Post on 06-Apr-2016
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architheseIdentitäten Ein janusköpfiger KontinentKoexistenz von Widersprüchen
Austerität Kreative Wege in Zeiten der Knappheit Junge Mindsets abseits der Institutionen
Grenzen Offenheit vs. Festung Die Schweiz als Insel
Symbolische Bauten EU-Neubauten inFrankfurt, Brüssel und Wien
6.2014 Dezember
Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
International thematic review for architecture
Die Architektur Europas | Fresh Europe
10 archithese 6.2014
1 Coop Himmelb(l)au, Europäische Zentralbank, 2014. Das fertige Ensemble aus den beiden Hochhaustürmen, der Grossmarkthalle und dem auskragenden Verbindungselement aus nordwestlicher Richtung (Fotos 1+5: Robert Metsch © Europäische Zentral-bank)
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A R C H I T E K T U R A K T U E L L
Gebautes Symbol
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COOP HIMMELB( L )AU: EUROPÄISCHE
ZENTRALBANK, SONNEMANNSTRASSE,
FRANKFURT AM MAIN
«Europa traut sich nicht, ein stolzes,
kühnes Gebäude zu entwerfen», hat Rem
Koolhaas vor Kurzem in einem Interview
gesagt. Europäische Architektur sei geprägt
von «ästhetische[m] Duckmäusertum».1
In diesen Wochen beziehen rund 2700 Banker
den Neubau der Europäischen Zentral-
bank in Frankfurt. «Jetzt haben wir eine
europäische Architektur», kontert Wolfgang
Prix, Kopf des Wiener Architekturbüros
Coop Himmelb(l)au: «Der Bau drückt aus,
was Europa ist und was es sein kann – er
ist ein dreidimensionales Zeichen.» 2
Der Neubau versucht also einmal mehr eine
Antwort auf die Frage zu finden, wie sich
die Europäische Union versteht und welchen
Platz darin die Zentralbank einnimmt,
deren Geldmarktpolitik nach Meinung vieler
längst zu einer Art europäischer Neben-
regierung geworden ist.
Autor: Frank Maier-Solgk
Die Bedeutung der Institution Zentralbank für den
Wirtschaftsraum Europa ist unbestritten. Doch was
genau wollen die elliptisch verdrehten Doppeltürme
im Frankfurter Osten signalisieren? Inmitten der
Leere des ehemaligen Handelshafens am Mainufer
fallen sie unweigerlich auf. Weit ziehen sie die ver-
traute Silhouette von «Mainhatten» auseinander und
stellen ihrer dicht gedrängten Mitte einen einsamen
Solitär gegenüber. Die gläserne, hoch aufragende
Triumphgeste kennt man von anderen Bankgebäu-
den, doch in seiner formalen Extravaganz gibt der
Bau dennoch Rätsel auf. Eine eindeutige Sprache
spricht die neue Zentralbank jedenfalls nicht – sie
gibt sich vielstimmig, mitunter widersprüchlich. Der
Ausdruck wechselt zwischen Prosa und Poesie. Als
Coop Himmelb( l )au noch als enfants terribles der
Architektenszene galten, wollten sie Architektur
brennen sehen. Wenn das Büro aktuell für 1,2 Mil-
liarden Euro ein Gebäude für die Hüter des Geldes
von 340 Millionen Menschen errichtet, gerät die
Architektur allerdings eher zu einer kühlen Macht-
demonstration. Die Symbolik strahlt dabei weder
Ruhe noch Stabilität aus. Sie gibt sich als kunstvol-
le Reflexion über das Verhältnis von Beständigkeit
zu Veränderung, von Vergangenheit zu Gegenwart.
Politische Ikonografie
Auf den Euro-Banknoten, welche die Zentralbank
ausgibt, sind stilisierte Gebäudetypen von der An-
tike bis zum 21. Jahrhundert zu sehen. Sollte ent-
sprechend auch der Neubau der Zentralbank auf
historisches Vokabular zurückgreifen? Oder geht
es um eine gegenwärtige Vielfalt oder den Versuch,
integrative Prozesse mit Mitteln der Architektur ab-
zubilden? Anders als bei den klassischen politi-
schen Institutionen ist für diesen Typus nichts vor-
gegeben. Parlamentsgebäude und Parteizentralen,
Regierungssitze und Senatsgebäude haben ihre
Muster. Die Ikonografie politischer Architektur
scheint festgelegt und ist kaum misszuverstehen.
