
sucht, ein möglichst breites Spektrum der derzeitigen menschli¬
chen Gefühle mit einem Minimum an Archetypen zu erfassen.
Als Grundlage verwende ich ein Schema der menschlichen Psy¬
che, das von den beiden jungianischen Psychoanalytikern Robert
Schattenarbeit aus Sicht der »Nichtpsychologen«
»Wer das hervorbringt, was in ihm ist,
wird von dem gerettet, was er hervorbringt.
Wer nicht hervorbringt, was in ihm ist,
wird von dem zerstört, was er nicht hervorbringt.«
Jesus (Thomas-Evangelium)
»Letzte Nacht träumte ich,
O wunderbare Täuschung,
Daß Honigbienen in meinem Herzen waren,
Die Honig aus meinen alten Fehlern machten.«Antonio Machado
»Jeder Schatten in seiner Seele erkennt das Licht.«Christian Tzara
»Wenn doch alles nur so einfach wäre! Wenn doch nur die bösen Men¬
schen heimtückisch alle Untaten begehen würden und man sie nur von
uns anderen trennen und vernichten müßte. Doch die Trennlinie zwi¬
schen Gut und Böse verläuft durch das Herz jedes Menschen. Und werist bereit, ein Stück seines eigenen Herzens zu zerstören?«
Alexander Solschenizyn
33
Moore und Douglas Gillette entwickelt wurde.21 Sie basiert auf
Jungs Quaternio-Struktur, einem Muster der vier wesentlichen Ar¬
chetypen. In diesem Fall handelt es sich um den/die Ilerrscher(in),
den/die Krieger(in), den/die Liebhaber(in) und den/die Magier(in).
(Auch wenn im folgenden das grammatische Geschlecht der Ar¬
chetypen männlich ist, ist immer ebenso der weibliche Pol ge¬
meint.) Das hat den Vorteil, daß die Struktur einfach bleibt und
nur einige der bekanntesten Archetypen enthält, die in allen Kul¬
turen Vorkommen. Trotz dieser Einfachheit umfaßt das Schema
zahlreiche menschliche Erfahrungen. Das Quaternio ist mit seinen
korrespondierenden Schatten in Abb. 4 wiedergegeben (Yin-Schat-
ten sind kursiv). Über jeden dieser Archetypen wurde ein ganzesBuch verfaßt. Doch hier genügt eine kurze Zusammenfassung ih¬
rer wichtigsten Eigenschaften.
SchwächlingTyrann
Herrscher(König + Königin)
Sadist abhängig
Krieger Liebhaber
Masochist impotent
Magier
hyperrational(apollinisch)
willkürlich(dionysisch)
Abb. 4: Jungs Quaternio der grundlegenden Archetypen
(nach Moores und Gillettes Interpretation)
Der Herrscher ist die integrierende Kraft im Zentrum der Psyche.
Wie bereits angesprochen wurde, repräsentiert dieser Archetyp das
Höhere Selbst, das (normalerweise) die Kräfte aller anderen Ar-
34
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I!Der Archetyp des Herrschers (in die¬
sem Falle des Königs), der alle Pola¬
ritäten auf sich vereint. Richard I. prä¬
sentiert sich auf seinem Siegel, in der
rechten Hand hält er das Schwert des
Todes und in seiner linken den Baum
des Lebens. Ihn umgeben Sonne und
Mond als kosmische Symbole der ein¬
ander ergänzenden männlichen und
weiblichen Energien. (Originalzeich¬
nung des zweiten großen Siegels
Richards I. von Moreno Tomasetig.)
1
Ein etruskischer Krieger aus Terra¬
cotta (Metropolitan Museum of
Art, New York) bringt ruhige Zu¬
versicht zum Ausdruck, er symboli¬
siert den Herrn der Disziplin und
Kraft.
chetypen mobilisiert, akzeptiert und integriert. Im Gegenzug
bringt der Herrscher die nötigen Opfer zum Besten des Ganzen.
Der Herrscher ist androgyn (männlich und weiblich zugleich, er
integriert die Kräfte des Königs und der Königin). Seine beiden
Schatten sind bekanntermaßen der Tyrann und der Schwächling.
Der Krieger zeigt Disziplin, Askese und Kraft. In seiner idealisier¬
ten Form bietet er Schutz, macht Eroberungen zum Allgemein¬
wohl und zerstört, was vernichtet werden muß, um neues Leben
und neue Formen zu fördern. Sein ursprünglicher Nutzen lag in
der Jagd und/oder dem Schutz vor Raubtieren.24 Seine beiden
Schatten sind der Sadist (Yang-Schatten) und der Masochist (Yin-
Schatten). Von den Assyrern, die Menschen bei lebendigem Leibe
häuteten und aufspießten, bis zu den amerikanischen Soldaten,
35
welche die Penisse der Vietcong als Trophäen sammelten, hält sich
der Schatten des Sadisten seit erschreckend langer Zeit unter uns.Der Liebhaber beherrscht das Spiel und die Schau, sinnliche Freu¬
den ohne Schuldgefühle. Er verkörpert die Macht des Einfüh¬
lungsvermögens und der Verbundenheit zu anderen Menschen.
Der Liebhaber ist besonders empfänglich für Kunst und Schönheit.
Seine beiden Schatten sind der süchtige (Yang-Schatten) und der
impotente Liebhaber (Yin-Schatten). Die Sucht ist zu einer der uni¬
versellsten Eigenschaften der modernen Gesellschaft geworden.
Einige Suchtmittel sind illegal, z. B. Crack oder Heroin, andere sind
erlaubt, etwa Alkohol, Tabak und Kaffee, wieder andere werden so¬gar gefördert, beispielsweise die Arbeitssucht, die Co-Abhängig-
keit25 und die Kontrollsucht.26
Der Magier beherrscht das Wissen und die Technologie der ma¬
teriellen Welt (durch Geschick, Wissenschaft, Technologie) und
der immatriellen Welt (Schamane, Heiler, Priester oder Priesterin)
oder die Verbindungen zwischen den beiden (Alchemist, Magus).
Seine beiden Schatten sind der hyperrationale apollinische Alles¬
wisser auf der Yang-Seite und die unüberlegte dionysische Energie
auf der Yin-Seite. Anne Wilson Schaef27 beschrieb die vier Yang-
Mythen, unter denen der hyperrationale apollinische Schatten
auftritt. Sie bezeichnet deren Verbindung als das »technokratisch
materialistische mechanistische« Modell oder auch kurz als das
»männliche System«. Dieser Schatten glaubt, daß:
•es nur ihn gibt,
•er von Natur aus überlegen ist, weil er alles weiß und versteht,
•es möglich ist, völlig logisch, rational und objektiv zu sein.
In Kapitel 4 wird deutlich, warum ich in diesem Zusammenhang
den »apollinisch-dionysischen« mythologischen Bezug verwende.
Jeder der vorgestellten Archetypen ist auf der persönlichen und
kollektiven Ebene wirksam. Auf der kollektiven Ebene gibt es Or¬
ganisationen, welche die archetypischen Energien verkörpern.
Beispielsweise hat die Regierung die Rolle des Herrschers inne; die
36
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Liebende in Auguste Rodins Mar¬
morskulptur »Der Kuß« (Musee
Rodin, Paris): Der Archetyp des
Liebhabers bricht und überwindet
die Grenzen, die der Krieger schafft
und schützt.
Der Magier verändert sich selbst und
die Welt, weil er die Gesetze aller Rei¬
che versteht. Jede Generation hat
ihren eigenen Magier, der in Gestalt
von Merlin, Faust oder Einstein auf-
treten kann.
Streitkräfte und die Wirtschaftsunternehmen tragen einen Gro߬
teil der Energie des Kriegers in sich; Universitäten, Wissenschaft,
Technologie und Religion übernehmen die Aufgaben des Magiers.
Der Liebhaber drückt sich in der Kunst aus, doch ansonsten ist er
in unserer Gesellschaft größtenteils auf das Privatleben be¬
schränkt.
Das oben gezeigte Quaternio war die grundlegende Übersichts¬
karte (Abb. 4). Mit ihrer Hilfe begann ich den Versuch, die Gefüh¬
le zu verstehen, die in unser Währungssystem eingebaut sind.
Dennoch mußte ich nach einiger Zeit aufgeben: Die Karte konnte
einfach nicht die Gefühle erklären, die in unserem kollektiven
Geldspiel auftreten. Was war falsch? Durch diese Frage wurde ich
in eine faszinierende archetypische Detektivgeschichte hineinge¬
zogen.
37
Kapitel 2
Der Fall des verschwundenen Archetyps
»Tao wird die Große Mutter genannt:
Leer, doch unerschöpflich
Gebiert sie unendliche Welten.«28
Laotse
»Für eine Zivilisation ist Geschichtedas Unbewußte.«29 Richard Tamas
Frage: Wie würde Inspektor Hercule Poirot, der »belgische Sherlock
Holmes«, feststellen, daß auf der archetypischen Karte von Abb. 4
ein wichtiger Archetyp fehlt? Hinweis: Wenn ein Archetyp in ei¬
ner Gesellschaft stark unterdrückt wird, taucht er in ihren domi¬
nierenden Mythologien gar nicht auf. Daher, mein lieber Watson,
lautet die Antwort folgendermaßen:
1. Ein unterdrückter Archetyp würde sich durch den starken »Fin¬
gerabdruck« seiner Schatten, der in einer Gesellschaft feststell¬
bar ist, verraten.
2. Daß zwei Schatten zum selben Archetyp gehören, erkennt man
daran, daß sie in einer Yin-Yang-Polarität zueinander stehen
und miteinander durch Angst verbunden sind.
3. Außerdem würden diese Schatten als »normales« menschliches
Verhalten und Empfinden gelten.
Nach diesen Überlegungen fiel mir auf, daß es einen sehr wichti¬
gen Archetyp gibt, der in unserer westlichen Kultur systematisch
unterdrückt wird: die Große Mutter. Darüber hinaus passen ihre
Schatten genau zu den Gefühlen, die unser Verhältnis zum Geld
charakterisieren. Abb.5 verdeutlicht dies.
38
Diese beiden Schatten passen zu allen drei Kriterien unseres De¬
tektivs:
1. Gier und die Angst vor Knappheit sind in unserer Gesellschaft
weit verbreitet - und das schon seit langer Zeit.
2. Wie bereits im vorhergehenden Kapitel erwähnt wurde, bilden
die beiden Schatten eine Yin-Yang-Polarität und sind durch
Furcht miteinander verbunden.
3. Sie gelten als »normal«, tatsächlich sogar als so normal, daß
Adam Smith eine ganze Wissenschaft daraus entwickelte, die
Volkswirtschaft. Deren Zweck ist es, knappe Ressourcen über
das Verlangen des einzelnen, Reichtum anzuhäufen, zu vertei¬
len. Ich werde später noch einmal auf Adam Smith' Theorie zu
sprechen kommen.
Der Detektiv würde nach Beweisen für diesen intuitiven Gedan¬
kensprung suchen, um die nachstehend aufgeführten drei Punkte
zu belegen:
1. Der Archetyp der Großen Mutter war bei der Erfindung des Gel¬
des aktiv beteiligt.
2. Es gibt Beweise für eine wichtige direkte Verbindung zwischen
Währungssystemen und dem Archetyp der Großen Mutter.
Große Mutter (Ernährerin)
Mentalität der 4.Gier
Mentalität derKnappheit
(Yang-Schatten) Angst (Yin-Schatten)
Abb.5: Der Archetyp der Großen Mutter (Ernährer[inl) und ihrer Schatten
39
Diese Verbindung geht über eine zufällige zeitliche Überein¬
stimmung hinaus.
3. Der Archetyp der Großen Mutter wurde später unterdrückt, was
Auswirkungen auf das Währungssystem hatte.
Im folgenden werden die bisher entdeckten Beweise im einzelnen
vorgestellt. Zunächst müssen wir jedoch herausfinden, was es mit
dem Archetyp der Großen Mutter auf sich hat.
Die Große Mutter
»Das Mysterium ist immer der Körper.
Das Mysterium ist immer der Körper einer Frau.«
Helene Cixous
Ich werde mich bei meinen Ausführungen auf die Entwicklung des
Archetyps der Großen Mutter in Europa konzentrieren. Es handelt
sich hierbei zwar nicht um ein rein europäisches Phänomen
(tatsächlich ist es universell), doch die Gestaltung des westlichen
Unbewußten bestimmte die Eigenschaften der modernen Wäh¬
rungsinstitutionen, die heute weltweit zu finden sind.
Man sollte sich aber bewußt sein, daß meine Darstellung ange¬
sichts der begrenzten materiellen Beweise eine plausible Interpre¬
tation der archäologischen Funde, dennoch eben nur eine von vie¬
len Möglichkeiten ist. Unser Modell muß für Bestätigungen, Ver¬
änderungen oder Widerlegungen durch neue Funde oder Analysen
offenbleiben (s. Kasten zur Kontroverse um den Göttinnenkult).
Eine der am häufigsten in ganz Europa gefundenen Figuren zeigt
eine plumpe, oft schwangere weibliche Gestalt, die man als Dar¬
stellung der Großen Mutter oder Fruchtbarkeitsgöttin identifizier¬
te. Sie wurde in einem eigenen Kult verehrt. »Die Göttin in all
ihren Erscheinungen war ein Symbol der Einheit allen Lebens in
der Natur. Ihre Macht lag im Wasser und im Stein, im Grab und in
der Höhle, in Tieren und Vögeln, Schlangen und Fischen, Bergen,
Bäumen und Blumen. Von dort stammt die ganzheitliche und my-
40
thopoetische Wahrnehmung der Heiligkeit und des Mysteriums
von allem, was auf der Erde existiert.«31 Die Große Göttin verkör¬
perte das gesamte archetypische Schema. Sie war Königin, Kriege¬
rin, Liebhaberin, Magierin lind Große Mutter. Marija Gimbutas er¬
stellte eine Eiste mit etwa 30000 prähistorischen Artefakten, die
die Göttin in all diesen Erscheinungsformen zeigen und ihre Ver¬
ehrung belegen.
Ich beziehe mich bei der Göttin nur auf einen Aspekt der Großen
Mutter, den Archetyp der Fruchtbarkeit, der die älteste Eigenschaft
der großen Göttin darstellt. Es ist wohl für jedermann nachvoll¬
ziehbar, daß die erste Form religiöser Verehrung im Bild einer
schwangeren Frau oder einer Mutter zum Ausdruck kommt, die ihr
Kind stillt. Die moderne Psychoanalyse hat die kritische Bedeu¬
tung des frühen Bandes zwischen Mutter und Kind bestätigt, wenn
das Überleben des Babys völlig von der allmächtigen Mutterfigur
abhängt. Gleichgültigkeit oder Vernachlässigung ihrerseits bedeu¬
teten den sicheren Tod für den Säugling. Die Große Mutter war
ganz wörtlich Herrscherin über Leben und Tod ihrer Kinder.
.s|g
Venus von Willendorf (30000-25000
v. Chr.). Diese Statuette steht symbo¬
lisch für die Fruchtbarkeit, sie stellt kei¬
ne bestimmte Frau dar. Ihr Gesicht
wird von sieben Ringen aus
»Haarlocken« bedeckt. Die Vulva ist
deutlich gekennzeichnet. Brüste und
Hüften sind hervorgehoben und im
Vergleich zu den Händen überpropor¬
tional groß dargestellt. (Zeichnung
von Moreno Tomasetig.)
f-t>
41
Die Kontroverse um den Göttinnenkult
In den letzten Jahrzehnten verschärfte sich die Kontroverse um zwei
diametral entgegengesetzte Interpretationen der archäologischen
Fundstücke. Jede Seite wirft der anderen vor, einen unwissenschaftli¬
chen Ansatz zu verfolgen: Auf der einen steht die traditionelle Schule,
die beschuldigt wird, die Belege für eine weibliche Macht in der Vor¬
geschichte absichtlich zu ignorieren. Auf der anderen haben wir die
»Göttinnenbewegung«, die kritisiert wird, weil sie die Vergangenheit
aufgrund dürftiger Beweise neu zu erfinden versuche. Doch betrach¬
ten wir die Fakten:
•Jede historische und erst recht prähistorische Quelle ist von vornher¬
ein dürftiger, als wünschenswert wäre.
•Jeder Mensch ist zwangsläufig ein Geschöpf seiner Zeit, der vorherr¬
schenden Prioritäten und Werte. Er nimmt daher die Realität durch
den Filter seiner eigenen Erfahrungen wahr. Selbst in den Naturwis¬
senschaften wie beispielsweise in der Physik mußten wir akzeptieren,
daß ein »völlig objektiver« Beobachter- der die Dinge so sehen kann,
wie sie wirklich sind - nicht existiert. Dieses erkenntnistheoretische
Problem verstärkt sich natürlich noch, wenn wir uns mit Geisteswis¬
senschaften befassen, um so mehr, sofern es um die Interpretation
sehr alter und stark fragmentarischer Funde und Überreste geht.
Warum ist das von Bedeutung? Gegenwärtige »Emanzipationsfragen«
wie die theologischen Auseinandersetzungen um die Ordination von
Frauen in der Kirche oder die gerechtere Verteilung gesellschaftlicher
Positionen stehen in direktem Bezug zu der Behauptung, daß sie sol¬
che Rollen in der Vergangenheit schon einmal eingenommen haben.
Das erklärt die starken Emotionen, die die Debatte auf beiden Seiten
auslöst. Wer einen patriarchalischen Status quo bevorzugt, behauptet
natürlich, daß es schon immer eine Ungleichheit der Geschlechter ge¬
geben habe und daß Frauen das »zweite Geschlecht« bleiben sollten,
weil es seit jeher so gewesen sei. Wer für die Emanzipation der Frau und
die Gleichberechtigung der Geschlechter ist, wird ebenso selbstver¬
ständlich seine Wünsche auf die ferne Vergangenheit projizieren.
Allerdings geht es in der Geschichte um Überreste, besonders um
noch vorhandene Relikte. Es gibt zahlreiche Belege, daß das Weibli¬
che in den letzten fünf Jahrtausenden unterdrückt wurde. Außerdem
besteht kaum Zweifel -schließlich existieren dafür auch in zeitgenössi-
42
sehen Fällen ausreichend Belege -, daß »die Geschichte normalerwei¬
se von den Siegern geschrieben wird« und daß sich die Tendenzen da¬
her wahrscheinlich mehr nach den Ansichten des »Leitwolfs« ausrich-
ten werden. Obwohl ich bei der Kontroverse die Argumente beider Sei¬
ten berücksichtige, versuche ich, die wahrscheinlich programmierte
Tendenz zu kompensieren, indem ich die Seite der historisch Benach¬
teiligten stärker gewichte.
Das Thema unserer Untersuchung ist die Geschichte der Archetypen.
Aus der Sicht von Historikern oder Archäologen mögen Überlegungen
von Bedeutung sein, ob es eine einzige »Große Göttin« oder »Große
Mutter« gab, wie die Anhänger einer »Göttinnenbewegung« behaup¬ten, ob zahlreiche verschiedene Göttinnen mit unterschiedlichen Na¬
men und komplexen, einander überlappenden Attributen existierten
oder ob es sich in einigen Fällen sogar lediglich um »normal sterbliche«
Frauen handelte, die verherrlichend dargestellt wurden, wie einige Kri¬
tiker meinen.30 Für unsere Zwecke spielt der Unterschied jedoch keine
große Rolle, da jede Interpretation auf eine ähnliche Aktivierung des
kollektiven Unbewußten hinweist. Aus Gründen der sprachlichen Ver¬
einfachung wird der Begriff einer einzigen »Großen Mutter« in dem
Sinne gebraucht, daß der Archetyp der Großen Mutter verehrt wurde
und aktiv war. Das soll nicht heißen, es habe eine identische, einheitli¬
che Gestalt gegeben, die über Zehntausende von Jahren und weite Ge¬
biete hinweg verehrt wurde.
Die Große Mutter verbindet den menschlichen Körper und die Er¬
de zum Mysterium des Heiligen. »Sie ist vor allen Dingen Erde, die
dunkle, nährende Mutter, die alles Leben schafft. Sie ist die Macht
der Fruchtbarkeit und der Erzeugung, der Mutterleib, aber auch
das empfangende Grab, die Herrin des Todes. Alles kommt von Ihr,
alles kehrt zu Ihr zurück. Als Erde ist Sie in Pflanzen, Bäumen,
Kräutern und im Korn, das Leben erhält. Sie ist der Körper, und der
Körper ist heilig.« 33
Bildnisse der Großen Mutter wurden im Jungpaläolithikum (ca.
30000 bis 9000 v. Chr.) aus Mammutelfenbein, Rentiergeweih und
Stein gefertigt oder am Eingang von heiligen Höhlen, die ihren
Mutterleib symbolisierten, direkt in die Felswand geritzt.34 Mit
43
Die Macht der Brust
»Am Anfang war die Brust. Fast die ganze Menschheitsgeschichte über
gab es für Muttermilch keinen Ersatz. Bis Ende des 19.Jahrhunderts die
Pasteurisierung Tiermilch keimfrei machte, bedeutete die Mutterbrust
für jedes Neugeborene Leben oder Tod. Es mag daher nicht verwun¬
dern, daß unsere prähistorischen Vorfahren ihre weiblichen Idole mit
ehrfurchtgebietenden Brüsten ausstatteten ... Man kann sich leicht
vorstellen, wie eine verzweifelte Mutter in der Steinzeit vor einem die¬
ser fülligen Idole um ausreichend Milch für ihr Kind fleht.«32
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Göttinnen aus gebranntem Lehm, Dolnf
Vestonice, Tschechien (20000 v.Chr.). Auch
hier sind die Gesichtszüge nebensächlich,
während Brüste und Hüften betont werden.
(Zeichnung von Moreno Tomasetig.)
[i]
i
dem Aufkommen der Töpferkunst wurde eine Fülle von Abbildern
geschaffen. Kurzum: Ihre Gegenwart wurde von den frühesten
Zeiten menschlichen Bewußtseins bis etwa 3000 v.Chr. ununter¬
brochen dokumentiert. Ihr uneingeschränkter Einfluß währte et¬
wa zehnmal so lange wie der des männlichen Schöpfer- und Him¬
melsgottes, der die heutige Weitsicht dominiert.
John Maynard Keynes, der bekannteste Wirtschaftstheoretiker
des 20.Jahrhunderts, kam zu folgendem Schluß: »Das Geld ist, wie
44
Tonstatue einer Göttin aus £atal Hüyük,
Anatolien (6000 v. Chr.). Sie sitzt auf ei¬
nem stattlichen Thron, dessen Seiten
zwei Löwinnen darstellen. Die imposan¬
te Erscheinung kündet von der Großen
Mutter in all ihrer Macht. (Zeichnung
von Moreno Tomasetig.)
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einige andere wesentliche Bestandteile der Zivilisation, eine Ein¬
richtung von erheblich höherem Alter, als uns noch vor wenigen
Jahren gelehrt wurde. Seine Ursprünge verlieren sich in die Nebel¬
zeiten des schmelzenden Eises; sie mögen sich wohl zurücker¬
strecken bis in jene paradiesischen Perioden zwischen den Eiszei¬
ten ,..«36 Das ist natürlich die Zeit, in der die Kulte der Großen
Mutter in voller Blüte standen.
Doch wir brauchen mehr als eine bloße zeitliche Übereinstim¬
mung, um eine eindeutige Verbindung zwischen dem Archetyp
der Großen Mutter und den Währungssystemen herzustellen. Gibt
es einen Hinweis auf eine direkte Verbindung zwischen dem Ar¬
chetyp der Großen Mutter und den frühesten Währungssyste¬
men? Diese Frage wollen wir nun genau untersuchen.
Der Archetyp der Großen Mutter
und frühe Währungssysteme
Die beste Arbeit über primitives Geld stammt von Paul Einzig.37
Doch selbst dessen Pionierarbeit ist angesichts der »Terra incogni¬
ta der Währungssysteme in den 650 primitiven Gesellschaften«,
die er katalogisierte,38 nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
45
Eine Definition des Geldes
Geld ist kein Gegenstand, obwohl es in einer unendlichen Vielfalt
von Gegenständen existiert. Kür unsere Zwecke wird Geld als Ver¬
einbarung in einer Gemeinschaft definiert, etwas als Zahlungs¬
mittel zu verwenden. Jonathan Williams, Kurator der Abteilung
für Münzen und Medaillen im British Museum, London, betont
den Begriff »Zahlungsmittel« anstelle der traditionelleren, aber
auch enger gefaßten Bezeichnung »Tauschmittel«. Der Grund liegt
darin, daß die meisten Kulturen ihr Geld neben den rein kom¬
merziellen Geschäften auch bei Transaktionen rituellen Charak¬
ters oder bestimmten Sitten und Gebräuchen verwendeten.
Schließlich besitzen die kommerziellen Transaktionen nur in der
westlichen Kultur absolute Priorität, und nur hier werden andere
Zahlungszwecke vernachlässigt
Jonathan Williams ist der Ansicht, man könne durchaus be¬
haupten, »daß die westliche Kultur mit ihren Währungssystemen
alles andere als >normal< ist, tatsächlich ist sie in ihrer Fixierung auf
das Kommerzielle eine Anomalie. Trifft das zu, würde man im We¬
sten sogar einen noch größeren Fehler machen, wenn man ande¬
re Währungssysteme als eine primitivere Version des eigenen be¬
trachtete.«39
Williams führt als Beispiel die Verwendung einer Stoffwährung
unter den Leie im Kongo an, die bis weit ins 20.Jahrhundert ver¬
breitet war. Zahlungen in bestimmten Stoffen, die aus Raffiabast
gewebt waren, sollten vermutlich die sozialen Bindungen unter
den Leie verstärken oder verbessern. So waren sie beispielsweise
bei der Bezahlung von Initionsgebührcn für den Zugang zu reli¬
giösen Gruppen unverzichtbar, auch beim Brautgcld oder bei Zah¬
lungen, mit denen man eine Frau für das Kinderkriegen belohnte,
als Entschädigungen bei Auseinandersetzungen oder Wunden, die
man anderen zugefügt hatte, oder alsTribut an die Häuptlinge. Zu¬
sätzlich konnte die gleiche Stoffwährung für die Bezahlung von
Waren verwendet werden, doch diese Funktion als Tauschmittel
betrachtete man im Vergleich zu den anderen sozialen Funktionen
als nebensächlich.40
46
Da Geld bereits in der Vorgeschichte erfunden wurde, verfügen
wir über keine schriftlichen Quellen. Wir können nur die ältesten
und am häufigsten gebrauchten Währungen auswählen, die so
lange verwendet wurden, daß wir ihre symbolischen Assoziatio¬
nen noch erkennen und verstehen können. Zwei der ältesten
Währungsformen blieben zumindest in einigen Teilen der Welt bis
ins 20.Jahrhundert in Gebrauch. Sie eignen sich daher hervorra¬
gend für unsere Zwecke. Es handelt sich um Vieh und Kauri-Mu¬
scheln.
Vieh- das erste Betriebsmittel41
Vieh spielte als Tausch-, Zahlungsmittel und Recheneinheit in der
Geschichte des primitiven Geldes in weiten Teilen der antiken
Welt eine große Rolle. So drückt etwa Homer (8. Jahrhundertv.Chr.) Reichtum unweigerlich in Stück Vieh aus (»Diomedes1
Waffen waren neun Rinder wert«42). Das deutsche Fremdwort »pe¬
kuniär« geht auf das lateinische pccas (= »Vieh«) zurück. Auch der
Begriff »Kapital« leitet sich von diesem Ansatz ab (lat. capus, capi¬
tis = »Kopf«).43 ln Texas und anderen Viehzüchtergesellschaften
werden Köpfe immer noch als Maßeinheit verwendet, und einen
reichen Mann definiert man dort wie eh und je über die Anzahl
der Rinder, die er besitzt. Bei afrikanischen Hirtenvölkern wie den
Wakamba oder den Watussi war das schon immer so (s. Kasten).
