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ALEXANDER WERTH • RUSSLAND IM KRIEG 1941-1945
Alexander Werth
RUSSLAND IM KRIEG 1941-1945
Mit 21 Karten
Buchclub Ex Libris Zürich
1.-30.Tausend September 1965
Berechtigte Lizenzausgabe für den Buchclub Ex Libris Zürich
© Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München/Zürich 1965
© Alexander Werth 1964 für die Originalausgabe RUSSIA AT WAR
Aus dem Englischen übertragen von Dieter Kiehl
Printed in Germany
Eingescannt mit OCR-Software ABBYY Fine Reader
INHALT
Einführung ........................................................................................................ … 11
Erster Teil VORSPIEL ZUM KRIEG
I 1939: Russlands Dilemma........................................................................................ 25
II Der sowjetisch-deutsche Pakt .................................................................................. 50
III Die Teilung Polens ................................................................................................... 61
IV Vom finnischen Winterkrieg zum Frankreich-Feldzug ............................................ 70
V Russland und der Fall Frankreichs – Das Baltikum und Bessarabien 81
VI Russland und die Schlacht um England: Ein psychologischer Wendepunkt? 90
VII Demonstration militärischer Macht – Molotows tragikomische Berlinreise 94
VIII «1941 – ein glückliches Jahr!» ............................................................................... . 99
IX Die letzten Friedenswochen .................................................................................. 104
Zweiter Teil VOM DEUTSCHEN ÜBERFALL BIS ZUR SCHLACHT UM MOSKAU
I Russland im Juni 1941 .......................................................................................... 113 II Der Überfall .......................................................................................................... 122 III Molotow und Stalin sprechen ............................................................................... 132
IV Smolensk: Die erste Schlappe des Blitzkriegs ...................................................... 137
V Nahaufnahme: Moskau zu Beginn des Krieges ................................................. 142
VI Nahaufnahme: Herbstreise an die Smolensker Front ............................................. 150
VII Vorstoss auf Leningrad ......................................................................................... 156
VIII Die Ukraine wird überrannt .................................................................................. 159
IX Die Evakuierung der Industrie .............................................................................. 166
X Die Schlacht um Moskau – Erster Teil Die Panik vom 16. Oktober …174
XI Die Schlacht um Moskau – Zweiter Teil Stalin und das Heilige Russland …185
XII Gegenoffensive bei Moskau ............................................................................. …197
6 INHALT
XIII Die diplomatische Szene in den ersten Monaten
nach dem deutschen Überfall ............................................................................. …207
Dritter Teil DIE TRAGÖDIE LENINGRAD
I Der Tod von Leningrad ......................................................................................... 223
II Der Feind dringt vor .............................................................................................. 225
III Drei Millionen in der Falle .................................................................................... 232
IV Die Versorgungslinie über den Ladogasee ............................................................ 236
V Die grosse Hungersnot ........................................................................................... 240
VI Die Eisstrasse ......................................................................................................... 243
VII Leningrad in Nahaufnahme ................................................................................... 247
VIII Warum Leningrad es schaffte ............................................................................... 258
IX Ein Wort über Finnland ......................................................................................... 261
Vierter Teil DER SCHWARZE SOMMER VON 1942
I Nahaufnahme: Moskau im Juni 1942 .................................................................... 267
II Die englisch-sowjetische Allianz ........................................................................... 274
III Drei russische Niederlagen: Kertsch, Charkow und Sewastopol .... 279
IV Der deutsche Vormarsch geht weiter ..................................................................... 287
V «Das Vaterland ist in Gefahr» – Reformen nach dem Fall Rostows . . . 294
VI Stalin und die Kirche ............................................................................................. 305
Fünfter Teil STALINGRAD
I Die Tschuikow-Story ............................................................................................. 313
II Die Stalingrad-Monate in Moskau – Der Besuch Churchills ................................. 334
III Die Einkesselung der Deutschen ........................................................................... 347
IV Stalingrad in Nahaufnahmen ................................................................................. 338
(I) Die Versorgungslinie ................................................................................... 358
(II) Mansteins Niederlage – Eine Kosakenstadt unter den Deutschen –
Treffen mit General Malinowskij ................................................................ 362
V Die Agonie ............................................................................................................. 371
VI Stalingrad zurzeit der Kapitulation ........................................................................ 377
VII «Einmal Kaukasus hin und zurück» ...................................................................... 387
Sechster Teil 1943: DAS JAHR DER HARTEN SIEGE 2
DER POLNISCHE KNOTEN
I Stalingrad und Stalin: Die Geburt des «militärischen Genius» ......................... …401
II Die Deutschen in der Ukraine ............................................................................. …409
INHALT 7
III Charkow unter den Deutschen ............................................................................ 412
IV Die wirtschaftlichen Anstrengungen des Jahres 1942/43 – New Look der
Roten Armee – Leih-und-Pacht-Lieferungen 421
V Vor der Frühjahrsruhe 1943 – Stalins Warnung .................................................. 428
VI Der Aufbau eines neuen Polen – Der Bruch mit der Londoner Exilregierung –
Eine polnische Armee in der Sowjetunion – Katyn............................................. 431
VII Die Auflösung der Komintern und andere merkwürdige Ereignisse des
Frühjahrs 1943 .................................................................................................... 451
VIII Kursk: Hitlers letzte Chance ............................................................................... 457
IX Orel: Eine rein russische Stadt unter den Deutschen ........................................... 463
X Ein kurzes Kapitel über ein unerschöpfliches Thema:
Deutsche Verbrechen in der Sowjetunion ........................................................... 470
XI Die Partisanen ..................................................................................................... 478
XII Widersprüche der sowjetischen Aussenpolitik – Der Sturz Mussolinis –
Das «Komitee Freies Deutschland» 489
XIII Die nationalistische Welle nach dem Sieg von Kursk ......................................... 496
XIV Der Geist von Teheran ........................................................................................ 499
Siebter Teil RUSSLAND UND OSTEUROPA
I 1944: Neue Siege und neue Probleme ................................................................. …509
II Nahaufnahmei: Ukrainischer Mikrokosmos ........................................................... 517
Das «kleine Stalingrad» am Dnjepr ........................................................................ 517
Konjews Blitzkrieg durch den Schlamm ............................................................. …526
Die turbulente Stadt Uman .................................................................................... 528
Ukrainische Zwangsarbeiter ................................................................................... 537
III Nahaufnahme: II: Odessa, die Hauptstadt Transnistriens ....................................... 545
IV NahaufnahmeIII: Hitlers Krim-Katastrophe ........................................................... 553
V Die Ruhe vor dem «D-Day» – Stalins Flirt mit der katholischen Kirche . . 561
VI Die Russen und die Landung in der Normandie ..................................................... 568
VII Die deutsche Niederlage in Weissrussland: «Schlimmer als Stalingrad» . . 572
VIII Was geschah in Warschau? .................................................................................... 578
IX Nahaufnahme: Lublin – Das Todeslager Maidanek ............................................... 590
X Rumänien, Finnland und Bulgarien geben auf ....................................................... 600
XI Churchills zweiter Besuch in Moskau .................................................................... 608
XII Stalins Kuhhandel mit de Gaulle ............................................................................ 612
XIII Politische und ideologische Fragen gegen Kriegsende .......................................... 621
Achter Teil DER SIEG UND DER URSPRUNG DES KALTEN KRIEGES
I Nach Deutschland hinein ...................................................................................... 635
II Jalta und die Zeit danach ...................................................................................... 649
8 INHALT • VERZEICHNIS DER KARTEN
III Juni 1945: Berlin unter den Russen ....................................................................... 656 IV Drei Monate Frieden – Die Stimmung nach dem Waffenstillstand .... 668
Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten halten an..................................................... 669
Freundliche und unfreundliche Gesten .................................................................. 672
Der polnische Untergrund vor Gericht .................................................................. 673
Nahaufnahme: Bürgerkriegsähnliche Zustände in Polen ....................................... 677
V Potsdam ................................................................................................................. 680
VI Der kurze russisch-japanische Krieg – Hiroshima ................................................ 684
Anhang
Zeittafel ................................................................................................................. 699
Bibliographie ......................................................................................................... 708
Register .................................................................................................................. 718
Verzeichnis der Karten
Die Teilung Polens 1939 ................................................................................................... 64
Der sowjetisch-finnische Winterkrieg ............................................................................... 75
Die Kesselschlacht von Kiew .......................................................................................... 161
Der deutsche Angriff auf Moskau ................................................................................... 177
Die russische Gegenoffensive bei Moskau ...................................................................... 199
Die Blockade Leningrads ................................................................................................ 227
Die Versorgungslinien Leningrads .................................................................................. 238
Der schwarze Sommer 1942 ............................................................................................ 289
Die Verteidigung von Stalingrad ..................................................................................... 321
Die Einschliessung der deutschen Truppen in Stalingrad ............................................ …351
Die russische Winteroffensive 1942/43 ........................................................................... 393
Die Schlacht von Kursk ................................................................................................... 459
Die russische Frühjahrsoffensive in der Ukraine 1944 ................................................ …519
Korsun, das «kleine Stalingrad» am Dnjepr .................................................................... 522
Die Befreiung Sewastopols.............................................................................................. 557
Die russische Sommeroffensive in Weissrussland und Polen 1944 ............................. …575
Die Befreiung Polens und der Einmarsch in Deutschland ........................................... …637
Dem Sieg entgegen ...................................................................................................... …645
Erste Faltkarte: Von Brest-Litowsk bis Stalingrad 1941-42 gegenüber Seite 384
Zweite Faltkarte: Von Stalingrad bis Berlin 1943-45 . . . gegenüber Seite 640
Die Sowjetunion nach dem zweiten Weltkrieg ............................................. Vorsatzblatt
DEM ANDENKEN MITJA CHLUDOWS GEWIDMET
DER IM ALTER VON NEUNZEHN JAHREN
IN WEISSRUSSLAND FIEL
EINFÜHRUNG
In seiner Rede vor der Amerikanischen Universität in Washington am 10. Juni 1963
– jener Rede, die das Moskauer Teststopp-Abkommen ankündigte, das zwei Monate
später getroffen werden sollte – sagte Präsident John F. Kennedy:
Unter den vielen Zügen, die den Völkern unserer beiden Länder gemeinsam sind, ist keiner aus-
geprägter als unsere beiderseitige Abscheu vor dem Krieg. Fast als einzige der grossen Welt-
mächte haben wir niemals gegeneinander im Krieg gestanden, und wohl kein anderes Volk hat
in der Geschichte der Kriege mehr gelitten als das russische Volk im zweiten Weltkrieg. Mehr
als zwanzig Millionen Menschen liessen ihr Leben. Millionen Häuser in Stadt und Land ver-
brannten oder wurden zerstört. Ein Drittel des europäischen Territoriums Russlands, darunter
nahezu zwei Drittel seiner Industriegebiete, wurde verwüstet.