In der Regel geht es um die Darstellung von Volks-
souveränität, Würde und Macht – wozu in Deutsch-
land bekanntlich auch die Variante ihrer Negation
gehört. Die deutsche Demokratie der Nachkriegs-
zeit präsentierte sich in flachen, verglasten Pavillons
und bediente sich einer Rhetorik der Nahbarkeit und
Transparenz. Weltweit geben sich Regierungs- und
Amtsbauten mal historistisch, mal klassizistisch –
oder von kühner Modernität wie in Brasilia. Interna-
tionale Organisationen wie die UNESCO oder eben
auch die EU liebten es des Öfteren emblematisch,
um ihr Selbstverständnis und ihren Anspruch zu
artikulieren. Vom Pariser UNESCO-Haus an der
Place de Fontenoy ( Pier Luigi Nervi / Marcel Breuer /
Bernard Zehrfuss, 1958) über das Europäische
Patentamt in München ( Ackermann & Partner Ar-
chitekten, 2008) bis zum Berlaymont-Gebäude der
Europäischen Kommission in Brüssel ( Lucien de
Vestel / Jean Gilson / André Polak / Jean Polak, 1967)
versuchte man mehrfach mit sternförmigen Grund-
figuren die kontinentale Einheit darzustellen, und
nahm damit auf die zwölf Sterne der EU-Flagge als
Symbol der Einheit Bezug. Wie aber soll sich eine
Einrichtung wie die 1998 in Frankfurt institutionali-
sierte EZB architektonisch darstellen? Sie agiert auf
einer abstrakten Ebene und hat nicht Volkes Wille
auszudrücken, sondern Währungsaufgaben zu ko-
ordinieren. Mittlerweile hat sie jedoch eine grosse
finanz- und wirtschaftspolitische Macht erlangt, weil
sie sich im Verlauf der vergangenen Krisenjahre von
einem Währungshüter zu einer Art Rück-Rückver-
sicherung unser aller Finanzen gewandelt hat.
Ein Rundbau mag für das Parlament in Straß-
burg ( Architecture Studio, 1999 ) eine adäquate
Form darstellen; ein golden schimmerndes Ensem-
ble aus Palais, Hochhausscheiben und Sitzungssaal
kann die hermetische juristische Sphäre artikulieren,
wie der Neubau des Europäischen Gerichtshofs in
Luxemburg (Dominique Perrault, 2009), und ein
Würfel mit einer Fassade aus recycelten Holzfens-
tern, der einen herzförmigen Sitzungssaal um-
schliesst, vermag – wie der Europäische Rat in
Brüssel ( Philippe Samyn, 2015, in diesem Heft auf
Seite 16 –20 besprochen ) – die Versammlungsidee
anzudeuten. Kann eine Bank aber etwas anderes
kommunizieren als spiegelnde Macht, Sicherheit
und Grösse, wie man es weltweit von New York bis
Singapur von Geschäfts- und Wohnhochhäusern
zur Genüge kennt? In welcher Sprache und mit
welcher räumlichen Grammatik artikuliert sich eine
Institution nach aussen, deren offizielle Verlautba-
rungen – auch wenn sie mitunter nur aus Halbsätzen
ihres Präsidenten bestehen – an den Börsen der
Welt die Kursentwicklungen der Wertpapiere ent-
scheidend beeinflussen?
«Architektur kann heute nicht mehr illustrativ
sein», sagt Prix. Schon gar nicht die avantgardisti-
schen Entwürfe von Coop Himmelb( l )au, möchte
man ergänzen. Der Bau verkörpere values, sagt der
Architekt aus Wien. Diese Werte haben die Bauher-
ren wie folgt formuliert: Transparenz, Festigkeit
beziehungsweise Stabilität, Kommunikation und
Flexibilität. Ein landmark sollte das Gebäude sein,
aber doch auch klar in seiner Lesbarkeit und nicht
zu prätentiös. Wie setzt man derartige Vorgaben
um? Wie artikuliert man diese Werte architekto-
nisch? Zudem gab es natürlich hohe Sicherheits-
auflagen, die nicht kommuniziert werden dürfen.
Etwas ernüchtert muss man feststellen, dass diese
values an Marketingvokabular erinnern, das in seiner
Allgemeinheit von fast jedem Unternehmen formu-
liert werden könnte. Um herauszufinden, was durch
den Bau kommuniziert wird, muss man sich vor Ort
begeben und ihn selbst betrachten.