Für unsere Zwecke ist vor allem wichtig, welche Symbole und
Archetypen man mit Vieh assoziiert. Das Symbol der Kuh verkör-
Kein Problem mit der Stückzahl
Ein Nebeneffekt der Verwendung von Vieh zu Währungszwecken liegtdarin, daß die Zahl der Rinder zählt und weniger die Qualität oder Ge¬
sundheit des Tieres. Ein Agrarberater versuchte einmal, die Wakamba-
Häuptlinge davon zu überzeugen, kein altes oder krankes Vieh zu hal¬
ten. Er erhielt die Antwort: »Hören Sie, hier sind zwei Pfundnoten. Die
eine ist alt und zerknittert und fällt fast auseinander, die andere ist neu.Aber beide sind ein Pfund wert. Mit den Rindern ist das nicht anders.«44
47
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Inanna-lschtar, Göttin der Fruchtbar¬
keit, des Lebens und des Todes in Su¬
mer und Babylon (Terrakottafigur,
4. Jahrhundert v. Chr.). Ursprünglich
war sie die Göttin der Lagerhäuser in
Uruk und wurde später auf einer der
ersten sumerischen »Münzen« (Sche¬
kel) abgebildet. Sie bietet typischer¬
weise ihre Brüste an, die Quelle der
nährenden Milch. Inanna verkörpert
die Verbindung zwischen Weiblichkeit,
Fruchtbarkeit, Wohlstand, Geld im all¬
gemeinen und den frühen Vieh¬
währungen im besonderen.
Inanna in einer ihrer anderen
großen Rollen. Hier steht sie in
vollem königlichem Ornat, sie
trägt die hohe Krone mit den vie¬
len Hörnern und hat ein
löwenköpfiges Zepter als Zeichen
ihres königlichen Amtes. Damit
zeigt sie ihre Macht als Quelle des
Königtums. Ihr gerüschtes Ge¬
wand und ihre mehrstöckige Kro¬
ne kennzeichnen ihre Göttlichkeit.
(Mesopotamien, 2000 v. Chr., Ton¬
plakette im Louvre, Paris; Zeich¬
nung von Moreno Tomasetig.)
perte in allen alten Mythen die Große Schöpferin und die Große
Mutter. Als nahrungspendende, entschlossene Beschützerin ihrer
Jungen war die weiße Kuh das Symbol der großen Mondgöttin,
ähnlich der Weißen Büffelfrau der nordamerikanischen Indianer¬
tradition. Inanna tritt zum ersten Mal Ende des 4. Jahrtausendsv. Chr. als Schutzgöttin des zentralen Lagerhauses von Uruk auf,
für eine Agrargesellschaft eine sehr deutliche Verbindung zu
48
Reichtum!45 Zu der Zeit ist sie noch diejenige, die das oberste Kö¬
nigtum in Uruk gewährt. Die gleiche Inanna wurde tausend Jahrespäter auf den ältesten sumerischen Münzen dargestellt, auf deren
anderer Seite ein Scheffel Weizen zu sehen ist. Interessanterweise
verkündet Inanna: »Der Himmel ist mein, die Erde ist mein ... Ich
bin eine herrliche weiße Kuh!«46
In der irischen Mythologie war die Kuh »Glas Galven«, die Göt¬
tin des Himmels.47 In Indien ist sie Kali, und Kühe sind dort heu¬
te noch heilig. In Ägypten hieß sie Hathor, Göttin der Schönheit
und des Überflusses, deren Euter so voll war, daß daraus die Milch¬
straße entstand (auch heute noch bezeichnen wir unser eigenes
Sternsystem als Milchstraße). Sie läßt sich stets anhand ihrer »Kuh¬
ohren« identifizieren. Hathor gebar jeden lag die Sonne, ihr »gol¬
denes Kalb«. Ihr Horn war das heilige »Füllhorn«, aus dem sich alle
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Hathor mit menschlichem Gesicht und Kuhohren im Hathor-Tempel, der von
Ramses II. in Memphis erbaut wurde. Hathor war die Göttin der Liebe, Freude,
Fruchtbarkeit und des Überflusses. Ihr Euter war so übervoll von Milch, daß
daraus die Milchstraße entstand. (Kapitell aus Memphis, 19. Dynastie, Neues
Reich, 1290-1224 v.Chr.; Zeichnung von Moreno Tomasetig nach einer Fo¬
tografie von Fekri Hassan, Professor für Archäologie am University College in
London.)
49
Viehherden auf Felsmalereien
aus der Zeit 3500 v.Chr. im Tas-
sili-Massiv in der heutigen Saha¬
ra. Abgebildet sind zwei Vieh¬
rassen, die sich in den Hörner¬
formen unterscheiden. Der be¬
merkenswerte Realismus der
Tiere ist wohl die größte Lei¬
stung der Felsmaler. Von dem
engen Verhältnis mit den Vieh¬
herden in der späteren Sahara
stammt vielleicht die Verbin¬
dung zwischen Leben und Was¬
ser, Kühen und dem weiblichen
Archetyp. (Nach Henri Lhote.)
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Früchte der Welt ergossen. Fekri Hassan erläutert: »Die Bilder der
Göttin und ihre Ikonographie waren tief in den frühen Phasen der
Viehhaltung verwurzelt (bis 7000 v.Chr.), als das Weibliche wie
später in Nubien als Lebens- und Nahrungsquell dargestellt wur¬
de. Das Männliche dagegen wird imJäger verkörpert.«48 Vieh kann
bekanntlich nicht überleben, ohne regelmäßig zu trinken. Das
Wasser verschwand jedoch mit der allmählichen Versteppung der
Sahara aus den Wüstenseen; daher mußten die frühen ägyptischen
Viehzüchter immer tiefere Brunnen graben, um die Tiere ausrei¬
chend zu versorgen. »Während die Männer auszogen und wilde
Tiere jagten, schützten die Frauen die Kühe und versorgten sie mit
Futter und Wasser. Kühe und Frauen gaben Milch. Beide waren
Quell der Erzeugung und des Lebens. Wasser, Vieh, Milch und
Frauen waren Quell der Fortpflanzung und der Ernährung ... Die¬
se mentalen Assoziationen waren von großer psychologischer Be¬
deutung. Gemeinsam bildeten sie die Grundlage für die Wesens¬
züge der ägyptischen Religion: Geburt, Tod und Auferstehung ...Die schweren Dürren zwischen 6000 und 5000 v.Chr. zwangen die
Viehbesitzer, sich entlang des Nils anzusiedeln. Die tiefen religiö¬
sen Glaubensgrundsätze, die in der Sahara entwickelt worden wa¬
ren, wurden jedoch nicht vergessen.«49 Die Darstellung einer Kuh-
50
gottheit tritt in Ägypten von der allerersten Dynastie an auf, wie
Narmers berühmte Prunkpalette zeigt, und ihre Verehrung wurde
noch weit bis in die römische Besatzungszeit beibehalten.
Marija Gimbutas ist der Ansicht, daß sogar der Stier in Verbin¬
dung zur Großen Mutter gesehen wurde, denn seine Hörner erin¬
nern an die Form der Mondsichel. In £atal Hüyük, der ersten ge¬
schichtlich nachweisbaren »Pueblo-Stadt«,50 werden Statuen der
gehörnten Göttin mit Bildern von gebärenden Frauen in Schrei¬
nen in Verbindung gebracht, neben denen echte Stierhörner aus
der Wand ragen und sich zu einer harmonischen Partnerschaft des
kommenden neuen Lebens von Mann und Frau verbinden.51
Gimbutas zufolge brachte man den Stier erst nach der indoger¬
manischen Invasion mit dem Donnergott, männlicher Macht,
Stärke und Kraft in Verbindung.52 Neben anderen Quellen, die für
diese archetypische Verbindung sprechen, gibt es einen Fund aus
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Der Stierhorntempel in £atal Hüyük. Die Assoziation von Stiersymbol und
Zwillingsgöttinnen deutet auf eine direkte Verbindung zwischen dem Stier
und dem weiblichen Archetyp hin. (Rekonstruktion der westlichen und südli¬
chen Mauern des Schreins VII.1, £atal Hüyük, ca. 5800 v. Chr.)
51
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Ausschnitt aus Narmers Prunkpalette aus der 1. Dynastie. In beiden oberen
Ecken dieser berühmten Skulptur sind Darstellungen einer Kuhgöttin zu sehen,
vermutlich die erste Darstellung von Hathor. Das zeigt, daß die Kuhgöttin mit
dem frühesten Königtum in Ägypten in Verbindung gebracht wird. (Original
im Ägyptischen Museum in Kairo; Zeichnung von Moreno Tomasetig.)
Laugerie Basse (Dordogne, Frankreich) aus dem Mittleren Mag-
dalenien (12000 v. Chr.). Es handelt sich um eine Schnitzerei auf
einem Rentierknochen, die einen Bisonbullen zeigt, der über einer
hochschwangeren, nackten Frau kurz vor der Geburt steht.53 Alex¬
ander Marshack deutete die Abbildung als »realistisch und my¬
stisch zugleich ... geschnitzt als Teil eines Rituals zur Sicherstel¬
lung der menschlichen Fruchtbarkeit, der Fruchtbarkeit der Erde
oder der Vermehrung der Tiere für dieJagd«.54 Schließlich ist in der
astrologischen Überlieferung, die bis ins 2. Jahrtausend v. Chr.
zurückreicht, der Stier auch zugleich ein Tierkreiszeichen, das er¬
ste der Erdzeichen, und es steht in symbolischem Zusammenhang
zu materiellem Besitz.
Insgesamt gesehen scheint Vieh seit Menschengedenken oder
seit Artifakte es beweisen können, eng mit den weiblichen Ar¬
chetypen der Fruchtbarkeit und des Überflusses verbunden gewe¬
sen zu sein.
52
Die allgegenwärtige Kauri-Muschel
»Die Kauri-Muschel war von allen Währungsformen, darunter
auch den wertvollsten Metallen, weiter verbreitet und länger in
Gebrauch als jede andere Währung ... Kauris sind haltbar, leicht
zu reinigen und zu zählen, und sie trotzen Imitationen und Fäl¬
schungen ... Vielen Menschen erschienen sie in großen Teilen der
Welt irgendwann einmal als ideale Währung ... Bis Anfang des
20.Jahrhunderts wurden sie in Westafrika noch zur Bezahlung von
Steuern offiziell akzeptiert.«55
Die Chinesen bieten die längste autonome Währungsentwick¬
lung in Folge, die zudem noch gut dokumentiert ist. Die Kauri
spielte als Geld eine so wichtige Rolle im alten China (vor 2100
v. Chr.), daß ihr Piktogramm das Schriftzeichen für Geld wurde.56
In China hatte die erste Währung aus Bronze und Kupfer die
Form der Kauri-Muschel. Die Herstellung dieser Währung setzte
bereits Ende der Steinzeit ein. Die Nachahmungen der echten
Muschel müssen zumindest bei ihrer Einführung für sehr hohe
Werte gestanden haben. Von einigen Numismatikern werden sie
als die frühesten Beispiele für Münzen betrachtet. Später wurden
die Kauri-Münzen noch durch andere Formen wie bronzene Spa¬
ten, Hacken, Dechseln und Messer (allesamt Varianten der ge¬
bräuchlichsten landwirtschaftlichen Werkzeuge der damaligen
Zeit) ergänzt. Zusammen führte das zur »Erfindung« der Münzen
... Doch welche Archetypen verbinden sich mit der Kauri-Muschel
an sich?
§
JB 8fDie Reihe zeigt die Entwicklung der Zeichnung von einer Kauri-Muschel zumSymbol für Geld in den chinesischen Schriftzeichen. Die Begriffe »Verlangen«,»Schatz«, »wertlos« und »leihen« haben alle ihre Wurzel im Symbol der Kau¬
ri-Muschel.57
53
Während der Shang-Dynastie (1 766-11 22 v. Chr.) wur¬
den Bronzenachbildungen von Kauri-Muscheln zurStandardwährung. Die hier gezeigte (links) stammt ausChu.
fc *
Ebenso waren Kauri-Mu¬
scheln als Währung in
Afrika weit verbreitet.
Die abgebildete Münze
(rechts) ist eine zeitgenössische 20-Cedis-Mün-
ze aus Ghana (1991), die an die lange Ge¬
schichte der Kauri-Muschel-Währung in diesem
Gebiet erinnert.
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Die Kauri-Muschel mit ihrer vulvaartigen Form wird mit dem Was¬
ser in Verbindung gebracht, in dem sie entsteht, und der Frucht¬
barkeit, die dem Element Wasser innewohnt. Traditionell wird sie
mit sexueller Erfüllung, Wohlstand, Glück und Fruchtbarkeit as¬
soziiert. In Spanien kürzt man den gebräuchlichen weiblichen
Vornamen »Concepciön« (wörtlich »Empfängnis«) immer noch
mit »Conchita« ab (wörtlich »kleine Muschel«, aber auch um¬
gangssprachlich für das weibliche Sexualorgan). Bei den Azteken
hat der Mondgott Tecaciztecatl, dessen Name wörtlich übersetzt
»der aus der Muschel« bedeutet, als Hauptattribute den Geburts¬
und Zeugungsvorgang und wird durch eine Vulva repräsentiert.58
Interessanterweise wird die Kauri-Muschel auch mit dem Tod in
Verbindung gebracht, weil ihr »nützliches Leben« als Währung
nach dem Tod des ursprünglichen Bewohners beginnt. So tritt die
Kauri beispielsweise bereits in Begräbnisornamenten aus paläoli-
thischer Zeit auf. Abbe Breuil erklärte ihr Vorkommen in Grab¬
stätten wie folgt: »Sie verbindet den Tod mit den kosmologischen
Prinzipien des Wassers, Mondes, Weiblichen und der Wiederge¬
burt in der neuen Welt.«59
Wir können auch eine etymologische Verbindung zwischen der
Kauri-Muschel und dem Archetyp der weiblichen Fruchtbarkeit
herstellen, indem wir einfach zu unserem bereits erwähnten »Kuh¬
beispiel« zurückkehren: Das englische Wort für »Kuh«, cow,
54
stammt von dem Sanskritwort gau und dem ägyptischen kau. Die¬
se stehen auch am Anfang der Worte gaurie oder kaurie, aus denen
im Englischen cowrie wird ...
Andere »primitive« Währungen
Die ersten Metallmünzen stammen aus der Bronzezeit in China
und hatten Löcher, damit man sie für den Transport und den Han¬
del in Bündeln zu je 50 Stück zusammenbinden konnte. Von Be¬
deutung ist dabei, daß die frühen Versionen viereckige statt runde
Löcher hatten. Die Beschreibung huan fa (»runde Münzen«) war
im 11.Jahrhundert v.Chr. als »eckig im Innern und außen rund«
verbreitet.60 Die Tradition der viereckigen Löcher in chinesischen
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Chinesische Münzen aus verschiedenen Epochen, von der (a) Ch'in-Dynastie
(Münze datiert auf 221 v.Chr.), (b) Han-Dynastie (118 v.Chr.), (c) Tang-Dy¬nastie (621 n. Chr.) und (d) Song-Dynastie (1101-1125 n.Chr.). Ihnen allen ist
das Symbol »Quadrat im Innern und außen rund« gemeinsam. Ähnliche Mün¬zen wurden in China bis ins 20. jahrhundert geprägt, was eine Kontinuität die¬
ser Symbolik über 22 Jahrhunderte zeigt. Das Viereck symbolisiert die Frucht¬
barkeit der Erde, die Präsenz des Yin wortwörtlich im Zentrum des Geldes oder,
wie es im Taoteking heißt: die Große Mutter, leer, doch unerschöpflich, un¬endliche Welten gebärend ... (s.a. das Motto am Anfang von Kapitel 2).
55
Münzen hielt sich bis ins 20.Jahrhundert. Warum machten sich
die Chinesen die Mühe und stellten Münzen mit viereckigen
Löchern her, obwohl solche mit runden doch einfacher zu fertigen
und zusammenzubinden waren? Die Antwort liegt in der Symbo¬
lik: Der Kreis steht in der taoistischen Tradition als Yang-Sinnbild
für den Himmel, das Quadrat steht dagegen für das Yin-Element
Erde. Hier zeigt sich erneut der Bezug zur Fruchtbarkeit von Mut¬
ter Erde im Zentrum des Geldes.
Chinas kosmische Göttin
Allgemein wird angenommen, daß die chinesische Kultur schon immer
stark patriarchalisch geprägt war. Allerdings besaß auch China einst in
Nu Kua einen Archetyp der allmächtigen Großen Mutter. In Texten ausder Chou-Periode (1000 v. Chr.) tritt Nu Kua als Göttin in Gestalt einer
Schlange auf, die alle Menschen aus Ton geschaffen hat. Sie gestalte¬
te ebenso die Ordnung des Universums, indem sie die vier Himmels¬
richtungen markierte, die Jahreszeiten einrichtete und die Sterne sowie
die Planeten auf ihre richtigen Bahnen brachte.61
Wir könnten noch zahlreiche Beispiele anführen, doch das wäre er¬
müdend und sinnlos, weil die Symbolik vieler frühen Währungen
während der patriarchalisch mythopoetischen Umprogrammie¬
rung der letzten fünf Jahrtausende bis zur Unkenntlichkeit verän¬
dert wurde. Ein Beispiel für diesen Vorgang ist Bernstein, der im
Seefernhandel der frühen Antike als eine wichtige Warenwährung
galt, ln Ägypten beispielsweise war Bernstein wertvoller als Gold.
Rohbernstein wurde damals wie heute als fossiles Harz an den Kü¬
sten der Nord- und Ostsee gefunden. Bernsteinstücke galten als
»Tränen der Großen Mutter« und wurden mit dem Urozean in Ver¬
bindung gebracht. Doch in der griechischen Mythologie machte
man daraus die »Tränen Apollos«, die er nach seiner Verbannung
aus dem Olymp vergoß, als er im Land der Hyperboreer Zuflucht
suchte. Apollo erbte verschiedene Schlüsselattribute von der
Großen Mutter, darunter auch »den Schönheitssinn, sei es nun für
56
Frühes griechisches Geld und die Göttin
»Der berühmteste Fund von Elektronmünzen (die natürliche Legierung
von Silber und Gold, aus dem die Lyder ihre ersten Edelmetallmünzen
prägten) wurde bei Ausgrabungen am Artemistempel von Ephesus
gemacht. Unter dem Tempel wurden 93 Elektronmünzen und sieben
ungeprägte Nuggets gefunden. Der Fundort deutet darauf hin, daß sie
dort als religiöse Gabe vergraben wurden.«63
Das Äquivalent einer »Staatsbank« war im alten Athen der offizielle
»Tempelschatz«, der direkt dem Schutz Athenes unterstellt war und ihr
auch gehörte. Es gibt mehrere Beispiele in der Geschichte, in denen
die Athener zusätzliches Geld zur Finanzierung von Kriegen brauchten
und das Geld von Athene mit dem Versprechen »borgten«, es so bald
wie möglich zurückzuzahlen. Der berühmte athenische Staatsmann
Perikies erklärte in seiner Rede am Vorabend des Peloponnesischen
Krieges gegen Sparta (431-404 v. Chr.): »... und wenn sie in äußerster
Not wären, könnten sie auch das Gold verwenden, womit die Göttin
selbst bekleidet war ... Hätten sie das zu ihrer Rettung verwendet, so
müßten sie ihr später, so sagte er, mindestens gleiches Ersatzgewicht
darwägen.«64
Kunst, Musik, Lyrik oder Jugend, Gesundheit und Mäßigung-alle
summieren sich in Apollo«.62 Nachdem Apollo das Bernsteinsym¬
bol für sich beansprucht, findet man den einzigen Hinweis auf die
alte Fruchtbarkeitsgöttin in einem Aberglauben, der sich in den
Mittelmeerländern hartnäckig behauptet - nämlich daß ein Mann
nie seine Männlichkeit verliere, wenn er stets ein Stück Bernstein
bei sich trage. Dieses Denken hielt sich lange, obwohl die christli¬
che Kirche diesen Aberglauben als »sündhaftes Überbleibsel aus
heidnischer Zeit« brandmarkte (Codex Einsidlensis, ca. 750).
Frühe Münzen
Eine der ältesten bekannten »richtigen« Bronzemünzen, der su¬
merische Schekel aus dem Jahr 3200 v.Chr., wurde bereits im Zu¬
sammenhang mit der Schlüsselrolle der Inanna (Ischtar in Baby¬
lon) erwähnt, der Göttin des Lebens und des Todes, der Frucht-
57
barkeit und des Wohlstandes. Ursprünglich diente die Münze als
Beleg dafür, daß der Besitzer die Weizensteuer für den Göttinnen¬
tempel entrichtet hatte. Während der Fruchtbarkeitsrituale wurde
sie dem Tempel im Austausch für Geschlechtsverkehr mit einer
Vertreterin der Göttin persönlich zurückgegeben, welche die Bibel
2000 Jahre später als »Tempelhure« bezeichnete. Damals war der
Geschlechtsverkehr mit einer Priesterin jedoch nicht das, was wir
heute als Prostitution bezeichnen, auch nicht aus weiblicher Sicht.
Nancy Qualls-Corbet erklärt in ihrem Buch The Sacred Prostitute:
Eternal Aspects of the Feminine,65 daß die Sexualität der Frau Teil der
Mythologie über die Erschaffung des Universums und der Frucht¬
barkeit der Erde war. Der Geschlechtsakt mit einer »Tempelhure«
entsprach daher dem Verkehr mit der Göttin persönlich, eine le¬
benswichtige Angelegenheit und eine Form der Verehrung der
Gottheit. Die Priesterinnen waren die Pforte; sie begründeten ur¬
sprünglich das System. Erst später, im Patriarchat, führten diese
Rituale zur Ausbeutung der Frauen. Wieder einmal begegnen wir
hier der archetypischen Schlüsselkonstellation von Fruchtbarkeit,
Weiblichkeit, Sexualität, Leben und Tod.
Selbst in so eindeutig patriarchalischen Kulturen wie der Grie¬
chenlands waren die frühen Währungen mit den Kulten der Göt¬
tin verknüpft. Es gibt auch eindeutige Belege aus verschiedenen
Münzen und Verhütung
Eine andere Verbindung zwischen den frühen Formen des Geldes und
der Fruchtbarkeit der Göttin läßt sich über die Kontrolle der Frucht¬
barkeit, also die Verhütung, herstellen. Auf einer antiken Münze des
Stadtstaates Kyrene (im heutigen Libyen) deutet eine Frau auf eine
Pflanze namens Silphium, die vor 2500 Jahren in dieser Gegend wuchs.
Nach Aussage von John Riddle von der University of North Carolina
war Silphium ein starkes Verhütungsmittel, das ins ganze Mittelmeer¬
gebiet exportiert wurde, bis die Pflanze schließlich ausstarb. Eine
schwächere Art namens Asafetida existiert noch heute und verhinder¬
te im Versuch mit Ratten die Empfängnis mit einer Wahrscheinlichkeit
von etwa 40 Prozent.
58
Die Venus von Laussei. Sie verbindet
symbolisch Fruchtbarkeit mit dem
Kosmos.
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anderen Gesellschaften, die zeigen, daß die Archetypen des Weib¬
lichen ursprünglich mit der Goldwährung in Zusammenhang
standen. Die ägyptische Kuhgottheit Hathor beispielsweise wurde
die »Goldene« genannt, ebenso bezeichnet man Lakshmi, die Hin¬
du-Gottheit des Reichtums und des Wohlstandes, noch heute als
die »Göttin des Goldes«. Die alten Sagen der Edda beschreiben
Gullveid als »goldene Göttin«, deren Goldschatz einen Krieg zwi¬
schen zwei feindlichen Stämmen auslöste.
Das englische Wort für Geld, money, geht ebenso wie unser um¬
gangssprachliches »Moneten« auf den Namen des römischen Tem¬
pels der Juno Moneta zurück, in dessen höhlenartigen Kellerge¬
wölben ursprünglich die römische Münze arbeitete. Der Standort
der römischen Münze ist eine deutliche Verbindung zum essentiell
Weiblichen (s. Kasten »Juno Moneta ...«).
Die Kontinuität der archetypischen Attribute Junos seit den Ta¬
gen der steinzeitlichen Großen Mutter ist wirklich erstaunlich. Die
berühmte Venus von Laussei wurde etwa 25000 v.Chr. am Ein¬
gang einer Initiationshöhle im Tal der Dordogne in Frankreich in
den Fels geritzt. Mit der einen Hand hält sie ihren schwangeren
Bauch, der durch den natürlich hervortretenden Fels betont wird.
In der anderen Hand hält sie ein Büffelhorn (ein entfernter Vor¬
läufer der »Cornucopia«, der Kuhgottheit 20000Jahre später?) mit
59
13 Markierungen (der Zahl der Vollmonde und Menstruationsblu¬
tungen in einemJahr sowie der Anzahl der Tage von Neumond bis
Vollmond). Sie wurde als der älteste bekannte Kalender bezeich¬
net, der den Lebensrhythmus mit dem des Himmels in Einklang
bringt. Die Höhle, die sie bewacht, symbolisiert den Leib der Mut¬
ter Erde und ist tief im Inneren mit den Bildern eines Paares beim
Geschlechtsakt geschmückt, was uns deutlich macht, daß die In¬
itiationsriten mit Sexualität zu tun hatten. Als die Römer ihre er¬
ste Münze in der höhlenartigen Krypta des Tempels der Juno Mo-
neta einrichteten, hielten sie damit eine Verbindung aufrecht, die
schon Jahrtausende vor der Gründung Roms existierte.
Natürlich geschah das alles, bevor Worte zur Beschreibung weib¬
licher Eigenschaften ihre abwertende Bedeutung erhielten. Worte
Juno Moneta und der Ursprung des Wortes money
Juno ist eine sehr alte italische Gottheit. Ursprünglich unterschied sie
sich von der griechischen Göttin Hera, verschmolz jedoch mit ihr in ei¬
ner Zeit der kulturellen Assimilation, als das Römische Reich seine grö߬te Ausdehnung erreicht hatte. Juno und Hera galten aber beide im we¬
sentlichen als Göttinnen der Frauen.
Juno war Teil der kapitolinischen Trias, des Dreigestirns, das Rom be¬
schützte (mit Minerva, der Göttin der Weisheit, und Jupiter, dem Gottdes Himmels). Bei den Römern besaß so, wie jeder Mann seinen »Ge¬nius« hatte, jede Frau ihre »Juno«, die Essenz wie auch jugendhafte
Kraft der Weiblichkeit.
Als Tochter des Saturn war Juno die Gottheit des weiblichen Men¬
struationszyklus und wurde von den römischen Frauen jeden Monat anden Kalenden, dem Neumondtag, verehrt. Juno war in allen weibli¬
chen Schlüsselsituationen maßgeblich, wie sich anhand ihrer Attribu¬
te erkennen läßt. Sie war die Pronuba, die eine Ehe mit Fruchtbarkeit
segnete, Populonia, die Göttin der Empfängnis, Ossipago, die die Kno¬
chen des Fötus stärkt, Sospita, die Göttin der Wehen, und vor allem Lu-
cina, die Geburtsgöttin, die den Neugeborenen ans Licht der Welt hilft.
Ein Überbleibsel dieser Tradition findet sich noch heute, denn nachwie vor wählen viele Bräute den Monat Juni für ihre Hochzeit und si¬
chern sich so das Wohlwollen der Göttin, nach welcher dieser Monatbenannt ist.66
60
wie silly (engl, für »dumm, blöd«) bedeuteten »gesegnet von der
Mondgöttin Selene«, »Hysterie« bezog sich auf die Gebärmutter,
nicht auf eine psychische Störung, und »Chaos« bedeutete »unbe¬
grenztes Werden« und war noch kein Synonym für »Unordnung«.
Die Unterdrückung der Großen Mutter
»Wichtig ist, das auszusuchen, was man
vergessen soll.« Roger Marlin du Gard
Selbstverständlich herrschten auch in matriarchalischen Gesell¬
schaften - aus unserer Sicht - keine paradiesischen Zustände.67 So
deuten beispielsweise die Mythologie und Fundstücke darauf hin,
daß in einigen Gebieten im Rahmen der Fruchtbarkeitsrituale
Menschenopfer dargebracht wurden. In Nordeuropa geht aus den
Ritualen in Zusammenhang mit den »Eichenkönigen« hervor, daß
sich die oberste Priesterin jedes Jahr einen Partner wählte, der als
Sonneneichenkönig verehrt wurde, aber während des Mittsom¬
merfestes »in der Blüte seines Lebens vor seinem Niedergang ge¬
opfert wurde«.68
Ähnlich verhielt es sich in Griechenland: »In alter Zeit regierte
in Theben die >Eichen<-Göttin. Es heißt, daß ihre Priesterinnen je¬
des Jahr im Juli ihren Königsgemahl opferten, ihn in Stücke
schnitten und verzehrten.«69 Wir wissen, daß in Theben bei Mitt¬
sommerfesten noch bis ins 6.Jahrhundert v. Chr. lebende Tier¬
opfer dargebracht wurden, die den »Eichenkönig« symbolisierten,
und daß das Fleisch bei dem Ritual roh gegessen wurde. Waren die
früheren Opfer ebenfalls nur symbolisch, oder wurden sie wirklich
durchgeführt? Man weiß es nicht. Gab es eine Reaktion auf diese
»matriarchalischen Exzesse«? Immerhin wissen wir, daß nach
Jahrtausenden unangefochtener Führung die Unterdrückung des
Archetyps der Großen Mutter einsetzte.