Etwa sechs Monate später wetterte Chruschtschow in Kalinin gegen die «Imperialisten»,
für die er weit weniger versöhnliche Worte fand. Er empfahl ihnen, aus Panama zu
verschwinden, «bevor sie hinausfliegen», beteuerte dem anwesenden Fidel Castro, dass
die Sowjetunion Kuba mit Hilfe der auf sowjetischem Territorium stehenden Raketen-
basen durchaus verteidigen könne, und versicherte ungehalten:
Wir errichten den Kommunismus in unserem Land; aber das bedeutet nicht, dass wir ihn nur in-
nerhalb der sowjetischen Grenzen und innerhalb unserer eigenen Wirtschaft erriditen. Nein, wir
zeigen darüber hinaus der gesamten übrigen Menschheit den Weg ... Wir tun alles, um dem
Kommunismus überall in der Welt zum Siege zu verhelfen.
Das alles war nicht neu. Doch dann erklärte Chruschtschow mit deutlicher Bezugnahme
auf Peking:
Manche Genossen im Ausland behaupten, dass Chruschtschow die Dinge verpfuscht und sich
vor dem Krieg fürchtet. Zum wiederholten Male möchte ich sagen, dass ich den verdammten
Narren sehen möchte, der tatsächlich keine Angst vor dem Krieg hat! Nur kleine Kinder fürch-
ten sich nicht, weil sie noch keinen Verstand haben, und nur verdammte Narren fürchten sich
nicht!
Chruschtschow erinnerte daran, dass sein Sohn als Flieger im zweiten Weltkrieg gefal-
len war, in dem Millionen Russen ihre Söhne, Brüder, Väter, Mütter und Schwestern
verloren hätten. Er schloss Castro zu Gefallen seine Rede mit der Feststellung, dass
Russland, wenngleich es den Krieg nicht wünsche, mit seinen grossartigen neuen Ra-
keten den «Feind zerschmettern» werde, sollte man dem Sowjetvolk den Krieg auf-
zwingen *. Doch muss man diese Äusserung im Lichte seiner bekannten These betrachten,
Iswestija, 18. Januar 1964
12 EINFÜHRUNG
nach der es zwecklos ist, zu versuchen, den Sozialismus oder den Kommunismus «auf
den Ruinen eines thermonuklearen Konflikts» zu errichten.
Vieles an der Rede Chruschtschows war natürlich Theater. Bezeichnenderweise war die
Passage, die von den Textilarbeitern in Kalinin mit dem stürmischsten Beifall bedacht
wurde, jene über die «verdammten Narren», die sich nicht vor dem Krieg fürchten.
Kalinin, die alte russische Stadt Twer, nicht weit von Moskau, war 1941 von den Deut-
schen eingenommen worden, und die älteren unter ihren Einwohnern erinnerten sich
nur zu gut, was damals geschehen war.
Kennedy sprach von zwanzig Millionen Toten, die der zweite Weltkrieg Russland ge-
kostet habe. Die Russen selbst hatten sich offiziell auf diese Zahl niemals festlegen
wollen. Als sie im Oktober 1959 auf einer Sitzung des Obersten Sowjet von
einem Redner erwähnt wurde, liess die Prawda sie in ihrem Bericht über das Referat
aus *. Aber ob nun die exakte Zahl der Toten, welche die Russen im letzten Krieg zu
beklagen hatten, bei zwanzig Millionen liegt oder ein wenig darüber oder darunter –
die entsetzlichen Verluste haben im russischen Denken und Fühlen tiefe Spuren hinter-
lassen, und sie waren, selbst wenn man es in Moskau nicht zugeben will, für die sowje-
tische Aussenpolitik seit dem Krieg mitbestimmend, vor dem Tod Stalins und auch da-
nach. Das russische Misstrauen gegenüber Deutschland und jedem anderen, der Deutsch-
land zu helfen schien, wieder eine starke Militärmacht zu werden, blieb immer spürbar.
Es gibt kaum eine russische Familie, auf die der deutsche Angriff nicht seine unmittel-
baren und oft äusserst tragischen Auswirkungen gehabt hat, und wenn Deutschland
heute zweigeteilt ist und von Berlin immer wieder Krisen drohen, ist auch das weit-
gehend eine Konsequenz der Erinnerung an jene Jahre von 1941 bis 1945. Diese Erinne-
rung ist für die älteren Sowjetmenschen noch sehr lebendig; im Übrigen sorgen Bücher,
Filme, Rundfunk und Fernsehen dafür, dass nicht in Vergessenheit gerät, was Russland
erduldet und wie es gekämpft hat – erst um sein Leben, dann um den Sieg.
Man braucht nicht darüber zu orakeln, was das Schicksal Russlands, Englands und der
Vereinigten Staaten gewesen wäre, hätte nicht ihre Entschlossenheit, das nationalsozia-
listische Deutschland zu zerschlagen, sie zusammengehalten. Dieses Bündnis mag – wie
es General John R. Deane, Chef der amerikanischen Militärmission in Moskau, gegen
Ende des Krieges ausdrückte – eine «seltsame Allianz» gewesen sein, und wahrschein-
lich war ihr Zusammenbruch trotz des zwanzigjährigen Vertrags, den Russland und
England 1942 unterzeichnet hatten, und trotz anderer aufgrund der damaligen Um-
stände entstandener Bindungen unvermeidlich. Aber was auch heute die rechtsradi-
kalen Mitglieder der John Birch Society und andere «politisch gemeingefährliche Leute»,
um den Ausdruck meines Freundes Sir Denis Brogan zu benutzen, über diesen unseren
Kampf «auf der falschen Seite» denken mögen – wir können auch heute nur sagen:
«Gott sei gedankt für diese seltsame Allianz!»
Ein Jahr lang, 1940 bis 1941, kämpfte England gegen Hitler fast ohne fremde Hilfe.
Dasselbe tat, in viel grösserem Massstab, Russland zwischen Juni 1941 und Ende 1942.
Vgl. Werth, The Khrushchev Phase, London 1961
EINFÜHRUNG 13
In beiden Fällen war die Gefahr, von den Nazis vernichtet zu werden, ungeheuer gross.
England hielt 1940/1941 aus, Russland 1941/1942. Aber sogar noch mehrere Monate
nach der Schlacht von Stalingrad vertrat Stalin die Meinung, dass Deutschland nicht zu
schlagen sei – es sei denn in einer gemeinsamen Anstrengung der Grossen Drei.
Die jüngere Generation im Westen weiss vermutlich sehr wenig über jene Tage. Vor
einiger Zeit befragte der französische Rundfunk einige junge Leute über den zweiten
Weltkrieg, und eine ganze Anzahl sagte: «Hitler? Connais pas.» Als ich vor ein paar
Jahren an einer amerikanischen Universität unterrichtete, fand ich, dass viele Studen-
ten nur ganz nebelhafte Vorstellungen von Hitler, Stalin und Winston Churchill hat-
ten. Aber haben denn die Erwachsenen im Westen in ihrer Mehrheit ein klares Bild
davon, wie der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland errungen wurde? Es ist
ganz natürlich, dass die Engländer hauptsächlich am britischen Beitrag und die Ameri-
kaner an dem der USA interessiert waren. Und dieses jeweils spezielle Interesse wurde
genährt durch die Flut von Memoiren englischer und amerikanischer Generale. Aber
alles in allem haben diese Reminiszenzen mitgeholfen, die wichtige Tatsache zu ver-
schleiern, dass es, wie Churchill 1944 sagte, die Russen waren, die den deutschen Armeen
«das Mark aus den Knochen sogen». Es hatte historische und politische Gründe, dass es
tatsächlich die Russen waren, die die Hauptlast des Kampfes gegen Deutschland trugen;
und es ist ein unumstössliches Faktum, dass es ihnen zu verdanken ist, wenn Millionen
von Briten und Amerikanern am Leben blieben. Nicht dass die Russen mit Absicht Mil-
lionen eigener Leben geopfert hätten, um diese fremden Leben zu retten. Aber dass sie
es taten, ist eine Tatsache, und zwar eine Tatsache, deren sich zumindest während des
Krieges Amerika und England durchaus bewusst waren. «Eine Woge nationaler Dank-
barkeit geht über England hinweg», sagte der englische Russlandspezialist Sir Bernard
Pares 1942, und sogar auf offiziellerer Ebene schämte man sich solcher Empfindungen
nicht. So erklärte Ernest Bevin am 21. Juni 1942:
All die Hilfe, die wir geben konnten, war klein, verglichen mit den gewaltigen Anstrengungen
des Sowjetvolks. Unsere Kindeskinder noch werden sich, wenn sie in ihren Geschichtsbüchern
lesen, mit Bewunderung und Dank der Heldentaten des grossen russischen Volkes erinnern.
Ich möchte bezweifeln, ob die Kinder von Ernest Bevins Zeitgenossen, von den Kindes-
kindern ganz zu schweigen, heutzutage so empfinden, aber ich hoffe, dass dieses «Ge-
schichtsbuch» sie an jene Vorgänge, von denen Ernest Bevin sprach, erinnern wird.
Es muss hinzugefügt werden, dass die Russen sich den ganzen Krieg hindurch durchaus
der «ungleichen Opfer», welche die Grossen Drei zu bringen hatten, bewusst waren. Die
«Kleine zweite Front», die Landung in Nordafrika, kam erst Ende 1942 zustande, und
die «Grosse zweite Front» erst im Sommer 1944. So sind denn die merkwürdig ge-
mischten Gefühle, die das russische Volk während des Krieges den Alliierten entgegen-
brachte, ein immer wiederkehrendes Thema dieses Buchs.
Was ist das für ein Buch? Am allerwenigsten eine formale Kriegsgeschichte. Die Mass-
stäbe des sowjetisch-deutschen Krieges von 1941 bis 1945, in den mittel- und unmittel-
14 EINFÜHRUNG
bar Hunderte von Millionen Menschen einbezogen waren, machen jeden Versuch zu-
schanden, eine «vollständige» Darstellung in einem einzigen Buch und aus einer einzigen
Feder zu geben. Eine ganze Reihe militärgeschichtlicher Arbeiten über diesen Krieg
sind auf beiden Seiten geschrieben worden, in der Sowjetunion und in Deutschland.
Aber sogar die voluminöseste dieser Darstellungen, die gewaltige sechsbändige russische
Geschichte des Grossen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion 1941-1945 * – sie ver-
sucht in mehr als zwei Millionen Worten nicht nur die militärischen Operationen, son-
dern auch alle anderen Aspekte zu erfassen – ist in mancher Hinsicht höchst unbefrie-
digend. Sie enthält gewaltige Mengen wertvoller Informationen, die zurzeit Stalins
noch nicht verfügbar waren, aber sie ist überladen mit Namen von Personen, den Bezie-
hungen militärischer Einheiten sowie mit technischen und wirtschaftlichen Details von
endloser Mannigfaltigkeit. Sie strotzt von immer wiederkehrenden «heroischen» Kli-
schees, und doch ist es ihr meiner Meinung nach in keiner Weise gelungen, dieses uner-
hörte, das ganze Volk umfassende Drama in seinen menschlichen Aspekten zu schildern.
Und wie die meisten sowjetischen Arbeiten über den Krieg hat sie den Nachteil, alle
Russen einander völlig gleich erscheinen zu lassen.