Splendid isolation
Die offenkundigste Botschaft der neuen EZB lautet
Distanz. Der Bau ist erkennbar auf Fernwirkung
kalkuliert; sein Motto ist splendid isolation. Das zeigt
sich unter anderem daran, dass seine Eleganz mit
der Entfernung des Betrachters zunimmt. Rund
anderthalb Kilometer entfernt vom Finanzzentrum,
aus der Stadtmitte betrachtet, wirken die beiden
verbundenen Türme im Brachland des einstigen
Handelshafens wie ein vorgelagertes Stadttor – ein
Wächter über die Stadt, die Gesellschaft und ihre
Finanzen. Über dem ansonsten unbebauten grünen
Uferstreifen strahlen die Fassaden in erhabener
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EUROPÄISCHE IDENTITÄT: EIN OFFENES PROJEKTAm einfachsten hat es sich vor ein paar Jahren ein bekannter Philosophieprofessor zum Auftakt einer europapolitischen
Veranstaltung in Paris gemacht mit seiner Antwort auf die wieder und wieder gestellte, aber nie zufriedenstellend
beantwortete Frage, worin denn nun die kulturelle Identität der Europäer zu sehen sei: Ihre Widersprüchlichkeit sei das
einzig Verbindende – der Rest bleibe stets umstritten. Gar nicht so schlecht und ganz gewiss nicht falsch. Befriedigen
wird diese Antwort aber wohl niemanden – und widersprüchlich sind ja mittlerweile alle Kulturen.
Es kommt hinzu, dass die Frage nach Identität überhaupt – geschweige denn der eines so komplexen, seit zweieinhalb
Jahrtausenden stets im Wandel befindlichen, mehr als einmal von tiefen Entwicklungsbrüchen gezeichneten Gebildes wie
Europa – auch von klugen Köpfen als von vornherein verfehlt oder gänzlich überflüssig zurückgewiesen wird.
Autor: Thomas Meyer
Die heftige Kontroverse im europäischen Konvent bei dem
Versuch, dem politischen Kontinent eine Verfassung zu ge-
ben und gleich in der Präambel mit der Anrufung der ge-
meinsamen kulturellen Identität aller Europäer – ob aus dem
Norden oder Süden, dem Osten oder Westen – aufzutrump-
fen, scheint ein weiterer Anlass, um diese Haltung zu recht-
fertigen. Natürlich seien die christlichen Wurzeln das Wich-
tigste von allem, beschworen da besonders die polnischen
Delegierten die Versammlung. Falls diese nicht angeführt
würden, habe die ganze Verfassung keinen Wert. Das komme
auf gar keinen Fall infrage, versteiften sich die Säkularen aus
allen Ländern; dann lieber gar keine Verfassung. Wenn über-
haupt eine gemeinsame geistig-kulturelle Quelle das mo-
derne Europa nähre, dann doch bekanntlich die Aufklärung –
und nichts sonst. Schlaumeier und erfahrene Werkmeister
des politischen Kompromisses hatten dann vermeintlich
eine schnelle Lösung für alle parat: Nehmen wir doch bei-
des – Christentum und Aufklärung, also den Widerspruch
als solchen, den schon der eingangs zitierte Professor emp-
fohlen hatte.
Beide Parteien haben in einem Punkt tatsächlich Recht:
Eine Verfassung ohne Identität wäre ein seelenloses Wesen.
Damit sollte sich niemand zufriedengeben. Wo aber mit der
Identitätssuche beginnen, ohne ihr Gegenteil – nämlich Ent-
zweiung – zu fördern? Es scheint, des Rätsels eigentliche
Lösung liegt schon im Begriff selbst. Von Identität ist immer
dann und dort die Rede, wo sie nicht auf der Hand liegt, wo
sie fragwürdig ist. Das nicht enden wollende Fragen ist
stets ein sicherer Hinweis darauf, dass sich da etwas
dem Zugriff entzieht.
Wonach suchen wir eigentlich?
Wonach genau wird da eigentlich gefragt; auf was be-
zieht sich diese Frage? Und was ist präzise mit Identität
gemeint? Wir übersetzen: die Selbigkeit! Aber welche
Selbigkeit, und im Hinblick worauf? Zuviel davon und in
der falschen Hinsicht – das vor allem hat die europäische
Geschichte gezeigt – kann Menschen vernichten und
Gesellschaften zerstören. Am deutlichsten sieht man
das an den grossen Religionskriegen des 16. und 17. Jahr-
hunderts oder erst vor wenigen Jahren an den ethni-
schen «Säuberungskriegen» des zerfallenden Jugosla-
wien. Und ganz aktuell auf barbarische Weise vor unse-
rer Haustür: im Nahen Osten. Gewarnt wird stets, wenn
geklärt scheint, worin sie besteht, vor dem unvermeid-
lichen, Verfeindung heraufbeschwörenden Ausschliess-
lichkeits-, ja Ausschlusscharakter jeder Identität; der
unvermeidlichen Konfrontation des «Wir» der zur festge-
legten Identität Zugehörigen mit «ihnen» – den ande-
ren –, die von ihr ausgeschlossen bleiben.