Wir wollen auch hier wieder nur den wichtigsten kulturhistori¬
schen Entwicklungslinien folgen, die das moderne westliche Den¬
ken formten. Im einzelnen handelt es sich dabei um die indoger-
61
manischen Invasionen, die mesopotamischen Kulturen, die gei¬
stige Blütezeit Griechenlands, dasJudentum, das Christentum und
schließlich die Reformation. Abb.6 zeigt, wie diese Kulturen ge¬
meinsam die westliche Geisteshaltung schufen. Während der
anschließenden Besprechung soll uns diese Darstellung helfen,
den Überblick dabei zu behalten, wie die verschiedenen kulturel¬
len Schichten miteinander Zusammenhängen. Richard Tarnas ge¬
lang es, die einzelnen Teile des Puzzles in weniger als einer Seite
Text zusammenzufassen (s. Kasten »Das westliche Denken ...«).
Wir werden nun untersuchen, wie jede dieser Kulturen ihren Bei¬
trag zur kollektiven Unterdrückung des Weiblichen im allgemei¬
nen und des Archetyps der Großen Mutter im besonderen leistete.
Dazu müssen wir das störende Paradoxon einer näheren Betrach¬
tung unterziehen, daß fast alles, was wir als »Zivilisationsprozeß«
betrachten, unseren kollektiven Schatten genährt hat. Um nur ei¬
nige zu nennen: Die bemerkenswerte Fähigkeit zur Abstraktion in
der hebräischen Tradition, zur Vernunft in der griechischen oder
zur Mystik in der christlichen Überlieferung sollten jede für sich
genommen als großer Beitrag zur Entwicklung der Menschheit an¬
gesehen werden. Allerdings unterdrückten diese Errungenschaf¬
ten, mit denen sich eine Kultur besonders hervortat, offensichtlich
auch immer den weiblichen Archtyp.
Beim Umgang mit unserem kollektiven Schatten müssen wir
zunächst seine Existenz eingestehen und den Mut aufbringen,
ihm ins Angesicht zu blicken, damit das ungeheure Leiden un¬
zähliger Millionen über Jahrtausende hinweg nicht vergeblich ge¬
wesen ist.
Indogermanische Invasionen
Die ersten Anzeichen für eine Unterdrückung des Archetyps der
Großen Mutter lassen sich in Europa auf das 3. Jahrtausend v. Chr.
zurückverfolgen, als die Indogermanen in mehreren aufeinander¬
folgenden Wellen einfielen. Auf die Gefahr hin, zu stark zu ver¬
einfachen, setzt Gimbutas die Zivilisation des »alten Europa« in
Kontrast zu den späteren Neuankömmlingen. Das alte Europa (vor
62
Abb. 6
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Das westliche Denken: eine Synthese
»Die Entwicklung des westlichen Denkens wurde von dem heroischen
Puls vorangetrieben, einen autonomen, rationalen Menschen zu schaf¬
fen. Das sollte durch die Zerstörung der ursprünglichen Einheit des
Menschen mit der Natur geschehen. Diese Maskulinität wirkte sich auf
die grundlegenden religiösen, naturwissenschaftlichen und philoso¬
phischen Perspektiven der westlichen Kultur entscheidend aus. Das be¬
gann mit den patriarchalischen Nomadenvölkern, die vor über 4000
Jahren die uralten matrifokalen Kulturen in Griechenland und der Le¬
vante eroberten, und zeigt sich immer noch in den patriarchalischen
Religionen des Westens, die vom Judentum stammen, der rationalen
Philosophie der Griechen, in den objektiven Naturwissenschaften des
modernen Europa. Sie alle dienten zur Entwicklung eines autonomenmenschlichen Willens und Intellekts: das transzendente Selbst, das un¬
abhängige Ich, der selbstbestimmte Mensch in seiner Einzigartigkeit,
Losgelöstheit und Freiheit. Doch um das zu erreichen, unterdrückte
der männliche Geist den weiblichen. Ob man das nun an der Unterjo¬
chung der prähellenischen matrifokalen Mythologie im alten Grie¬
chenland erkennt, an der jüdisch-christlichen Ablehnung der Großen
Muttergöttin oder an der Begeisterung der Aufklärung für das kühle,
rationale, seiner selbst bewußte Ich, das radikal von der entzauberten
äußeren Natur losgelöst ist, fest steht, daß die Entwicklung des westli¬
chen Denkens auf der Unterdrückung des Weiblichen gründet - die
Unterdrückung des undifferenzierten einheitlichen Bewußtseins, der
participation mystique mit der Natur: ein progressives Verleugnen der
anima mundi, der Seele der Welt, der Gemeinschaft der Lebewesen,
des Allumspannenden, des Geheimnisses und der Vieldeutigkeit, der
Vorstellungskraft, Gefühle, Instinkte, des Körpers, der Natur, der Frau,
ein Verleugnen all dessen, was das Männliche projizierend als >anders<
identifiziert.«71
ca. 40()()() bis 5000Jahren) war in erster Linie »matrifokal, seßhaft,
friedlich, kunstliebend, erd- und seegebunden«. Diese Zivilisation
wurde etwa 3500 v.Chr. von einer »patrifokalen, mobilen, kriege¬
rischen, ideologisch zum Himmel orientierten Gesellschaft« er¬
obert, die wenig für Kunst übrig hatte.72 Gimbutas führt als Argu¬
ment für ihre These u.a. an, daß in £atal Hüyük keine Verteidi-
64
gungsmauern und keine Angriffswaffen gefunden wurden. Falls
das typisch für matrifokale Kulturen war, wären sie für eine Zivili¬
sation mit einer ausschließlich männlichen Kaste spezialisierter
Krieger, die durch die Domestizierung des Pferdes sehr mobil war,
eine leichte Beute gewesen.73 Unabhängig von Gimbutas gilt es als
gesichert, daß die Indogermanen eine spezialisierte Kriegerkaste
hatten und patriarchalische Himmelsgötter verehrten.74 Wir wis¬
sen auch, daß zu der Zeit durch die Bronzemetallurgie eine fort¬
schrittlichere Waffentechnik möglich wurde, so daß eine militäri¬
sche Eroberung vergleichsweise friedlicher matrifokaler Kulturen
durchaus plausibel klingt.
Nach der Eroberung war es üblich, die männlichen Erwachsenen
der Besiegten zu töten und dann die Frauen zu vergewaltigen und
zu versklaven.75 Darin haben die unseligen »ethnischen Säube¬
rungen« unserer Tage gewissermaßen einen Vorläufer. In nur we¬nigen Generationen veränderte sich das genetische und kulturelle
Erscheinungsbild einer Region. Danach wurde die Mythologie der
besiegten Völker allmählich dem patriarchalischen System ange¬
paßt; die allmächtige Göttin spaltete man in viele separate Funk¬
tionen auf, die zu Attributen oder Partnerinnen der dominanten
männlichen Götter wurden. Unterdrückung, Kontrolle und Un-
•
Ölit z
- V
Der Mythos von Wotan, dem
germanischen Kriegsgott, um¬faßt auch die frühen Reiterhor¬
den, eine spezialisierte Krieger¬
kaste bei den Indogermanen
(Wotan, Stele von Hornhausen,
Museum in Halle).
rasEL-jg.
;<
Ms
65
terwerfung des Weiblichen und vor allem der Aspekte der Sexua¬
lität und Fruchtbarkeit der Großen Mutter waren seitdem die prak¬
tische Folge.
Die mesopotamische Kultur
Gerda Ferner leistete mit ihrem Buch Die Entstehung des Patriar¬
chats einen wertvollen Beitrag zur Forschung. Sie untersuchte me¬
sopotamische Gesetze und Traditionen, die darauf abzielten, die
weibliche Sexualität und Fruchtbarkeit im Interesse der Krieger zu
kontrollieren. Ferner bietet für die folgenden Thesen überzeugen¬
des Quellenmaterial:
•»Die Periode der Durchsetzung des Patriarchats< war nicht >ein
Ereignis«, sondern ein Prozeß, der sich in einem Zeitraum von
etwa 2500Jahren, ungefähr von 3100 bis 600 v.Chr., vollzogen
hat.Selbst im Bereich des alten Vorderen Orients ging dieser Pro¬
zeß in einigen unterscheidbaren Gesellschaften in unterschied¬
licher Geschwindigkeit und zu verschiedenen Zeiten vor sich.«76
•»Die Aneignung der sexuellen und reproduktiven Kapazität der
Frauen durch die Männer geschah vor der Entstehung des Pri¬
vateigentums und der Klassengesellschaft. Zweifellos ist die Ver¬
wandlung dieser Fähigkeiten in Waren eine der Voraussetzun¬
gen für die Entstehung des Privateigentums.«
•»Die archaischen Staaten waren patriarchalisch organisiert, da¬
her hatte der Staat von Anfang an großes Interesse an der Erhal¬
tung der patriarchalischen Familie ... So wurde die Unterord¬
nung der Frau schon in den frühesten Gesetzen institutionali¬
siert und mit aller staatlicher Macht durchgesetzt ... Die Entthro¬
nung der mächtigen Göttinnen und ihr Ersatz durch einen
dominanten männlichen Gott erfolgte in den meisten Kulturen
des Nahen Ostens nach der Etablierung eines starken und impe¬
rialistischen Königtums.« So stehen uns beispielsweise Texte zur
Verfügung, die die Verdrängung der Göttin Inanna aus ihrer
Schlüsselposition belegen, dem Ursprung aller Macht in Uruk.
In den frühesten Inschriften ist sie noch die Quelle des König¬
tums von Sumer, und die königliche Macht leitet sich von der
66
Liebe zu ihr ab; später wird sie jedoch aus dieser Funktion durch
Enlil von Nippur verdrängt.77
•Eine interessante Beobachtung beleuchtet die enge Verbindung
zwischen staatlichen hierarchischen Systemen und der privaten
Unterwerfung der Frau. »Von Beginn an war der archaische Staat
so organisiert, daß die Abhängigkeit des männlichen Familien¬
oberhauptes vom König und der staatlichen Verwaltung durch
seine beherrschende Stellung innerhalb der Familie kompen¬
siert wurde. Die männlichen Familienvorstände verteilten die
materiellen Mittel der Gesellschaft auf ihre Familienmitglieder
so, wie der Staat diese Mittel ihnen zuteilte. Die Kontrolle der Fa¬
milienoberhäupter über die weiblichen Familienmitglieder und
minderjährigen Söhne war für das Bestehen des Staates ebenso
wichtig wie die Kontrolle des Königs über seine Soldaten ... Un¬
geachtet des politischen und ökonomischen Systems wird in der
patriarchalen Familie die besondere Art von Persönlichkeitsstruktur
hervorgebracht und bestätigt; die in einem hierarchischen System an¬
gemessen funktionieren kann ... Die Familie spiegelt nicht nur die
Ordnung im Staat und erzieht die Kinder dazu, sich nach deren
Regeln zu richten, sie erschafft darüber hinaus diese Ordnung
immer wieder neu und verstärkt ihre Wirkung.«78
Die griechische Kultur
Wie alle Indogermanen formten die Griechen die archaische My¬
thologie bis zur Unkenntlichkeit in patriarchalische Mythen um.79
Für die Griechen symbolisierte sich bereits der Gründungsakt für
eine zivilisierte Gemeinschaft im »Zerschneiden des Weiblichen«
(s. Kasten). Darüber hinaus bot das Erwachen des rationalen Gei¬
stes in Griechenland neue Argumente für die Unterdrückung des
Weiblichen, Argumente, die zu Eckpfeilern des westlichen Den¬
kens der nächsten 25 Jahrhunderte wurden. Dazu gehört Par¬
menides' Erklärung, Unabhängigkeit, Autonomie und die Überle¬
genheit der Vernunft seien die einzigen legitimen Richter der Rea¬
lität. Für ihn führten alle Sinne in die Irre, nur der intellektuelle
Verstand nimmt die Wirklichkeit wahr. Sokrates und Plato bauten
67
Das »Zerschneiden des Weiblichen«
als Metapher für die Zivilisation
Joseph Campbell beschreibt, wie griechische Oberpriester bei der
Gründung einer neuen Stadt vorgingen: Sie nahmen eine große Kuh¬
haut und schnitten sie mit einem Messer in ein langes, dünnes Seil. Die¬
ses Seil wurde ausgelegt und markierte den Umriß der neuen Stadt.
Das Ritual ist als Metapher zu sehen, aus der weiblichen Natur (sym¬
bolisiert in der Kuhhaut) einen geordneten, »zivilisierten« Raum zuschneiden.
Die Gründung römischer Städte hatte den gleichen symbolischen
Hintergrund. In Rom und allen anderen römischen Städten wurde bei
der Gründung die Erde rituell mit einem Pflug umgepflügt, der vonOchsen gezogen wurde. Damit wurde der Umriß der Stadt markiert.
darauf auf: Der Verstand wird mit dem Transzendentalen, dem spi¬
rituellen Verlangen und dem Absoluten assoziiert. Alles andere
wird zum »Irrationalen«, das mit der Unvollkommenheit der Ma¬
terie, instinktivem Verlangen und dem Relativen in Zusammen¬
hang gebracht wird. Schließlich hieß es in der aristotelischen Phi¬
losophie, daß Frauen unvollständige und mißgebildete Menschen
einer ganz anderen Ordnung als die Männer seien. 23 Jahrhun¬derte später bezog sich Freud als Beweis für die »natürliche Min¬
derwertigkeit« der Frau immer noch auf diese »Unvollständigkeit«
in ihrer Natur.
Das JudentumDie alten Hebräer waren ursprünglich semitische Nomaden und
Hirten aus der Wüste. Vermutlich hatten sie ebenfalls einen Him¬
melsgott. Seßhafte Kulturen verehren eher »erdgebundene« Gott¬
heiten, die bestimmten Bergen, Quellen oder anderen herausra¬
genden geographischen Merkmalen zugeordnet werden. Noma¬
den dagegen, die durch die Wüste ziehen, beten meist zu Gotthei¬
ten mit Sitz im Himmel.
Joseph Campbell weist daraufhin, daß »Jahwe, der Stammesgott
der Hebräer, auch der erste Gott war, der je den Anspruch erhob,
68
der einzige Gott zu sein«.80 Als das erste »Volk des Buches« war csden Hebräern allerdings durch die Erfindung der Schrift auch mög¬
lich, zum erstenmal den Schöpfungsakt von der Frau loszulösen.
Genauso wie ein Text unabhängig von seinem Verfasser Inhalte
vermittelt, kann das Wort »ein eigenständiges Leben führen«. Das
machte es vorstellbar, daß ein einzelner männlicher Gott die Welt
ohne die Mitwirkung des weiblichen Prinzips nur durch »die
Macht des Wortes« schuf. Die Religion der alten Hebräer wurde als
»männlicher Fruchtbarkeitskult« beschrieben, »in dem das Ritual
der Beschneidung, das symbolische Opfer81 des männlichen Ge¬
schlechtsorgans, das Zeichen für den Bund darstellt, den jeder
männliche Hebräer mit Gott eingeht«.82 Durch diese Handlung
sind alle Frauen schon aufgrund der Anatomie davon ausge¬schlossen, das Zeichen des Bundes zu tragen.
»Monotheismus, also der Glaube, daß es nur eine Gottheit gibt,
erwies sich für die Religion der Göttin sogar als ein noch stärkerer
Gegner als der Polytheismus der Himmelsgötter ... Obwohl die Bi¬
bel daraus eine einfache Entscheidung zwischen dem jahwisti-
schen Monotheismus und dem kanaanitischen Polytheismus
machte, war die Situation in Wirklichkeit viel komplizierter.«81
Diese Verzerrung bekämpften die Gründer der israelitischen
Religion heftig. Ein Beispiel dafür ist etwa die Geschichte von der
Verehrung des Goldenen Kalbs, die Mose dazu veranlaßte, die
Tafeln mit den Geboten zu zerbrechen, die er auf dem Berg Sinai
erhalten hatte (2.Mose32). Die heftige Reaktion Moses gegen
diesen Rückfall in die ägyptische GötzenVerehrung ist erst erklär¬
bar, wenn man die Bedeutung des Goldenen Kalbs in Ägypten
kennt. Es ist nämlich der »Sohn« Hathors, einer Variante der Gro¬
ßen Mutter.
Trotz dieser heftigen Ablehnung der Großen Mutter in den An¬
fangszeiten führte König Salomo, der Erbauer des Tempels in Jeru¬salem (ca. 950 v. Chr.), auf Bitte seiner sidonischen Frau die Ver¬
ehrung der Aschera wieder ein, der kanaanitischen Großen Mut¬
ter, »die Gott geboren hatte«. Salomos Sohn Rehabeam brachte so¬
gar direkt im Tempel ein Bildnis der Aschera an (1. Könige 15,13).
69
Während der folgenden drei Jahrzehnte »kam und ging die Ver¬
ehrung der Aschera im Tempel von Jerusalem mit den Macht¬
wechseln in der Politik«84 (s. Kasten). Aber während der Regie¬
rungszeit von König Josia (638-608 v. Chr.) gewann die Jerusale¬mer Priesterschaft die Oberhand, und das geistliche Leben wurde
anhand eines alten, im Tempel gefundenen Gesetzbuches umge¬
staltet. Jegliche »Götzendienste« wurden gewaltsam unterdrückt,
was bis zur Zerstörung und Schändung aller nicht jüdischen Hei¬
ligtümer ging. »Er ließ das Bild der Aschera aus dem Tempel brin¬
gen und im Tal des Kidron verbrennen und zu Staub mahlen und
den Staub auf die Gräber derer werfen, die sie verehrt hatten ...schließlich wandte er seine Aufmerksamkeit von der Stadt auf das
Land, zerstörte überall die Aschera-Bilder und füllte ihre Stätte mit
Menschenknochen. In ähnlicher Weise verfuhr er mit den ande¬
ren >Höhen< und den dortigen Götzenbildern, die ursprünglich
von Salomo aufgestellt worden waren.«85
Das Christentum
Der neutestamentliche Bibelkanon wurde im 4.Jahrhundert ein¬
heitlich von der christlichen Kirche anerkannt. Die hebräische To¬
ra (das »Gesetz«), die »Propheten« und die »Schriften« sind bis
heute Bestandteile des »Alten Testaments«. Mit der Bibel kam der
monotheistische männliche Gott als absoluter Monarch, dem nur
männliche Priester dienen konnten. Bei der Reaktivierung des ar¬
chetypischen Dreigestirns (wie in Brahma-Vishnu-Shiva, Isis-Osi-
ris-Horus oder Juno-Jupiter-Minerva usw.) war die christliche
Dreifaltigkeit die einzige, in der alle Beteiligten männlich sind (Va¬
ter, Sohn und Heiliger Geist).
Mit dem Alten Testament wurde die Genesis die Schöpfungsge¬
schichte für die westliche Kultur. Von entscheidender Bedeutung
ist die Geschichte von Adam und Eva, in der letztere (»die Mutter
allen Lebens«) durch die Verführung der Schlange (eines der älte¬
sten Symbole für die Große Göttin) verantwortlich für den Sün¬
denfall ist. Später wird die Abkehr der christlichen Jungfrau von
den Fruchtbarkeitsriten der Großen Mutter noch deutlicher, wenn
70
»Jahwe und seine Aschera«
Die Veröffentlichung des Buches The Hebrew Goddess von Raphael Pa-
tai86 im Jahre 1967 sorgte wie erwartet für Unruhe, schließlich ging es
um eine Religion, in der es traditionell nur Platz für einen männlichen
Gott gibt. Allerdings wird selbst in der offiziellen Tora ausdrücklich ei¬
ne Himmelskönigin erwähnt: »... und die Frauen kneten den Teig, daß
sie der Himmelskönigin Kuchen backen« (Jeremia 7, 18), die Identität
dieser mysteriösen »Königin« wird jedoch nie geklärt.
Faszinierenderweise haben seit 1967 neue archäologische Funde ein¬
deutige Belege erbracht, die die These von der historischen Rolle einer
weiblichen Gottheit im frühen Judentum stützen. Inschriften an einem
jüdischen Grab aus der Eisenzeit in Khirbet el-Qöm, einer judäischen
befestigten Stadt, und verschiedene andere Inschriften aus der Zeit
zwischen 800 bis 750 v.Chr., die in Kuntillet 'Ajrud von dem israeli¬
schen Archäologen Ze'ev Meshel gefunden wurden, nennen wieder¬
holt »Jahwe und seine Aschera«.87 Wissenschaftler kamen zu dem
Schluß, daß »wir aufgrund der Häufigkeit der Formel »Gesegnet von
Jahwe und seiner Aschera« annehmen müssen, daß Jahwe zumindest
in bestimmten Kreisen üblicherweise mit Aschera in Verbindung ge¬
bracht wurde«.88
Danach war der monotheistische männliche Gott des Judentums fest
und für immer etabliert. Auf die kanaanitische Gottheit bezog man sich
nur noch mit den Worten »die Abscheulichkeit«. Die einzigen bedeu¬
tenden Spuren, die der Kult um die »jüdische Göttin« hinterließ, sind
ihre drei großen jahreszeitlichen Feste: Passah (ungesäuertes Brot,
wenn der Frühling die Wnterregen beendet), das Erntefest im Früh¬
sommer (wenn die ersten Früchte reif werden) und das Laubhüttenfest
im Herbst (wenn die Ernte eingebracht ist).89
Maria in der Ikonographie auf einer Mondsichel steht und die
Schlange mit ihren Füßen zertritt.90
Im Christentum wurde die Sünde Evas durch dieJungfrau Maria
überwunden, in deren unbeflecktem Leib der Erlöser empfangen
wurde. Ursprünglich bedeutete virgo soviel wie »nicht von einem
Mann kontrolliert« (also »unabhängig« oder »eins mit sich selbst«
- im Unterschied zum Begriff virgo intacta, der eine Frau bezeich¬
net, die keine sexuellen Beziehungen gehabt hat). Alle Liebesgöt-
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Christus Pantocrator, der Allmächtige. Dieses gigantische Mosaik bedeckt die
gesamte Kuppel der Kathedrale von Monreale. Die Figurenreihe darunter zeigt
Vermittler zu Christus wie Engel und Heilige, in ihrem Zentrum (am unteren
Bildrand) Maria, die Mutter Gottes (1174-1182).
tinnen der alten Welt waren Jungfrauen in diesem ursprünglichen
Sinne. Inanna, Ischtar, Astarte, Anath und Venus konnten Liebha¬
ber nach Belieben akzeptieren oder verschmähen. Nur zwei griechi¬
sche Göttinnen, Artemis und Athene, lehnten Männer gänzlich ab.
»Das Ungewöhnliche an der christlichen Religion war, daß sie die
Idee der Jungfrauengeburt dazu benützte, den hohen Wert der As¬
kese auf immer zu besiegeln.«91 Gelegentlich wird behauptet, die¬
ser Beitrag gehe auf einen Übersetzungsfehler bei der Übertragung
der hebräischen Bibel ins Griechische zurück. Das Wort almah be¬
zeichnet den sozialen Status eines unverheirateten Mädchens,
wurde aber ins Griechische mit dem Begriff parthenos (= »Jung¬
frau«) übersetzt, der sich auf den körperlichen Zustand bezieht.92
Die einzigartigen Eigenschaften der Jungfrau Maria machten es
normalen sterblichen Frauen unmöglich, sich wirklich mit dieser
72
übernatürlichen Himmelskönigin zu identifizieren. Sie war die
einzige ihres Geschlechts, die nicht durch ihr Frausein »befleckt«
war (Maria Immaculata, die »Unbefleckte«). Sterbliche Frauen blie¬
ben die Töchter Evas. »Eva, zum Kindergebären verdammt und
nicht mit der Mutterschaft gesegnet, wurde mit der Natur identi¬
fiziert, eine Form niedriger Materie, die die Seele des Mannes die
geistige Leiter hinunterzerrt. In Fäkalien und Urin der Geburt -so
Augustinus' Ausspruch - zeigt sich die Nähe der Frau zu allem, was
niedrig, gemein, verderbt und körperlich ist, in konzentrierter
Form; der >Fluch< der Menstruation machte sie den Tieren ähnlich;
die Verlockungen ihrer Schönheit waren nichts als ein Aspekt des
Todes, den ihre Verführung Adams mit sich gebracht hatte.«93 Der
heilige Hieronymus ging sogar noch weiter und betrachtete jede
Frau als »das Tor des Teufels, Patronin des Bösen, Stachel der
Schlange«. Aus dieser Perspektive sind alle Attribute der Großen
Mutter zu negativen, diabolischen Eigenschaften geworden.94
Der Grund für die heftige Attacke der frühen Kirche auf die Über¬
reste der Kultur der Großen Mutter läßt sich aus dem historischen
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Mr :mmVsgr IDie Schlange verführt Eva, damit sie
Adam dazu bringt, den Apfel zu es¬sen, der beide »in Sünde« stürzen
und aus dem Paradies vertreiben
wird. Die Schlange hat einen Frauen¬
kopf und wurde so zum Symbol der
sündigen Natur der Frau. In früheren
Zeiten war die Schlange ein Sinnbild
der Großen Mutter und bezog sich
auf ihre Weisheit, Macht und Sexua¬
lität. Die Wandlung zur Personifikati¬
on des Bösen begann mit der hebräi¬
schen Schöpfungsgeschichte.
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Kontext heraus erklären. Das Christentum verbreitete sich ur¬
sprünglich vor allem in den Städten des Römischen Reiches. Nach
dessen Zusammenbruch widersetzten sich die Heiden (lat.paganus
= »Heide«, ursprünglich »Mensch vom Land«) der Christianisie¬
rung und hielten oft hartnäckig an ihren Fruchtbarkeitsriten fest.
Die beliebtesten Rituale für die Göttin fanden bei uralten Menhi¬
ren, Quellen und heiligen Hainen statt. Außerdem gab es auch
neuere »Importe« (vor allem die Kulte der Isis, Artemis, Kybele und
Demeter) aus der Zeit des Römischen Reichs. Die Kirche verfolgte
drei Strategien beim Umgang mit diesen heidnischen Kulten der
Großen Mutter:
1. Wenn möglich, ging die Kirche wie die alten Hebräer bei den
Ascheras vor: Sie löschte den Kult aus. St. Patrick und St. Mar¬
tin wurden neben anderen heiliggesprochen, weil sie im kelti¬
schen Europa heilige Haine gerodet und Menhire zu Hunder¬
ten zerstört hatten.
2. Wenn sich die Vernichtung nicht durchführen ließ, christiani¬
sierte die Kirche den lokalen Kult und ließ ein Gotteshaus an
der heiligen Stelle bauen. Oft findet man in den Fundamenten
von Kirchen und Kathedralen (u.a. Chartres und St-Guidon)
noch Menhire eingebettet. Eine andere Möglichkeit war, die At¬
tribute der Göttin eines lokalen Kultes der Jungfrau Maria oder
einem anderen Heiligen zuzusprechen. Jacques de Voragines
(ca.1228-1298) Legendes Dorees (Legenda aurea) bieten ein be¬
merkenswertes Kompendium solcher christianisierter Legen¬
den.
3. Schließlich sublimierte die Kirche auch die Energie des Weibli¬
chen auf andere originelle Weise, indem sie die Institution Kir¬
che als »Mutter« präsentierte, in deren Leib alle, die ihren An¬
weisungen Folge leisten, Trost und Erlösung finden.
Die offizielle christliche Theologie und das Neue Testament spiel¬
ten die Rolle von Maria herunter. Ihre Geburt und ihr Tod werden
nicht einmal in der Bibel erwähnt. Den Schriften zufolge ist sie
eindeutig von sekundärer Bedeutung: Sie gilt als das reine Gefäß
74
Die mythopoetische Umdeutung
der Schlange als Sinnbild der sexuell
aktiven Großen Mutter wurde durch
das Symbol der Jungfrau Maria ver¬
vollständigt, die eine Schlange mit
den Füßen zertritt - oder manchmal
auch den Mond, ein anderes Sym¬
bol für die urzeitliche Große Mutter.