Weil mein Buch vom Krieg in Russland handelt, enthält es natürlich zahlreiche Kapitel
über die wichtigsten militärischen Operationen. Aber ich habe es nach Möglichkeit ver-
mieden, auf technische Details der Kriegführung einzugehen, die nur Militärfachleute
interessieren würden. Stattdessen war ich bemüht, die Ereignisse in ihrer dramatischen
Folge darzustellen. Dabei habe ich mich manchmal näher mit Erscheinungen befasst, die
– wie etwa die ungeheure deutsche Luftüberlegenheit 1941/42, die Überlegenheit der
russischen Artillerie bei Stalingrad oder das Auftauchen Hunderter und Tausender
amerikanischer Lastkraftwagen bei der Roten Armee während der zweiten Hälfte des
Jahres 1943 – spürbare Auswirkungen auf die Moral der Truppe auf beiden Seiten
hatten. Ich habe auch versucht, die wichtigsten militärischen Ereignisse in ihren natio-
nalen und oft internationalen Zusammenhang zu stellen; denn sowohl die Moral im
Lande wie die interalliierten Beziehungen waren ganz deutlich beeinflusst durch den
Verlauf des Krieges selbst. Es war beispielsweise kein Zufall, dass die Aktivität der
sowjetischen Aussenpolitik nach Stalingrad so intensiviert wurde oder dass die Konfe-
renz von Teheran nicht vor, sondern nach dem russischen Sieg von Kursk-Orel statt-
gefunden hat, jenem Sieg, der den militärischen Wendepunkt des Krieges bedeutete.
Stalingrad stellte, um die Worte des deutschen Historikers Walter Görlitz zu gebrau-
chen, dagegen eher einen «politisch-psychologischen Wendepunkt» dar.
Deshalb ist dieses Buch weniger eine Schilderung des militärischen Ablaufs des Krieges
als seiner menschlichen und, in geringerem Masse, seiner politischen Aspekte. Weil ich
sie selbst miterlebt habe, glaube ich, dass ich befugt bin, diese Geschichte der Kriegsjahre
* Istorija velikoj otetscbestvennoj vojny Sovjetskogo Sojusa 1941-1945, herausgegeben vom Institut für
Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, 6 Bde.,
Moskau ab 1961. Deutsche Ausgabe: Geschichte des Grossen Vaterländischen Krieges der Sowjet-
union, Berlin ab 1962. Von der deutschen Übersetzung erschienen bisher drei Bände.
EINFÜHRUNG 15
in Russland zu schreiben. Mit Ausnahme der ersten Monate des Jahres 1942 war ich den
ganzen Krieg über – und noch drei Jahre danach – in Russland. Was mich vor allem
interessierte, waren das Verhalten und die Reaktionen des russischen Volkes angesichts
der Katastrophe und angesichts des Sieges. In den Schreckenstagen von 1941/42 und in
den folgenden zweieinhalb Jahren schwerer, blutiger Siege war ich stets der Überzeu-
gung, dass dies ein echter Volkskrieg war, zunächst ein Krieg, den ein Volk führte, um
sein Leben zu retten, und dann ein Krieg, den ein im Grunde alles andere als aggressi-
ves Volk erbittert zu Ende focht, um seine Überlegenheit zu demonstrieren. Die
Überzeugung, dass das ihr Krieg sei, war bei der Zivilbevölkerung und bei der Truppe
tief verwurzelt. Obwohl die Lebensbedingungen fast überall den ganzen Krieg hin-
durch ungeheuer hart, einige Zeit lang sogar fast unerträglich waren, arbeitete man wie
nie zuvor, manchmal bis zum Rande des Zusammenbruchs oder bis zum Tod. Gewiss,
es gab Augenblicke der Panik und der Demoralisierung, in der Armee ebenso wie bei
der Zivilbevölkerung, und auch mit diesen Episoden werde ich mich in diesem Bericht
befassen. Trotzdem hat der Geist echter patriotischer Hingabe und Selbstaufopferung,
den das russische Volk bewies, nur wenige historische Parallelen, und die Geschichte der
Belagerung von Leningrad ist, scheint mir, schlechterdings ohne Beispiel.
Es mag heute sonderbar erscheinen, dass dieser Volkskrieg unter dem barbarischen Re-
gime Stalins zum siegreichen Ende gebracht wurde. Aber man kämpfte, man kämpfte
vor allem «für sich selbst», das heisst für Russland. Und Stalin verstand es, dieses Ge-
fühl zu nutzen. In den dunklen Tagen des Jahres 1941 hatte er nicht nur nachdrücklich
verkündet, dass das Volk diesen Krieg für Russland und für «das russische Vermächt-
nis» führe, womit er den Nationalstolz und das Ehrgefühl seiner Landsleute bis zum
Äussersten anspornte; es gelang ihm auch, der anerkannte Führer der Nation zu werden.
Sogar die Kirche wurde einbezogen. Später bedachte er die Russen auf Kosten der an-
deren Nationalitäten der Sowjetunion mit besonderem Lob, weil sie die grösste Aus-
dauer, die meiste Geduld gezeigt und niemals ihren Glauben an das sowjetische Regime
und damit an ihn, Stalin, verloren hätten. Damit war gesagt, dass die Russen, indem sie
für Russland kämpften, auch das Sowjetsystem verteidigten, eine Unterstellung, die
zumindest zum Teil zutrifft, vor allem wenn man in Betracht zieht, dass praktisch den
ganzen Krieg hindurch Russland und das Sowjetsystem weitgehend miteinander iden-
tifiziert wurden, nicht nur in der Propaganda, sondern auch in der Meinung des Vol-
kes. Auf ähnliche Weise tat die Partei alles, um sich mit der Armee zu identifizieren –
abgesehen von jenem Versuch im Jahre 1942, den Streitkräften die Schuld an den
schweren Verlusten zuzuschieben, und einer ähnlichen Episode gegen Ende des Krieges.
Das soll nicht heissen, dass das Regime nicht seinen Anteil am schliesslichen Sieg gehabt
hätte. Ohne die ausserordentlichen Bemühungen um die Industrialisierung, die man seit
1928 unternommen hatte, ohne die gewaltige organisatorische Leistung der Evakuie-
rung eines grossen Teils der Industrie nach dem Osten wäre Russland verloren ge-
wesen.
Aber es wurden auch schwere Fehler gemacht, vor dem Krieg und zu Anfang des Krie-
ges, und Stalin hat sie zugegeben.
16 EINFÜHRUNG
In diesem Buch versuche ich, die manchen Veränderungen unterworfene Haltung des
russischen Volkes gegenüber dem Land, gegenüber dem Regime und gegenüber Stalin
selbst zu schildern. Marschall Schukow, der Stalin bestimmt nicht liebte, erkannte dessen
Vorzüge an: «Sie können sagen, was Sie wollen, aber dieser Mann hat Nerven aus
Eisen.» Bei den einfachen Soldaten war Stalin populär; wie Ehrenburg unlängst fest-
stellte, hatten sie absolutes Vertrauen zu ihm. Eine Vaterfigur oder aber eine Figur wie
Churchill war im Kriege dringend nötig, und Stalin spielte diese Rolle trotz allem mit
bemerkenswertem Erfolg. Gleichwohl hatte auch seine Bahn, wie man sehen wird, ihre
Höhen und Tiefen.
Das Verhalten dem Regime und Stalin gegenüber war natürlich nur einer der vielen
Aspekte der Mentalität der Russen während des Krieges, die ich in diesem Buch behan-
deln möchte. Mir kam es darüber hinaus darauf an, das Verhältnis der Bevölkerung
den Deutschen und den westlichen Alliierten gegenüber festzuhalten. Was die Einstel-
lung zu den Deutschen betrifft, so war sie zum Teil durch die Erfahrung bestimmt, zum
Teil durch die Propaganda von Partei und Regierung in den verschiedenen Phasen des
Krieges – und die Leitlinien waren oft sehr widersprüchlich. Ich werde in diesem Buch
über die wachsende Erbitterung gegen die Nationalsozialisten berichten, über die ge-
radezu rassenkampfähnliche antideutsche Propaganda Ehrenburgs und anderer – eine
Propaganda, die im April 1945, als die Sowjets in Deutschland standen, plötzlich ge-
stoppt wurde über die Wirkung der deutschen Besatzung auf die Besetzten und später
auf die siegreiche Rote Armee. Ist es überraschend, dass nach allem, was Deutsche in der
Sowjetunion getan hatten, sich russische Soldaten in Deutschland nicht gerade zimper-
lich benahmen? Trotz allem war die Haltung der Russen den einzelnen Deutschen
gegenüber in den verschiedenen Stadien des Krieges oft sehr verschieden von dem, was
Ehrenburg vorschwebte.
Auch die Gefühle gegenüber den westlichen Alliierten waren keineswegs konstant. Das
Misstrauen dem Westen gegenüber war so gross gewesen, dass die Russen einen echten
Seufzer der Erleichterung ausstiessen, als sie 1941 feststellten, dass die Engländer sich
nicht mit den Deutschen zusammenschlossen. Aber als sich die Lage an der russischen
Front immer mehr verschlimmerte, wurde der Ruf nach der zweiten Front laut, und
dieser Ruf hatte im Sommer und im Herbst 1942 einen vorwurfsvollen und geradezu
beleidigenden Unterton. Die Sowjetpresse hatte daran durchaus ihren Anteil. Aber die
Erbitterung hätte sich auch so eingestellt, denn die Russen erlnten fürchterliche Ver-
luste, während die Alliierten «nichts taten». Mitte 1943, als beträchtliche Mengen von
Leih-und-Pacht-Lieferungen in Russland eintrafen, änderte sich die russische Haltung
merklich, und besonders in der sowjetischen Luftwaffe wurden die westlichen Waffen-
gefährten durchaus populär. So waren russische Piloten sehr beeindruckt von den Bom-
bardierungen Deutschlands durch die Engländer und Amerikaner. Dennoch, die «un-
gleichen Opfer» waren etwas, das die Russen selbst in den besten Zeiten nicht vergessen
konnten.