Alles berechtigte Einwände, aber behandeln sie wirk-
lich das ganze Thema? Wohl kaum. Es kommt ganz dar-
auf an, was man wirklich sucht und wozu es dienen soll.
Ganz ohne Identität – also eine Gemeinsamkeit, die alle
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in etwas verbindet, das für sie wichtig ist – können Men-
schengruppen nicht gut zusammenleben und noch weniger
erfolgreich gemeinsam handeln. Die zitierten Warnungen
müssen, auch wo sie ernst genommen werden, dem nicht
unbedingt im Wege stehen. Fangen wir bei der Suche nach
einer Antwort mit der in der modernen Welt wichtigsten
Unterscheidung an. Was und wieviel soll die Menschen
durch diese Identität, nach der wir suchen, einen? Ist denn
irgendetwas ausser dem gemeinsamen Territorium und dem
reinen Menschsein denkbar, das den Bürger des antiken
Athen, einen Bauern und einen Mönch des feudalistischen
Europa, den Revolutionär der Pariser Barrikaden des 19. Jahr-
hunderts und den Konsumbürger unserer Tage miteinander
verbindet – oder verbinden sollte? Und was ist heute dem
anatolischen Migranten in Berlin Kreuzberg, dem Londoner
Börsenmakler und dem polnischen Künstler gemeinsam, in
dem sie sich alle auf Anhieb erkennen?
Fangen wir mit dem Elementarsten an: einer grundlegen-
den Unterscheidung. Keine Identität einer Person oder einer
Gruppe von Menschen kann total sein; sie kann sich immer
nur auf wenige Eigenschaften beziehen. Um welche geht es
dabei? Und – auch das haben wir aus der Geschichte ge-
lernt – alle Identitäten können offen sein: offen für Differenz,
Abweichung, den Zutritt anderer, oder geschlossen: ein für
alle Mal vollständig definiert und festgelegt. Geschlossene
Identität zieht eine scharfe Aussengrenze und legt fest, wer
nicht (mehr) dazugehören darf. Sie gewinnt ihr Selbstbe-
wusstsein aus ihrer Souveränität über den Ausschluss der
anderen. Diese Art von Identität ist unvermeidlich hierar-
chisch, dauerhaft abwehrend und diskriminierend. Indem
sie die Zugehörigkeit zum Eigenen als Privileg betrachtet,
über das allein sie selbst verfügt, schafft sie Verhältnisse
einer Rangordnung. Identität wird zu einem Mittel von Sup-
rematie und Herrschaft. Im Extremfall fundamentalistischer
Identitätspolitik begründet diese Haltung einen Herr-
schaftsanspruch über alle, die nicht dazugehören dürfen,
der notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt wird. Obwohl
Identität ihrem eigenen Begriff nach tatsächlich nur als Dif-
ferenz möglich ist – nämlich als der bewusste Unterschied
zwischen uns und anderen –, können im Falle der politischen
Identität als der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem poli-
tischen Gemeinwesen «die anderen» von heute doch auch
diejenigen sein, die morgen schon dazugehören werden: die
Türkei zur EU, oder sogar Länder jenseits der europäischen
Territorialgrenzen, wie Israel.
Die Differenz bezeichnet in einem solchen Fall einen vor-
läufigen Unterschied ohne den Anspruch der einseitigen Sou-
veränität über die Grenzziehung, ohne Permanenz und ohne
Rangordnung, und steht der politischen Identitätsbildung
nicht entgegen. Das europäische Selbstbewusstsein müsste
auch nicht darunter leiden, dass andere Menschen in ande-
ren Teilen der Welt dieselben kulturellen und politischen
Werte teilen. Es gehört ja gerade zur Paradoxie der selbst
proklamierten europäischen Identität – etwa in Form der po-
litischen Grundwerte des (Verfassungs-) Vertrags von Lissa-
bon 2008 –, wollen zu müssen, dass dasjenige, was ihr Urei-
genstes sein soll, doch zugleich auch von aller Welt geteilt
werden soll. – Europa als Beispiel, gar als Modell für die Welt!