Gemälde »Die Unbefleckte Emp¬
fängnis« von G. B. Tiepolo (1696-
1 770). Madrid, Museo del Prado.
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für Gottes heiliges »Wort«. Sie gebiert Christus, ist aber mit Si¬
cherheit keine Göttin, sondern nur eine sterbliche Frau, die »Gna¬
de bei Gott fand« (Lukas 1,30). Dennoch sehen wir sie, 2000 Jah¬re nachdem die Evangelien verfaßt wurden, im katholischen Dog¬
ma als »Mutter Gottes, ewige Jungfrau, unbefleckt empfangen,
aufgefahren in den Himmel mit Leib und Seele, wo sie regiert als
Königin in Ewigkeit«. Was ist passiert?
Ein ganzer populärer Literaturzweig, die Apokryphen, ent¬
wickelte sich ab dem 1. bzw. 5.Jahrhundert n.Chr. und gestaltete
viele Episoden aus Marias Leben detailreich und weit über das hin¬
aus aus, was in der Bibel steht. Der Marienkult erreichte seinen
Höhepunkt im Mittelalter, und Maria zog weiterhin fast alle Attri¬
bute der urzeitlichen Großen Mutter auf sich (s. Kasten). Allein in
Frankreich erbaute man ihr zu Ehren in nur einem Jahrhundert(von 1170 bis 1270) Hunderte Kirchen und 80 Kathedralen! Im Ge¬
gensatz dazu wurde Christus keine einzige geweiht, was erstaun¬
lich ist für eine Religion, in der es eigentlich nur um ihn gehen
soll.
75
Die mittelalterliche Maria als die Große Mutter
Der Name »Maria« (er läßt an das lat. mare = »Meer« denken) bezieht
sich auf das Urmeer, aus dem alle »Großen Mütter« stammen: Die su¬
merische Göttin Nammu wurde mit dem Ideogramm des Meeres dar¬
gestellt, die ägyptische Isis war »geboren aus der völligen Nässe«,
Aphrodite war »geboren aus dem Schaum des Meeres«. Die Muschel,
an der sich die Eingeweihten der Eleusis (Demeter-Kult) erkannten,
wurde zum Wahrzeichen der Pilger, die unterwegs nach dem berühm¬
ten Santiago de Compostela viele heilige Stätten der Madonna pas¬
sierten. Von Isis erbte Maria ihren Titel »Stella Maris« (= »Stern des
Meeres«) sowie die Rolle als Schutzheilige der Schiffe, Seefahrer und
Seerettung in einer Zeit, in der sich die Navigation bei Nacht an den
Sternen orientierte. »Das Steinboot der Isis, welches an das rituelle
Boot erinnert, das bei einer Prozession in Rom getragen wurde, als die
Mysterienkulte florierten, wird heute noch bei der Kirche Santa Maria
della Navicella (>Unsere liebe Frau des Bootes<) aufbewahrt.«9S
In katholischen Klöstern wird Maria beim Abendgebet zum Sonnen¬
untergang als Himmelskönigin gegrüßt, eine rituelle Anrede, die früher
für Inanna, Ischtar und Isis verwendet wurde.
Auf vielen Gemälden ist das »Kornwunder« dargestellt, das die Le¬
gende illustriert, wie durch die Gegenwart der Jungfrau auf einem Feld
beim Säen die neue Saat sofort keimte und zu ihrer vollen Größe ern¬
tereif heranwuchs. Wie ihre Vorgängerinnen, die alten Fruchtbarkeits¬
göttinnen von Inanna bis zu Demeter, sorgt Maria für eine reiche Ern¬
te, die die Menschheit ernährt. In Italien und Deutschland war Maria
als »Kornmädchen« bekannt, ein Titel, der früher Demeter zugespro¬
chen worden war.
Das populäre Bild von Maria am Spinnrad, das gelegentlich in Fres¬
ken oder auf Gemälden zu sehen ist, geht auf eine der Apokryphen
zurück, nach der Maria den Vorhang im Tempel spann und webte.96
Damit bewahrt sie das griechisch«;, germanische und mayanische ar¬chetypische Bild der Großen Mutter, die die Schicksalsfäden spinnt,
oder das der alten griechischen Göttin der Geburt, Eileithyia.
Die einzige Eigenschaft der urzeitlichen Großen Mütter, die Maria nie
übernahm, ist deren Sexualität. Dieser Aspekt wurde auf Maria Mag¬
dalena übertragen, die »Sünderin«, die nicht die Füße Jesu salbte, son¬
dern seinen Kopf, genau wie in den sumerischen Zeremonien, bei
denen die oberste Priesterin den Kopf des Königs vor seinem rituellen
76
Opfer salbte. Jesus bemerkte zu dieser Geste, die seine jünger
schockierte: »... hat sie getan, daß sie mich fürs Grab bereite« (Matt.
26,11-12; Markus 14,3-8). Für den mittelalterlichen Menschen gab eskeinen Zweifel, was Maria Magdalena symbolisierte; ein Haus, in dem
ehemalige Prostituierte lebten, bezeichnete man als eine »Magda¬
lene«.97
Gleichzeitig wurden jedoch erhebliche Vorsichtsmaßnahmen ge¬
troffen, um die weibliche Versuchung für Mönche im wahren Le¬
ben zu vermeiden. So verboten beispielsweise »die Regeln des Klo¬
sters Cluny jeder Frau, den Klosterbezirk - egal, aus welchem
Grund - zu betreten. Die Regeln der Zisterzienser waren noch
strenger, dort durften Frauen nicht einmal an der Klosterpforte er¬
scheinen. Wenn eine Frau die Kirche betritt, wird der Gottesdienst
eingestellt, der Abt abgesetzt, und die Mönche werden zu Fasten
bei Wasser und Brot verurteilt.«98 Heute würde man diese Reaktio¬
nen als paranoid bezeichnen.
Eine derartige Paranoia kam einigeJahrhunderte später während
der Inquisition zum Ausdruck. Der Wahn währte mehrere Jahr¬hunderte, während deren Millionen von Frauen verdächtigt, ver¬
folgt, gefoltert und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden oder
auf andere Weise als Hexen den Tod fanden (s. Kasten »Hexenver¬
brennungen«).
Auch der Protestantismus trug keineswegs dazu bei, dem Urbild
der Großen Mutter einen angemessenen Platz einzuräumen, hatte
er doch selbst die letzten Reste eines Einflusses des weiblichen Ar¬
chetyps eliminiert, die sich wieder in den Katholizismus einzu¬
schleichen begannen. »Die Reformation war mit ihrer eindeutigen
Ablehnung der Marienverehrung und Heiligenbilder durch den ra¬
dikalen Bruch mit dem Althergebrachten so erfolgreich, weil die
psychologische und emotionale Verbindung zum Bild von weibli¬
cher Heiligkeit völlig durchtrennt wurde ... Das Aufkommen des
protestantischen Glaubens im 15.Jahrhundert war zwar nicht die
77
Hexenverbrennungen
Die Zahl der Opfer bei der Hexenverfolgung variiert zwischen 40000
(wobei nur die gezählt werden, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt
wurden und deren Gerichtsakten heute noch vorhanden sind) und
neun Millionen (darunter auch diejenigen, die unter der Folter und im
Gefängnis umkamen oder nach der Anklage Selbstmord begingen).
Die wenigen noch vorhandenen Dokumente geben einen Einblick da¬
von." Im Jahr 1468 erklärte der Papst die Hexerei zum crimen excep-tum und hob damit alle gesetzlichen Beschränkungen für die Folter auf.
Papst Innozenz VIII. rief im Jahr 1488 offiziell einen »heiligen Krieg« ge¬
gen die Hexen aus. Die Dominikaner, deren Orden ursprünglich zur
Bekämpfung der »Ketzerbewegung« der Katharer gegründet worden
war, wurden angewiesen, gegen die Hexen zu predigen. 1523 wurden
in der Diözese Como in Norditalien in einem einzigen Jahr 1000 He¬xen verbrannt. 1585 blieb nach Hexenverbrennungen in zwei Dörfern
in jedem der Orte nur eine einzige Frau am Leben. 1609 wurde die
ganze Bevölkerung von Navarra in Spanien zu Hexen erklärt. Der Fürst¬
bischof Johann Georg II. von Bamberg ließ von 1622 bis 1623 ein ei¬
genes Gerichtshaus für die Hexenprozesse errichten und 600 Frauen
verbrennen. 1628 standen in Würzburg 158 »Hexen« in Flammen,
darunter auch Kinder unter zehn Jahren.Die Jagd auf Hexen war darüber hinaus ein lukratives Geschäft. Es gab
Prämien, wenn man sie fing, vor Gericht brachte, sie im Gefängnis be¬
wachte, gegen sie aussagte oder sie folterte. Das Geld dafür stammteaus dem Vermögen des jeweiligen Opfers.
Wir sollten hier nicht außer acht lassen, daß auch Männer als »Hexer«
verurteilt wurden, beim Großteil der Opfer handelte es sich jedoch umgewöhnliche Frauen, die allein in bescheidenen Verhältnissen lebten
und von keinem Mann, vor allem keinem einflußreichen, geschützt
wurden.
Zur »Ehrenrettung« der katholischen Kirche muß man sagen, daß sie
kürzlich ihre Rolle in den Jahrhunderten der Hexenverfolgung anlä߬lich des »heiligen Jahres« 2000 einräumte ...
Ursache für die HexenVerfolgungen, doch das zeitgleiche Auftre¬
ten versetzte den Werten der Göttinnen, der Freiheit, einen Glau¬
ben zu praktizieren, der die Spiritualität in der Natur und den ei¬
genen Körper ehrte, den Todesstoß.«100
78
Der Druck zeigt »drei berüchtig¬
te Hexen« verschiedenen Alters,
die 1589 in Chelmsford, Essex,
ihr Ende am Galgen fanden. Die
monsterartigen Tiere, darunter
ein kopulierendes Paar im Vor¬
dergrund, sind ein Hinweis auf
die »Teufelspraktiken«, derent¬
wegen die Frauen verurteilt wor¬
den waren.
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Männliche Helden und die Unterdrückung des Weiblichen
Joseph Campbell erklärte, daß es einen dominanten Mythos gibt,
der die Entwicklung der männlichen Identität in allen Kulturen
formte: den Heros in tausend Gestalten. Jede Kultur betont be¬
stimmte archetypische Kräfte, doch allen ist gemeinsam, daß der
Held ein Gott oder ein Sterblicher ist, jung oder alt, arm oder reich,
König oder Bürgerlicher, doch stets männlich (s. Kasten). Bei die¬
sen Helden der Mythen handelt es sich oft um Krieger: den Samu¬
rai in Japan, den Kreuzritter, Don Quixote, den unabhängigen
Siedler im Wilden Westen oder Superman. In anderen Kulturen
steht der Magier als Held im Vordergrund, vom hebräischen Pro¬
pheten bis zu Dante, vom Missionar bis zum Wissenschaftler. Die
Artussage oder die göttliche Abstammung aller frühen Könige ak¬
tivieren dagegen den Archetyp des Königs.
Diese Vorliebe für eine heroische, maskuline archetypische Ener¬
gie ist gleichzeitig Ursache und Folge der Unterdrückung des Weib¬
lichen im allgemeinen und der Großen Mutter im besonderen.
Daraus resultiert, daß es in unseren westlichen Kulturen heute of¬
fiziell keinen Göttinnenmythos und keine weibliche Dimension
im Kollektivbild des Göttlichen mehr gibt, was etwa auch die fol¬
gende Bemerkung von Adrienne Rich bestätigt: »Ich kenne keine
79
Frau -Jungfrau, Mutter, Lesbierin, Verheiratete, im Zölibat Leben¬
de, ob sie nun ihren Lebensunterhalt als Hausfrau verdient, als Bar¬
frau oder als Enzephalogramm-Leserin -, für die ihr Körper nicht
ein fundamentales Problem ist.«101
Dabei handelt es sich um einen wichtigen Aspekt, denn wenn
man bei einer Gesellschaft die Vorstellung vom Göttlichen kennt,
findet man auch heraus, welche Probleme sie hier auf Erden hat.
In den alt- und jungsteinzeitlichen sowie den kretischen Mythen
galt alles als lebendig, als belebt, heilig, mit einer Seele und einem
Sinn versehen. Diese Vorstellung können wir in den von uns als
»primitiv« bezeichneten Gesellschaften noch heute beobachten,
sie ist sogar der Grund dafür, daß wir solche Völker »primitiv« nen¬
nen. Fünftausend Jahre patriarchalischer Herrschaft formten das
moderne Denken, das die Trennung zwischen Verstand und Natur,
Geist und Materie oder Körper und Seele bis zum äußersten ver¬
folgt (s. Kasten).
Das Problem Nr. 1 mit Helden:
Das Problem für die anderen
Helden jeglicher Art brauchen ein Opfer, das sie retten können, und da¬
mit auch einen Unterdrücker, vor dem man das Opfer retten muß. Die¬
se Dreiecksbeziehung liegt im Zentrum der Menschheitsgeschichte
und besonders des prometheischen westlichen Denkens. Heroische
Ritter brauchen schutzlose jungfrauen, die vor Drachen gerettet wer¬den müssen. Heldenhafte hebräische Propheten schützten Israel vor
dem Zorn Jahwes, und christliche Missionare entrissen heidnische See¬
len den Klauen des Teufels. Wissenschaftler kämpfen gegen die Auf¬
klärungsfeindlichkeit, und Bergsteiger bezwingen Berge, eben »weil essie gibt«.
Das hat zu den besten Leistungen des Menschen geführt. Allerdings
besteht ein Problem für die anderen, denn wenn sich der Held mani¬
festiert, sind die verbleibenden Rollen nicht besonders attraktiv ...Könnte das Bedürfnis nach einem heroischen Ernährer in jeder Fami¬
lie seinen Ursprung in einem auf Knappheit basierenden, wettbe¬
werbsfördernden Währungssystem haben?
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Der Held im Kampf gegen einen wilden Drachen, aus der Deckung beobach¬tet eine Jungfrau rechts im Hintergrund die Szene (Holzschnitt »Der HeiligeGeorg tötet den Drachen« von Albrecht Altdorfer, 1511).
Bei den Meilensteinen dieses Weges denken wir vermutlich auto¬
matisch an Aristoteles oder Descartes, doch der Prozeß setzte we¬sentlich früher ein. Bereits in der Bronzezeit wurde in Mesopota¬mien die Muttergöttin Tiamat durch den überlegenen Marduk aus¬gelöscht, den unsichtbaren Himmelsgott über Wind, Donner und
81
Das Problem Nr. 2 mit Helden:
Das Problem für sie selbst
Die männliche Identität des Helden verlangt, daß Schmerzen schwei¬
gend ertragen oder sogar gänzlich geleugnet werden. »Die gefürchte¬
te Wahrheit für den Mann liegt darin, daß er in seinem Versuch, über
den Schmerzen des Lebens zu stehen, gar nichts mehr empfindet -we¬
der die schmerzlichen Seiten des Lebens noch die wahren Freuden.
Das Schreckliche an diesem Zustand wird jedoch nicht einmal richtig
erfaßt, denn er hat sogar den Schmerz verdrängt, völlig abgeschnitten
zu sein. Dadurch befindet er sich in einem Teufelskreis, in einer emo¬
tionalen Sackgasse, der er nicht entkommen kann.«102
Auf diese Weise bleibt der Körper, nachdem er einmal abgetrennt
wurde, von der Seele getrennt, das Kosmische vom Individuellen, der
Geist von der Materie. Der erste, der dabei etwas Wichtiges verliert, ist
der Held selbst. Er hat das Gespür für das Leben verloren.
Feuer. Aus ihrem toten Körper schuf Marduk Himmel und Erde. Die
sichtbare Welt besteht von da an aus inaktiver »Materie«, die nur
durch einen überlegenen »Geist« gestaltet werden kann. Diese
Sichtweise führte zu der Zivilisationskrankheit des Materialismus,
der möglicherweise einmal uns und unseren Planeten zerstören
wird. Paradox ist in diesem Fall wieder, daß das Wort selbst auf die
tief verborgene Wunde hindeutet: Die Begriffe »Materie« und »Ma¬
terialismus« gehen wie gesagt direkt auf das lateinische Wort ma¬
ter zurück, was »Mutter« bedeutet.
Mittlerweile sollte deutlich geworden sein, daß sich durch eine
derart lange und systematische Unterdrückung des Archetyps der
Großen Mutter ihre Schatten tief in das kollektive Unbewußte un¬
serer Gesellschaft eingegraben haben. Doch trotz der programma¬
tischen und immer stärker gewordenen Repression gibt es Aus¬
nahmen: Ciebiete, in denen Fragmente des Kultes um die Große
Mutter länger erhalten blieben als im übrigen Europa. Diese Aus¬
nahmen sind besonders interessant, weil sie uns zumindest einen
eingeschränkten Zugang zu den Kennzeichen des Kultes bieten,
bevor er völlig ausgelöscht wurde.
82
Ausnahmen: Historische Nischen des Kultes
um die Große Mutter
Die indogermanischen Invasoren kamen über den Landweg, daher
blieben auf den Inseln einige Nischen erhalten, in denen sich die
alte Verehrung der Großen Göttin einige tausend Jahre länger
hielt. Auf Malta, Kreta und den Britischen Inseln trafen die Inva¬
soren in großer Zahl erst sehr viel später ein. Das riesige prähisto¬
rische Monument Silbury Hill, ein gigantischer Erdhügel in Wilt¬
shire in England, hat ein Volumen, das viermal so groß ist wie das
der Cheopspyramide in Giseh. Der Hügel konnte mittlerweile ein¬
deutig dem Kult der Großen Mutter zugeordnet werden, was die
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Marduk wird hier als gutaussehender Himmelsgott in königlicher Aufmachung
dargestellt. Mit Blitz und Donner in der Hand vernichtet er die sumerische
Große Mutter Tiamat. Sie trägt immer noch Kuhhörner, ist aber ansonsten in
ein monströses Untier verwandelt. Nachdem Marduk sie getötet hat, formt er
aus ihrem toten Körper, ihrer »Leiche«, Himmel und Erde. Damit ist der Grund¬
stein für eine wichtige Metapher der westlichen Weltanschauung gelegt: die
notwendige Trennung von Geist und Materie und die Dominanz des Geistes
über die Materie. (Assyrisches Relief aus dem 9. jahrhundert v.Chr., British Mu¬
seum in London. Zeichnung von Moreno Tomasetig.)
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7Die Göttin mit der Doppelaxt wird von einer Gruppe junger Männer verehrt.
Die Doppelaxt ist ein sehr altes Symbol und geht bis in die Steinzeit zurück
(z. B. steinzeitliche Kunst in Niaux in Südwestfrankreich). Sie bezieht sich auf
den Kreislauf des Todes und der Wiedergeburt. Auf Kreta wird sie stets von ei¬
ner weiblichen Göttin oder Priesterin gehalten. (Göttin der Doppelaxt, Palast
des Minos, Knossos, Kreta, 2. Jahrtausend v. Chr.; Zeichnung von Moreno To-
masetig.)
Macht dieser Religion zur Bauzeit (ca. 2240-2050 v. Chr.) deutlich
macht.103
Auf Kreta blühte der Göttinnenkult in den mykenischen und mi-
noischen Kulturen noch in der Zeit von 1500 bis 1200 v. Chr. »In
der kretischen Kunst wurde die erschreckende Distanz zwischen
dem Menschen und dem Transzendenten ignoriert ... Hier und nur
hier (im Gegensatz zu Ägypten und dem Nahen Osten) wurde das
menschliche Gebot nach Zeitlosigkeit mißachtet und statt dessen
die Gnade des Lebens in einer noch nie dagewesenen Vollendung
anerkannt.«104 Die meisten Gelehrten sind sich darüber einig: »An¬
hand der überwiegend weiblichen Figuren mit ihren nackten Brü¬
sten, ausdrucksstarken Gesichtern und exquisiter Kleidung kön¬
nen wir mit Sicherheit sagen, daß Frauen in der kretischen Kultur
84
Macht und Prestige besaßen.«105 Selbst auf dem griechischen Fest¬
land drehte sich bei dem wichtigsten Tnitiationsritus, den Eleusi-
nischen Mysterien, alles um die weibliche Fruchtbarkeit (d.h. die
Sage von Demeter und Persephone) und blieb bis ins 4.Jahrhun¬dert n.Chr. lebendig.106 Auch in Ägypten hielt sich der Isiskult -bei
dem die Erlöserin weiblich ist - bis ins 2Jahrhundert n.Chr.
Schließlich kam auch noch der Kult um die Schwarze Madonna
auf, der sich zwischen dem 10. und 13.Jahrhundert im ganzen
christlichen Europa zur großen Verlegenheit Roms mit enormer
Geschwindigkeit verbreitete. Erst seit kurzem werden Ausmaß und
Bedeutung dieses Phänomens untersucht und verstanden. Eine Be¬
standsaufnahme des Jungianers Ean Begg107 erfaßte über 500 Bil¬
der, auf denen die rätselhafte Madonna mit pechschwarzem Ge¬
sicht und Händen dargestellt ist. Viele Kathedralen, die in ganz
Frankreich erbaut wurden, waren der Schwarzen Madonna geweiht,
darunter Chartres, Reims, Rocamadour, MontSt-Michel, Dijon, Or-
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f
i;ffDie Schlangengöttin zeigt die direk¬
te Verbindung zwischen dem ural¬
ten Symbol der Großen Mutter und
der Macht des Weiblichen in Knos-
sos (aus dem Tempel der Hüterin¬
nen, Palast in Knossos, mittelmi-
noisch, ca. 1600 v. Chr., Herakleion,
Archäologisches Museum).
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85
aval, Vichy, Poitiers, Le Puy und Beaune, insgesamt allein in Frank¬
reich 302 Heiligtümer! Sie waren zweifellos die am meisten ver¬
ehrten Bildnisse des Mittelalters. Die wichtigsten Pilgerfahrten pas¬
sierten Heiligtümer, die der Schwarzen Madonna geweiht waren.
Am auffälligsten daran ist jedoch, daß sich ihre Verehrung gegen
den manchmal sogar militanten Widerstand Roms durchsetzte!
Der Kult um diese unorthodoxe Jungfrau breitete sich später
noch weiter aus und wurde in ganz unterschiedlichen Ländern
zum wichtigsten nationalen Kult. Dazu gehören:
•Polen (die Madonna von Tschenstochau),
•Katalonien in Spanien (Madonna von Montserrat),
•Mexiko (national die »Nuestra Senora de Guadelupe«, regional
die »Virgen Negra de Zapopan« in Guadalajara),
•Bolivien (»Virgen de Copacabana«, im Jahr 1576 von Francisco
Yupanqui geschnitzt, nachdem ein Inka-Fischer von der Ma¬
donna auf dem Titicacasee gerettet wurde),
•Ecuador (»Nuestra Senora del Quinche«),
•Kuba (»Nuestra Senora de Regia de Cuba«, immer noch das am
meisten verehrte Bildnis Kubas) und
•Brasilien (»Nossa Senhora de Aparecida«, früher »de Concei-
£äo«).
Ich werde später auch untersuchen, wie sich die Marienverehrung
während der sogenannten »ersten Renaissance Europas« (ca. 10. bis
13.Jahrhundert) auf das kollektive Unbewußte auswirkte.
Die unterdrückte Große Mutter
und das Währungssystem
Wir wissen es nur zu gut: Wenn ein Archetyp unterdrückt wird, löst
er sich keineswegs in nichts auf. Der abgelchnte Inhalt manifestiert
sich in einem zerstörerischen Schatten und verfolgt uns um so
heftiger. C.G. Jung wies darauf hin, daß wir keine heiligen Bezirke
der Götter und Göttinnen mehr besitzen, die diese archetypische
86
Energie bannen. Unser kollektives Unbewußtes projiziert sie auf
die Außenwelt und formt diese so, daß sie zur inneren paßt.
Die systematische Unterdrückung des Archetyps der Großen
Mutter während der letzten fünf Jahrtausende hatte vor allem in
westlichen Gesellschaften Auswirkungen auf die Natur des Geldes.
Der Höhepunkt der Repression war vermutlich gegen Ende der
Jahrhunderte währenden Hexenverfolgungen und mit dem An¬
bruch des Viktorianischen Zeitalters erreicht. Damals hatten sich
die Schatten der Großen Mutter (Gier und die Angst vor Knapp¬
heit) so tief eingegraben, daß sie zur Norm wurden. Das geschah
etwa zu der Zeit, als Adam Smith seine Werke Theory of Moral Sen¬
timents (Theorie der ethischen Gefiihle, 1759) und Wealth of Nations
(Der Wohlstand der Nationen, 1776) verfaßte. Er stellte fest, daß der
systematische Wunsch des einzelnen nach Reichtum in allen »mo¬
dernen« Gesellschaften fast universal war. Daher kam er zu dem
Schluß, daß Gier und Knappheit in einer »zivilisierten« Gesell¬
schaft »normal« waren. Moralisch konnte er die Gier nicht gut¬
heißen, doch er dachte, daß man ein »normales« Verhalten nicht
ablehnen könne. »Normal« unterscheidet sich von »natürlich«,
Adam Smith (1723-1790) gilt allge¬
mein als Begründer der modernen
Volkswirtschaftslehre. Sein Haupt¬
werk erschien etwa zu der Zeit, als
Jahrhunderte der Hexenverfolgung
ein Ende fanden, vermutlich auch zueinem Zeitpunkt, als die Unter¬
drückung des Weiblichen in den
westlichen Gesellschaften ihren
Höhepunkt erreichte. Die unbewu߬
ten Schatten dieser Unterdrückung -Knappheit und das Bedürfnis nach
Reichtum - sind als grundlegende
Annahmen fester Bestandteil seiner
Theorie (Radierung von James Kay,
veröffentlicht in Smith' Todesjahr).
1:
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87
doch Adam Smith machte einen solchen Unterschied nicht.108 Auf
der Grundlage dieser Überlegungen entwickelte er eine Theorie,
aus der später die Volkswirtschaftslehre hervorging. Sie hatte zum
Ziel, knappe Ressourcen durch individuelle private Ansammlung von
Reichtum zu verteilen. Smith räumte ein, daß beim Währungssy¬
stem über nichts häufiger geklagt werde »als über den Mangel an
Geld. Geld fehlt einem, ähnlich wie Wein, immer dann, wenn
man nicht die nötigen Mittel hat, um es zu kaufen, oder keinen
Kredit, um es zu borgen«.109 Er stellte damit zwar nur eine aner¬
kannte Tatsache fest. Aber schließlich wurde das Unbewußte erst
über ein Jahrhundert später »offiziell« entdeckt.
Mit unseren heutigen Kenntnissen der Archetypen-Psychologie
läßt sich Vorhersagen, daß ein Währungssystem, das aus einem
kollektiven Unbewußten heraus entsteht, in dem der Archetyp der
Großen Mutter unterdrückt wird, von den Schatten dieses Arche¬
typs geprägt ist. Das »moderne« Währungssystem bietet denen,
die bereit sind, Geld anzusammeln, eine spezielle Belohnung (Ver¬
dienste durch Zinsen), und bestraft rücksichtslos diejenigen
(durch Bankrott, Armut), die das Spiel nicht mitmachen. Wir spie¬
len dieses Spiel heute noch.
88
Kapitel 3
Der archetypische Mensch
»Die Fünf ist das Symbol des Menschen.«
Hildegard von Bingen
110
»Mit Zirkeln und Fünfwinkelzeichen
Wollt er Unendliches erreichen.«111
Johann Wolfgang von Goethe
Wir können nun die Erkenntnisse aus den beiden vorherigen Ka¬
piteln in einer Karte zusammenfassen. Vor allem werde ich den
fehlenden Archetyp der Großen Mutter (des Ernährers) in Jungs
Quaternio in der Auslegung von Moore und Gillette einfügen
(Abb. 4). Das Ergebnis sehen Sie in Abb. 7. (Wie gesagt ist bei jedem
Archetyp trotz des männlichen grammatischen Geschlechts im¬
mer auch der weibliche Pol gemeint.)