EINFÜHRUNG 17
An die zwanzig Jahre sind seit dem Ende des Krieges in Russland vergangen, und ich
bin vielleicht der einzige überlebende Angehörige einer westlichen Nation, der diese
Jahre in Russland verbracht und sich dabei fast täglich Notizen über seine Eindrücke
und Erlebnisse gemacht hat. Paradoxerweise waren die Kriegsjahre, was die Ausländer
betraf, die bei weitem «liberalsten» der Stalin-Ära. Wir waren Alliierte und wurden
entsprechend behandelt – im Ganzen gesehen recht gut. Unter den gegebenen Umstän-
den konnte ich mich, zumal ich Russisch wie ein Einheimischer spreche (mein Geburtsort
ist das alte St. Petersburg), frei mit Tausenden von Soldaten und Zivilisten unter-
halten. Als Korrespondent der Sunday Times und Autor der sonntagmittags von
BBC ausgestrahlten «Russischen Kommentare» genoss ich, was Reisen im Land und
Frontbesuche anging, beträchtliche Vergünstigungen. Manchmal war ich mit fünf oder
sechs Kollegen unterwegs, oft aber auch allein. Zu den denkwürdigsten Einzelreisen
gehörte mein Besuch des belagerten Leningrad sowie ein zehntägiger Aufenthalt in der
Ukraine, als auf dem Höhepunkt der Konjew-Offensive die Rote Armee nach Rumä-
nien hineinstiess. Auf all diesen Reisen nahm ich jede Gelegenheit wahr, mit allen mög-
lichen Leuten über alle möglichen Dinge zu reden, und unter den russischen Soldaten
und Offizieren fand ich bald die freimütigsten und offenherzigsten Gesprächspartner
der Welt. Sie waren sehr individuelle Persönlichkeiten und entsprachen durchaus nicht
dem Bild des genormten heldischen Roboters, das einem in offiziellen Kriegsdarstellun-
gen so oft präsentiert wird. Ich hatte auch, während ich durch Russland reiste, mehrfach
Gelegenheit, berühmte Generale kennenzulernen, unter ihnen, im tragischen Herbst
1941, General Sokolowskij in Wjasma, Tschuikow und Malinowskij bei Stalingrad,
Rokossowskij in Polen und schliesslich Marschall Schukow in Berlin.
In Moskau lernte ich einige der sowjetischen Führer persönlich kennen, besonders Molo-
tow, Wyschinskij und Schtscherbakow, doch muss ich zugeben, dass ich nicht versucht
habe, während des Krieges die Geheimnisse des Kreml zu ergründen. Zu dieser Zeit
scheint dort alles einigermassen glatt gegangen zu sein, besonders nachdem Stalin den
«neuen» Generalen im Herbst 1941 das Gewicht und die Autorität gegeben hatte, die
sie brauchten. Was man über Stalin und seine unmittelbare Umgebung weiss, stammt
hauptsächlich aus den Aufzeichnungen einiger weniger Russen, wie Marschall Jere-
menko, und verschiedener prominenter Besucher aus dem Ausland, wie Churchill, Hop-
kins, Deane und Stettinius. Auch kennt man die aufschlussreichen Protokolle der Unter-
haltungen zwischen Stalin und de Gaulle sowie zwischen Molotow und Bidault im
Dezember 1944. Ein düstereres Bild ergab sich, was wohl unvermeidlich war, aus den
Berichten der Polen Anders und Mikolajczyk. Aus dem, was all diese Informanten
berichteten, kann man bis zu einem gewissen Grad rekonstruieren, wie die sowjetische
Führerschaft arbeitete; eine detaillierte Darstellung von den Interna des Kreml wäh-
rend der Kriegszeit wird man aber wohl erst erhalten, wenn alle Dokumente und Be-
richte zugänglich sein werden – und es ist fraglich, ob das jemals der Fall sein wird.
(Was in der nationalsozialistischen Hierarchie vorging, erfuhr man nur, weil Deutsch-
land besiegt wurde und damit zahllose Dokumente in die Hände der Alliierten fielen.
Meiner Meinung hatte dies eine negative Wirkung auf die Darstellungen, die über
18 EINFÜHRUNG
das Deutschland der Kriegszeit gegeben wurden: Sie konzentrierten sich zu sehr auf
die Aktionen der nationalsozialistischen Führung und beschäftigten sich zu wenig mit
der Haltung des deutschen Volkes.)
Dass man jemals viel über die Vorgänge im Kreml erfahren wird, scheint mir sehr un-
wahrscheinlich; denn es würde dabei die Rolle auch jener Leute offenkundig, deren
Namen heute tabu sind. Während wir also vermutlich niemals genau erfahren werden,
wie gewisse weitreichende Entscheidungen im Kreml zustande kamen, so kennen wir
doch genau ihre Folgen.
Ich habe nicht versucht, in den Bereichen der hohen Politik zu spionieren, aber ich hatte
täglich die Möglichkeit, russische Arbeiter und andere Zivilpersonen in ihrem Alltag zu
beobachten und zu sehen, wie sich ihre Stimmung von der Bestürzung der Jahre 1941/42
zum Optimismus von 1943 wandelte, trotz der zahllosen persönlichen Opfer und der
grossen Härten, die die Sowjetbürger, freilich nicht alle, auch noch zu dieser Zeit er-
dulden mussten. (Die Ungleichheit speziell in der Zuteilung von Nahrungsmitteln war
eine der unerfreulichsten Erscheinungen des russischen Alltags der Kriegs- und Nach-
kriegszeit.) Ich hatte Gelegenheit, Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle kennenzu-
lernen, Pasternak, Prokofieff und Eisenstein etwa, aber ich begegnete auch einigen
recht merkwürdigen politischen Existenzen, so etwa den Mitgliedern des Bundes
der polnischen Patrioten, dem Vorläufer des späteren «Lubliner Komitees». All diese
Kontakte mit wichtigen und unwichtigen Leuten vermittelten mir einen guten Einblick in
das Denken und Empfinden der Russen während der verschiedenen Kriegsphasen, und
ich glaube nicht, dass ich mich rechtfertigen muss, wenn ich einen wesentlichen Teil die-
ses Buches persönlichen Beobachtungen des täglichen Lebens in der Sowjetunion der
Kriegsjahre gewidmet habe*. Ich wage sogar zu sagen, dass diese persönlichen Wahr-
nehmungen eine Lücke schliessen, die in vielen mehr oder weniger offiziellen sowjeti-
schen Darstellungen des Krieges so offenkundig klafft.
Es wäre andererseits zu wenig gewesen, hätte ich mich nur auf meine, wenn auch zahl-
reichen eigenen Beobachtungen und auf die Presseberichte der damaligen Zeit gestützt.
In der ersten Phase der Invasion konnte man über alle möglichen Dinge Vermutungen
anstellen, doch war es schlechterdings unmöglich zu erklären, wieso innerhalb zweier
Monate die Deutschen bis zu den Randbezirken Leningrads und in dreieinhalb Mona-
ten bis zur Peripherie Moskaus vorstossen konnten. In diesen Monaten war ich ebenso
verwirrt und bestürzt, wie die Russen es waren. Auch während des Krieges blieb vieles
im dunkeln. Dagegen konnte später mit Hilfe der umfangreichen, in den letzten Jahr-
ren – seit dem xx. Parteikongress von 1956 und besonders seit 1959/60 – in der Sowjet-
union veröffentlichten Literatur vieles, was undurchsichtig war, aufgehellt werden. Ich
habe diese Quellen sorgfältig studiert, und sie erwiesen sich als eine grosse Hilfe für
mich. So enthält der erste Band der bereits erwähnten offiziellen Geschichte des Grossen
Vaterländischen Krieges bei allen Schwächen viele interessante Fakten, aus denen sich
Zum Teil stütze ich mich auf Material meiner früheren, inzwischen vergriffenen
Bücher über Russland, insbesondere The Year of Stalingrad, London 1946
EINFÜHRUNG 19
die militärischen, wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Gründe für die man-
gelnde Fähigkeit der Roten Armee, dem deutschen Angriff zu widerstehen, rekon-
struieren lassen. Ich habe auch Erinnerungen sowjetischer Militärs, so der Generale
Boldin und Fedjuninskij, exzerpiert, in denen die ersten Tage des Krieges an der Front
anschaulich geschildert werden. Die Diskretion, mit der man zu Zeiten Stalins all diese
Dinge behandelt hatte, ist zu Ende. In Kriegsbüchern, Romanen, sogar in Gedichten ist
in den letzten Monaten und Jahren über diese furchtbare Anfangsphase des Krieges
mehr ausgesagt worden als über jedes andere Stadium der Auseinandersetzung. Kon-
stantin Simonows Roman Die Lebenden und die Toten* ist wohl der beste, wenn-
gleich verspätete Bericht über die Monate zwischen der Invasion und der Schlacht um
Moskau. Weitere kürzlich erschienene sowjetische Werke befassen sich mit anderen zum
Teil katastrophalen Ereignissen des Jahres 1941, so mit der Einkreisung Kiews im Sep-
tember, bei der die Deutschen, wie sie erklärten, 660’000 Gefangene machten, oder mit
den Anfangsstadien des Ringens um Moskau einschliesslich der verheerenden Kessel-
schlacht von Wjasma. Oder denken wir an die Belagerung Leningrads, an diese einzig-
artige Geschichte einer Dreimillionenstadt, deren Bevölkerung sich nicht ergeben wollte
und zu einem Drittel verhungerte. In meinem 1944 erschienenen Buch Leningrad habe
ich diese menschliche Tragödie so umfassend und so genau zu schildern versucht, wie es
eben möglich war. Aber ich verfügte damals über keinerlei statistische Daten. So waren
mir weder exakte Zahlen über die Vorräte an Lebensmitteln bekannt, die sich in der
Stadt befanden, als sich der deutsche Ring schloss, noch über die Mengen, die in den
verschiedenen Zeitabschnitten über das Eis des Ladoga-Sees herangeschafft wurden.
Heute gibt es solche präzisen Angaben, etwa in Pawlows und Karasews Büchern über
die Belagerung Leningrads, beide erstklassige historische Dokumente.
Ich habe auch Dutzende anderer in jüngerer Zeit veröffentlichter Publikationen über
besonders wichtige Ereignisse und Abschnitte dieses Krieges verwendet – über den
schwarzen Sommer von 1942, die Tragödie von Sewastopol, die Geschichte Stalingrads
und den Partisanenkrieg. Ebenso bin ich bisweilen im Detail auf die diplomatische Ge-
schichte dieses Krieges eingegangen, denn ich hatte Gelegenheit, manchen Vorgang aus
nächster Nähe zu beobachten. Meine vielen Gespräche mit den britischen Botschaftern
in Moskau, mit Sir Stafford Cripps im Jahre 1941 und mit Sir Archibald Clark Kerr in
späteren Kriegsjahren, waren für mich hinsichtlich der britisch-sowjetischen Beziehun-
gen äusserst aufschlussreich. Ich hielt auch enge Fühlung mit der amerikanischen Bot-
schaft, und einer meiner wertvollsten Kontakte war schliesslich der mit Roger Garreau,
der Frankreich in Moskau vertrat.
Politisch gesehen, ist eine der Hauptkomponenten dieser Darstellung die Geschichte der
sowjetisch-polnischen Beziehungen. Ihr Verlauf hatte wichtige Auswirkungen auf Russ-
lands Beziehungen zu all seinen Alliierten: Zuerst die Krise, die im Abbruch der diplo-
matischen Beziehungen mit der polnischen Regierung in London im April 1943 ihren
Höhepunkt fand, dann die Aufstellung einer polnischen Armee auf russischem Boden.
20 EINFÜHRUNG
Katyn, der Zusammentritt des «Lubliner Komitees» und schliesslich die Warschauer
Tragödie im Herbst 1944. Man wird sehen, dass ich nach sorgfältigen Überlegungen
und mit gewissen Vorbehalten die sowjetische Version der Ereignisse vor Warschau
gelten lasse. Keinesfalls jedoch kann ich der russischen Darstellung in der Frage der
Morde von Katyn folgen – zumindest nicht, bis weitere Informationen vorliegen.