Die politischen Grundwerte
Die Aufklärung – der Stolz des Kontinents (oder jedenfalls
ein kulturell wichtiger Teil davon) – konnte nicht allein von
Europäern vollbracht werden. Sie ist vielmehr ein Ereignis,
das sich zwar zuerst in Europa vollzog, aber nicht ohne mas-
sive Anstösse von aussen, vor allem nicht ohne die essenzi-
elle Vorarbeit islamischer Meisterdenker wie Ibn Ruschd
oder Ibn Sina im 12. und 13. Jahrhundert, denen gelehrte
Mönche wie Johannes Duns Scotus und William of Ockham
folgten und von denen dann der Weg direkt zu Immanuel
Kant führte. Im Kleinen – in vorwärtsdrängenden Milieus –
wird Aufklärung seither in vielen Ländern in aller Welt und
allen Kulturen geprobt, und im Grossen ist sie ohne Zweifel
überall möglich, wo die Bedingungen dafür gereift sind. Im
Vorherige Doppelseite: Europa – projektiv (Collage: Matthias Garzon-Lapierre)
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We live in an age of austerity; or, rather, we are continually told that we live in an age of austerity and
therefore must live by its strictures. Both the political left and right promulgate the notion of, and need for,
austerity programmes. Such is the unconditional acceptance of the term that it controls all aspects
of our lives, from the very personal (that means shortened shopping lists) to the very public (cutbacks all
round in major spending projects). Architecture, as a discipline that spans this private-public spec-
trum, is thus inevitably bound to the conditions of austerity, and so it is worth unpicking some of the
ways that austerity is formulated and the reaction of architects to these formulations.
FROM OBJECTS OF AUSTERITY TO PROCESSES OF SCARCITY
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FROM OBJECTS OF AUSTERITY TO PROCESSES OF SCARCITY
not deal with; efficiency of means was required and the old
forms of building and aesthetics did not meet this criterion.
A new way of thinking and doing was required. It is here that
austerity, although framed as a challenge, actually becomes
a covert opportunity to pursue the modernist agendas devel-
oped through CIAM.
Austerity post-war Britain
This confluence of austerity and modernizing tendencies can
also be identified in Austerity Britain – the period immedi-
ately after the Second World War. As Andrew Saint argues,
this period represented “a coming together of many things:
the Modern Movement, a puritan strain in British philosophy
and design, the needs, constraints, opportunities and organ-
ization of post-war reconstruction, and the triumph of fresh
thinking about childhood, teaching and learning.”5 Again,
industrialization, efficiency and technical prowess are em-
ployed as the means to address austerity, this time allied
with the technical and industrial advances achieved as part
of the war effort. Austerity Britain was remarkable for its
political ambition, largely driven by ideals of collective pro-
vision of health, education and welfare. For the reformers,
austerity, far from a brake to the establishment of the future,
was actually the motor. As David Kynaston notes in his book
on the period, architects were to the fore in the envisioning
of this brave new world: “If for Keynesians, social reformers
and educationalists the war provided unimagined opportu-
nities for influencing the shape of the future, this was even
more true for architects and town planners and their cheer-
leaders.”6
In his book Building the Post-war World that documents
the architectural history of the post-war era, Nicholas Bull-
ock traces two routes under the conditions of austerity.7 One
is that of the architectural elite in an internalized story of the
establishment of certain forms of modernism, set apart from
the backdrop of post-war exigencies and turmoil. More inter-
esting, because less self-referential, is the second route in
which the conditions of production and limits of resources
lead to new forms of architectural invention. Austerity, as in
the 1930s, becomes both the driver and excuse for innova-
tion. Although these new forms of construction and planning
did not, as Bullock points out,8 necessarily save money, they
certainly provided new opportunities for architects and
builders. As Andrew Saint notes of the Hertfordshire Schools
architects, who were prominent at the time: “They wanted
to compose not an essay or a book but a language and vocab-
ulary, and to write the first literature in it all at the same
time.”9 Austerity, far from a limitation on progress, was its
very genesis.
Contemporary austerity
One may hope to derive lessons from these two previous ep-
isodes in order to suggest ways of coping with the contem-
porary conditions of austerity. However, one major difference
must be noted: where the previous two periods were tied
1 :J (artist), Austerity Graffiti, Norwich, Great Britain
Author: Jeremy Till
The essay will look briefly at two examples from the twenti-
eth century in which programmes of austerity are inflected
on architectural production in order to see if particular traits
emerge. I will then argue that austerity as a term is not suf-
ficiently nuanced to describe the complexity of operating
under the current social, economic and ecological conditions.
The final section will therefore move to a formulation for spa-
tial production based on the notion of scarcity.