Herrscher(König/Königin)
Krieger Liebhaber
Magier(Priester, Wissenschaftler)
Große Mutter(Ernährerin)
Abb. 7: Der (erweiterte) komplette archetypische Mensch
89
Um die archetypische Karte so »geschlechtsneutral« wie möglich
zu gestalten, wird der Archetyp des Ernährers als Synonym für die
Große Mutter verwendet. Dadurch sollen sich Männer und Frau¬
en leichter mit den männlichen und weiblichen Aspekten ihres
Selbst identifizieren können. Das ist auch ein weiterer Grund für
die Verwendung des Yin-Yang-Konzepts.
Geschlechts- und Yin-Yang-Energien
»Wenn sich Männlich und Weiblich
verbinden, ist alles in Harmonie.«113
Laotse
Asiatische Philosophen entwickelten unendlich viele Methoden
zur Beschreibung des Verhältnisses von Yin-Yang sowie ihrer Po¬
larität. Abb.8 zeigt diejenigen, die sich am besten für unsere
Zwecke eignen.
/ WettbewerbKonzentration auf die Zukunftzielstrebig, leistungsorientiert
Jr Zusammenarbeit/ Konzentration auf heute
/ sorgend, Lebensqualität. (nicht -quantjtät)Y sein
\ Ausdauer, Nachhaltigkeit\ intuitiv, Empathie\ paradox, emotional, nicht linear
Fähigkeit zur AmbivalenzDominanz der zwischenmenschlichen
FähigkeitenI klein aber fein, Erhaltung
/ Interdependenz/ Gleichberechtigung
f gegenseitiges Vertrauen
/ selbst organisierende »Chaos«,Glaube an Zukunft
\ Synchronizität /N. Ganzes erklärt Teile(Holimus)
haben, tunHöhepunkt
rational, analytischlogisch, mental, linear
Streben nach GewißheitDominanz der Technik
je größer, desto besser, ExpansionUnabhängigkeit
Hierarchiezentrale Autorität
Planung, Kontrolle über Zukunft
Ursache und Wirkungv Teile erklären Ganzes
(Reduktionismus)
Abb. 8: Yin-Yang-Zusammenhänge
Ein Vorteil der Verwendung der Yin-Yang-Terminologie liegt dar¬
in, daß Taoisten Polaritäten nie trennen. Sie betonen die Verbin¬
dung dazwischen-ihre Komplementarität. Im Gegensatz dazu set-
90
zen westliche Sprachen und Denkprozesse Polaritäten einander
entgegen und trennen sie. Der integrierende Yin-Yang-Ansatz wird
in Abb.9 deutlicher.
/ integrations.
Herrscher(König/Königin)
/
LiebhaberKrieger
Magier(Priester, Wissenschaftler)
Große Mutter(Ernährerin)
Abb. 9: Yin-, Yang- und Integrationsfunktionen
im archetypischen Menschen
Die mittlerweile bekannten Archetypen des Kriegers und des Ma¬
giers repräsentieren die beiden Yang-Energien. Die Archetypen des
Liebhabers und Ernährers bzw. der Großen Mutter verkörpern die
Yin-F.nergien auf der anderen Seite. Der Herrscher (König/Königin)
ist in seiner Natur androgyn und integriert beide Yin-Yang-Energi-
en, also die Energie aller anderen vier Archetypen. In seiner Rolle
als Höheres Selbst ist er für die Entwicklung des Ganzen zurnächsthöheren Evolutionsstufe zuständig.
Beachten Sie bitte, daß in meiner Terminologie Yang zwar
»männlich« ist, was aber nicht synonym mit »dem Mann« ver¬wendet werden kann, ebenso bezieht sich Yin auf »das Weibliche«,
ist aber nicht mit »der Frau« gleichzusetzen. Natürlich überwiegt
beim Mann typischerweise die männliche Energie und bei der Frau
die weibliche, doch wenn diese Vorherrschaft zu stark wird, kann
91
es zu Problemen kommen. Die Archetypen-Psychologie zeigt, daß
sich ein Mann ohne Zugang zu seiner weiblichen Dimension nicht
zu einem ausgereiften Mann entwickeln kann, ebensowenig kann
sich eine Frau zur vollen Frau entwickeln, wenn sie nicht auf das
Männliche in sich selbst zurückgreift.114 So wird beispielsweise ein
Krieger ohne die Ergebenheit und Liebe zu einem höheren Ideal zueinem gefährlichen Element in der Gesellschaft, eine »tickende
Zeitbombe«. Er ist kein »wahrer« Krieger. Moore und Gillette be¬
zeichnen ihn als »einen nichtinitiierten oder unreifen Krieger«.
Aus diesem Grund ergänzen die Energien des Kriegers und des
Liebhabers einander zwangsläufig wie alle Yin-Yang-Phänomene.
Der Krieger schafft Grenzen und verteidigt sie, der Liebhaber da¬
gegen hebt Grenzen auf. Beide brauchen den Ausgleich durch den
anderen. Selbst in der klassischen Mythologie wird diese Polarität/Komplementarität betont, etwa im Falle von Aphrodite, der Göt¬
tin der Liebe (Venus bei den Römern), und ihrem Langzeitpartner,
dem Kriegsgott Ares (Mars). Die Stärke ihrer Verbindung und die
Risiken bei dieser Polarität drücken sich schon in den Namen ihrer
drei Kinder aus: einer Tochter Harmonia (= »Harmonie«) und den
beiden Söhnen Deimos (= »Gewalt«) und Phobos (= »Angst«).115
Der archetypische Mensch
und die materielle Welt
Die Karte des archetypischen Menschen läßt sich noch auf eine an¬
dere Art lesen: Die beiden »Arme« des »fünfzackigen Sterns« zei¬
gen, welches Verhältnis wir zu anderen Menschen haben; darüber
sprachen wir gerade. Die beiden »Beine« dagegen beschreiben, wie
wir im Universum »stehen«; d. h. wie wir es interpretieren und wie
unsere Beziehung zur materiellen Welt aussieht. Das ist in Abb.10
dargestellt.
Auf der archetypischen Karte sind für das Thema Geld vor allem
die »Beine« der Figur interessant, d. h. unsere Beziehung zur mate¬
riellen Welt. Aus diesem Grund sind auch mehrere Kapitel (4 bis 7)
92
>n
Herrscher(König/Königin)
Liebhaber' ** Bei 3h? iq an er
-Krieger-*
:n/
1/
\/YMagier
(Priester, Wissenschaftler)
Pezle ilifK
Große Mutter(Ernährerin)
Ur ive:sura/de m e e len Ve
'-V
Abb. 10: Der archetypische Mensch und seine Beziehung
zu anderen und zum Universum
der Wirkung gewidmet, welche die Energien der Großen Mutter
und des Magiers auf das Geld haben. Die gesamte Karte ist jedoch
auch von Bedeutung, weil sie den Zusammenhang der archetypi¬
schen Systeme verdeutlicht und einen Einblick in deren Dynamik
gewährt. Was wir von der Dynamik lernen, ist all diesen Urbildern
gemein. Unser Wissen läßt sich daher direkt auf deren Beziehun¬
gen übertragen.
Das Modell des archetypischen Menschen zielt darauf, drei
Schlüsselthemen unserer Zeit zu beleuchten:
1. Es wendet sich formal an die Frage der psychischen Ganzheit.
2. Es verdeutlicht den Wert eines Gleichgewichts zwischen Yin-Yang,
männlichen und weiblichen Energien.
3. Und es identifiziert ßnfsoziokultiirelleSchlüsselrollen, die sich in
der Vergangenheit als notwendig für eine gesunde und nach¬
haltig wirtschaftende Gesellschaft erwiesen.
93
Die archetypische Fünf
»Denn Gawain ist tugendsam ganz
Und in der fünffachen Tugenden Kranz
1st in jeder er fünffach besonders berühmt:
Er ist gut und rein, wie geläutertes Gold,
an Tugenden reich, jeder Bosheit abhold
In seinem kristallnen Gemüte.
Deshalb auch trägt er das Pentagramm
Auf seinem Waffenrock und Schilde.
Das ist das reine Pentagramm ...So nennen es stets die Gelehrten!«112
Anonymus, 14.Jahrhundert
Man könnte leicht komplexere Karten der menschlichen Psyche
erstellen, doch ich wollte sie so einfach wie möglich halten. Geht
man davon aus, daß das Quaternio mindestens einen wichtigen
Archetyp ausließ, beträgt die Mindestzahl der Archetypen auf un¬
serer Karte fünf. Darüber hinaus zeigt sich, daß die Zahl Fünf an
sich bereits ein Archetyp ist, der zu unserer These paßt.
Wir haben fünf Sinne, mit denen wir die Welt wahrnehmen, und
fünf Finger an jeder Hand, über die wir mit der Umgebung inter¬
agieren können. Im Altertum wurde der Mensch als Mikrokosmos
bezeichnet, denn er paßt perfekt in das symbolische Stern-Penta¬
gramm mit dem Geschlechtsorgan in der Mitte (s.die Abb. unten).
Zahlreiche verschiedene Traditionen aus der ganzen Welt belegen
Cr>
% Der Mensch, eingepaßt in das Pen¬
tagramm, nach Agrippa von Nettes¬
heim. Für Agrippa ging daraus her¬
vor, daß der Mensch als ein Mikro¬
kosmos des Universums geschaffen
war. Die astrologischen Symbole
beziehen sich auf den Makrokos¬
mos.
7«v
V :
94
Die Fünf als Archetyp in verschiedenen Kulturen
Sowohl Hesiod als auch den Azteken zufolge ist die derzeitige Mensch¬
heit die fünfte. Von den Mayas zu den Asiaten, von Plato, Plutarch und
Paracelsus bis hin zur mittelalterlichen Überlieferung steht die Zahl
Fünf für das Leben und besonders für den Mikrokosmos, den Men¬
schen.116
Im Islam gibt es fünf Gebete am Tag, fünf Gründe für die Bezahlung
des Zehnten, fünf Ursachen für das rituelle Waschen, fünf takbir(= »Ge¬
betsformeln«) und fünf Schlüssel für die Mysterien des Koran.
Die Fünf ist auch in der chinesischen Tradition eine der wichtigsten
Zahlen.117 Sie wird mit den fünf Richtungen in Verbindung gebracht
(den vier Himmelsrichtungen sowie der Mitte). Die »Fünf Klassiker«
sind die wichtigsten Nachschlagewerke für die chinesische Tradition.
Eines von ihnen, das Buch der Riten, handelt von den fünf Beziehungen
zwischen den Menschen. Die chinesische Medizin ordnet alle mensch¬
lichen Energien in Fünfergruppen an, ebenso verfährt man in der chi¬
nesischen Astrologie und der Geomantik. Autoren aus alter Zeit er¬klären zudem: »Unter dem Himmel ist die Zahl der universellen Geset¬
ze fünf.« Sie sprechen außerdem von »fünf moralischen Qualitäten«,
»fünf Glücksgütern des Lebens«, »fünf Wandelzuständen des Seins«
usw.Die Begriffe »Star« und »Stern« beziehen sich
auf hervorragende Leistungen, z. B. bei »Film¬
star«, »Sportstar« oder »Fünf-Sterne-General«.
Zahlreiche Länder, von denen jedes vermut¬
lich versucht, ein eigenes Symbol auf der Flag¬
ge zu haben, verwenden dabei den gleichen
fünfzackigen Stern. Dazu gehören u. a. die US-
amerikanische, die europäische und die chine¬
sische Flagge.
Der fünfzackige Stern war ein magisches
Symbol, das in Babylon, Ägypten, Griechen¬
land, Indien, China, Afrika, Westeuropa und
dem präkolumbischen Amerika vor Unheil
schützte.
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\
1
mmmi—
mVier Flaggen von Ländern, zu deren nationalem Sym¬
bol ein fünfzackiger Stern gehört.
95
Das Pentagon ist oft in wichtigen
Kunstwerken verborgen. So wurde
beispielsweise die berühmte Gold¬
maske des Tutanchamun als Symbol
für die Erneuerung des Lebens nach
dem Tod auf dem Pentagon aufge¬
baut.
I
h S
die urbildliche Natur der Zahl Fünf als Verbindung zum archety¬
pischen Menschen (s. Kasten).
Iamblichos, die wohl informativste Quelle über das Leben des
Pythagoras, berichtet: »Die Zahl Fünf beschreibt umfassend die
natürlichen Phänomene des Universums.«,18 Eine Reihe von Ab¬
bildungen illustriert diese Aussage (s.die Abb. auf S. 98).
Zusammenfassend kann man also aus archetypischer Sicht sa¬
gen, daß es sinnvoll ist, unseren Menschen symbolisch im fünf¬
zackigen Stern anzulegen.
Die Schatten des archetypischen Menschen
Jeder Archetyp hat seine eigenen Schatten. Abb.11 zeigt das voll¬
ständige Schema des archetypischen Menschen. Alle Yin-Schatten
sind kursiv geschrieben und von einer Ellipse umgeben, die Yang-
Schatten dagegen weisen eine gerade Schrift auf und stehen in ei¬
nem Rechteck. Beachten Sie, wie jeder Yang-Schatten ein Übermaß
an Energie des Archtyps aufweist, jeder Yin-Schatten dagegen ist
ein Defizit dieser Energie.
Es ist wichtig, daß man diese Archtypen und Schatten als emo¬
tionale Bereiche und nicht nur als mentale Bilder erfährt. Eine
Möglichkeit, einmal kennenzulernen, wie sich die verschiedenen
Archetypen und Schatten »anfühlen«, bieten die archetypischen
Spiele (s. Kasten mit Beispielen).
96
Archetypische Spiele
Hier werden einige Spiele vorgestellt, die dazu beitragen, mit dem ar¬
chetypischen Menschen vertraut zu werden. Zögern Sie nicht, auf
Abb.10 zurückzugreifen. Wenn Sie wollen, können Sie sich auch eige¬ne Spiele ausdenken.
Warum reichte Eva Adam im Paradies einen Apfel vom »Baum der Er¬kenntnis«? Nehmen Sie einen Apfel, und schneiden Sie ihn nicht wie
üblich entlang des Stiels, sondern quer dazu durch. Guten Appetit!(Wenn Sie keinen Apfel haben, betrachten Sie das Bild auf S. 98.)
Das nächste Spiel können Sie allein oder zusammen mit anderen spie¬len. Es geht darum, für jeden dieser Archetypen und Schatten einen
Menschen als Beispiel zu finden, der sie verkörpert, den Menschen
beim Namen zu nennen und zu beschreiben. Es kann sich dabei umLeute handeln, die Sie persönlich kennen oder von denen Sie gehört
haben. Beschreiben Sie sie anschaulich. Bedenken Sie, Archetypen sind
in erster Linie Bilder, die Gefühls- und Verhaltensweisen aktivieren. -
Für den Fall, daß Sie bei diesem Spiel einen Gewinner küren wollen:
Gewonnen hat, wer die meisten bemerkenswerten Beispiele für allefünf Archetypen und/oder alle zehn Schatten nennen kann.
SchwächlingI Tyrann [
Herrscher(König/ Königin)
|Sadist | .[ abhängig
LiebhaberKrieger
(jmpotent)Masochist
Magier(Priester, Wissen-
y/jschaftler)
Ernährer(Große Mutter)
i\f hyper-rational I [cteT|
Knappheit ')willkürlich
Abb. 11: Der archetypische Mensch und seine zehn Schatten
97
Archetypische Spiele (Fortsetzung)
Falls Sie Kontakt zu einer Kindergruppe haben, lassen Sie sie mit Zeich¬
nungen, Collagen, Bewegungen, Mimik, Pantomime oder Musik einen
Archetypen oder Schatten nach ihrer Wahl darstellen. Die anderen
müssen raten, welcher Archetyp oder Schatten gemeint ist.
Als Variante könnte man sie den Archetypen porträtieren lassen, den
sie entweder am meisten oder am wenigsten mögen. Rechnen Sie
beim letztgenannten mit heftigen Emotionen: Die Mitspieler werden
Kontakt zu ihrem Schatten haben.
Ein anderes Spiel eignet sich für eine größere Gruppe (20 oder mehr
Personen). Stellen Sie fünf Schilder mit den Namen der fünf Archety¬
pen an verschiedenen Stellen auf. Fordern Sie die Mitspieler auf, sich
der Gruppe anzuschließen, mit der sie sich am stärksten identifizieren.
Lassen Sie sie anschließend die Gründe für ihre Wahl nennen. Wenn
(aber nur dann) genügend Vertrauen innerhalb der Gruppe besteht,
diskutieren Sie darüber, welche Erlebnisse sie mit den Schatten dieser
Archetypen gehabt haben.
Ein Apfel, der quer zum Stiel durchgeschnit¬
ten wurde, zeigt den fünfzackigen Stern in
seiner Mitte. Die Symmetrie des Penta¬
gramms tritt häufig in der Tier- und Pflan¬
zenwelt auf. Das erklärt vielleicht, warum so
viele Kulturen diese Figur als Symbol für das
universelle Leben verwendeten.
P X
UM2 p' -sä
98
Schatten-Resonanz
Ich bin der Ansicht, daß zwischen den Yang-Schatten auf der ei¬
nen und den Yin-Schatten auf der anderen Seite eine Verbindung
existiert. In der Physik bezeichnet man dieses Phänomen als »Re¬
sonanz«. Wenn man z. B. auf dem Klavier einen Ton anschlägt,
schwingen alle Saiten der Oktave dieser Note mit, obwohl kein di¬
rekter Kontakt besteht. Ein Sopran, der ein Kristallglas zerschmet¬
tert, indem er eine entsprechende Frequenz trifft, zeigt die Stärke
dieses Phänomens.
Ähnlich aktiviert ein starker Yang-Schatten oft alle anderen
Yang-Schatten. Ein Tyrann beispielsweise neigt eher zum Sadismus
als zum Masochismus, ist eher abhängig als impotent, hyperratio¬
nal statt unüberlegt, eher gierig, anstatt eine Mentalität der Knapp¬
heit zu verfolgen.
Beginnt man mit einem anderen Schatten, ergeben sich ebenfalls
wieder Verbindungen zu weiteren Yang-Schatten. Die Hyperratio¬
nalität beispielsweise läßt sich als Abhängigkeit und Tyrannei des
Verstandes beschreiben. Anders ausgedrückt, gibt es wohl tatsäch¬
lich eine »Yang-Kohärenz« zwischen den Yang-Schatten. Es scheint
fast, als ob sie einander kontaminieren und bestärken würden.
Wer in einer derartigen Yang-Kohärenz festsitzt, neigt dazu, alles
»andere« im Yin-Zusammenhang zu sehen. Er wird dieses »ande¬
re« - etwa die Natur, Frauen oder sog. »primitive« Völker - daher
automatisch in die Rolle der Yin-Schatten setzen. Das würde die
lange Geschichte erklären, in der die westlichen Werte dieses »an¬
dere« als schwach, impotent, irrational und masochistisch dar¬
stellten und abwerteten, als etwas, das es verdiente, in Knappheit
zu leben.
Fazit
Der gemeinsame Nenner aller Schatten ist die Angst. An sich ist
Angst ein normales, gesundes Gefühl. Wenn Sie von einem wilden
Fier angegriffen werden oder wenn ein Auto vor Ihnen außer Kon¬
trolle gerät, löst die Angst einen Adrenalinstoß aus, mit dessen Hil¬
fe Sie schneller reagieren können als sonst. Jeder Archetyp besitzt
99
Raum für Ängste und die entsprechenden Wünsche- z. ß. Hunger
bei einem Ernährer, Sehnsucht nach Liebe beim Liebhaber, Über¬
leben für den Krieger.
Doch Ängste können sich zu Schatten entwickeln, wenn sie starr
und ständig verinnerlicht werden. Wenn die Angst zu einer per¬
manenten statt einer vorübergehenden Erscheinung wird, ist ein
pathologischer Schatten beteiligt. So gesehen ist die Unterdrük-
kung der Großen Mutter im Westen ein progressives gesellschaft¬
liches Erstarren in einer bestimmten Angst, die mittlerweile auch
zu einem festen Bestandteil unseres Währungssystems geworden
ist.
»Der Fall des verschwundenen Archetyps« hat gezeigt, daß
Währungssysteme seit ihren prähistorischen Anfängen unweiger¬
lich ein Attribut des Archetyps der Großen Mutter sind. Da die
westliche Gesellschaft diesen systematisch unterdrückte, ent¬
wickelte sie Währungssysteme, die dessen Schatten verinnerli¬
chen. Die Schatten sind nichts anderes als die kollektiven Emp¬
findungen Gier und die Angst vor Knappheit. Alle professionellen
Unternehmer, Börsenmakler, Investmentfonds-Manager und Fi¬
nanzexperten werden bestätigen, daß die Geldmärkte hauptsäch¬
lich von diesen beiden kollektiven Empfindungen angetrieben
werden. Gier und Knappheit sind daher keine unauslöschlichen
Spiegelbilder der menschlichen Natur, wie das in den Wirtschafts¬
wissenschaften und auch sonst allgemein angenommen wird.
Statt dessen schafft das gegenwärtige Währungssystem diese bei¬
den Gefühle des Schattens ständig neu und verstärkt sie, indem es
einen systematischen Anreiz zum Sparen in Form von Geld
schafft. Das eigentliche Problem ist das Monopol, das diese
Währungsformen haben. Es läßt uns keine Wahl, das Tauschmit¬
tel unabhängig vom Zweck der Transaktion und der entsprechen¬
den Beziehungen zu verwenden. Wir werden noch auf Gesell¬
schaften zu sprechen kommen, die - auch wenn sie in anderer
Hinsicht durchaus nicht perfekt waren - bei der Verwendung der
Währungssysteme eine Wahl hatten und so aktiv die Ansammlung
von Geld verhinderten. Sie waren dabei sogar sehr erfolgreich,
100
denn sie schufen eine soziale Dynamik, die sich stark von der un¬
seren unterscheidet (s. Kapitel 5 und 6).
Die zweite Schlußfolgerung lautet, daß wir jetzt erkennen kön¬
nen, warum die drei Tabus, die sich so lange in der westlichen Ge¬
sellschaft hielten-Sex, Tod und Geld -, häufig gemeinsam auftre-
ten. Wie wir bei verschiedenen Kulturen wiederholt gesehen ha¬
ben, sind sie die Attribute eines einzelnen Archetyps: der Großen
Mutter. Nach Jahrtausenden der Unterdrückung der Großen Mut¬
ter ist zu erwarten, daß ihre Haupteigenschaften wichtige Tabus
wurden.
Karten können nur getestet werden, wenn man sie ausprobiert.
Die Karte des archetypischen Menschen wird von uns geprüft, in¬
dem wir sie auf verschiedeneThemen anwenden, die bis dahin mit
herkömmlichen Mitteln nicht ausreichend angegangen wurden.
Die folgenden Kapitel enthalten mehrere Beispiele für diese An¬
wendungen.
101
A.
Mysterium GeldEmotionale Bedeutung und
Wirkungsweise eines Tabus
Aus dem Amerikanischen vonHeike Schlauerer, VerlagsService Mihr
Riemann
Teil II
Währungssysteme undArchetypen
»Geschichte ist anhand von Beispielen ge¬
lehrte Philosophie.«
Henry St. John Bolingbroke
»Ehemalige Ikonen sind die Kodierungen
der Zukunft. Und die Zukunft verspricht
die Wiederentdeckung vergessener Weis¬
heit.« lean Houston
In Teil II werden die Auswirkungen untersucht, die durch eine Un¬
terdrückung oder Ehrung des Archetyps der Großen Mutter bei
Währungssystemen entstehen. Historische Quellen sind die
Grundlage für unser gesamtes soziales, wirtschaftliches und fi¬
nanztechnisches Wissen. Allerdings berücksichtigt das konventio¬
nelle Wirtschaftsdenken meist nur relativ aktuelle Daten, weil
man davon ausgeht, daß Erfahrungen aus ferner Vergangenheit
keinerlei Erkenntnisse für unsere derzeitige ökonomische Struktur
erbringen. Diese Vermutung trifft häufig zu, und auch ich hätte
lieber aktuellere Beispiele angeführt. Dann wären nämlich die not¬
wendigen Belege leichter zu finden gewesen.
Allerdings besteht diese Möglichkeit im Fall der Währungssyste¬
me nicht. Tatsächlich hat sich das offizielle Währungsparadigma
seit der industriellen Revolution nicht wesentlich verändert, daher
wären wir bei einem solchen Ansatz auf dieses bestimmte
Währungssystem festgelegt. Außerdem werde ich später (in Teil
III) noch untersuchen, ob unsere Weitsicht, unser Wirtschaftssy¬
stem und unser Währungssystem derzeit einem fundamentalen
103
Wandel unterworfen sind, durch den das Industriezeitalter als Be¬
zugspunkt weit zurückgelassen wird. Dabei könnte gerade eine
»ferne Vergangenheit« überraschend einige interessante Erkennt¬
nisse für unsere nicht so weit entfernte Zukunft bieten ...Zuerst untersuchen wir eine Folge der Unterdrückung des Ar¬
chetyps der Großen Mutter auf das moderne Währungssystem.
Daß unser Verständnis der materiellen Realität exklusiv über den
Magier-Archetyp erfolgt, erklärt, warum wir eine der wichtigsten
»Anomalien« unserer Finanz- und Währungswelt nicht verstehen
- die »irrationalen« Schwankungen im Finanzmarkt, die im We¬
sten seit mindestens 300 Jahren periodisch auftreten. Das Modell
vom archetypischen Menschen dagegen bietet grundlegende Er¬
kenntnisse, die bei der Beantwortung dieser Frage helfen können.
Das ist vor allem in einer Zeit potentieller Währungszusammen¬
brüche von besonderer Bedeutung.
Was wäre, wenn der Archetyp der Großen Mutter nicht unter¬
drückt würde? Was könnte das für die Währungssysteme, die Wirt¬
schaft und die Gesellschaft bedeuten? Wir haben bereits festge¬
stellt, daß es in der Geschichte nur wenige Beispiele gibt, auf die
wir zurückgreifen können. Zwei Fallstudien-die Zeit der Gotik im
Mittelalter und das Ägypten der Pharaonen-enthüllen sich als be¬
sonders interessant. Sie werden feststellen, daß die Währungssy¬
steme beider Kulturen in der Zeit, in welcher der Große-Mutter-Ar-
chetyp geehrt wurde, einige ungewöhnliche Gemeinsamkeiten
aufwiesen, die unserem System diametral entgegengesetzt sind. Ei¬
ne faszinierende Folge davon war, daß der Lebensstandard der
»kleinen« Leute dramatisch anstieg, außerdem schienen die Men¬
schen über die langfristigen Auswirkungen ihres Handelns nachzu¬
denken. Beide Eigenschaften würden sich hervorragend für die
derzeitige Übergangsphase vom Industrie- zum Informationszeit¬
alter eignen.
104
Zentrale Ideen von Teil II
Meiner Ansicht nach kann man anhand verschiedener Währungs¬
systeme ablesen, ob das Weibliche in einer Gesellschaft unter¬
drückt wird oder nicht.
•Wenn der weibliche Archetyp unterdrückt wird, entstehen
Währungen, die als Tauschmittel und zur Wertaufbewahrung
dienen. Ursprünglich bestanden diese Währungen aus seltenen
und kostbaren Gütern aller Art. ln der westlichen Kultur ent¬
wickelten sich daraus Gold- und Silbermünzen und schließlich
unsere zentral kontrollierten Landeswährungen. Die Gemein¬
samkeit dieser Währungssysteme besteht darin, daß sie die An¬
häufung von Geld durch eine relativ kleine Elite fördern. Dies
hat den Effekt, daß das verfügbare Tauschmittel für einen be¬
deutenden Teil der Gesellschaft begrenzt bleibt. Wie erwartet
gibt es viele historische Beispiele für dieses Schema, da derartige
»Hochkulturen« fast immer synonym mit patriarchalischen Ge¬
sellschaften zu sehen sind, die definitionsgemäß das Weibliche
unterdrücken. Numismatiker kennen vor allem die Währungen
dieser Kulturen, da das Geld vorzugsweise aus beständigen Ma¬
terialien gefertigt wurde und bei der Prägung oft auf Ästhetik
und auf Symbole Wert gelegt wurde, die einen König, eine Stadt,
ein Land oder ein Reich glorifizierten. Man könnte auch vonpatriarchalischen Währungen sprechen. Ich bezeichne diese
Währungen als »Yang«-Währungen, weil sie mit von den Taoi¬
sten als Yang-Eigenschaften beschriebenen Kennzeichen ver¬bunden sind: Hierarchie, Konzentration, Kontrolle und Wettbe¬
werb.