Kurz gesagt, ich habe ausgiebigen Gebrauch von neuen sowjetischen Publikationen über
diesen Krieg gemacht, wobei die meisten dieser Werke als «chruschtschowitisch» und
damit als antistalinistisch klassifiziert werden können. Es wäre freilich gefährlich, diese
Darstellungen nur deshalb für reine Wahrheit zu halten, weil sie sich antistalinistisch
geben. Die stalinistische Geschichtsschreibung war berüchtigt wegen ihres Mangels an
Objektivität und wegen ihrer geradezu schamlosen Neigung, historische Tatsachen zu
unterdrücken oder zu entstellen. Aber ähnliches gilt in vielen Fällen auch für die Ge-
schichtsschreibung der Chruschtschow-Ära. Dafür ein kleines Beispiel: Als ich im Februar
1943 General Tschuikow in Stalingrad traf, erklärte er, dass zwei Mitglieder des Polit-
büros praktisch immer an der Stalingrad-Front gewesen seien, Chruschtschow und Ma-
lenkow. Man wird aber vergeblich in irgendeinem neuen Werk, selbst in Tschuikows
eigener, recht freimütiger Darstellung, nach einer Erwähnung Malenkows suchen. Statt
dessen wurde die Rolle Chruschtschows herausgestellt, wie man auch viel Aufhebens
davon machte, dass bei zwei Gelegenheiten, 1941 in Kiew und 1942 in Charkow, das
Desaster angeblich hätte vermieden werden können, wenn Stalin nur Chruschtschows
Ratschlägen gefolgt wäre.
Die Geschichtsschreibung der Chruschtschow-Ära leidet ebenso wie die der Stalin-Zeit
vor allem unter ihren Unterlassungssünden. Da Molotow, Malenkow und Berija Stalins
engste Mitarbeiter im Verteidigungsausschuss waren – also im Kriegskabinett, das die-
ser Ausschuss praktisch darstellte sollte man eigentlich annehmen, dass sie in der
Kriegführung und in der Lenkung der Kriegswirtschaft Rollen von besonderer Wich-
tigkeit gespielt hätten. Aber mit Ausnahme einiger Hinweise auf die Tätigkeit Molo-
tows als Volkskommissar des Auswärtigen und auf Berijas «verräterische Umtriebe»
werden diese Namen in jüngeren Kriegsgeschichten nicht einmal erwähnt. Ganz ähn-
lich wird die Rolle gewisser Generale, die sich heute höchster Gunst erfreuen, übertrie-
ben, während die Verdienste anderer Militärs, speziell die Schukows, gröblich herab-
gesetzt werden. In der Geschichte des Grossen Vaterländischen Krieges wird die
Tatsache, dass Schukow an der Verteidigung Leningrads beteiligt war, nur in einer ein-
zeiligen Fussnote erwähnt, obwohl in Wirklichkeit er es war, der Leningrad gerettet
hat. Es gibt noch andere Mängel in der «chruschtschowitischen» Geschichtsdarstellung:
Entscheidende Ereignisse, etwa die weitreichenden Reformen in der Roten Armee im
Sommer und im Herbst 1942 nach dem Fall Rostows, werden vollständig vertuscht,
obgleich beispielsweise General Malinowskij, den ich kurze Zeit nach diesen Ereignissen
sprach, ihnen seinerzeit grösste Bedeutung beimass.
Die propagandistischen Kursänderungen, die Haltung der Bevölkerung Stalin und der
Partei gegenüber und die Beziehungen zwischen der Partei und der Roten Armee sind
andere, höchst interessante und wichtige Themen, die, was freilich kaum überrascht, in
EINFÜHRUNG 21
der sowjetischen Literatur über den Krieg nicht abgehandelt werden. Viele der mehr
oder weniger offiziellen Darstellungen verzichten auch darauf, die wirkliche Atmo-
sphäre jener Kriegsjahre zu schildern. Deshalb meine ich, dass nicht nur meine persön-
lichen Aufzeichnungen, sondern auch die Äusserungen der sowjetischen Presse im düste-
ren Sommer 1942, als die Deutschen gegen Stalingrad und den Kaukasus vorstiessen,
mehr und Genaueres aussagen über die schweren Sorgen und über die Erbitterung von
damals als jede offizielle Kriegsgeschichte von heute. Es gab Tage, da überschlug sich
die Presse in geradezu hysterischer Weise mit ihrer «Das Vaterland ist in Gefahr-Pro-
paganda und später mit ihren Klagen über Feigheit, Ungehorsam und Unfähigkeit in
der Armee. Dies war, wie wir sehen werden, zumindest teilweise Absicht; Stalin wollte
so den Unmut der Bevölkerung von sich und der Regierung auf die Generalität ab-
lenken.
Trotz aller dieser Unzulänglichkeiten enthält die moderne sowjetische Kriegsliteratur
eine enorme Menge wertvollen Tatsachenmaterials. Ich habe es ausgiebig, aber nicht
kritiklos benutzt, und ich habe ziemliche Mühe darauf verwendet, es zu überprüfen. So
habe ich in vielen Fällen sowjetische Darstellungen und Ziffern mit ihren deutschen
Gegenstücken verglichen.
Obwohl meine Geschichte sich hauptsächlich mit den Kriegsjahren in der Sowjetunion
befasst, schien es notwendig, in einem einleitenden Teil auch kurz auf die Zeit von 1939
bis 1941 einzugehen. In diesen Kapiteln habe ich zu zeigen versucht, wie die auf das
Münchener Treffen folgenden Entwicklungen – die britisch-französisch-sowjetischen
Verhandlungen im Frühjahr und Sommer 1939, der deutsch-sowjetische Pakt, die Tei-
lung Polens, der Krieg mit Finnland, der Fall Frankreichs, die Schlacht um England
und die rapide Verschlechterung der deutsch-sowjetischen Beziehungen nach Molotows
Berlin-Besuch Ende 1940 – dem sowjetischen Publikum in der sowjetischen Presse prä-
sentiert wurden und was eine grosse Zahl sowjetischer Bürger privat über all diese Vor-
gänge dachte. Ich glaube, dass der Leser einige interessante neue Tatsachen in meiner
Darstellung finden wird: Welche gemischten Gefühle der sowjetisch-deutsche Pakt aus-
löste, zu welchen Befürchtungen in Russland der schnelle Zusammenbruch Frankreichs
führte, die heimliche Sympathie und Bewunderung, die England besonders bei den sow-
jetischen Intellektuellen während des «Blitz»-Winters 1940/41 genoss, und die
grosse Erleichterung, die sich sogar in Leitartikeln der Prawda und in Reden Molotows
spiegelte, als man wusste, dass auch nach dem Zusammenbruch Frankreichs England mit
amerikanischer Hilfe den Krieg fortführen werde und dass ein deutscher Sieg noch in
weiter Ferne lag. Ungeachtet aller offiziellen Äusserungen über die angebliche Unbe-
siegbarkeit der Roten Armee wuchs die Furcht im Land während der ersten Hälfte des
Jahres 1941 rapide. Trotz all ihrer absurden Versuche nach dem Fall Jugoslawiens und
Griechenlands, die Entscheidungsstunde wenigstens ein paar Monate oder auch nur Wo-
chen hinauszuschieben, wussten Stalin und Molotow doch, dass der Zusammenstoss mit
Deutschland unvermeidlich war, wie sich das aus Stalins «Geheimrede» vor den Absol-
venten der Militärakademien Anfang Mai 1941 ergibt. Stalins einziger Wunsch war in
diesem Augenblick, ein wenig Zeit zu gewinnen. Und es gibt offenbar auch wenig Zwei-
22 EINFÜHRUNG
fel darüber, dass einige weitsichtige sowjetische Militärs schon zu diesem Zeitpunkt an
eine mögliche und wünschenswerte britisch-sowjetische Allianz dachten.
Abschliessend möchte ich der Louis-M.-Rabinowitz-Stiftung in New York für ihre
grosszügige Zuwendung danken. Sie half mir, die zahlreichen Unkosten zu tragen, die
mit der Abfassung dieses Buchs verbunden waren, einschliesslich der Kosten für eine
neuerliche Reise in die Sowjetunion, wo ich viel Material, das ausserhalb Russlands
nicht zugänglich ist, auswerten konnte. Mein herzlichster Dank gilt auch Bobby Ull-
stein für ihre unermüdliche Arbeit und ihren freundschaftlichen Rat, eine Hilfe, die
weit über das hinausging, was man von der Frau seines Verlegers erwarten darf.
A.W.
Februar 1964
Erster Teil
VORSPIEL ZUM KRIEG
Kapitel 1
1939: RUSSLANDS DILEMMA
Am 4. Mai 1939 erschien in der Prawda und in den übrigen sowjetischen Zeitungen fol-
gende kleine Notiz:
Verfügung des Präsidiums des Obersten Sowjet über die Ernennung Wjatscheslaw M. Molotows zum
Volkskommissar des Auswärtigen der UDSSR.
Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der UDSSR, Wjatscheslaw M. Molotow, ist zum
Volkskommissar des Auswärtigen ernannt worden. Die beiden Ämter sind gemeinsam auszuüben.
Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjet der UDSSR: M. Kalinin
Der Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjet der UDSSR : A. Gorkin*
Der Name des tags zuvor «auf eigenen Wunsch» zurückgetretenen Maxim Litwinow,
den Molotow so überraschend als Chef der sowjetischen Diplomatie abgelöst hatte,
wurde nicht erwähnt; nichts deutete auch darauf hin, dass ihm ein anderer Posten über-
tragen worden wäre.
Die kurze Nachricht in der Prawda wurde überall in der Welt als Sensation empfun-
den: Man glaubte, dass sie einen Wendepunkt der sowjetischen Politik markiere. Selbst
Hitler äusserte bei jener berühmt gewordenen Besprechung mit seinen Generalen am
22. August 1939 – einen Tag vor der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nicht-
angriffspakts und knapp zehn Tage vor dem Einmarsch in Polen –, Litwinows Entlas-
sung sei von entscheidender Bedeutung gewesen. «Für mich kam sie wie ein Donner-
schlag, wie ein Zeichen dafür, dass sich Moskaus Haltung den Westmächten gegenüber
geändert hat.»
Diese Interpretation war viel zu simpel. Man kann höchstens sagen, dass der Ukas des
Obersten Sowjet vom 3. Mai das «offizielle» Ende der Litwinow-Epoche kennzeich-
nete. Denn dieses Ende hatte sich schon seit längerem, zumindest seit dem Münchener
Abkommen im September 1938, angekündigt, von dem die Sowjets ostentativ ausge-
schlossen worden waren.
Vom Erfolg der Litwinowschen Politik der kollektiven Sicherheit war man in Russland
schon seit längerer Zeit nicht mehr überzeugt. Und im Übrigen wäre es auch falsch, diese
Politik überhaupt als «Litwinows Politik» zu bezeichnen; der Aussenminister vollzog
ein Konzept, das von der sowjetischen Regierung und der Partei entworfen und gebil-
ligt worden war; persönlich war er nur insofern engagiert, als er diese Politik mit
* Das Volkskommissariat des Auswärtigen entsprach dem Aussenministerium. Seit 1946 wird der Rat
der Volkskommissare offiziell als Ministerrat bezeichnet, entsprechend der Aussenkommissar als
Aussenminister.