Weimar Germany
This process of the abstraction and subsequent reification of
austerity can be identified in my first episode of austerity
and architecture, that of Weimar Germany in the late 1920s
and early 1930s, in which enduring post-war scarcities,
global economic collapse and rising population combined to
induce programmes of austerity, most notably in the Weimar
budgets from 1930 to 1932. Against this economic backdrop
and faced with a combination of housing shortages and the
lack of resources to build that housing, architects responded
in a very particular manner.1 This was also the period in
which the tenets of international modernism were being for-
mulated, and what we see is a merging of modernist ideolo-
gies with the expediencies required by austerity.
The discussion is focused most clearly through the second
CIAM Congress in Frankfurt in 1929, entitled Die Wohnung
für das Existenzminimum (literally translated as “The Sub-
sistence Dwelling”), which was subsequently recorded in a
book of the same title. Faced with an unprecedented demand
for housing, but against the backdrop of post-war scarcities,
architects responded in two ways: first through the develop-
ment of plans for reduced space standards, and second
through the employment of new industrialized technologies.
Thus Karel Teige’s The Minimum Dwelling famously opens
with the words: “Essentially, the housing question is a prob-
lem of statistics and technology, as is any question concern-
ing the provision and satisfaction of human needs.”2 Teige’s
directness is tempered in the language of other early mod-
ernists, who tied this technocratic regime into a wider pro-
ject of social emancipation but in all cases we can see paral-
lels with the economic discourse of the time.3 As Sigfried
Giedion notes in his opening address to the Frankfurt con-
gress: “ It was settled (at the first CIAM conference) that the
prime task of the architect is to ‘bring himself into line with
the times ’ […]. Connection of architecture with economy
could obviously not help being made the first point of the
Programme ”. 4 The new science of architecture takes human
need in the context of imposed limits, and frames it in the
quasi-scientific language that went hand-in-hand with the
progressivist rhetoric of early modernism. Austerity was
seen as something that could be overcome through architec-
tural ingenuity, rational thinking and technological ad-
vance – and more than that it was something that the older
approaches to architecture and construction simply could
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ANZEICHEN FÜR EIN UMDENKENStrategien für eine soziale und politisch engagierte Praxis Die kritische Finanzlage der letzten
Jahre in den Ländern Südeuropas, die globalen politischen Abhängigkeiten sowie die allgemeinen sozialen
und bürgerlichen Missstände und die damit einhergehende zunehmende Bedeutung der gesellschaft-
lichen Teilhabe verdeutlichen die komplexen Gegebenheiten, denen sich die Profession des Architekten heute
zu stellen hat. Architekten müssen zunehmend auf Alltagsthemen und -akteure reagieren – sozial engagiert
und mit einem gewissen aktivistischen Charakter. Ausgehend von der Untersuchung der vier PIGS-Länder
Portugal, Italien, Spanien und Griechenland, die eine vergleichbare kulturelle, politische, wirtschaftliche und
soziale Entwicklung erlebten, soll im Folgenden die gegenwärtige Architekturpraxis hinsichtlich möglicher
transitorischer Impulse analysiert werden.
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Ähnlich wie in den anderen drei PIGS-Ländern ( zuzüglich
Irland ) war die spanische Architekturbranche in den letzten
zehn Jahren wohl der am stärksten betroffene Wirt-
schaftzweig. Er musste also schnellstmöglich und beson-
ders tiefgreifend seine Grundsätze erneuern, um eine neue
gemeinsame Basis unter Berücksichtigung der Rolle des Ar-
chitekten und den Anliegen der Allgemeinheit zu finden.
Architekten mussten sich mit der Krise auseinandersetzen
und neue Lösungen für den Berufsstand finden. Man sucht
innerhalb der Gegebenheiten nach alternativen Wegen und
Nischen, um die Verbindung zwischen Architekt und Bür-
gern wiederherzustellen und eine wirtschaftlich nachhal-
tige Berufspraxis zu entwickeln, die auf die Bedürfnisse der
Gesellschaft und der Stadt reagiert. Es sind couragierte
Praktiken, die sich als Gegenbewegung zu einem obsoleten
und gleichgültigen System herausbildeten, die eine experi-
mentelle Herangehensweise vorschlagen und auf innova-
tive Weise eine belebende und optimistische Haltung ge-
genüber der Architekturpraxis einnehmen.