•Im Gegensatz dazu entstanden in den wenigen Fällen, in denen
das Weibliche von einer »fortschrittlichen« Gesellschaft geehrt
105
In diesem Buch wird zwischen
zwei Formen der Zahlungsmittel
unterschieden, die ich nach dem
Vorbild der asiatischen Philosophie
als »Yin«- und »Yang«-Währungenbezeichne. Letztere sind heute die
bei weitem bekanntesten. Es han¬
delt sich dabei um Währungen,
die gleichzeitig als Tauschmittel
und zur Wertaufbewahrung die¬
nen. In patriarchalischen Gesell¬
schaften haben sie als offizielles
Zahlungsmittel oft das Monopol.
m* Dieser Wikingerschatz ist ein Bei¬
spiel für das »Horten« von Yang-
Währungen. Er wurde im Jahr 905
in Cuerdale (Lancashire, Großbri¬
tannien) vergraben und umfaßt
Silberbarren, Ringe, Juwelen und
7000 Münzen. Mit insgesamt 40 Kilogramm Silber zählt der Fund zum grö߬
ten Wikingerschatz, der außerhalb Rußlands entdeckt wurde. Vermutlich warer Teil einer Lösegeldzahlung, welche die Wikinger bei der örtlichen Bevölke¬
rung eintrieben.
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wurde, zwei komplementäre Währungssysteme: eine »Fern-«
und eine »lokale« Währung. Die lokale Währung hatte die un¬
gewöhnliche Eigenschaft, daß sie - obwohl sie nicht infla¬
tionären Tendenzen unterworfen war -ein Attribut aufwies, das
ihr Horten verhinderte. Kurz gesagt fungierte sie als reines Zah-
lungs- und Tauschmittel, sie war kein Mittel zur Wertaufbewah¬
rung. Dadurch zirkulierte das Tauschmittel ungehindert auf al¬
len Gesellschaftsebenen und war selbst für die Angehörigen der
untersten Schichten verfügbar. So konnten sie Geschäfte täti¬
gen, die ihren Lebensstandard deutlich verbesserten. Wer über¬
wiegend diese Währungen verwendete, konnte dennoch sein
Geld anlegen, doch investierte er nicht in Zahlungsmittel selbst,
sondern in produktives Vermögen. Fast noch wichtiger ist für
uns heute, daß ein Muster der langfristigen Investitionen zur
106
Norm wurde und keine Ausnahme mehr war. Diese besonderen
Währungen werden als »Yin«-Währungen definiert.
Allerdings sollten wir nicht vergessen, daß in diesen Kulturen -
wie gesagt - zusätzlich zu den lokal gebräuchlichen Yin-
Währungen parallel auch eine Fernhandelswährung mit Yang-
Eigenschaften verwendet wurde.
•Der Hauptunterschied zwischen den beiden Gesellschaftsarten
ist, daß in patriarchalischen Systemen die Yang-Währungen de
facto über ein Monopol verfügten oder sogar für jede Transakti¬
on vorgeschrieben waren. Das ist bekanntermaßen auch bei un¬
serem derzeitigen Geld der Fall, denn die Monopolstellung un-
m PI
A: /
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Zu den Beispielen für die weniger bekannten »Yin«-Währungen zählen diese
beiden »Brakteaten« aus Norddeutschland, die aus der Zeit des Hochmittelal¬
ters stammen. Die linke Münze wurde um 1150 unter Heinrich dem Löwen,
Herzog von Bayern und Sachsen, geprägt. Sie zeigt den Herzog mit Zepter
und Schwert, umgeben von zwei Türmen und zwei Löwen. Die rechte Münze
zeigt Abt Johann I. von Hersfeld (1 201-1213) mit dem für sein Amt charakte¬
ristischen Krummstab.
Der Verbreitungsgrad derartiger Münzen war meist lokal begrenzt. Sie waren
so dünn, daß sie durchscheuern (wie die Münze rechts) oder für Teilbeträge
auch einfach gebrochen werden konnten (wie im Fall der Münze Heinrichs).
Bei jeder Währungseinheit blieb der Silbergehalt im Lauf der Zeit konstant
(d.h., bei diesen Münzen gab es keine Inflation). Allerdings nahm man die
Brakteaten jährlich aus dem Umlauf und ersetzte sie durch neue, wobei eine
Steuer verlangt wurde. Daher hortete man diese Münzen im allgemeinen
nicht, sondern verwendete sie nur als Tauschmittel.
107
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Das ist ein »Ostrakon«, eine Tonscherbe aus dem Ägypten des 13.Jahrhundertsv. Chr. mit einer Hieroglyphenaufschrift. Aus ihr geht hervor, daß es sich um
eine Quittung für mehrere Krüge Wein handelt, die an einem bestimmten Ort
für eine begrenzte Zeit eingelagert wurden. Derartige Quittungen für Getrei¬
de, Wein oder andere haltbare Lebensmittel verwendete man in Ägypten min¬
destens 1600 Jahre lang als allgemeine lokale Währung. Der Wert bei Einlö¬
sung der Quittungen »alterte«, d. h., er verlor im Lauf der Zeit allmählich an
Wert, weil die Lagerkosten für die Lebensmittel abgezogen wurden. Aus die¬
sem Grund horteten die Menschen in Ägypten ähnlich wie im Falle der Brak-
teaten im Mittelalter die Währung nicht, sondern verwendeten sie als reines
Tauschmittel.
serer konventionellen Landeswährungen (einschließlich des Eu¬
ro) ist gesetzlich garantiert.
Fortschrittliche Gesellschaften, die das Weibliche ehren, sind re¬
lativ selten. Bisher verfügen wir nur in zwei Fällen über ausrei¬
chende Informationen zu deren Währungssystemen und Inve¬
stitionsschemata, um unsere Hypothese zu belegen. Ironischer¬
weise wissen wir selbst bei diesen Kulturen oft mehr über ihre
Yang-Währungen, da Schatzfunde aus der betreffenden Zeit fast
immer aus den Zahlungsmitteln bestehen, die gehortet wurden,
der Definition nach also Yang-Währungen sind. Außerdem wa-
108
ren die lokalen Yin-Währungen oft aus verderblichem Material
und sahen profaner aus, daher wurden sie von Sammlern als we¬
niger interessant eingestuft.
Mittlerweile sind wir alle so an das Monopol der Yang-Währungen
gewöhnt, daß viele Menschen diese begreiflicherweise als 'feil un¬
serer Natur betrachten. Tatsächlich basiert der gesamte Bereich der
Wirtschaftswissenschaften auf dieser Annahme. Das erklärt die Be¬
deutung der beiden bisher bekannten Ausnahmen, bei denen Yin-
Währungen eine wichtige Rolle im Alltag spielten.
Es geht hier jedoch um wesentlich mehr als die reine Betrachtung
obskurer Währungspraktiken in untergegangenen Kulturen. Falls
sich unsere Hypothese bestätigen läßt, sind die Auswirkungen sol¬
cher Systeme nämlich auch für uns heute noch von großer Bedeu¬
tung: Die Menschheit steht in den kommenden Jahrzehnten vor
der wahrscheinlich größten Herausforderung aller Zeiten. Zum er¬
sten Mal in unserer Geschichte bedroht unsere kurzfristige Denk¬
weise die gesamte Biosphäre (s. Kasten »Wissenschaftliche Fakten
über den Verlust der Artenvielfalt«). Daher könnte das Wissen über
Vorgänge, die unsere kollektive Einstellung in Richtung auf ein
langfristiges Denken verändern, für uns alle lebenswichtig sein.
Vier Auswirkungen von Yin-Währungen
Eine der grundlegenden Thesen dieses Buchs lautet, daß, wenn lokale
Yin-Währungen die dominante Yang-Währung ergänzten, es bisher zuden folgenden vier Auswirkungen kam:
•Sie bewirkten einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Wohlstand
für die breite Bevölkerung.
•Sie förderten Investitionsschemata mit ungewöhnlich langfristigen
Perspektiven.
•Sie entstanden typischerweise nur in Gesellschaften, in denen das
Weibliche geehrt wurde, in der westlichen Geschichte ein zugege¬benermaßen seltener Fall.
•Sie waren die Vorläufer der heutigen Bewegung für lokale Währun¬
gen.
109
Wissenschaftliche Fakten über den Verlust der Artenvielfalt
•1500 Wissenschaftler, darunter zahlreiche Nobelpreisträger aus dem
naturwissenschaftlichen Bereich, warnten: »Wenn unserem derzeiti¬
gen Vorgehen nicht Einhalt geboten wird, stellt es eine ernste Be¬
drohung für die Zukunft dar, die wir der menschlichen Gesellschaft,
der Tier- und Pflanzenwelt wünschen. Der Raubbau durch den Men¬
schen könnte die Erde so verändern, daß es uns unmöglich sein wird,
das Leben so zu erhalten, wie wir es kennen. Grundlegende Verän¬
derungen sind dringend notwendig, wenn wir den Zusammenstoß
vermeiden wollen, den unser derzeitiger Kurs mit sich bringt.«119
•Das amerikanische Museum für Naturkunde führte 1998 eine Um¬
frage unter Biologen durch. Davon kamen 69 Prozent zu dem
Schluß, daß wir durch unsere ausschließliche Konzentration auf dasNaheliegende allein in den nächsten 20 bis 30 Jahren 30 bis 70 Pro¬
zent der Artenvielfalt unseres Planeten verlieren werden.
Lassen wir unsere Erkundung nun damit beginnen, daß wir die
Gründe für die Instabilität unseres Währungssystems erforschen
und untersuchen, wie dies zusammenhängt mit dem »Monopol«,
die materielle Welt mit den Augen des Magiers zu sehen.
110
Kapitel 4
Die Untersuchung von Spekulations¬phasen mit Hilfe des Magiers
»Die Götter prägen emotionale Intensität oder
Distanz, die Neigung zu geistiger Auseinanderset¬
zung ... die Sehnsucht nach ekstatischem Ver¬
schmelzen oder ganzheitlichem Verstehen, den
Sinn für Zeit und vieles andere. Es gibt Götter in
jedem Mann.« Jean Shinoda Bolen'20
Finanzhysterien, auch Spekulationsphasen oder »Boom-und-Bust-
Zyklen« genannt, bezeichnen die episodenhaft auftretenden »An¬
fälle von Kaufrausch«, bei denen ein Markt einem wahnwitzigen
Spekulationsfieber verfällt, nur um irgendwann zusammenzubre¬
chen. Sie treten relativ selten auf - im Durchschnitt gibt es etwa
alle 15 bis 20 Jahre irgendwo auf der Welt einen spektakulären
Crash. Doch ihre Auswirkungen auf die betroffenen Menschen
und Länder sind verheerend. Trotz Jahrhunderte währender
Bemühungen um feinabgestimmte Regulierungen und Kontrollen
erwiesen sich die Finanzkräche als »bemerkenswert hartnäckig«,
wie Charles Kindleberger es ausdrückte.121 Sie scheinen die Märk¬
te unweigerlich ausgerechnet dann zu treffen, wenn alle Beteilig¬
ten glauben, sie seien gegen solche »primitiven«, irrationalen Pro¬
bleme immun. Außerdem sind sie unter dem Blickwinkel eines
»rationalen Marktes«, der eigentlich vom hyperrationalen »Homo
oeconomicus« gelenkt werden sollte, ein rätselhafter, unerklärli¬
cher Vorgang.
Viele Experten geben offen zu, daß sie dieses Phänomen nicht
verstehen und auch nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen (s.
Kasten).
111
Ratlose Experten
Die regelmäßig auftretenden Spekulationsphasen und die Unfähigkeit
der mächtigen Finanzbehörden, etwas dagegen zu unternehmen, wie¬
derholen sich in jeder Generation. Einige Zitate verdeutlichen dies:
»In regelmäßigen Abständen sucht Geld aus unerfindlichen Gründen
... jemanden zu verschlingen, und es kommt zur >Plethora<; findet es
jemanden, kommt es zur >Spekulation<; wird es verschlungen, kommt
es zur >Panik<.« (Walter BagehoP22)
»Ich kann sie spüren, Börsenaufsicht hin oder her, eine neue Runde
ruinöser Spekulationen, mit all ihren bekannten Phasen, eine nach der
anderen: Ein Boom bei den Spitzenaktien, dann der Run auf die Ne¬benwerte, dann im over-the-counter market, dann die Hysterie bei den
Neuemissionen und schließlich der unvermeidliche Crash. Ich weiß
nicht, wann es dazu kommen wird, aber ich spüre, daß er kommt, und
verdammt, ich weiß nicht, was ich dagegen unternehmen soll.« (Ber¬
nard}. Lasker, Leiter der New Yorker Börse im Jahr 1970123)
»Die Finanzmärkte werden heute von einem irrationalen Überschwang
angetrieben.« (Alan Greenspan, Vorsitzender der amerikanischen Zen¬
tralbank, im Dezember 1996)
Finanzhysterien sind für unsere Untersuchung in dreierlei Hin¬
sicht von Bedeutung:
1. Alle spekulativen Aufblähungen, ob es sich bei dem Objekt nun
um Tulpen, Immobilien, Aktien, Internet-High-Tech oder son¬
stiges handelt, sind unweigerlich eine Währungskrankheit. Der
gemeinsame Nenner ist bei allen Zyklen immer das Geld. Der
Preis, der in Geld ausgedrückt wird, steigt zunächst ins uner¬
meßliche und bricht dann völlig zusammen.
2. Devisenmärkte, also die Märkte, auf denen die verschiedenen
Landeswährungen täglich gehandelt werden, sind berüchtigt
für ihre starken Schwankungen, die trotz der Interventionen
währungspolitischer Institutionen immer wieder auftreten.
Wenn es bei unserem globalen Währungssystem zu Turbulen-
112
zen kommt, wird sich das in einem Spekulationsfieber bei den
Währungen niederschlagen.
3. Schließlich werden wir feststellen, daß sich das Geheimnis des
Spekulationsfiebers durch die Untersuchung der Schatten des
Magiers etwas aufhellen läßt, d. h. des »rechten Beines« unse¬
res archetypischen Menschen (s.Abb. 10).
Das Boom-Bust-Phänomen
»Jede Zeit hat ihre eigene Narretei; einen Plan, ein Unternehmen
oder ein Hirngespenst, auf das sich jeder stürzt, entweder aus Ge¬
winnsucht, auf der Suche nach Zerstreuung oder aus bloßer Nach¬
ahmerei. Fehlt die Narretei, gibt es gewiß eine Wahnidee, der die
Menschen aus politischen oder religiösen Gründen oder beiden
zusammen verfallen.«124 Dieses Zitat stammt aus Charles Mackays
Klassiker Zeichen und Wunder:Aus den Annalen des Wahns, der 1841
erstmals erschien und seitdem wiederholt neu aufgelegt wurde.
Mackay zeigt, daß es von den Kreuzzügen bis zu den Mississippi-Aktien in jedem Zeitalter »Massenhysterien« gegeben hat. Es ist in¬
teressant, daß es sich bei allen Hysterien der letzten etwa drei bis
vier Jahrhunderte, über die Mackay berichtet (abgesehen von der
Unterdrückung des Weiblichen während der Hexenverfolgung),
stets um finanzielle handelt. Rohstoffe, Fertigwaren, Land, Gebäu¬
de, Aktien und Währungen waren alle irgendwann einmal Objek¬
te des Spekulationsfiebers. Nach jeder »Spekulationsmanie« versu¬
chen Experten und der Staat zu verstehen, was passierte. Dann
führen sie Regeln ein, die zukünftige Zusammenbrüche verhin¬
dern sollen, normalerweise, indem sie die letzte finanzielle Inno¬
vation der Zeit regulieren, wie z. B. den Terminkontraktmarkt 1637
oder den Computerhandel 1987. Der Vorgang wiederholt sich
dennoch weiterhin selbst in besonders abgesicherten Märkten.
Man könnte sogar die scheinbar paradoxe Behauptung aufstel¬
len, daß Anfälle von Spekulationsfiebergerade bei den am höchsten
entwickelten Märkten auftreten. Holland war im 17.Jahrhundert
113
in K
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Einer der bekanntesten finanziellen Zusammenbrüche der Geschichte. Panik
und Verzweiflung griffen an der New Yorker Börse am 24./2S.10.1929 umsich, geschockt liefen die Menschen in der Wall Street zusammen. Der Bör¬
senkrach von 1929 zog weltweit Kreise. Er löste die Weltwirtschaftskrise der
30er Jahre aus, die erst mit dem Zweiten Weltkrieg endete.
bei weitem der wichtigste Finanzmarkt der damaligen Zeit: Das
Land hielt und schlug so viel Kapital um wie das übrige Europa zu¬
sammen, als es im Jahr 1637 von der »Tulpomanie« ergriffen wur¬
de. Ähnlich erlebten England im 18.Jahrhundert (der Südsee¬
schwindel von 1720), New York, Wien und Berlin (alle zugleich
von der internationalen Panik 1873 betroffen), der amerikanische
Aktienmarkt 1929 oder Japan 1990 einen Finanzkrach, wenn das
jeweilige Land und sein Markt nahezu auf dem Höhepunkt ihrer fi¬
nanziellen Entwicklung und ihres Ruhms standen. Sollte diese Be¬
obachtung zutreffen, wäre als nächstes der amerikanische Aktien¬
markt, und dabei vor allem die Aktien der Internet- und High-
Tech-Unternehmen, betroffen. Jedenfalls bieten finanzielle Booms
und Zusammenbrüche, auch wenn wir nur von der bisherigen Ge¬
schichte ausgehen, die seltenen »perfekten« Beispiele der doku¬
mentierten psychologischen Geschichte der Menschheit.
114
Angesichts ihres relativ seltenen Auftretens untersucht man die
Spekulationsphasen am besten, indem man einen historischen
Vergleich durchführt und nach einem gemeinsamen Muster sucht.
Nachdem ich alle gut dokumentierten Fälle von Spekulationsfie¬
ber der letzten 300Jahre125 durchgearbeitet habe, läßt sich tatsäch¬
lich ein gemeinsames Muster ausmachen. Zur Auswahl in Abb.12
gehören: der holländische Tulpenschwindel von 1637 (mit der
Preisentwicklung der Sorte »Witte Croonen« als typisches Beispiel
einer Tulpe), der Südseeschwindel in Großbritannien von 1720
(Anteile an der Südseekompanie), der Börsenkrach von 1929 und
der Immobilienkrach in Japan von 1990.
100060800
40 600
40020200
0 01/2/1 2/5/1 1739 1/1/ 4/1/ 7/1/ 10/ 12/
»Tulpomanie« von 1631
-•-Sorte »Witte Croonen«
Südseeschwindel von 1729
Südseeaktien (Kassakurs,
(Gulden/Zwiebel) Prozent des Nennwertes)
250
100200
80150 60
40100
2050
01980 1985 1990 1995 19980 T
1/1/2 1/1/2 1/1/3 Index für gewerbliche Immobilien
in japan7 9 0
Börsenkrach von 1929
an der New Yorker Börsejapanischer Immobilien¬
index
(Quelle: New York Times, 27. 6. 1998)Dow Jones (1929 = 100)
Abb. 12: Beispiele für Spekulationshysterien von 1637 bis 1990
115
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Am 19. Oktober 1987 fiel der Dow-]ones-lndex um rund 23 Prozent. Als Ur¬
sachen für den Börsenkrach wurden ungehemmte Spekulationen, der welt¬
weite Zinsauftrieb, ein extrem hohes Kursniveau und die Angst vor einem Um¬
schlagen des jahrelangen Booms genannt. Viele Broker stürzten an diesem
»Schwarzen Montag« an der New Yorker Börse völlig unvorbereitet in Ver¬
zweiflung und Ruin.
Anhand der Schaubilder kann man erkennen, daß es bei jeder Spe-
kulationsmanie vier Phasen gibt. Bei diesen vier Phasen handelt es
sich um folgende:
1 . Aufbau: Auf einem bestimmten Markt steigen langsam, aber si¬
cher die Preise. Branchenkenner bemerken das und kaufen.
Nach einer Weile sprechen Marktexperten über ein großes Ge¬
winnpotential. Dieser Prozeß kann mehrere Jahre dauern, be¬
vor die nächste Stufe erreicht wird.
2. »Feeding Frenzy«: Der Markt heizt sich auf. Zuerst beteiligen
sich in wachsender Zahl Lxperten, dann Laien und schließlich
Ausländer. Für die meisten Branchenkenner ist das »ein siche¬
res Ding«. Die Preise erreichen »verrückte« Höhen. Jeder Un¬
beteiligte fühlt sich übergangen und stürzt sich ebenfalls ins
Getümmel. Gerade noch rechtzeitig vor ...
116
3. Die Panik: Ohne Übergang passiert »etwas«, und die Stimmung
schlägt um: ein echtes oder falsches Gerücht, eine neue Infor¬
mation. Diese Nachricht kann, muß aber nicht mit dem betei¬
ligten Produkt Zusammenhängen, doch zu dem Zeitpunkt gilt
sie als relevant. Die »Seifenblase«, die über Monate oder Jahregewachsen ist, zerplatzt in einer Verkaufshysterie von wenigen
Stunden oder Tagen. Die Preise stürzen in den Keller.
4. Das Aufsammeln der Scherben: Bankrotte, Konkurse, finanziel¬
ler Ruin und Verzweiflung für viele Menschen. Die Preise pen¬deln sich im Laufe der nächsten Jahre wieder beim »Normalni¬
veau« ein. Staatliche Stellen beklagen die »Exzesse« und versu¬
chen herauszufinden, »was schieflief«. Eine neue »Erklärung«
wird gefunden, und Regulierungen werden eingeführt, die si¬
cherstellen sollen, daß es nie wieder soweit kommt. Dann be¬
ginnt der Zyklus hartnäckig aufs neue - in einem anderen
Markt auf etwas andere Weise.
Für jede Spekulationsphase gibt es in der populären Erzähltradi¬
tion typische Anekdoten, die den Wahnsinn der Zeit illustrieren
(s. Kasten).
Die Reaktion des Staates
»Ich erlaube mir, in diesem Zusammenhang eine Bemerkung zuwiederholen, die eine hochgestellte Persönlichkeit der Republik
mir gegenüber äußerte: >Ich kenne mein Land. Es kann alles in Ru¬
he überstehen - nur keine Finanzkrise.««127
Staatliche Behörden haben allen Grund, das Zerplatzen der fi¬
nanziellen »Seifenblasen« zu fürchten. Sie werden zuerst beschul¬
digt, daß sie »es soweit haben kommen lassen«. Von der britischen
Regierung im Jahr 1720 bis zu Suhartos Regierung in Indonesien
im Jahr 1998 haben viele Regimes einen hohen Preis dafür bezahlt,
daß sie bei einem Zusammenbruch gerade an der Macht waren.
Daher hat es schon Tradition, daß die Regierung sofort nach einem
117
Anekdoten über das Spekulationsfieber
•Im Jahr 1636 besucht ein Seemann einen Kaufmann in Amsterdam
und bekommt dort einen Räucherhering zu essen. Der Seemann be¬
schließt, sein Essen durch eine »Zwiebel« aufzuwerten, die er auf
dem Tisch findet. Die »Zwiebel« entpuppt sich als Tulpenzwiebel der
Sorte »Semper Augustus« und ist über 2000 Gulden wert, was dem
Lohn des Seemanns von 20 Jahren entspricht! (Ein anderer Ver¬
gleichswert: Rembrandt erhielt auf dem Höhepunkt seines Ruhms
1600 Gulden für sein berühmtes Gemälde »Nachtwache«.)
•Im Frühjahr 1720 erklärte Isaac Newton: »Ich kann die Bewegung
von Himmelskörpern berechnen, jedoch nicht die Verrücktheit der
Menschen.« Daher verkaufte er am 20. April seine Anteile an der
South Sea Company und machte einen hundertprozentigen Gewinn
(7000 Pfund). Im Sommer desselben Jahres hatte die Hysterie ein sol¬
ches Ausmaß erreicht, daß er nicht widerstehen konnte und erneut
in das Geschäft einstieg. Er kaufte seine Anteile zu Höchstpreisen und
verlor schließlich 20000 Pfund. Seitdem war »Südsee« für den Rest
seines Lebens ein Tabuwort.126
•Während der Hysterie um die Aktien der Mississippi Company in Pa¬
ris war der Andrang der Kaufwilligen in der kleinen Straße, in der die
Anteile verkauft wurden, so groß, daß ein Buckliger ein Vermögenmachte, weil er seinen Buckel als Tisch für die Makler vermietete. Der»Bucklige aus der Rue Quinquempois« konnte leider selbst nicht wi¬
derstehen und investierte seinen Verdienst ebenfalls in die Aktien ...•Einige Bankiers stürzten sich beim Börsenkrach 1929 tatsächlich von
den Wolkenkratzern New Yorks in die Tiefe, doch es regnete nie Ban¬kiers, wie es im Wall-Street-Mythos heißt.
•Während des Immobilienbooms in den Jahren 1989 und 1990 in Ja¬pan war das Grundstück, auf dem der Kaiserpalast steht, mehr wert
als ganz Kalifornien. Das Gelände im Umkreis des Palastes war teurer
als alle Immobilien in den USA.
Crash einen »Expertenausschuß« einberuft, der die Angelegenheit
gründlich untersuchen und den Grund für das Unheil finden soll.
Die Brady Commission, die den Börsenkrach von 1987 in den USA
untersuchte, ist ein aktuelles Beispiel für dieses Verfahren.
»Die Reformer konzentrieren sich bei einem Markt oder Markt¬
mechanismus meist auf einen Fehler, der angeblich den Boom aus-
118
löste und den Zusammenbmch einleitete. Die häufigsten Kandi¬
daten sind unweigerlich Neuheiten, deren Auftreten in Zusam¬
menhang mit dem Boom verdächtig wirkt. Nach dem Zusammen¬
bruch der Tulpenpreise gingen die Behörden in den Niederlanden
gegen die kurz zuvor entstandenen Termin kontraktmärkte vor und
machten sie für die >Tulpomanie< verantwortlich. Aus heutiger
Sicht mag das dumm erscheinen, doch der Terminkontraktmarkt
bei Tulpen war neu, und sein Aufkommen traf mit dem spekta¬
kulären Anstieg der Tulpenpreise zusammen. Beim Börsenkrach
1929 war es für den amerikanischen Kongreß ein leichtes, die Übel¬
täter unter den Investment-Trusts zu finden. Die vor nicht allzu
langer Zeit entwickelten Praktiken des Programmhandels und der
Portefeuille-Absicherung wurden für den Crash von 1987 verant¬
wortlich gemacht. Diese >Fehler< werden vielleicht eingeschränkt
oder verboten, dennoch stehen sie nur für einen kleinen Teil des
Marktes. Ihre Todsünde scheint ihre Neuheit gewesen zu sein.«128
Diese Analyse nach dem Motto »Den letzten beißen die Hunde«
läßt die Vorhersage zu, daß der nächste Crash den Computeran¬
wendungen oder den Internet Day Stocktraders zugeschrieben
wird. Meiner Ansicht nach ist der gemeinsame Nenner bei alle¬
dem, daß die Schuld bei den Mitteln anstatt bei der Ursache für das
Spekulationsfieber gesucht wird. Selbst wenn heute jemand die Be¬
nutzung von Computern und Telefonen verböte, käme es meiner
Meinung nach zum Crash, er würde dann eben durch Brieftauben
übermittelt werden. Die »Panik« dauerte vielleicht einige Tage und
nicht nur ein paar Stunden, doch zum Zusammenbruch käme es
dennoch.
Die Reaktion der Wirtschaftsexperten
Es ist sehr aufschlußreich, daß die wichtigsten Bücher über die Psy¬
chologie des Geldes unweigerlich das Thema »Spekulationswahn«
behandeln. Erwartungsgemäß sind Wirtschaftsexperten auch seit
langem von dem Auf und Ab der Spekulationsphasen fasziniert.
119
Der Grund für dieses Interesse liegt darin, daß die Beständigkeit
der Booms und Zusammenbrüche sich der heiligsten Hypothese
widersetzt, auf der die Wirtschaftswissenschaften seit ihren An¬
fängen basiert: Märkte sind rational, sie werden vom völlig ratio¬
nalen Homo oeconomicus gesteuert.