26 VORSPIEL ZUM KRIEG
echter Überzeugung, mit Enthusiasmus und Entschlossenheit verfocht. Doch auch er
selbst hatte ihre Resultate schliesslich als enttäuschend empfunden.
Nur kurze Zeit – 1934 – hatten die Franzosen an eine grosse Allianz gegen das natio-
nalsozialistische Deutschland gedacht, die Frankreichs Alliierte (Polen, die Tschecho-
slowakei, Rumänien und Jugoslawien) sowie England und die Sowjetunion umfassen
sollte. Das war zu der Zeit, als Louis Barthou Aussenminister war. Die Engländer
waren jedoch ebensowenig wie die Polen von Barthous Plan begeistert.
Nach Barthous Ermordung im Oktober 1934 zog am Quai d’Orsay Pierre Laval als
Hausherr ein; seine grössten Wünsche waren ein Bündnis mit dem Italien Mussolinis
und eine Verständigung mit dem nationalsozialistischen Deutschland. 1935 unterzeich-
nete er zwar einen Beistandspakt mit der Sowjetunion, doch hauptsächlich aus tak-
tischen und innenpolitischen Gründen. Der praktische Wert dieses Pakts wurde dann
auch in Frankreich und in Russland gleichermassen niedrig veranschlagt – zumal sich die
Franzosen sträubten, ihn durch eine Militärkonvention zu ergänzen.
Im März 1936 marschierte Hitler im Rheinland ein; aus der Tatsache, dass Frankreich
nicht eindeutig reagierte, schlossen die Russen, man könne sich kaum darauf verlassen,
dass Frankreich sich an seine Bündnisse mit Polen und den Ländern der kleinen Entente
halten werde. Nachdem einmal das Rheinland von Hitler besetzt und befestigt war,
wurde die Kluft zwischen Frankreichs offizieller Aussenpolitik und seinen militärischen
Möglichkeiten immer weiter.
Und wer waren in diesen Jahren die Männer, die für die britische Politik verantwort-
lich waren? Ramsay MacDonald und Sir John Simon, die Mussolini bei der Konferenz
von Stresa 1935 freie Hand in Abessinien gaben; Baldwin und Simon, die Frankreich
abrieten, auf Hitlers Rheinland-Coup zu antworten; dann Samuel Hoare mit dem
Hoare-Laval-Plan; und schliesslich Chamberlain und Halifax. Beschwichtigung war,
wenn auch in unterschiedlichem Masse, sowohl Grossbritanniens wie Frankreichs offi-
zielle Politik – Beschwichtigung im Rheinland, Beschwichtigung in Spanien, Beschwich-
tigung in Österreich und der Tschechoslowakei. München war der letzte Triumph die-
ser Politik. In England waren die wenigen ernst zu nehmenden Kritiker des appease-
ment, vor allem Anthony Eden, beiseitegeschoben worden, und Churchill war kaum
mehr als ein Rufer in der Wüste. In Frankreich lagen die Dinge nicht besser. Ende 1937
begab sich der gutwillige, aber völlig wirkungslose Yvon Delbos – seit der Bildung von
L£on Blums Volksfrontregierung im Juni 1936 Aussenminister – auf eine lange Reise
durch Osteuropa. Er besuchte Warschau, Belgrad, Bukarest und Prag, um festzustellen,
dass Frankreichs Allianzsystem seit dem Einmarsch Hitlers ins Rheinland zerfallen war
und dass nur noch die Tschechen glaubten, Frankreich werde ihnen zu Hilfe kommen,
wenn Deutschland sie überfallen sollte. Bezeichnenderweise stand Moskau nicht auf
Delbos’ Reiseplan. Es dauerte nicht lange, und Georges Bonnet – der Beschwichtiger
schlechthin – trat an die Spitze der französischen Aussenpolitik.
Als nach dem Treffen von München Bonnet im Dezember 1938 Ribbentrop in Paris
willkommen hiess, gab er zwar nicht – wie oft irrtümlich angenommen wurde – Deutsch-
1939 RUSSLANDS DILEMMA 27
land «freie Hand im Osten». Nichtsdestoweniger liessen die doppelzüngigen Erklä-
rungen, die er eine Woche später vor dem Aussenpolitischen Ausschuss der Kammer
hinsichtlich der Verpflichtungen Frankreichs gegenüber Polen, Rumänien und der Sow-
jetunion abgab, und vor allem die mit offiziellem Segen lancierte Kampagne einfluss-
reicher Zeitungen, wie Le Matin und Le Temps, zugunsten der Bildung einer «Gross-
Ukraine» unter der Herrschaft deutscher Strohmänner vom Schlage Biskupskis und
Skoropadskis recht wenig Zweifel über den Tenor der «Freundschaftsgespräche» zwi-
schen Bonnet und Ribbentrop *.
Als sich im folgenden Sommer Bonnet entschloss, Deutschland zu «warnen», unterliess
es Ribbentrop nicht, darauf hinzuweisen, dass Bonnet ja auch im Dezember 1938 es
nicht für nötig befunden habe, Deutschlands Plänen für Danzig oder dem Konzept der
deutschen Ostpolitik im Allgemeinen zu widersprechen.
Die Idee, eine «Gross-Ukraine» zu schaffen, war nicht etwa ein Geistesblitz der fran-
zösischen oder britischen «Beschwichtiger». Hitler spielte mit solchen Gedanken nach
München einige Wochen lang; er machte sich jedoch bald klar, dass es zu einer Wieder-
annäherung zwischen der Sowjetunion, Polen und Rumänien kommen könnte, wenn
er seine gross-ukrainischen Pläne jetzt weiterverfolgen würde**. Im Jahre 1939 ver-
sicherte er Beck, dass er kein Interesse an der Ukraine mehr habe. Die Tatsache jedoch,
dass ein solches Projekt von einflussreichen französischen und britischen Zeitungen ven-
tiliert wurde und sogar deren Beifall gefunden hatte, war natürlich Stalins Aufmerk-
samkeit nicht entgangen. Kein Wunder, dass sein Argwohn, es könne zwischen London,
Paris und Berlin zu einer Übereinkunft kommen, im Winter 1938/39 zunahm.
Selbst bei diesem Stand der Dinge unterschied Stalin jedoch sorgfältig zwischen den
«aggressiven» Mächten (Deutschland, Italien, Japan) und den «nicht-aggressiven»
(Frankreich, England, USA), wenn er auch die Schwäche und Nachgiebigkeit der letzt-
genannten bedauerte, was aus seinem Bericht an den XVIII. Kongress der KPDSU am
10. März 1939, fünf Tage vor dem deutschen Einmarsch in Prag, der die zweifelhafte
Parole «Frieden in unserer Zeit» ad absurdum führte, klar hervorging.
Der Winter 1938/39 war für Russland eine schwere Zeit. Wohl waren die Säuberungen
Ende 1938 weitgehend abgeschlossen, aber Tausende lebten in der Verbannung oder in
Arbeitslagern, und viele andere Tausende – niemand vermag zu sagen, wie viele – hatte
man erschossen.
Bei den Lenin-Gedenkfeiern im Moskauer Bolschoj-Theater am 21. Januar 1939 sah
man den Oberhenker Jeschow noch unter den Spitzen von Partei und Armee – Stalin,
Berija, Mikojan, Kaganowitsch, Schtscherbakow, Andrejew, Kalinin, Schkiriatow, Ma-
lenkow, Molotow, Budjonnij, Mechlis, Schdanow, Woroschilow und Badajew. Es sollte
Jeschows letzter Auftritt in der Öffentlichkeit sein.
Jetzt, am Ende des zweiten Fünfjahrplans, hatten sich die Lebensumstände – freilich
* Vgl. Werth, France and Munich: Before and after the Surrender, London 1939, S. 348-391
** Robert Coulondre, Von Moskau nach Berlin, 1936-1939, Bonn 1956, S. 368-371
28 VORSPIEL ZUM KRIEG
nicht die Wohnverhältnisse – in Russland und speziell in Moskau spürbar gebessert.
Stalins Wort: «Das Leben ist leichter geworden, das Leben ist schöner geworden» war
die offizielle Losung. Triviale Musikkomödien, Operetten und Filmlustspiele waren
in Mode und Schlagerfabrikanten wie Pokrass, Blanter und Dunajewskij auf der Höhe
ihres Ruhms. Blanter hatte soeben seine berühmte Katjuscha komponiert, die 1941 eines
der beliebtesten Soldatenlieder werden sollte, und Dunajewskij sein Weit ist mein Land
mit dem – so kurz nach den Säuberungen – recht makabren Refrain: «Ich kenne kein
anderes Land, wo man so frei atmen kann.» Neben Possen sah man Filme wie Wolga,
Wolga mit Ljubow Orlowa, einer Art sowjetischer Grace Fields, in der Hauptrolle, die
zeigten, wie lebenswert das Leben in der Sowjetunion doch unter Stalin geworden war;
es gab patriotische Streifen, etwa Eisensteins Alexander Newskij, die demonstrierten,
was den Nachfahren der schurkischen germanischen Ordensritter widerfahren würde,
wenn sie es jemals wagen sollten, das heilige Russland anzugreifen. Ein anderer be-
rühmter Streifen, Dr. Mamlock, ging mit Hitlers Judenverfolgungen ins Gericht.
Mehr oder weniger war sich jedermann der von den Nationalsozialisten drohenden
Gefahr bewusst. Man hatte das Gefühl, dass überall in der Welt die «Aggressoren»
taten, was sie wollten – ausgenommen dort, wo sie es wagten, die Sowjetunion und
ihren mongolischen Verbündeten anzugreifen (wie es Japan nur ein paar Monate zuvor
am Chassan-See getan hatte). Japan, Italien und Deutschland wurden immer an-
massender und die Nachrichten aus Spanien immer schlechter und niederdrückender –
trotz der Versicherung der Prawda, dass das «spanische Volk die Waffen nicht nieder-
legen wird, bevor es gesiegt hat». Anfang Januar reiste Oberst Bede, Polens starker
Mann, nach Berchtesgaden, um Hitler zu besuchen. Hatte die Sowjetunion überhaupt
Freunde, fragten sich manche im stillen – ausgenommen natürlich die brave kleine
Mongolei?
Es war nur natürlich, dass in diesen Tagen das Volk bei der Armee moralischen Halt
suchte und dass es beispielsweise weibliche Fliegerasse wie Walentina Grisodubowa, Po-
lina Osipenko und Marina Raskowa zu seinen Idolen machte. Bei jeder Gelegenheit
flocht man den Streitkräften der sowjetischen Heimat Kränze, obgleich, wie sich man-
che Beobachter später erinnerten, es so schien, als wollte man sich selber Mut machen.