Eines der spannendsten Beispiele in der gegenwärtigen
spanischen Architektur und Wegbereiter einer ganzen Ge-
neration neuer Architekten ist Andrés Jaque mit seinem
Büro Andrés Jaque Architects und einem Spin-off namens
Office for Political Innovation. Seine radikale Haltung bricht
mit dem traditionellen Verständnis von Architektur und
macht ihn zu einer der bedeutendsten Figuren der Disziplin –
nicht nur in Spanien, sondern auch in Europa. Schon in sei-
nen frühen Projekten zeigte Jaque Interesse daran, mit kon-
ventionellen Gegebenheiten zu arbeiten, die von anderen
Architekten und den Politikern übergangen wurden. Eine
seiner jüngsten Arbeiten, Escaravox ( 2012 ), entstand als ur-
bane Intervention auf dem Gelände des ehemaligen Schlacht-
hofs und heutigen Kulturzentrums Matadero in Madrid. Mit-
tels zweier grosser mobiler Strukturen lässt sich das dortige
Freigelände für verschiedene öffentliche Veranstaltungen
unterschiedlich bespielen. Diese beiden auf das Wesentliche
reduzierten beweglichen Strukturen sind das beste Beispiel
für das, was Jaque kürzlich in einem Interview beschrieb:
« Architekten haben die Fähigkeit, schnell und effektiv Ele-
mente zu entwerfen und zu bauen, die einen Raum für die
Allgemeinheit transformieren und aktivieren. » Gleichzeitig
lotet der Architekt mit seinen investigativen Projekten und
seiner speziellen Sichtweise die subversive Komplexität un-
serer Alltagsrealitäten aus. Für das Projekt IKEA Desobe-
dientes ( Madrid 2011 und New York 2012 ), das erstmals in
der Ausstellung 9 + 1 Ways of Being Political im MoMA in
New York gezeigt wurde, lud Jaque Bewohner verschiedens-
1 Während der Proteste in Spanien besetzten die Indignados einige der symbolträch-tigsten öffentlichen Plätze, wie hier im Bild die Plaza de la Encarnación in Sevilla ( Foto: Fernando Alda )
Autor: Gonzalo Herrero Delicado
Im letzten Jahrzehnt galt für grosse Teile der Europäischen
Bauindustrie die Maxime «Quantität vor Qualität ». Die über-
dimensionierte Produktion von Wohnraum stand in keiner
Relation zum realen Bedarf. Spanien, Portugal, Italien und
Griechenland waren in Europa die stärksten Treiber auf
dem Immobilienmarkt. Während der Jahre des Wirtschafts-
wachstums, das sich grossteils aus dem Bausektor speiste,
profilierte sich eine Generation von Architekten, die sich
vom sozial engagierten Architekturdiskurs distanzierte.
Doch mittlerweile zeichnen sich in diesen Ländern einige
Veränderungen in der Architekturpraxis ab.
2011 katalysierte die Occupy-Bewegung, die sich von Se-
attle aus bis nach Südostasien verbreitet hatte, auf globalem
Niveau die Unzufriedenheit der Bürger und ihren Willen zur
Veränderung in Bezug auf die Politik, die wirtschaftliche All-
gemeinsituation und die Wirtschaftsführung. Übergesprun-
gen von den nordafrikanischen Mittelmeerstaaten, wo 2010
die Bevölkerung von Tunesien, Ägypten und Libyen mit
massiven Kundgebungen radikale Veränderungen im politi-
schen und sozialen Bereich forderte, gelangte diese Bewe-
gung über Spanien nach Europa. Arabischer Frühling und
Occupy-Bewegung können als kollektive soziale Protestbe-
wegungen im grossen Massstab gelesen werden. In Europa
fand die Occupy-Bewegung ihren ersten Ausdruck in Spa-
nien mit dem Appell der Indignados ( deutsch: die Empörten ),
die einige symbolträchtige Plätze des Landes besetzten, um
kollektiv ihre Forderung nach einer einheitlicheren und ge-
rechteren sozialen Kultur zum Ausdruck zu bringen. Aktuell
kämpft noch immer ein grosser Teil der Gesellschaft für den
Wandel, jedoch geraten angesichts der gegenwärtigen Sta-
bilisierung der spanischen Wirtschaft diese Ideale in Verges-
senheit – zugunsten der Rückkehr zu einem liberalen Kapi-
talismus. Ende 2013 waren etwa 27 Prozent der Bevölkerung
arbeitslos, 55 Prozent davon junge Spanier. Diese Situation
war jedoch nicht allein der weltweiten Finanzkrise geschul-
det, sondern auch dem spanischen Wirtschaftsmodell, das
sich wenigstens während der letzten zwei Jahrzehnte na-
hezu gänzlich auf den Bau- und Tourismussektor gestützt
hatte. Der Bauboom florierte und wurde durch massive Ein-
wanderung und die finanzielle «Unterstützung » der Banken
angeheizt. Das Platzen der Immobilienblase im Jahr 2007
liess die Bauaufträge im Land um neunzig Prozent zurückge-
hen. Der Architektursektor war davon besonders betroffen
und die Arbeitslosigkeit unter den jungen Hochschulabsol-
venten mit etwa 13,9 Prozent in diesem Bereich besonders
hoch, was eine massive Abwanderung von fünzig Prozent
der Absolventen zur Folge hatte.