Der Homo oeconomicus
Das Konzept des »Homo oeconomicus« ist der psychologische Eck¬
pfeiler der Wirtschaftswissenschaften. Eine klassische Definition
definiert ihn als: »rational handelndes Individuum. Das bedeutet,
daß das Individuum eine bestimmte Vorstellung davon hat, wie
die Ökonomie funktioniert, und daß es keine systematischen Feh¬
ler bei der Verarbeitung von Informationen begeht.«129
Die der Definition zugrundeliegenden Prinzipien wurden seit der
Zeit Adam Smith' im Jahr 1 78v5 nicht aktualisiert, also ein Jahr-
Der sagenhafte Homo oeconomicus
Die psychologischen Annahmen hinter dem sagenhaften Homo oeco¬
nomicus bergen erhebliche Probleme.
Erstens geht die Definition davon aus, daß alle Menschen gleich sind.
Zweitens berücksichtigt sie nicht, daß das Verhalten einer Gruppe vom
Verhalten einer Einzelperson abweicht. Anders ausgedrückt, sie läßt
keinen Raum für eine »Gruppen-« oder »Massenpsychologie«, die sich
qualitativ von der Persönlichkeitspsychologie unterscheidet. Dazu
gehört der bekannte Trugschluß, daß sich das Ganze nicht von der
Summe der Teile unterscheidet. Auf dem Gebiet der Boom- und Bust-
Phasen ist ein solcher Trugschluß gefährlich.
Gustave Le Bon, einer der Pioniere der Massenpsychologie, betonte:
»Einzelne Gruppenmitglieder werden vom kollektiven Denken über¬
stimmt, egal, wie ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäfti¬
gung oder Intelligenz sind. Diese Art des Fühlens, Denkens und Verhal¬
tens veranlaßt den einzelnen dazu, sich deutlich anders zu verhalten, als
wenn er allein wäre.«130 Auffällig ist, daß Gustave Le Bon niemals den
Begriff »Archetyp« benutzte, den sein Zeitgenosse C.G. Jung damals
gerade entwickelte. Dennoch deckt sich Le Bons Definition der Grup¬
pendynamik mit Jungs Erkenntnissen über das kollektive Unbewußte.
120
hundert bevor Sigmund Freud das Unbewußte »entdeckte«. Diese
Grundsätze spiegeln die absolute Vormachtstellung des Verstandes
wider, eine Ansicht, die seit Descartes dominiert (s. Kasten).
Gerechterweise muß man sagen, daß die Wirtschaftswissen¬
schaftler seit Wesley Clair Mitchell die Vereinfachungen im Zu¬
sammenhang mit dem Homo oeconomicus kennen. Mitchell er¬
klärte: »Wirtschaftswissenschaft ohne Berücksichtigung der Psy¬
chologie ist, wie wenn man Technik betreibt, ohne die Gesetze der
Physik zu beachten.«131 Wirtschaftswissenschaftler betrachten den
Homo oeconomicus als »nützliche Hypothese« und nehmen die
Annahmen nicht wörtlich. Dennoch ist diese Hypothese notwen¬
dig, damit die ökonomischen Theorien funktionieren.
Das erklärt auch, warum einige Wirtschaftswissenschaftler auf
das Thema Finanzhysterie häufig mit Ablehnung oder Leugnung
reagieren.
Leugnung
Geht man davon aus, daß Booms und Crashes die sakrosankte »Ra¬
tionalität des Marktes« widerlegen, überrascht es nicht, daß es ei¬
ne umfangreiche Literatur gibt, mit der Wirtschaftswissenschaftler
die Existenz von Finanzhysterien zu widerlegen versuchen.132 Spe¬
kulationsmanien passen nicht ins Bild. Sie werden daher manch¬
mal als »anekdotische Anomalien« abgetan, die auf »Irrationalitä¬
ten« basieren.
Charles Kindleberger begegnet dieser Kritik mit folgenden Argu¬
menten: »Der Vorwurf der Anekdote läßt sich leicht entkräften.
Anekdoten sind Belege, es stellt sich nur die Frage, ob sie repräsen¬
tativ sind oder nicht ... Ich behaupte, daß die historischen Belege
in ausreichendem Maße repräsentativ sind, um im Wirtschaftsle¬
ben unter dem System des Kapitalismus ein wiederkehrendes Sche¬
ma zu erkennen ... Zur Rationalität: Die Ansicht, daß Vermögens¬
märkte stets und unweigerlich von intelligenten, informierten und
finanzstarken Spekulanten, die stets rational kalkulieren, domi¬
niert werden oder nur aus diesen bestehen, trifft ebenfalls nicht zu.
Es scheint meistens so zu funktionieren, doch so ist es nicht.«
121
Kindleberger kommt zu folgendem Schluß: »Krankheitsbilder
zeichnen sich ab. Die meisten Volkswirtschaften sind in der Regel
gesund, doch gelegentlich kann sich eine Ökonomie mit dem ei¬
nen oder anderen Wirtschaftsvirus infizieren ... Wer Finanzkrisen
mit der Begründung leugnet, daß es keine Boom- und Bust-Phasen
geben kann, weil sie irrational sind, ignoriert einen Zustand um
der bloßen Theorie willen.«133
Erklärungen der Wirtschaftswissenschaft
Natürlich gibt es auch mutige Wirtschaftswissenschaftler, die es
wagten, den merkwürdigen Fall der »wirtschaftlichen Pathologie«
zu erklären. Zu den Theorien, die sowohl der Zeit als auch der Kri¬
tik der Kollegen am besten standhielten, gehören Kindlebergers
Geldschaffungstheorie und Informationsflußtheorie. Eine kurze
Erklärung soll an dieser Stelle genügen:
KINDLEBERGERS GELDSCHAFFUNCSTHEORIE
Charles Kindleberger beschäftigt sich intensiv mit Wirtschaftsge¬
schichte. In seinem Buch über Finanzhysterien bewertet er die Ge¬
meinsamkeiten von 42 Krisen zwischen 1618 und 1990 (darunter
auch einige, die parallel in verschiedenen Ländern auftraten). Sei¬
ne wesentlichen Schlußfolgerungen lauten:
•»Der Begriff >Manie< suggeriert einen Verlust an Realität oder Ra¬
tionalität, ja sogar eine Art Massenhysterie oder Wahn ... Ratio¬
nalität ist mehr eine A-priori-Annahme und keine Beschreibung
der Welt ... Manien und Ausbrüche von Panik sind meiner An¬
sicht nach gelegentlich mit einer allgemeinen Irrationalität und
Massenpsychologie verbunden.«134
•Das Eintreten der zweiten Phase - die ich zuvor als »Feeding
Frenzy« bezeichnete - kennzeichnet den Unterschied zwischen
einem normalen und einem pathologischen Markt. Kindleber¬
ger zufolge setzt der Ansturm ein, wenn Kredit auf der Grundla¬
ge von Preiserhöhungen bei den Gütern geschaffen wird, mit
denen man spekuliert. »Das Spekulationsfieber steigert sich
durch die Expansion von Geld und Kredit.«135
122
•Der Auslöser für eine Krise kann fast alles sein, ob real oder ein¬
gebildet, das die Erwartungen ins Gegenteil verkehrt. Es gibt
zahlreiche Verschwörungstheorien, die sich bei einer Überprü¬
fung aber selten als stichhaltig erweisen. »Eine Panik, eine
»plötzlich auftretende, grundlose Angst<, benannt nach dem Hir¬
tengott Pan, kann in Vermögensmärkten auftreten oder bei ei¬
nem stürmischen Wechsel von weniger flüssigen zu flüssigeren
Vermögenswerten ... Das System basiert auf positivem Feed¬
back. Ein Preissturz senkt den Wert der Sicherheiten und verlei¬
tet Banken dazu, Kredite aufzukündigen oder keine neuen mehr
zu erteilen ...«136 Das löst eine Kettenreaktion aus, die in einem
Zusammenbruch mündet.
DIE INFORMATIONSFLUSSTHEORIE
Beim zweiten Ansatz zur Erklärung von Spekulationsmanien wer¬
den die Marktteilnehmer in zwei verschiedene Kategorien unter¬
teilt: »Smart Money« und »kleine Investoren«, in der Tiermeta¬
phorik der Wall Street auch als »Wölfe« und »Lämmer« bezeichnet
(s. Kasten).
Zusammenfassend läßt sich sagen: Die Informationsflußtheorie
weist darauf hin, daß zwischen dem »Smart Money« und den
»Kleinanlegern« ein Informationsungleichgewicht besteht. Die
Profis sind natürlich zuerst da. Dann peitschen die Medien die Be¬
geisterung der kleineren Spekulanten auf. Der Markt boomt, und
»Smart Money« überläßt seine Positionen großzügig den kleinen
Anlegern. Wenn der Markt schließlich zusammenbricht, haben
Der glänzende Bullenmarkt ist hier
durch das Firmenlogo von Merril Lynch
dargestellt, dem größten Börsenhan¬
delshaus weltweit. Der Bulle ist ein Her¬
dentier, das meistens sehr zahm wirkt,
aber regelmäßig in Panik gerät und
dann blindlings mit der Herde davon¬
stürmt.
%
123
Die Wall-Street-Fauna
Wohl die meisten Leser haben schon von den »Bullen« und »Bären«
der Wall Street gehört (also den Marktoptimisten bzw. -pessimisten).
Doch nur wenige kennen den archetypischen Ursprung dieser bunten
Fauna.137
•Bulle: männliches Sonnensymbol im Mithras-Kult und anderen indo¬
germanischen Traditionen. Das Wort stammt von dem indogerma¬
nischen Verb bhel, was »scheinen, blitzen, brennen« bedeutet. Im Al¬
tertum verband man genau diese Eigenschaften mit dem Gott Baal.
Im Altenglischen stand der Begriff bellan für »brüllen, aufblasen, ein
sinnloses Gerücht verbreiten«. Von der letzten Bezeichnung stammt
die derzeitige Bedeutung des englischen Wortes bullshit.
•Bär: weibliches Symbol des Nordpols, weswegen die Sternbilder
Großer und Kleiner Wagen auch Großer und Kleiner Bär genannt
werden. Von dem indogermanischen Verb bher, was »tragen, ge¬
bären« bedeutet. Im Altenglischen bezeichnet man mit borian Tätig¬
keiten wie »bohren, durchstechen«. Der »Bear Skin Jobber« im Wall-
Street-Jargon ist jemand, der kurzfristige Wertpapiere, sog. Kurzläu¬
fer, verkauft, ohne welche zu haben.
•Lämmer: »unschuldige«, nichtprofessionelle Kleinanleger. Christo¬
pher Elias schrieb ein Buch mit dem vielsagenden Titel Fleecing the
Lambs138 (= »Den Lämmern das Fell über die Ohren ziehen«),
•Wölfe: die großen, professionellen Anleger, die die kleinen Anleger
schröpfen, ihnen sozusagen »das Fell über die Ohren ziehen«.
Stellt man sich diese Tiere in Aktion vor, hat man den vollen Boom-
Bust-Zyklus: Ein glänzender Bulle, der auf Gerüchten basiert, zieht die
Lämmer auf den Markt. Dann kommt der Bär, der das Endergebnis ge¬
bärt und die aufgeblähte Seifenblase platzen läßt. Nur die schnellsten
Wölfe entkommen ohne Schaden.
sich die meisten Profis bereits zurückgezogen, und die »Lämmer«
werden entsprechend geschröpft.
Einen Beleg für diese Theorie bietet eine Anekdote über Joseph
Kennedy, den Vater des späteren Präsidenten John F. Kennedy.
Kennedy sen. hörte angeblich, wie zwei Schuhputzer an der Wall
Street 1929 Börsentips austauschten. Daraufhin beschloß er, daß
124
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Keltische Bronze aus dem 1.Jahrhundert v. Chr., derzeit im British Museum,
London. Sie zeigt einen gigantischen Bären, welcher der Göttin Artio (von kel¬
tisch art = »Bär«) gegenübersteht. Die Göttin trägt einen Korb mit Blumen,
und auf dem Schoß liegen Früchte. Die Göttin Artio und der Bär symbolisie¬
ren den archetypischen Zyklus des tiefen Abstiegs in die Unterwelt (die wir
heute als »kollektive Psyche« bezeichnen würden [Winterschlaf des Bären])
und die Wiedergeburt im Frühling. (Zeichnung von Moreno Tomasetig.)
es höchste Zeit sei, sich von der Börse zurückzuziehen - eine Ent¬
scheidung, die sein Vermögen in den 30er Jahren rettete.
Die aktuellste Version dieser Theorie nennt sich »Behavioral Fi¬
nance« (Psychologie der Finanzmärkte; s.den Kasten »Die Psycho¬
logie der Finanzmärkte als Kontext«). Sie bietet den theoretischen
Rahmen für die Anwendung der kollektiven Psychologie auf die Fi¬
nanzwelt, die in diesem Kapitel beschrieben wird.
DIE UNBEANTWORTETE FRAGE
Alle Theorien zur Erklärung des Boom-Bust-Phänomens, darunter
auch die zwei besten, die oben vorgestellt wurden, haben eines ge¬
meinsam:Sie erklären, wie die Seifenblase der Spekulation entsteht
und wie sie platzt. Doch damit bleibt eine Frage unbeantwortet:
Warum passiert das? Weshalb werden die Lämmer nie klüger? Aus
125
welchem Gnind sind Märkte auch nach jahrhundertelanger Spezia¬
lisierung immer noch anfällig für solche gelegentlichen Ausbrüche
einer »Massenhysterie« oder »Massenpanik«? Um diese Frage zu
beantworten, brauchen wir einen kollektivpsychologischen An¬
satz, dabei werden wir uns auf eine archetypische Reise ins alte
Griechenland begeben.
Die Psychologie der Finanzmärkte als Kontext
»Während der letzten 30 Jahre stand Finanzdisziplin größtenteils unter
der Ägide der Hypothese des effizienten Marktes. Doch in letzter Zeit
haben sich genug Anomalien angesammelt, die die Dominanz in die¬
sem Bereich erschütterten. Infolgedessen verdient das Auftreten eines
neuen Denkens zur Erklärung des Marktverhaltens Aufmerksamkeit,
das sich »Behavioral Finance< nennt. Die Anhänger dieses Denkens
glauben, daß der Markt die Gedanken, Gefühle und Handlungen nor¬
maler Menschen spiegelt. Das steht im Gegensatz zur Vorstellung vom
idealisierten Homo oeconomicus der Schule der Markteffizienz und der
fundamentalen Analyse. Menschen versuchen vielleicht, rational zuhandeln, doch diese Rationalität wird normalerweise durch kognitive
Tendenzen, emotionale Launen und soziale Einflüsse gestört. Die
Behavioral Finance verwendet psychologische, soziologische und auf
menschlichem Verhalten basierende Theorien zur Erklärung der Fi¬
nanzmärkte und Vorhersage ihrer Entwicklung. Außerdem berücksich¬
tigt sie den Einfluß unterschiedlicher Einstellungen zum Risiko, die Bil¬
dung von Informationen, Denkfehler, Selbstkontrolle oder einen ent¬
sprechenden Mangel, Bedauern bei finanziellen Entscheidungen und
die Erkenntnisse der Massenpsychologie.«139
Auch George Soros stellt mit seinem Konzept der Fehlbarkeit und der
Reflexivität die derzeit herrschende Lehrmeinung vom Marktgleichge¬
wicht in Frage: »Fehlbarkeit bedeutet, daß unser Verständnis von der
Welt, in der wir leben, unzulänglich ist, und Reflexivität bedeutet, daß
sich unser Denken aktiv auf die Ereignisse auswirkt, an denen wir be¬
teiligt sind und über die wir nachsinnen.«140 Soros weist also darauf
hin, daß niemand der Wahrheit letzter Schluß kennt. In der archetypi¬
schen Sprache sind damit die Gefahren des hyperrationalen apollini¬
schen Schattens identifiziert. Im Gegensatz dazu basiert die klassische
Wirtschaftstheorie auf der Annahme des »perfekten Wissens« bei allen
126
Marktteilnehmern und betrachtet die Hyperrationalität als gegeben.
Soros sieht den Hauptunterschied zwischen Naturwissenschaften und
Sozialwissenschaften darin, daß die Meinung des Beobachters in den
Naturwissenschaften das Ergebnis nicht beeinflußt, wohingegen bei
den Finanzen und in der Wirtschaft wechselnde Erwartungen oft der
Schlüssel zu einer veränderten Realität sind.
Das archetypische Modell, das in diesem Kapitel vorgestellt wird, er¬
klärt die psychische Dynamik, die sowohl der Behavioral Finance als
auch den Kombinationseffekten der Fehlbarkeit und Reflexivität der
Boom-und-Bust-Zyklen zugrunde liegt.
Denn »ohne eine solide Kenntnis des Denkens der Massen (das oft
den Anschein eines Massenwahns erweckt) lassen unsere ökono¬
mischen Theorien noch einiges zu wünschen übrig«.141 So urteilt
Bernard Baruch im Vorwort zu Charles Mackays Werk. Baruch war
einer der erfolgreichsten amerikanischen Anleger in der Zeit vordem Zweiten Weltkrieg. Er überstand den Börsenkrach von 1929
und fungierte als Berater mehrerer US-Präsidenten. In einem an¬
deren Buch wurde er noch deutlicher: »Völkerwanderung, Kreuz¬
züge, mittelalterliche Büßerbewegung, HexenVerbrennungen, all
diese Phänomene - bis hin zum l’lorida-Boom und dem Börsen¬
krach 1929 - waren Kollektivhandlungen, hervorgerufen durch Impul¬
se, die noch keine Wissenschaft untersucht hat ... Derartige Impulse
sind so mächtig, daß sie unerwartet jeden statischen Zustand oder
sogenannten normalen Trend beeinflussen können. Aus diesem
Grund müssen ihnen aufmerksame Wirtschaftsexperten in ihren
Überlegungen einen Platz zubilligen. Ich hatte stets den Eindruck,
daß der Wahn, der die Menschheit regelmäßig heimsucht, einen
tief verwurzelten Zug in der menschlichen Natur widerspiegelt-ein Zug
ähnlich der Macht, die die Bewegung der Zugvögel beeinflußt oder die
Lemminge ins Meer treibt.«'*2
Sollte Baruch das Werk seines Zeitgenossen C.G. Jung gelesen
haben, dürfte ihm die Wissenschaft, die diese »Impulse« unter¬
suchte, nicht unbekannt gewesen sein. Tatsächlich lautet eine der
127
kürzesten Definitionen Jungs: »Archetypen sind für die Seele, was
Instinkte für den Körper sind.«143 Ein anderer Hinweis darauf, wie
nahe manche schon dem Ansatz waren, den ich vorschlage, zeigt
sich in einem Zitat von Peter Bernstein: »Alle Fälle [einer Finanz¬
panik] fügen sich zu einer erkennbaren Ereigniskette, die sich wie
eine griechische Tragödie mit leicht erkennbarer Regelmäßigkeit entfal¬tet,«144 Dieser Satz war als Metapher gedacht, ich werde jedoch zei¬
gen, daß viel mehr dahintersteckt.
Ein archetypischer Ansatz
Wir stellten im Zusammenhang mit unserem archetypischen
Menschen (Abb. 10) fest, daß wir während der letzten 5000 Jahreauf einem archetypischen »Bein«, d.h. dem Magier, »standen«. Das
bedeutet, unsere Sicht der Umwelt wurde völlig von diesem be¬
sonders ausgeprägten Yang-Blickwinkel dominiert.
Ich möchte nun zeigen, daß die Spekulationsphasen, die unser
Wirtschaftssystem heimsuchen, eine direkte Folge dieser Haltung
sind. Die griechische Mythologie bietet eine sehr präzise Beschrei¬
bung der vorliegenden Dynamik. Doch zunächst sollten wir
klären, welche Bedeutung Mythen eigentlich haben.
Die Bedeutung von Mythen
Bei Mythen handelt es sich nicht um unwahre, unwissenschaftli¬
che Geschichten über den Ursprung der Menschheit, auch wenn
das oft angenommen wird. Statt dessen sind Mythen gültige Be¬
schreibungen psychischer Sequenzen; sie sind bevorzugte Szenari¬
en, die illustrieren, wie sich bestimmte Archetypen manifestieren.
Mythen sollten daher in einem kollektivpsychologischen Sinn
verstanden werden und nicht als die »Geschichte« eines Helden
oder Gottes. Sie stehen für »Mächte, die dem menschlichen Geist
schon immer bekannt sind und das artspezifische Wissen verkör¬
pern, mit dem der Mensch über Jahrtausende überlebte«.145 My¬
then sind das Traumdenken einer ganzen Kultur.146
128
Der moderne Mensch neigt dazu, den Wert solcher alten Weis¬
heiten systematisch zu verneinen. Joseph Campbell warnt aller¬
dings: »Zweifellos ist Mythologie kein Spielzeug für Kinder. Eben¬
sowenig ist sie eine Sache archaisierenden, rein gelehrten Interes¬
ses, für moderne Menschen der Tat ohne Belang. Denn ihre Sym¬
bole (ob in der faßlichen Form von Bildern oder in der abstrakten
Form von Ideen) berühren und entfesseln die tiefsten Triebzentren
und bewegen Gebildete und Ungebildete gleichermaßen, bewegen
Menschenmeuten, bewegen ganze Kulturen.«147
In diesem Sinne sind meiner Meinung nach die alten griechi¬
schen Mythen nützliche Instrumente zur Erkundung aktueller
Probleme.
Das Apollo-Dionysos-Paar
Ich möchte Ihnen nun ein mythologisches Paar vorstellen, das
meiner Ansicht nach bei jedem unserer »irrationalen« Spekulati¬
onshysterien der letzten 300 Jahre eine Rolle spielte. Sie gehörten
zu den berühmtesten und mächtigsten Göttern des klassischen
Pantheons, und die Tatsache, daß wir sie vergessen haben, läßt sie
nicht weniger stark in unserer Mitte wirken.
Apollo und Dionysos verbindet, daß sie die zwei Lieblingssöhne
des Zeus waren und stets die beiden Pole beim Zusammenspiel
zwischen Rationalität und Irrationalität darstellten. Ich möchte
nun einen kurzen Überblick über die Geschichte dieser Götter ge¬
ben,148 zeigen, wie die beiden interagieren, und ihr Zusammen¬
spiel dann mit den bekannten Phasen des Boom-und-Bust-Zyklus
in Verbindung bringen. In der anschließenden Beschreibung sind
die Eigenschaften, die sich in Zusammenhang mit dem Phänomen
des Spekulationsfiebers als besonders wichtig erweisen, kursiv ge¬
druckt.
APOLLO
Apollo kam in der Rangfolge direkt nach Zeus und war damit ei¬
ner der wichtigsten griechischen Götter. Er galt als der Gott der
Sonne, der Prophezeiung, der Künste (besonders der Musik) und des
129
Bogenschießens. »Römer und Griechen nannten ihn übereinstim¬
mend Apollon oder Apollon Phoibos (den Lichthellen). Die bilden¬
de Kunst stellte ihn als gutaussehenden, bartlosen Jüngling von
männlicher Kraft und mit langen goldenen Locken dar.«149 Er
konnte ganze Länder mit Epidemien überziehen, sie aber auch hei¬
len.
Beziehung zum Weiblichen: Apollos Mutter Lcto wurde von der Ei¬
fersucht Heras verfolgt, der offiziellen Gattin des Zeus. Daher hat¬
te sie neun Tage lang schreckliche Wehen, bevor sie Apollo und sei¬
ne Schwester Artemis gebar, die Göttin des Mondes und der Jagd.
Apollo wuchs in nur wenigen Tagen zum Mann heran, weil The¬
mis (die Göttin von Sitte und Ordnung) ihm reinen Nektar und
Ambrosia zu essen gab.
Apollo hatte keine erfolgreichen Liebschaften und keine Partne¬
rin. Er war der größte Frauenhasser des Pantheons. Im Drama Orest
von Euripides ging er sogar so weit zu behaupten, daß die Mutter
eines Kindes keine Elternfunktion habe, die besitze nur der Vater.
Er übernahm das Orakel von Delphi (wörtlich »die Brust«), einen
Ort, der schon vor den Griechen als Heiligtum der Göttin Gaia ei¬
ne lange Geschichte prophetischer Weissagung hatte. Das Heilig¬
tum wurde von einer riesigen weiblichen Schlange namens Py¬
thon bewacht. In der Mythologie erschlägt Apollo Python und
nimmt so Delphi in Besitz. Er behauptete, daß sein »überlegenes
Wissen«, das wir heute als »intellektuelle Überlegenheit« bezeichnen
würden, ihm die Macht verliehen habe, die Fähigkeit zur Weissa¬
gung und Musik von der alten Göttin zu übernehmen. Danach
wurde er als der pythische Apollo bezeichnet, und seine männli¬
chen Priester kontrollierten die Priesterinnen, die den Namen Py¬
thia trugen und die berühmtesten Weissagungen der Antike mach¬
ten. Eine weitere Bestätigung von Apollos Rang findet sich bei Vin¬
cent Scully in seiner Untersuchung der Sakralarchitektur des alten
Griechenland: »Apollos wichtigste Tempel künden davon, daß er
normalerweise von den Griechen angerufen wurde, wenn die ehr¬
furchtgebietenden Eigenschaften der alten Erdgöttin offenbar
130
Apollo ist in einer typisch selbstsi¬
cheren Position und Haltung darge¬
stellt. Seine traditionellen Attribute
fehlen hier: Der Bogen befand sich
normalerweise in seiner linken, die
Leier in der rechten Hand, die auf ei¬
nem Baumstumpf ruht. Die Schlan¬
ge Python, die er vernichtete, ist auf
dem Stumpf zu sehen. Python war
das Symbol der Großen Mutter.
Nachdem Apollo ihren Tempel -
und ihre Priesterinnen, die berühmt
für ihre Wahrsagequalitäten waren -
in Delphi übernommen hatte, wur¬
de er Apollo Pythia, »der, der die
Zukunft treffsicher voraussieht«.
(Apollo vom Belvedere, 2.Jahrhun¬dert v.Chr.,Vatikan-Museum, Rom.)
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aas
wurden ... dort wurde der Tempel des jungen Gottes gebaut und
im allgemeinen so ausgerichtet, daß er die chthonischen Kräftenicht nur ergänzte, sondern sich auch gegen sie richtete.«150 Er war
ein Gott der Autorität, wie sich anhand einiger Inschriften an sei¬
nem Tempel ablesen läßt:
»Nichts im Übermaß.
Halte deine Zunge im Zaum.
Fürchte die Autorität.
Beuge dich vor dem Göttlichen.
Sonne dich nicht in deiner Stärke.
Halte die Frau unter Kontrolle.«151
Apollos Instrumente: Seine beiden Instrumente sind mit Saiten ver¬
sehen: Bogen und Leier. W. F. Otto bemerkte, daß für die Griechen
eine Verbindung zwischen ihnen bestand: »In beiden sehen sie ein
Geschoß nach dem Ziele abschnellen, hier den treffenden Pfeil,
dort das treffende Lied.«152 Apollos Pfeil traf mit tödlicher Genau-
131
igkeit; sein Gesang war klar und rein. Bei Homer erhielt er die Be¬
zeichnung »einer, der aus der Ferne zerstört«: Die Pfeile, die er ab¬
schoß, töteten die Opfer von weitem, wie er z. B. auch die Ferse des
Achill, des berühmten und beliebten griechischen Helden, ver¬
letzte.
Apollos emotionale Attribute: Apollo ist stets emotional distanziert
und unbeeindruckt von dem Schaden, den er anrichtet. Er kann in
der Zukunft leben und seine objektive Haltung mit absoluter
Gleichgültigkeit wahren. Apollo weist alles zurück, was in seine
Nähe kommt: Er bleibt distanziert, unberührt, hyperrational und
ist unfähig zur Selbstbeobachtung. Seine verletzten Gefühle be¬
herrscht er stets, indem er sich durch intellektuelle Abstraktion
von seinen Gefühlen distanziert.