Hinter all der Prahlerei von der Unbesiegbarkeit der Roten Armee steckte ein gut Teil
Furcht. In ihrer Neujahrsnummer vom 1. Januar 1939 brachte die Prawda einen mah-
nenden Appell Stalins: «Wir müssen zu jeder Zeit bereit sein, einen bewaffneten An-
griff auf unser Land zurückzuschlagen und den Feind auf seinem eigenen Territorium
zu vernichten.»
Bezeichnenderweise waren weite Passagen der Rede, die Schtscherbakow bei den Feiern
zum Gedächtnis Lenins am 21. Januar 1939 hielt, der Roten Armee gewidmet:
Die sozialistische Revolution hat in einem Land triumphiert. Aber dieses sozialistische Land ist
von der kapitalistischen Welt eingekreist, und diese Einkreisung kann nur bedeuten, dass man
auf eine Gelegenheit wartet, unseren Staat anzugreifen ... Unser Parteiprogramm sah 1919 die
Umwandlung der Roten Armee in eine Volksmiliz vor. Die Umstände haben sich jedoch ge-
1939 RUSSLANDS DILEMMA 29
ändert: Wir können keine mächtige Armee auf Miliz-Basis errichten. Unter diesen Bedingungen
haben unsere Partei und Regierung eine starke Rote Armee und eine starke Rote Flotte aufge-
baut und mächtige Rüstungsindustrien errichtet, und sie haben die Grenzen dieses Landes des
triumphierenden Sozialismus mit Stahl und Beton gesichert. Die Sowjetunion, früher schwach
und auf ihre Verteidigung nicht vorbereitet, ist jetzt für jeden Notfall gerüstet. Sie ist, wie Ge-
nosse Stalin gesagt hat, in der Lage, moderne Verteidigungswaffen in Massen zu produzieren
und unsere Armee im Falle eines fremden Angriffes damit zu versorgen. Partei und Regierung
halten unser Volk in einem Zustand militärischer Bereitschaft, und kein Feind wird uns unvor-
bereitet treffen.
Schtscherbakow erinnerte daran, dass nur ein paar Monate vorher «die japanischen Sa-
murai die Macht der sowjetischen Waffen am eigenen Leib spüren» mussten. «Dort, am
Chassan-See, wo die japanischen Militaristen versuchten, uns in einen Krieg hineinzu-
ziehen, machten unsere Luftwaffe und Artillerie die Kanonen der Japaner zu Schrott
und ihre Unterstände zu Staub.»
Dieser Zusammenstoss mit den Japanern war tatsächlich seit vielen Jahren die einzige
wirkliche militärische Erfahrung, welche die Rote Armee hatte machen können, und
man hatte seinen Verlauf, zweifellos voreilig, für eine ernste Lektion gehalten, die kein
Aggressor vergessen würde. Zu dieser Zeit schien man sich über die Erfordernisse mo-
derner Kriegführung noch nicht im Klaren zu sein – eine merkwürdige Parallele zu
Frankreich, wo gewisse Militärtheoretiker sich über die Idee des «Blitzkriegs» lustig
machten. So schrieb die Prawda am 6. Februar 1939 anlässlich des 20. Jahrestags der
Errichtung der Frunse-Militärakademie:
Im Land des triumphierenden Sozialismus stellt die Arbeiterklasse unter der Führung der Par-
tei Lenins und Stalins neue militärische Prinzipien auf. Entsprechend den Direktiven der Partei
und des Genossen Stalin hat die Frunse-Akademie mit einer grossen Zahl alter Fetische aufge-
räumt. Sie hat einige überalterte Traditionen beiseite geschoben, und sie hat die Volksfeinde
beseitigt, die versucht haben, die Ausbildung der der Partei ergebenen bolschewistischen militä-
rischen Kader zu beeinträchtigen.
War dies ein versteckter Hinweis auf Tuchatschewskij und jene Tausende von Ange-
hörigen der Roten Armee, die den Säuberungen zum Opfer gefallen waren? Wie auch
immer, Stalin und die damalige Führung der Roten Armee wussten es am besten:
Das militärische Denken in der kapitalistischen Welt ist in eine Sackgasse geraten. Die eleganten
«Theorien» über einen Blitzkrieg, über kleine, aus Technikern bestehende Armeen oder über
den Luftkrieg, der alle anderen militärischen Operationen überflüssig machen würde – alle diese
Theorien erklären sich aus der tödlichen Furcht der Bourgeoisie vor der proletarischen Revolu-
tion. In ihrer schematischen Denkweise überschätzt die imperialistische Bourgeoisie die Aus-
rüstung und unterschätzt den Soldaten.
Diese Betrachtung des Blitzkriegs, dieses blinde Vertrauen darauf, dass «der Soldat»
die Schlacht entscheide, erscheint, wenn man zurückblickt, ebenso unqualifiziert wie die
Behauptung von der angeblich tödlichen Furcht Hitlers vor der «proletarischen Revo-
lution».
So ging es in diesem Winter 1938/39 Tag für Tag. «Die Rote Armee ist unbesiegbar»,
schrieb die Prawda zum Tag der Roten Armee am 23. Februar 1939, und der Stellver-
tretende Verteidigungskommissar E. Schtschadenko versicherte, dass die Streitkräfte
30 VORSPIEL ZUM KRIEG
unter der Führung des Genossen Woroschilow bereit seien, «auf jeden Angriff der Mili-
taristen mit einem vernichtenden Schlag von dreifacher Kraft zu antworten». Auch
Chruschtschow stimmte in den Chor ein, der die Unbesiegbarkeit der sowjetischen
Wehrmacht pries. Unter einem grossen Bild Chruschtschows, des damaligen Sekretärs
des Zentralkomitees der Ukrainischen KP, veröffentlichte die Prawda vom 4. März 1939
die folgende Botschaft der Parteikonferenz der Provinz Kiew an Stalin:
Die Parteiorganisation von Kiew hat keine Anstrengungen gescheut, um die Provinz Kiew in
einen uneinnehmbaren Vorposten der sowjetischen Ukraine zu machen. Wir leben hier in einem
Grenzgebiet, an der Trennungslinie zweier Welten ... Die faschistischen Kriegshetzer denken
immer noch daran, die sowjetische Ukraine anzugreifen. Wir schwören Ihnen, teurer Genosse
Stalin, dass wir immer in einem Zustand militärischer Bereitschaft bleiben, dass wir immer in der
Lage sein werden, mit der ganzen Stärke des sowjetischen Patriotismus mit allen Feinden fertig-
zuwerden und sie von der Erdoberfläche zu fegen ... Unter der Führung Ihres getreuen Waffen-
bruders N. S. Chruschtschow werden die Bolschewisten des Gebiets Kiew ehrenvoll die Auf-
gaben erfüllen, mit denen sie betraut wurden ... Lang lebe unser weiser Führer und Lehrer, der
Genius der Menschheit, der beste Freund und Vater des Sowjetvolks, der grosse Stalin!
Nur ein paar Tage später hielt Chruschtschow bei der Enthüllung eines Denkmals für
den ukrainischen Nationaldichter Schewtschenko in Kiew eine patriotische Rede, die
sich an dieselbe Linie hielt. Sie schloss mit dem Ruf: «Lang lebe der grosse Stalin, unser
herzlich geliebter Freund und Lehrer, der uns von Sieg zu Sieg führt!» *
Die sowohl in der Grussadresse der Kiewer Parteiorganisation an Stalin wie auch in
Chruschtschows Rede enthaltene Feststellung, dass Kiew ein «Grenzgebiet» sei, das von
den «Faschisten» bedroht werde, ist typisch für die Nervosität, die damals in Russland
trotz aller Prahlereien von «Unbesiegbarkeit» und «Uneinnehmbarkeit» hinsichtlich
der Pläne Hitlers herrschte. Die Überlegungen, welche die westliche, insbesondere die
französische Presse über die Idee der «Gross-Ukraine» anstellte – eines Projekts, das
auf Kosten der Sowjetunion Deutschland den so sehr benötigten «Lebensraum» ver-
schaffen sollte –, hatten die Russen nachhaltig beeindruckt. Sie waren auch eines der
Hauptthemen des weltpolitischen Überblicks, den Stalin dem am 10. März in Moskau
eröffneten XVIII. Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gab.
Zu dieser Zeit stand das, was man heute Personenkult nennt, in hoher Blüte. Am Eröff-
nungstag publizierte die Prawda ein Gedicht des fast hundertjährigen kasakischen Bar-
den Dschambul zum Lob Stalins:
Mild strahlt die Sonne, und wer wüsste nicht, dass diese Sonne Du bist.
Die plätschernden Wellen des Sees singen das Loblied Stalins.
Die blendenden Schneegipfel singen das Loblied Stalins.
Die Millionen Blumen auf den Fluren danken, danken Dir.
Der wohlgedeckte Tisch dankt Dir,
Der summende Schwarm der Bienen dankt Dir,
Die Väter aller jungen Helden, sie danken Dir, Stalin.
O Erbe Lenins, Du bist für uns Lenin selbst.
* Prawda, 7. März 1939
1939 RUSSLANDS DILEMMA 31
Die einzige Entschuldigung dafür, dass man dieses Gewäsch überhaupt veröffentlichte,
war die Tatsache, dass es sich so volkstümlich und gleichzeitig exotisch anhörte und dass
es eben das Werk eines ungebildeten alten Asiaten war. Immerhin müssen es viele Mit-
glieder des Parteikongresses für frivol und unpassend gehalten haben, dass man diesen
Erguss zu einem so ernsten Anlass auf die Titelseite der Prawda klatschte; denn mit
einer Mischung aus Neugier und Ängstlichkeit erwartete man Stalins Erklärung zur
Aussenpolitik. Überall in Europa gab es Zeichen nahender Gefahr. Als Stalin am Eröff-
nungstag seinen Bericht abstattete, waren es nur noch fünf Tage bis zum Einmarsch der
Deutschen in Prag.
Stalin schied die Kapitalisten in «aggressive» und «nicht-aggressive» Mächte. Die «nicht-
aggressiven» Mächte verdächtigte er der Absicht, «andere dazu zu bringen, die Kasta-
nien für sie aus dem Feuer zu holen», und unterstellte, dass sie es gar nicht so ungern
sehen würden, wenn die Sowjetunion in einen Krieg mit den «Aggressoren» verwickelt
würde. Im Einzelnen beschäftigte er sich mit der wirtschaftlichen Krise der kapitalisti-
schen Welt, einer Krise, die 1929 begonnen habe und nur zum Teil durch das Wett-
rüsten habe aufgefangen werden können. Stalin erläuterte, der Griff Japans nach der
Mandschurei und Nordchina sowie die italienische Invasion in Abessinien hätten be-
reits deutlich gemacht, dass die Auseinandersetzung zwischen den Mächten sich zu-
gespitzt habe. Im Gefolge der neuen Wirtschaftskrise – seit 1937 – könne dieser Kon-
flikt nur noch an Heftigkeit zunehmen. Es handle sich nicht mehr nur um einen Kampf
um Märkte, nicht mehr um Handelskrieg oder Dumping: Jetzt sehe sich die Sowjet-
union dem Versuch einer Neuaufteilung der Welt gegenüber, einer Neuverteilung der
Einflusssphären und Kolonien mit kriegerischen Mitteln.