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WILDERNESS OF MIRRORSReflections on Territorial Agency Riots in Kiev’s main square,
a peninsula annexed by Russia, a EU-Ukraine trade agreement under
negotiation, the US celebrating the flowering of democracy in
yet another Eastern Bloc country, and a Malaysia Airlines plane shot
down – these are some of the events involving an unlikely entan-
glement of people and things that are currently reshuffling political
and economic alliances. For its part, territory is examined as an
agent in driving this socio-spatial reorganization, serving as a mirror
for reflecting on questions of spatial governance.
Authors: Marc Angélil and Cary Siress
There is more to the mirror than meets the eye. Turned
around and held up to someone else, the mirror has the power
to reverse standing relations, even if just for a moment. When
used tactically in a face-off between opposing factions, the
mirror becomes an effective agent of protest, as was recently
the case in Kiev. At a demonstration in Independence Square,
officially named Maidan Nezalezhnosti but locally known
simply as the Maidan, security police found themselves con-
fronted by their own reflections in mirrors held up by women
using them as would-be shields to empower themselves and
at the same time to figuratively disarm riot forces in one
potent gesture. 2 Serving to reveal power relations for what
they really are – namely, fragile constructions that can be
shaken by something as seemingly innocuous as a mirror –
the action was taken to remind the ruling regime of its violent
crackdown on an earlier student rally. Because mirrors were
deployed in such an unexpected way as peaceful weapons,
the demonstration drew even more attention to the cause
from national and international media alike. Yet with all eyes
on the Ukraine, nobody at the time could anticipate the chain
of events that would ripple out from this square to the rest of
the world, thus entangling a small country in a geopolitical
tug-of-war reminiscent of the Cold War era.
At issue then, as well as now, are political-economic agen-
das and their claim on populations and territories. Notwith-
standing the particulars of the situation, the ‘mirror protest’
in Kiev mirrors events elsewhere that just as significantly
disclose how governance, people, and territory aggregate in
complex relations to produce the volatile and often conflict-
ing spaces that we inhabit. Frequently overlooked in this
constellation are the roles that territory itself plays as an
actor in the body politic. Rather than being merely a benign
container of activities or passive entity on which indiscrimi-
nate forces act, territory can be considered a ‘thing’ in the
Latourian sense, an agent that brings together an “assembly
of relevant parties” and “triggers new occasions to passion-
ately differ and dispute.”3 Far from being the static back-
ground behind the action of human affairs, territory binds
disparate sets of desires, beliefs, behaviors, interests, indig-
1
“[T]he ‘Body Politik’ is not only made of people! 1
[It is] thick with things”. Bruno Latour, 2006
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1 View of the Maidan in Kiev, showing the debris of a night of clashes between protesters and police, with a tent city in the background, February 19, 2014 ( photo: Olga Yakimovich, © Reuters )
nations, and the like into matters of concern that truly do
matter for all concerned.4 This is to say that territory mani-
fests an amalgam of competing motives, each oriented to
uphold a claim in space and time.
In the case of the demonstration in Kiev, territory assumes
a multivalent role as both arena and actor. The protests did
not take place just anywhere, but instead in the center of the
capital, on a public site granted historical importance as a
symbol of political activity in the country. Overnight, a tent
city was thrown together at the footsteps of the seat of gov-
ernment to house the hordes of assembled activists. Their
repeated clashes with military troops left the square a smold-
ering battleground. But this is only the local site of a conflict
that is more global in its impact. The larger issue in the up-
rising was Ukraine’s westward turn toward the European
Union, a disposition that put the nation at odds with Russia’s
own ambition to keep a valuable ally under its sway, both
politically and economically. A torn land set the stage for a
standoff between the free market, with its neoliberal ideol-
ogy, and a centrally controlled economy harboring its own
neoliberal aspirations. But which way should one go when
faced with a choice between the lesser of two evils? Although
the EU-Ukraine Association Agreement has been ratified –
giving the West grounds to celebrate the flowering of democ-
racy in yet another Eastern Bloc country – and talks with
Russia concerning energy supplies are underway, parts of
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