DIONYSOS
Dionysos (bei den Römern »Bacchus« genannt) war der Gott der
»Verzückung und des Schreckens, der Wildheit und der seligsten Be¬
freiung«. Er war der jüngste der Götter des Olymp und der einzige
mit einer sterblichen Mutter. Ginette Paris fängt seine Energie bild¬
haft ein: »Es ist Dionysos, der uns [bei sexuellem Verlangen] dazu
bringt, uns die Kleider vom Leib zu reißen (oder zumindest Knöp¬
fe öffnen läßt), unser Haar durcheinanderwirbelt, die Dinge um¬
wirft und die Nachbarn stört.«153 Sie geht sogar noch weiter: »Das
Gesicht eines Mannes kurz vor dem Orgasmus hat stechende Au¬
gen mit erweiterten Pupillen, voller Macht, wie die eines Tieres,
das man bei Nacht überrascht. Sein Gesicht verdüstert sich, die
Venen schwellen, er wird wahnsinnig. Manchmal knurrt er,
stöhnt, schreit auf. Dionysus lebt wieder!«
Es mag niemanden überraschen, daß es Dionysos unter christli¬
chem Einfluß nicht gut erging. »Sie konnten mit Spiritualität und
Ekstase, die über den Körper erlangt wurde, nichts anfangen, da¬
her machten sie aus dem Gott Dionysos den Teufel Dionysos ...Die Götter Pan und Priapus, die zum Dionysoskult gehörten und
mit Bocksbeinen, 1 iörnern und Ziegenbart bzw. einem erigierten,
132
Dionysos in ekstatischer Trance,
umringt von tanzenden Faunen.
Er ist der »Auflöser aller Grenzen
und Zwänge«. Pflanzen und
Glockenspiele sind ebenfalls
dargestellt. (Von einer klassi¬
schen griechischen Vase; Zeich¬
nung von Moreno Tomasetig.)
TMiL
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vi1 Bviwm
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zum Himmel zeigenden Phallus dargestellt wurden ..., wurden zu
einer der populärsten Darstellungen des Teufels.«154
Die modernen westlichen Sprachen verfügen nur über einen
sehr begrenzten Wortschatz, wenn es gilt, Ausgelassenheit und Ek¬
stase zu beschreiben. Im Sanskrit gibt es dagegen über 200 Formen
von cinanäa155 (= »Wonne«), und die Griechen kannten noch meh¬
rere Dutzend Ausdrücke dafür. Daher haben es Übersetzer schwer,
Worte für die dionysische Energie zu finden, ohne in das Vokabu¬
lar zu fallen, mit dem Psychiater Pathologien beschreiben.
Beziehung zum Weiblichen: Dionysos war wie Apollo ein Sohn des
Zeus und einer sterblichen Mutter namens Semele. Auch diese
wurde von Heras Eifersucht verfolgt. Hera stellte ihr eine Falle. Sie
brachte Semele dazu, Zeus zu bitten, sich vor ihr in seiner vollen
Herrlichkeit zu präsentieren. Als Zeus sich in den Gott des Blitzes
verwandelte, tötete seine Macht Semele, ließ jedoch ihren noch
ungeborenen Sohn unsterblich werden. Zeus nähte Dionysos mit
goldenen Klammern in seine Hüfte ein und rettete so seinen Sohn.
Nur zwei Monate später wurde Dionysos geboren. Einer seiner
Namen lautet »göttliches Kind« - Puer aetemus 156 (= »ewiger Jüng¬
ling, ewiges Kind«) weil er direkt von einem Gott geboren wur¬
de. Anfangs erzog man ihn als Mädchen, und Kybele (die dunkle
Mondgöttin) lehrte ihn ihre Mysterien und Initiationsriten. Als
Kind spielte Dionysos unter dem Namen Iakchos als Führer der
133
Initiierten zum I’empel der Göttinnen eine wichtige Rolle bei den
Eleusinischen Mysterien.157 Dionysos ist der einzige griechische
Gott, der Frauen, die Göttinnen darstellen und zuvor in der grie¬
chischen Mythologie vernichtet worden waren, rettet und ihren
Status wiederherstellt. So errettet er beispielsweise seine Mutter Sc-
mele, ebenso Ariadne, die seine Frau wird. Obwohl er von sexuel¬
ler Promiskuität umgeben ist, verkörpert er paradoxerweise auch
den einzigen Gott in der griechischen Mythologie, der seiner Gat¬
tin Ariadne, der Vegetationsgöttin, treu bleibt. Über seine Frau
wurde Dionysos mit der Vegetation, dem Weinberg, Früchten,
dem Frühlingserwachen und sexueller Fruchtbarkeit in Verbin¬
dung gebracht.
Die Verehrung des Dionysos war überwiegend ein Kult der Frau¬
en und fand in den wildesten Teilen der Berge statt. Dort wurden
die Frauen zu Mänaden: das Gefolge des Gottes, das sich in einem
emotionalen und irrationalen Wahn ekstatisch mit ihm verband. Die¬
se Feiern wurden bei Nacht abgehalten und Orgia genannt: wilde
Tänze bei Wein und anderen heiligen Rauschmitteln sowie rasen-
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Dionysos, gekrönt mit Weinlaub und umringt von tanzenden Mänaden (den
»wahnsinnigen Frauen«). Beachten Sie die Panflöte, die von der Frau links ge¬spielt wird. (Klassische griechische Vase.)
134
der Musik von Trommeln, Becken, Systrum und Panflöten. Der
Höhepunkt war erreicht, wenn ein Opfertier, das den Gott selbst
darstellte, in Stücke gerissen und roh verzehrt wurde, danach wur¬
de sein Fell getragen.
Mehrere heutige Schlüsselbegriffe, die für unseren Zyklus der
Spekulationsphasen relevant sind, haben hier einen Bezug: »Ma¬
nie« stammt von den Mänaden, »Orgie« von Orgia und »Panik«
von Pan. Selbst moderne Bezeichnungen wie »Schwarzer Freitag«
für den Börsenkrach von 1929 weisen kurioserweise auf die »dunk¬
le Nachtseite« der dionysischen Tradition hin. Im Bereich der
Anekdote liegt, daß die heute noch existierende weibliche Sitte,
Pelze zu tragen, sich die Lippen rot zu schminken und Nägel zulackieren, ebenfalls auf diese Rituale zurückgeht.
Die klassische griechische Tragödie, die zu den ersten bewußt »er¬
fundenen« Literaturformen überhaupt gehört, erlebte ihre ersten
Aufführungen in Athen im Jahr 534 v. Chr. in Verbindung mit dem
Dionysos-Kult. Danach fiel die alljährliche »Theatersaison« mit
dem Monat zusammen, der in der Stadt den Dionysien geweiht
war.158
Die Attribute des Dionysos:Seine Beigaben sind keine Artefakte, son¬
dern Pflanzen. Dionysos' Gemahlin Ariadne entspricht der alten
kretischen Göttin der Vegetation und der Früchte, Fruchtbarkeit
und Sexualität. Weintraube, Efeu und Myrte werden von Dionysos
besonders geschätzt. Seine berühmteste Gabe ist natürlich der An¬
bau von Trauben und ihre Vergärung zu Wein. Das populäre Bild
des römischen Bacchus konzentrierte sich ausschließlich auf dieses
Attribut. Aber ganz allgemein zählen alle bewußtseinsverändern¬
den und psychotropen Erfahrungen zu seinem Ressort.
Dionysos' emotionale Attribute: Es gibt zwei emotionale Attribute,
die Dionysos zugeschrieben werden: das »ewige Kind« und der ra¬
sende orgiastische Gott. Ovid verleiht Dionysos den Titel des Puer
aeternus in Form des Kindsgottes Iakchos der Eleusischen Mysteri¬
en.159 Als das »göttliche Kind« verkörpert er eine gewisse Unschuld
135
und einen Sinn für das Schicksal. Er entkommt naiv der materiel¬
len Welt und »kann beeinflußt uncl leicht überzeugt werden«J60 Er
vermag leichtfüßig »die Treppe zu den Sternen« zu erklimmen. Er ist
der vorbehaltlose Träumer und Enthusiast, der sich so in seine Ge¬
fühle verstricken kann, daß alles andere aus seinem Bewußtsein
schwindet. Die »Blumenkinder« der 60er Jahre verkörperten die¬
sen Aspekt des Dionysos.
In seiner erwachsenen Form wird Dionysos wie Pan zur chaoti¬
schen Auflösung des Unterdrückten. Er zwingt jeden, der sich zu sehr
festklammcrt, loszulassen, entweder freiwillig oder durch den Tod.
Es war Dionysos, der König Midas den Wunsch erfüllte, daß alles,
was er anfaßte, zu Gold wurde. Diese Gabe war jedoch tödlich, sie
verdammte den Beschenkten nämlich zum Hungertod. Erst ein
Bad im Fuß Paktolos befreite ihn davon. In dieser Geschichte ist
Dionysos wie in vielen anderen Erzählungen vor allem ein Ar¬
chetyp der Extreme und starker Gegensätze: Ekstase und Schrecken,
die totale Vereinigung und völlige Auflösung, überschäumendes Le¬
bet! und schrecklicher Tod. Der erwachsene Dionysos kennt keine
Grenzen, keine sozialen oder anderen Zwänge. Der traditionelle
Schamane etwa ist eine Verkörperung des erwachsenen Dionysos.
DIE APOLLO-DIONYSOS-POLARITÄT
Apollo und Dionysos weisen einige bezeichnende gemeinsame Ei¬
genschaften auf. Sie sind Halbbrüder, Söhne von Zeus, dem mäch¬
tigsten männlichen Gott. Auch haben beide ein »geschädigtes«
Verhältnis zu ihrer Mutter. Apollo aufgrund seiner langen und
schmerzhaften Geburt und Dionysos, weil er gar keine Mutter hat,
die ihn gebar. Da »Mutter« und »Materie« wie gesagt den gleichen
archetypischen Ursprung haben, bedeutet dies in der Praxis, daß
keiner der beiden eine »begründete Materialität« besitzt. Apollo flüch¬
tet sich in die abstrakte Rationalität, während Dionysos durch die
Mänaden weiter den Halt verliert und sich in völliger Emotionali¬
tät auflöst. Als Folge ihrer gemeinsamen Haltlosigkeit sind beide
nicht zur Selbstbeobachtung fähig. Auf die heutige Situation über¬
tragen, vermag dieses archetypische Muster zu erklären, warum
136
» Wall Street sich selten mit Selbstanalyse befaßt«, wie Robert Sobel
bemerkte.161
Abgesehen von diesen Gemeinsamkeiten befinden sieh die bei¬
den Götter im wahrsten Sinne des Wortes am jeweils entgegenge¬
setzten Ende des Spektrums, wie die folgende Gegenüberstellung
zeigt:
Apollo Dionysos
keine Kindheit ewige Kindheit
haßt Frauen geht in Frauen auf
keine Grenzen, ekstatische
Vereinigung
übertriebene Grenzen, Distanz
Ordnung, harmonische Musik Unordnung, dissonanter Lärm
Sonnenlicht, Klarheit Nacht, Dunkelheit
hyperrational, keine Emotionalität irrational, völlige Emotionalität
Trotz oder vielmehr aufgrund dieser Polarität sieht Nietzsche in
»Apollo und Dionysos zwei Seiten derselben Münze«.162 Gilbert
Durand benutzt das Bild von Tag und Nacht für die gleiche Aussa¬
ge. Er sieht Dionysos als Teil des »Nacht-Modus«'6* - nächtliches
Bewußtsein in Verbindung mit Mond, Feuchtigkeit, Frauen, Se¬
xualität, Gefühlen, Körper und Erde - im Gegensatz zum »Tages-
Mudus« in Zusammenhang mit Sonne, Trockenheit, allem Ratio¬
nalen, Ordentlichen und Apollinischen. Ginette Paris betont:
»Wenn einer Kultur nur apollinisches Sonnenlicht zuteil wird,
trocknet sie aus und stirbt; wenn sic umgekehrt zuviel dionysische
Feuchtigkeit erhält, fault sie und wird wahnsinnig. Eine hyper-
technologisierte, hyperrationale Gesellschaft ist in gewisser Weise
so widersinnig wie eine antiintellektuelle Rock-'n'-Roll-Subkultur.
Wir brauchen Dionysos und Apollo.«164 Die enge Beziehung zwi¬
schen den beiden Polen wird noch deutlicher, wenn man die My¬
then über ihr Zusammenspiel berücksichtigt.
137
DAS ZUSAMMENSPIEL VON APOLLO UND DIONYSOS
Die mythologische Beziehung ist sehr deutlich: »Im Allerheiligsten
des Apollo-Tempels befand sich das Grab des Dionysos. Jedes Jahrüberließ Apollon während der drei Wintermonate Dionysos sei¬
nen Tempel, während er selbst weit nach Norden, ins Reich der le¬
gendären Hyperboreer zog.«165 Darüber hinaus erkannte man mit
dem dionysischen Fest in Delphi offiziell an, daß alle zwei Jahredie Herrschaft des Dionysos anbrach. Frauen begannen mit dem
heiligen Tanz, in dem die Entdeckung und das Erwachen des Kindes
Dionysos in einer Wiege nachgespielt wurde. Das Ritual steigerte
sich zur orgiastischen Raserei und endete mit dem symbolischen Tod
des erwachsenen Dionysos durch Zergliederung. Anschließend kehr¬
te der Gott bis zum nächsten Zyklus wieder in die Unterwelt zu¬rück.
Eine andere aufschlußreiche Darstellung findet sich bei Euripi¬
des in seinem berühmten Drama Die Bakchen. Die Handlung be¬
ginnt mit der Rückkehr des Dionysos nach Theben, seinem Ge¬
burtsort. Pentheus, der apollinische Herrscher der Stadt, »erkennt
seine Göttlichkeit nicht« und weist ihn zurück. Er verbietet alle
dionysischen Rituale aus Furcht, sie könnten die öffentliche Ord¬
nung stören. Eine Gruppe von Frauen beschließt, sich der Anord¬
nung zu widersetzen, und begibt sich in die Berge, um dort das Ri¬
tual zu begehen. Unter ihnen ist Agave, die Mutter von Pentheus.
Der Herrscher versteckt sich in einem Baum, um die Frauen aus¬
zuspionieren. Er wird aber entdeckt. In ihrer Raserei halten die
Frauen Pentheus fälschlicherweise für das Opfertier und reißen
ihn in Stücke. Agave, seine Mutter, hält schließlich triumphierend
seinen Kopf in die Höhe.
James Hillman meinte zu dieser Szene: »Dionysos sendet den
Wahn, die dunkle Kehrseite des Dionysischen, nicht seinen Ge¬
treuen, die sich seinem Wunder hingeben, sondern seinen Feinden,
die sich gegen ihn wehren.«166 Anders ausgedrückt werden gerade die
Menschen, die sich an die apollinische Hyperrationalität klam¬
mern, zu Opfern des dionysischen Wahns. Heutzutage bezeichnet
man mit der »Verachtung des Dionysos« hyperrationale Kontroll-
138
versuche und mit »dionysischem Wahn« die Raserei, auf die eine
Panik folgt.
Nun haben wir alle Teile des Mythos beisammen, die uns bei der
Entschlüsselung der Spekulationsmanie helfen können.
DAS ARCHETYPISCHE ENTSCHLÜSSELN DER FINANZHYSTERIEN
Jede Phase des traditionellen Boom-und-Bust-Zyklus läßt sich mit
einer Begebenheit aus der Welt der Archetypen gleichsetzen. Die
Tabelle faßt das Ergebnis zusammen.
Phase Geschichte desFinanzmarktes
ArchetypischeGeschichte
1 . Aufbau Marktexperten beginnenüber großes Gewinnpotentialzu sprechen.
Apollinische Hyper¬rationalität präsentiert
Weissagungen für dieZukunft.
2. »Feeding
Frenzy«Kleinanleger, die »Lämmer«,
beteiligen sich: »Treppe zu denSternen«.167
Das naive Kind (Puer
aeternus) wird gebo¬ren: »Treppe zu den
Sternen«.
Kaufwahn wird plötzlich durcheinen Verkaufswahn abgelöst.Die Seifenblase platzt.
3. Die Panik Orgiastischer Wahn,
Extreme werden ge¬lebt. Der reife Diony¬sos wird »zerstückelt«.
4. Aufsammelnder Scherben
Eine »Kommission weiser Män¬ner« nimmt die Ermittlungenauf. Regulierungen sollen dafürsorgen, daß »so etwas nie wie¬der passiert«.
Apollo kehrt von den
Hyperboreern zurück.Dionysos geht wiederin die Unterwelt.
Apollo symbolisiert für unsere Zwecke den hyperrationalen Geist
- den Eckpfeiler der Wirtschaftswissenschaften und die einzige
Form des Handelns für den Homo oeconomicus: Der professionel¬
le Händler ist zurückhaltend, distanziert, zeigt sich gleichgültig ge¬
genüber dem Schaden, der anderen entsteht, er ist gefühllos, lo¬
gisch, hyperrational und zu keinerlei Selbstbeobachtung fähig. Tch
weiß das! Ich selbst habe diese Tätigkeit fünf Jahre lang ausgeübt.
139
Puer ist geboren
Diese apollinische Anzeige von Incorporated Investors, die an den Puer
gerichtet ist, erschien am 14.8.1929 im Wall Street Journal. Sie spricht
völlig für sich selbst. Am 24./25.10.1929 kam es zum großen Börsen¬
krach.
»Das größte Erbe, das wertvollste Geburtsrecht besteht dieser Tage
darin, ein Amerikaner zu sein.
Denn nie zuvor war ein Land so glücklich, so wohlhabend und so fried¬
voll wie Amerika heute.
Noch nie war der Horizont so weit, standen einem Mann so große
Möglichkeiten für die besseren Dinge offen, denn nie war der Reich¬
tum, von dem diese Freuden abhängen, so leicht zu erlangen wie im
heutigen Amerika.
In der Schaffung neuen Reichtums in sagenhafter Fülle liegt Amerikas
besondere Begabung.
Die breitgefächerte Verteilung dieses Reichtums ist seine größte Ent¬
deckung.
Und jeder kann daran teilhaben!
Incorporated Investors bietet die ideale Methode.
Durch seine voll gewinnberechtigten Aktien gibt Incorporated Investors,
ein Unternehmen wie gemacht für das neue Amerika, das Wachstum
und den Gewinn der größten expandierenden Unternehmen weiter.«
Der Handel soll nur über den Verstand ablaufen. Professionelle
Händler arbeiten am besten, wenn sie frei von Emotionen sind.
Ich erinnere mich, wie ich einmal einen der größten und erfolg¬
reichsten Devisenhändler in New York besuchte. Während ich
mich mit ihm in seinem Büro unterhielt, schloß er, umgeben von
Computermonitoren, die ganze Zeit über Geschäfte ab. Am Ende
unseres Gesprächs hatte ich keinerlei Anzeichen bemerkt, ob er in
dieser Stunde nun eine Million Dollar verdient oder verloren hat¬
te - die perfekt gefühllose, professionelle Haltung.
Obwohl uns die Kubakrise näher als je zuvor an den Rand eines
Atomkrieges gebracht hatte, blieb die Börse davon völlig un¬
berührt, auch wenn dies das Ende unserer Zivilisation hätte be-
140
deuten können. Während des gesamten Zweiten Weltkrieges war
die Amsterdamer Börse offen, ganz und gar unbeeindruckt vondem Geschehen in der restlichen Welt.
Wenn man Börsenanalytikern zuhört, könnte man meinen, sie
würden die Zukunft kennen. Die Börsenspezialisten sind »Apollos«, die
von Delphi aus sprechen. Das geht sogar so weit, daß sie zukünftige
Gewinne und Verluste bereits berechnen.
Doch es kommt immer wieder zu größeren und »grandioseren«
Zusammenbrüchen: Charles Kindleberger hat eine interessante
Auswahl an Zitaten aus Zeitungen, Regierungsberichten und Ex¬
pertenmeinungen der letzten beiden Jahrhunderte zusammenge¬
stellt (s.Tab.).168 Sie bieten einen Überblick, wie Zusammenbrüche
im Laufe der Zeit wahrgenommen werden. - Plus $a change, plus
c'est la meme chose ...l69
Jahr Ort Zitat
1772 Großbritannien »Einer der wildesten Finanzstürmedes Jahrhunderts.«
1825 Großbritannien »Bevölkerung von noch nie dagewese¬ner Panik ergriffen.«
1837 USA »Eine der katastrophalsten [PanikenJ,die das Land je erlebt hat.«
Großbritannien »In den letzten sechs Monaten riskan¬
teste und rücksichtsloseste Spekulationder Neuzeit.«
1847
Großbritannien1857 »Schwerste Krise, die England oderein anderes Land je durchgemachthat.«
1857 Hamburg »Eine so totale und klassische Panikwie diese hat Hamburg noch nie er¬lebt.«
1857 Hamburg »Panik von bisher unbekannterWucht.«
Großbritannien1866 »Krise von 1866: schwerste der Neu¬
zeit.«
Großbritannien1866 »Wilder als alles seit 1825.«
141
Jahr Ort Zitat
Deutschland1873 »In 56 Jahren gab es keine so langwie¬
rige Krise.«
1882 Frankreich »Noch nie erlebte ich eine derartigeKatastrophe.«
1929 »Die größte Spekulationsmanie der
Moderne - tatsächlich sogar seit dem
Südseeschwindel.«
USA
Die Bedeutung des Apollo-Dionysos-Mythos heute
Die jahrtausendealten Erzählungen der Griechen enthalten zwei
wichtige Lektionen für uns Heutige darüber, wie das Apollo-
Dionysos-Paar interagiert. Bei beiden handelt es sich je um ein Pa¬
radoxon. Der moderne Mensch neigt dazu, Paradoxa in geradezu
apollinischem Ausmaß abzulehnen. Doch die eigentliche Lektion
ist vielleicht die, daß wir den Umgang mit Widersprüchen lernen
müssen, anstatt sie rundweg abzulehnen:
Paradoxie Nr. 1: Manien und Crashes gehören zu der hyperratio¬
nalen Art, mit der Profis normalerweise auf dem Markt auftreten.
Mythologisch betrachtet, befindet sich das Grab des Dionysos im Hei¬
ligtum des Apollo, und Dionysos erwacht regelmäßig. Unser Erstaunen
über die »plötzliche Irrationalität« in angeblich rationalen Märk¬
ten hätten die alten Griechen nicht teilen können. Schließlich
wußten sie so sicher, wie daß die Nacht auf den Tag folgt, daß nach
jeder ausgedehnteti apollinischen Phase zwangsläufig ein dionysischer
Wahn kommt. Booms und Crashes sind ein Hinweis darauf, daß ar¬
chetypische Schatten immer wieder hervortreten. Auch wenn die¬
se Erkenntnis für das apollinische Ego vielleicht sehr demütigend
ist, die Illusion, daß wir Marktvorgänge verstehen, hat sich wie¬
derholt als haltlos erwiesen. James Hillman formulierte das so:
»Unser Leben folgt mythischen Figuren: Wir handeln, denken und
fühlen nur so, wie es ursprüngliche Muster in unserer Vorstel¬
lungswelt zulassen.«170
142
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Paradoxie Nr. 2:Je hyperrationaler ein Markt ist, desto wahrschein¬
licher kommt es zu einer Panik.
In der Mythologie wird, wie aus den Bakchen von Euripides her¬
vorgeht, am Ende der apollinische Herrscher in Stücke gerissen, und
nicht derjenige, der sich auf die »Unordnung« des dionysischeti Raumes
einläßt.Anders ausgedrückt, je mehr wir uns gegen die dionysische Un¬
sicherheit wappnen, desto stärker ziehen wir den »Wahn« an. Das
könnte erklären, warum gerade die am weitesten entwickelten
Märkte oft vom Spekulationsfieber heimgesucht werden. Gerade
wegen ihres hohen Entwicklungsstandes hält sich die Illusion der
Kontrolle besonders hartnäckig. Je mehr Schutzvorrichtungen wir
erfinden, um eine permanente apollinische Sicherheit zu gewähr¬
leisten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, einen dionysi¬schen Ausbruch heraufzubeschwören.
143
Stanley Passy meint dazu: »Die Vorstellung, daß jemand die Zu¬
kunft mit Gewißheit vorhersehen kann, trägt den dunklen, tödli¬
chen Schatten der Panik in sich. Objektive Vermögensverwaltung,
technische Analysen und Computermodelle existieren parallel zu
Fusionsmanien, Markttrends und Zusammenbrüchen.«171
Wenn die Schlußfolgerungen aus diesem Kapitel zutreffen, müs¬
sen wir mit dem unbequemen Gedanken leben, daß der Weltdevi¬
senmarkt momentan als der fundierteste Markt der Weltgeschich¬
te gilt. Die kompliziertesten mathematischen Methoden, die es je
gab, gehören dort zum Standard. Der globale Währungsmarkt, der
erste voll integrierte, 24 Stunden offene, globale Markt überhaupt,
boomt. Supercomputer mit neuronalen Netzmodellen aus der Ra¬
ketentechnik kontrollieren und handeln online ständig die wich¬
tigsten Währungen. Die apollinische Gewißheit schimmert so¬
wohl bei den Devisenspekulanten als auch bei den regelnden
Behörden durch. Was das für uns bedeutet, geht beispielsweise aus
dem Text im Kasten hervor.
Im Gegensatz zu den bisher aufgeführten Fällen werde ich nun in
den nächsten beiden Kapiteln untersuchen, welche Veränderun¬
gen im Währungssystem auftreten, wenn der Archetyp der Großen
Mutter in einer Gesellschaft geehrt wird. Bekanntermaßen belegen
historische Fakten, daß, wenn dieses Urbild in einer Gemeinschaft
geachtet wurde, Währungssysteme entstanden, die sich stark von
unserem unterscheiden. Mehr noch, diese Währungssysteme führ¬
ten zu einem ungewöhnlich breit gefächerten wirtschaftlichen
Wohlstand.
Soweit wir wissen, gab es in der Zeit auch keine Spekulations¬
phasen. Kindleberger definiert den Boom-und-Bust-Zyklus als ein
wiederkehrendes Schema im Wirtschaftsleben des Kapitalismus,
d. h., dieser Kreislauf trat nur während der letzten etwa 350 Jahreauf. Gesellschaften, in denen der Archetyp der Großen Mutter ver¬
ehrt wurde, zeichnen sich hingegen durch lange Zeiträume von
bemerkenswerter wirtschaftlicher Stabilität aus, deren Länge sich
in Jahrhunderten messen läßt!
144
Die Relevanz für heute172
Im folgenden werden Aussagen von Finanzexperten aus leitenden Po¬
sitionen in bezug auf das Weltwährungssystem zitiert. Zum ersten Mal
geben sie öffentlich zu, daß das System außer Kontrolle geraten ist.
•»Dies ist in vielerlei Hinsicht eine beispiellose Situation«, erklärte der US-
Finanzminister, der in seinen 26 Jahren als Händler an der Wall Street
und dann als Co-Chairman der Investmentfirma Goldman Sachs meh¬
rere größere Preisverfälle mitgemacht hat. »Wir haben noch nie er¬
lebt, daß so viele Länder alle gleichzeitig in Schwierigkeiten sind ...«
•»Wir befinden uns in einer wirklich gefährlichen Situation, die bei
weitem nicht völlig rational ist«, meinte Michel Camdessus, Direktor
des Internationalen Währungsfonds, der im November 1999 seinen
Rücktritt für Februar 2000 »aus persönlichen Gründen« ankündigte.
»... Das Ausmaß der momentanen Panik übt eindeutig einen unge¬
heuren und unfairen Druck auf viele Länder aus.« Für Camdessus ist
das ein ganz neuer Ton. Er hatte in Indonesien ein Abkommen mit
Präsident Suharto unterschrieben, von dem er überzeugt war, daß esvertrauensbildend wirken würde - und innerhalb weniger Wochen
danach wurde das Land von einer Gewaltwelle, wirtschaftlichem
Chaos und politischen Unruhen heimgesucht. Er hatte auch erklärt,
es gäbe keine Krise in Rußland, und kurz darauf war die Katastrophe
da.
•»Der ganze Ton hat sich verändert, für jeden«, befand Jeffrey Garden,
Dekan der Yale School of Management, der früher eine leitende Po¬
sition im Handelsministerium bekleidete. »Vor einigen Monaten spra¬
chen die Leute noch davon, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen.
Jetzt hofft man nur noch, die Weltwirtschaft vor dem völligen Zu¬
sammenbruch zu bewahren. Und man hat das Gefühl, daß alles nunwirklich Adam Smith' unsichtbarer Hand überlassen bleibt - denn
kein Land, keine Institution kann das kontrollieren.«
Das ist besonders heute von großer Bedeutung, denn wie gesagt
findet derzeit ein Wertewandel in unserer Gesellschaft statt, der
auf ein Wiedererwachen der weiblichen Energie hindeutet. Gleich¬
zeitig entstehen bereits wieder Währungssysteme, die in gewisser
Weise den Systemen ähneln, die in den beiden folgenden Fällen
vorgestellt werden.
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