Die «Habenichtse» griffen jetzt die «Besitzenden» an, sagte Stalin. Japan behaupte, es
sei an Händen und Füssen durch den Neun-Mächte-Vertrag gefesselt; dieser Vertrag
habe es daran gehindert, sein Territorium auf Chinas Kosten auszudehnen, während
Grossbritannien und Frankreich riesige Kolonien besässen. Italien berufe sich darauf,
dass man es um seinen Anteil an den Früchten des ersten imperialistischen Krieges be-
trogen habe, und Deutschland betreibe die Rückgewinnung seiner Kolonien und die Er-
weiterung seines Territoriums in Europa.
Der neue imperialistische Krieg, erklärte Stalin, habe schon begonnen. Im Anschluss an
die Eroberung Abessiniens habe Italien zusammen mit Deutschland die militärische In-
tervention in Spanien organisiert. Japan habe 1937, nach der Eroberung der Mandschu-
rei, Nord- und Zentralchina angegriffen und seine ausländischen Rivalen aus den neu-
besetzten Gebieten vertrieben; Deutschland habe 1938 zuerst Österreich und dann das
Sudetenland an sich gerissen, während Japan Kanton und erst vor kurzem Hainan
okkupiert habe.
Die aggressiven Staaten hätten ihre Eroberungen ohne Rücksicht auf die Interessen der
nicht-aggressiven Staaten gemacht. «Dieser neue imperialistische Krieg ist noch kein
allgemeiner Weltkrieg. Die Aggressor-Staaten führen ihn gegen die Interessen der
Nicht-Aggressor-Staaten, aber diese, man mag es glauben oder nicht, treten nicht nur
den Rückzug an, sondern sie dulden diese Aggression sogar bis zu einem gewissen Um-
32 VORSPIEL ZUM KRIEG
fang.» Es sei nicht so, sagte Stalin, dass die nicht-aggressiven demokratischen Länder
schwach seien; ökonomisch und militärisch gesehen seien diese Länder zusammengenom-
men sogar stärker als ihre faschistischen Widersacher. Aber warum, fragte er, verhielten
sie sich dann so? Man könne natürlich argumentieren, dass sie vor der Revolution, die
auf einen neuen Krieg folgen würde, Angst hätten; aber dies sei nicht der Hauptgrund
ihres Verhaltens.
Der wirkliche Grund ist dieser: Die meisten nicht-aggressiven Staaten, und in erster Linie Gross-
britannien und Frankreich, haben die Politik der kollektiven Sicherheit aufgegeben und sind zu
einer Politik der Nichteinmischung, der «Neutralität» übergegangen. Angesichts dieser Tatsache
könnte man die Nichteinmischungspolitik so umschreiben: «Lasst jedes Land sich selbst so gegen
die Aggressoren verteidigen, wie es kann oder will. Uns geht das nichts an; wir werden weiter-
hin mit den Aggressoren wie mit ihren Opfern Geschäfte machen!» Aber in Wirklichkeit be-
deutet Nichteinmischung Duldung der Aggression und die Aufmunterung für die Aggresso-
ren, ihre Feindseligkeiten zu einem Weltkrieg auszudehnen ... Es besteht die klare Absicht, die
Aggressoren ihr schmutziges und verbrecherisches Handwerk ausüben zu lassen, Japan mit
China oder, noch besser, mit der Sowjetunion Krieg führen oder Deutschland im Sumpf der
europäischen Schwierigkeiten untergehen zu lassen und es in einen Krieg gegen die Sowjetunion
zu verstricken ... Erst wenn alle Kriegstreiber sich gegenseitig ausser Atem gesetzt haben, wer-
den die nicht-aggressiven Mächte mit ihren eigenen Vorschlägen herauskommen – im Interesse
des Friedens natürlich, und sie werden ihre Bedingungen den Mächten diktieren, die ihre Stärke
in gegenseitigen Kriegen vergeudet haben. Ein hübscher und billiger Weg, zum Ziel zu kommen.
Grossbritannien und Frankreich, fuhr Stalin fort, hätten das nationalsozialistische
Deutschland deutlich ermutigt, die Sowjetunion anzugreifen.
Sie liessen Österreich im Stich, obwohl sie verpflichtet waren, seine Unabhängigkeit zu schützen;
sie verrieten das Sudetenland und warfen die Tschechoslowakei den Wölfen vor und brachen
damit jede Verpflichtung. Danach aber startete ihre Presse eine schmutzige Lügenkampagne über
die «Schwäche der russischen Armee», den «Zusammenbruch der russischen Luftwaffe» und die
«Missstände in der Sowjetunion» ... Sie drängten die Deutschen, immer weiter und weiter nach
Osten zu gehen: «Fangt nur einen Krieg gegen die Bolschewisten an, und alles wird gut werden!»
Dann berichtete Stalin über «das ganze Geschwätz der französischen, britischen und
amerikanischen Presse über eine deutsche Invasion der sowjetischen Ukraine»:
Sie schrien sich heiser, dass die Deutschen, nachdem sie nun die sogenannte Karpato-Ukraine *
mit ihren rund 700’000 Einwohnern unter ihren Einfluss gebracht hätten, spätestens im Frühjahr
1939 die sowjetische Ukraine mit einer Bevölkerung von mehr als 30 Millionen Menschen an-
nektieren würden. Es sieht wirklich so aus, als sei der Grund dieses ganzen höchst verdächtigen
Geschreis der, dass man die Sowjetunion gegen Deutschland in Harnisch bringen, die Atmo-
sphäre vergiften und einen grundlosen Konflikt zwischen uns und Deutschland provozieren
wollte. Es mag natürlich in Deutschland einige Irre geben, die daran denken, den Elefanten
– ich meine die Sowjet-Ukraine – mit der Mücke, der sogenannten Karpato-Ukraine, zu verhei-
raten. Aber sie sollten sich keinen Zweifeln hingeben: Für solche Narren gibt es in der Sowjet-
union genug Zwangsjacken [Stürmischer Applaus] ... Es ist bezeichnend, wenn gewisse Politi-
ker und Zeitungsleute in Europa und den USA jetzt ihr grosses Missvergnügen darüber bekun-
den, dass die Deutschen, statt weiter nach Osten zu drängen, sich nunmehr gegen den Westen
Der östliche Zipfel der Tschechoslowakei
1939 RUSSLANDS DILEMMA 33
wenden und Kolonien verlangen. Man hatte gedacht, dass man ihnen Teile der Tschechoslowa-
kei gewissermassen als Vorschusszahlung darauf gegeben hatte, dass sie einen Krieg gegen die
Sowjetunion begännen, und jetzt weigern sich die Deutschen, das Geld zurückzugeben, und sagen
diesen Leuten, dass sie zum Teufel gehen sollen ... Ich kann nur sagen, dass dieses gefährliche
Spiel, das die Anhänger der Nichteinmischungspolitik begonnen haben, sehr schlecht für sie
enden kann ... Niemand glaubt noch den salbungsvollen Reden, in denen behauptet wird, die
Konzessionen, die man den Aggressoren in München gemacht habe, hätten eine neue Ära des
Friedens eingeleitet. Selbst die britischen und französischen Unterzeichner des Münchener Ab-
kommens glauben kein Wort davon. Sie rüsten wie die anderen.
Stalin fügte hinzu, dass die Sowjetunion zwar mit allen Kräften eine Politik des Frie-
dens verfolge, dass sie aber nicht unbeteiligt Zusehen könne, wie 500 Millionen Men-
schen dem Chaos des Krieges zutrieben, und dass sie deshalb eine umfassende Verstär-
kung der Schlagkraft der Roten Armee und der Roten Flotte vornehmen müsse. Stets
habe die Sowjetunion eine Friedenspolitik betrieben. Sie habe sich 1934 dem Völker-
bund angeschlossen in der Hoffnung, er würde trotz seiner Schwäche die Aggressoren
aufhalten. Im Jahre 1935 habe man Beistandspakte mit Frankreich und der Tschecho-
slowakei unterzeichnet, 1937 einen weiteren Beistandspakt mit der Mongolei und 1938
einen Nichtangriffspakt mit China unterschrieben. Die Sowjetunion wolle den Frieden;
sie wünsche friedliche Handelsbeziehungen zu allen Ländern, sofern diese nicht gegen
die sowjetischen Interessen handelten; sie trete für friedliche gutnachbarliche Beziehun-
gen zu allen ihren unmittelbaren Nachbarn ein, solange diese nicht direkt oder indirekt
die Integrität des sowjetischen Staates bedrohten; sie sei dafür, Nationen zu unterstüt-
zen, die Opfer der Aggression geworden sind und um ihre Unabhängigkeit kämpfen,
sie habe keine Furcht vor den Drohungen der Aggressoren und sie werde mit doppelter
Kraft Zurückschlagen, wenn ein Kriegstreiber es wagen sollte, sowjetisches Territorium
zu verletzen. Diesen letzten Worten folgte langer, stürmischer Applaus.
Stalin umriss dann die Ziele der Partei in der Aussenpolitik:
1. Weiterführung der Friedenspolitik und Konsolidierung der Wirtschaftsbeziehungen
zu allen Ländern.
2. Grösste Vorsicht gegenüber der Gefahr, dass Provokateure das Land in einen Kon-
flikt hineinziehen könnten.
3. Erhöhung der militärischen Stärke der Roten Armee und der Roten Flotte.
4. Intensivierung der Freundschaft zu den Arbeitern aller Länder, in deren Interesse es
liege, den Frieden zwischen den Völkern zu erhalten.
Aus Äusserungen Stalins über den völligen Zusammenbruch des internationalen Rechts
und die völlige Entwertung internationaler Verträge konnte man schliessen, dass die
Sowjetunion es am klügsten fand, in einer «splendid isolation» zu verbleiben. Immer-
hin zeigten Stalins Worte, dass er bemüht war, den französischen und britischen Poli-
tikern nicht die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Dass die Möglichkeit einer späteren
Übereinkunft mit dem Westen noch bestehe, konnte man aus dem Hinweis auf den
französisch-sowjetischen Beistandspakt herauslesen. Andererseits legte Stalin weit mehr
Nachdruck auf die angebliche Perfidie der «Nicht-Aggressor-Nationen» als auf die der
«Aggressoren». Hatte er Deutschland nicht regelrecht zu der klugen Entscheidung gra-
34 VORSPIEL ZUM KRIEG
tuliert, nicht in die Ukraine einzufallen, obwohl ihm «der Westen» eine solche Opera-
tion doch so ans Herz gelegt hatte?
Auch Stalins Hinweise auf Russlands «unmittelbare Nachbarn» waren keineswegs ohne
Bedeutung. Hatte es nicht verdächtige Verhandlungen zwischen Deutschland und eini-
gen unmittelbaren Nachbarn der Sowjetunion gegeben? War nicht die deutsche Diplo-
matie in den baltischen Staaten aktiv? Hatte nicht Bede die «Frage» der Ukraine bei
seinem Gespräch mit Hitler am 5. Januar in Berchtesgaden aufgeworfen, nur damit ihm
der Führer mitteilen konnte, dass er das Ukraine-Problem nich